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FietsPad.De – Traum Südamerika – Teil 1<br />
"La Paz" (26. Sep 2003):<br />
Steine fliegen in die Fensterscheiben der Fahrzeuge, Erdwälle blockieren die Weiterfahrt. Es gibt<br />
Tote und Verletzte. Beinahe täglich ziehen Menschen durch die Stassen und knallen ihren Frust mit<br />
Feuerwerkskörpern in die Luft. Die Campesinos sind sauer. Sehr sauer sogar. Sie wollen nicht, dass<br />
die Regierung eine Gaspipeline bis an die chilenische Küste baut. Gerade nicht die Chilenen, denn<br />
an sie verlor Bolivien im Salpeterkrieg seinen einzigen Zugang zum Meer und das hat der stolze<br />
Bolivianer bis heute nicht vergessen. Immer gewalttätiger werden die Auseinandersetzungen<br />
zwischen der Polizei und den streikenden Campesinos, immer brutaler die Attacken auf jene, welche<br />
versuchen die blockierten Verkehrsadern zu nutzen. Täglich räumen Hundertschaften von Armee und<br />
Polizei die wichtigsten Zugangsstrassen von La Paz, täglich tragen die Campesinos ihre Wut in Form<br />
von neuen schweren Felsbrocken auf die Strasse. Gross sind die Steine, so gross wie der Ärger und<br />
der Frust und schon lange geht es nicht mehr ums Gas allein. Zuviel gibt es zu sagen über die nach<br />
wie vor miserablen Lebensbedingungen auf dem Land, über die weit aufgesperrte Schere zwischen<br />
Arm und Reich, über die leeren Versprechungen der Politiker, die Korruption, den Ausverkauf des<br />
Landes an zahlungskräftige Unternehmen aus dem Ausland .... und die Ermordung eines wichtigen<br />
Führers der Indigenabewegung vergangene Woche.<br />
Viel Arbeit bleibt liegen in diesen Tagen: der vom Gemüseverkauf lebende alte Mann bekommt seine<br />
Tomaten nicht los, Lehrer stehen vor leeren Klassen, Busse warten auf grünes Licht, Touristen auf<br />
einen Ausweg aus der Sackgasse ......... nur die Polizei hat alle Hände voll zu tun. Schwerbewaffnet<br />
begleitet sie Touristenbusse durch die Krisenregionen, räumt die Strassen oder ermahnt mit<br />
vorgestreckter Waffe zum Dialog.<br />
Die Schuld für die Entfachung dieses "Krieges" schieben sich die Regierung und die Organisationen<br />
der Campesinos gegenseitig in die Schuhe. Das Abendprogramm im Fernsehn ist gefüllt.<br />
Wir erleben den Grossteil der Auseinandersetzungen glücklicherweise unbeteiligt vorm Fernseher.<br />
Nur einmal bei einer Demonstration im Zentrum zog Mario die Wut der Indigenafrauen auf sich. Der<br />
Versuch ein Foto zu machen wurde mit bedrohlichen Ausrufen und Steinwürfen bestraft.<br />
"Gringo saca una foto" - "hey achtung da ist ein Ausländer der Fotos macht" - mit diesen Ausrufen<br />
werden wir immer wieder vertrieben. Und sind es nicht die gleichen Frauen, die wenig später rufen<br />
"Señora compra algo". Jetzt bin ich keine Gringa mehr, sondern eine Señora, die doch bitte bitte<br />
etwas kaufen soll.<br />
"Aufbruch" (22. Okt 2003)<br />
Noch immer in La Paz<br />
..... und wieder werden wir geweckt von einem unaufhörlichen Hupkonzert und den schrillen Rufen<br />
der "Taxijungen". Die Frauen öffenen ihre Stände. Menschen eilen wie ein grosses Ameisenvolk<br />
durch die steilen Gassen. Der Verkehr staut sich. Geräusche und Gerüche in mittlerweile vertrauter<br />
Mixtur wehen uns um die Nase. Ein ganz normaler Tag beginnt in La Paz. .... und doch ist nichts<br />
mehr von dieser Normalität selbstverständlich.<br />
Vor drei Wochen reagiert die Gewerkschaft mit Demonstrationen und Blockaden auf ein Erdgas -<br />
projekt der Regierung. Zu extrem ungünstigen Konditionen sollte mittels einer fünf Milliarden Dollar<br />
schweren Pipline, Gas durch den unliebsamen Nachbarn Chile in die USA und Mexiko exportiert<br />
werden. Gerade einmal 18 Prozent der Gewinne wären dabei Bolivien, dem ärmsten Land<br />
Südamerikas zugefallen, der Rest dem transnationale Betreiberkonsortium Pacific LNG. (mehr als die<br />
Hälfte der Bevölkerung lebt in Armut, 37 Prozent unter der Armutsgrenze, 60 Prozent gehören zu<br />
einer indianischen Bevölkerungsgruppe, Rassismus und Diskriminierung sind offensichtlich Teil und<br />
Stütze dieser Gesellschaft).<br />
Bald schliessen sich die parlamentarische Opposition, die Bauern- und Indianderbewegungen an, um<br />
sich mit Generalstreik, Strassenblockaden und Massenprotesten dem Ausverkauf ihres Landes<br />
entgegenzustellen. Die Campesinos wehren sich mit dem was sie haben. Sie blockieren mit den<br />
Steinen ihrer Felder die Lebensadern der Metropole La Paz. Mehrere Tage gibt es weder einen<br />
Eingang noch einen Ausweg. Die Zufahrtsstrassen sind gesperrt, das öffentliche Leben steht still.<br />
Schulen bleiben geschlossen, Geschäfte verriegelt, es gibt keinerlei Transportmöglichkeit, kaum<br />
jemand wagt sich auf die Strasse.<br />
Viel zu spät, als schliesslich auch massive Polizeieinsätze die Proteste nicht mehr beenden können,<br />
lenkt der Präsident Gonzalo Sanchez de Lozada ein und vertagt die "Gasfrage" auf Ende des Jahres.<br />
Doch die Wut der Menschen lässt sich nicht mehr bremsen. Zu Tausenden strömen sie in langen<br />
Protestmärschen auf La Paz zu. Sie fordern den Rücktritt Lozadas und ein Ende der neoliberalen<br />
Politik, welche ihnen nochmehr soziale Ungerechtigkeit und Armut gebracht habe. Als Antwort<br />
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