BRU179_RZ Innenteil_080924.indd - Brunel GmbH
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Das Magazin für Technik und Management<br />
AUSGABE 12 || Oktober 2008<br />
Daniel Zettl<br />
und das Zahnrad >><br />
Operation Schiffsverlängerung<br />
Neubauten sind nicht immer die<br />
wirtschaftlichste Lösung<br />
Wundheilung<br />
für Oberflächen<br />
Nanoteilchen<br />
mit heilenden Kräften<br />
Architektur für<br />
Wasserwelten<br />
Schwimmende Gebäude trotzen<br />
dem Meeresspiegelanstieg
„UNSER SPEZIALIST“<br />
DANIEL ZETTL<br />
Das Zahnrad als „treibende Kraft<br />
in einem komplexen System“<br />
symbolisiert für Daniel Zettl das<br />
Wesen seiner Arbeit als Projektmanager.<br />
Nach seinem Studium in Innsbruck<br />
sammelte er bei dem<br />
Werkzeugbauer Prometall erste<br />
Berufserfahrungen, bevor es den<br />
28-jährigen Wirtschaftsingenieur<br />
2006 zu <strong>Brunel</strong> zog. Nach seinem<br />
ersten Projekt bei Dräger im<br />
Bereich Tieftauchanlagen arbeitet<br />
er aktuell im Vertriebsmanagement<br />
bei der Business Unit<br />
Rotorion der MTU Friedrichshafen<br />
<strong>GmbH</strong>, einem der führenden<br />
Unternehmen für Gelenkwellen.
editorial<br />
AUSGABE 12 || Oktober 2008<br />
DER SPEZIAL IST<br />
LIEBE LESERIN, LIEBER LESER,<br />
was kommt Ihnen in den Sinn, wenn Sie an Jazzmusik denken? New Orleans!<br />
Die Stadt im US-Bundesstaat Louisiana gilt als Wiege des Jazz, hier wurde<br />
Louis Armstrong geboren. Seit rund 100 Jahren versteht es die Hafenstadt,<br />
dieses kulturelle Alleinstellungsmerkmal als Standortfaktor zu nutzen. Tou-<br />
risten strömen nach New Orleans, Unternehmen profitieren vom Renommee<br />
der Metropole und erhalten so einen Anreiz, sich hier anzusiedeln oder kul-<br />
turelle Projekte zu unterstützen. Ein vergleichsweise junges Beispiel für die<br />
Potenziale von Kultur als Image- und Wirtschaftsfaktor sind die Altenburger<br />
Prinzenraub Festspiele in Thüringen. Das 2005 erstmals initiierte Gemein-<br />
schaftsprojekt von Vertretern der Kultur, Wirtschaft und Politik hat einer<br />
ganzen Region wirtschaftlichen Aufschwung beschert und den Glauben an<br />
die eigene Stärke zurückgegeben.<br />
Bei Kooperationen dieser Art steht jedoch nicht ausschließlich der finanzi-<br />
elle Aspekt im Vordergrund. Die Beteiligten profitieren auch auf einer ande-<br />
ren Ebene, sie lernen voneinander. Aus diesem Grund arbeitet die <strong>Brunel</strong><br />
<strong>GmbH</strong> seit 2000 mit Künstlern unterschiedlicher Stilrichtungen zusammen<br />
und fördert deren kreative Arbeit. Dieser Austausch ist für beide Seiten span-<br />
nend, schließlich liegen die Arbeitsschwerpunkte eines Ingenieurdienstleis-<br />
ters und eines Kunstschaffenden in völlig unterschiedlichen Bereichen.<br />
Einer, der diesen Dialog unterstützt, ist Hans-Joachim Frey, langjähri-<br />
ger Künstlerischer Betriebs- und Operndirektor der Semperoper in Dresden<br />
und einer der Gründer des Forum Tiberius, einem internationalen Forum für<br />
Kultur und Wirtschaft. „Der Spezialist“ sprach mit ihm darüber, in welche<br />
Richtung sich die Beziehung zwischen Kultur und Wirtschaft entwickelt. Ich<br />
wünsche Ihnen nun viel Spaß mit der aktuellen Ausgabe.<br />
Mit herzlichen Grüßen<br />
General Manager<br />
<strong>Brunel</strong> <strong>GmbH</strong><br />
der Spezialist<br />
03
kurz notiert<br />
Winzige Multitalente<br />
Selbstheilende Schichten sind noch Zukunftsvision. Doch die Entwickler sehen große Einsatz-<br />
potenziale, die vom Autolack bis zur Außenhülle von Raumstationen reichen. Gerade an unzu-<br />
gänglichen Stellen könnten die mit Reparaturflüssigkeit gefüllten Nanocontainer ihre Vorteile<br />
ausspielen.<br />
EINSATZGEBIETE<br />
Zurzeit gibt es mehrere<br />
vielversprechende Ansätze,<br />
selbstheilende Schichten<br />
zu implementieren. Angewendet<br />
werden können sie<br />
überall dort, wo Oberflächen<br />
beschädigt werden<br />
könnten, die besonders<br />
schwer zugänglich sind,<br />
wie etwa an den Rotorblättern<br />
von Windkraftanlagen<br />
oder der Außenhülle von<br />
Raumstationen. Lesen Sie<br />
mehr im Artikel „Lack heilt<br />
wie Haut“ auf Seite 38.<br />
04<br />
der Spezialist<br />
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i nhalt<br />
AUSGABE 12 || Oktober 2008<br />
› seite 30<br />
Die Lloyd Werft schneidet<br />
Schiffe in zwei Teile und<br />
verlängert sie durch neue<br />
Mittelsektionen.<br />
› seite 38<br />
Oberflächen, die sich aus<br />
eigener Kraft reparieren,<br />
bleiben eine Herausforderung<br />
für die Forschung.<br />
› seite 42<br />
Waterstudio.NL plant<br />
und realisiert weltweit<br />
schwimmende und<br />
amphibische Bauten.<br />
Der Spezialist<br />
Seite 06<br />
Seite 11<br />
Seite 15<br />
Seite 18<br />
Seite 22<br />
Seite 26<br />
Seite 30<br />
Seite 35<br />
Seite 38<br />
Seite 42<br />
Seite 46<br />
der Spezialist<br />
inhalt<br />
im fokus: KULTUR ALS STANDORTVORTEIL UND WIRTSCHAFTSMOTOR<br />
Die Prinzenraub-Festspiele beleben eine ganze Region<br />
im gespräch: KULTUR UND WIRTSCHAFT ALS STRATEGISCHE PARTNER<br />
Theaterintendant Hans-Joachim Frey im Gespräch mit dem Spezialisten<br />
aus den branchen: SCHRAUBE SUCHT MUTTER<br />
Intelligente Datenbanken helfen bei der Konfiguration komplexer Produkte<br />
history: GEGEN ALLE WIDERSTÄNDE<br />
Wilhelm Kress – visionärer Vordenker und Erfinder des Wasserflugzeugs<br />
technische projekte: KOMPLEXE SYSTEME SCHAFFEN SICHERHEIT<br />
Elektronische Helfer im Auto werden unentbehrlich<br />
mitarbeiter und karRiere: AVIONIKSPEZIALISTIN STARTET DURCH<br />
Yurong Zhang hat sich auf die Bordelektronik von Flugzeugen spezialisiert<br />
aus den branchen: OPERATION SCHIFFSVERLÄNGERUNG<br />
In Bremerhaven werden auch Kreuzfahrtriesen „auf Länge“ gebracht<br />
Kunst & brunel: VIDEOKUNST ALS KREATIVE SPIELWIESE<br />
Hans-Werner Eberhardt ist „<strong>Brunel</strong> Künstler des Jahres 2008“<br />
Forschung & Wissenschaft: WUNDHEILUNG FÜR OBERFLÄCHEN<br />
Nanoteilchen sollen beschädigte Oberflächen autonom reparieren<br />
Panorama: ARCHITEKTUR FÜR WASSERWELTEN<br />
Der Klimawandel gibt schwimmenden Bauten neuen Auftrieb<br />
Querdenken ANTWORT AUF DIE FRAGE ALLER FUSSBALLFRAGEN<br />
Tor oder kein Tor? Diese Technik bleibt keine Antwort schuldig<br />
Termine<br />
impressum<br />
EXTRA: ART-BRUNEL-POSTKARTEN MIT MOTIVEN DES<br />
KÜNSTLERS DES JAHRES 2008 (siehe Umschlagklappe)<br />
05
› 01
Kultur als Standortvorteil<br />
und Wirtschaftsmotor<br />
Im thüringischen Altenburg herrscht Aufbruchstimmung, seit die jährlichen Aufführungen<br />
TEXT › Jutta Witte<br />
Zum fünften Mal finden im Sommer 2009 die<br />
Prinzenraub-Festspiele im thüringischen Alten-<br />
burg statt. Das Open-Air-Spektakel ist mittlerweile<br />
nicht nur ein Publikumsmagnet: Es bringt Geld in<br />
die Region, hat die Bürger mobilisiert, den Stand-<br />
ort attraktiver gemacht und sich damit zu einem<br />
entscheidenden Wirtschaftsfaktor entwickelt.<br />
Der Prinzenraub erzählt die Geschichte des<br />
Edelmanns Kunz von Kaufungen, der im Jahr 1455<br />
eine offene Rechnung mit dem Wettiner Kurfürs-<br />
ten Friedrich begleichen wollte. Der Kurfürst war<br />
von Kaufungen seinen Sold schuldig geblieben.<br />
Daraufhin entführte der Edelmann die beiden<br />
Söhne Friedrichs aus dem Altenburger Schloss.<br />
Doch die Geiselnahme scheiterte und von Kau-<br />
fungen musste unter dem Beil des Henkers ster-<br />
ben. Die eindrucksvolle Aufführung am Original-<br />
schauplatz im Residenzschloss Altenburg versetzt<br />
die Zuschauer mitten hinein in die Umbruch-<br />
phase vom späten Mittelalter zur frühen Neuzeit<br />
mit der Suche nach neuen Werten und sozialen<br />
Unruhen.<br />
Doch nicht nur diese Parallelen zur heutigen Zeit<br />
machen aus dem Prinzenraub mehr als ein gut<br />
inszeniertes Mittelalterspektakel. Die Festspiele<br />
sind vor allem ein Symbol für die Aufbruchstim-<br />
mung geworden, die in Altenburg herrscht, seit<br />
das Stück im Jahr 2005 anlässlich des 550. Jahres-<br />
tags des Prinzenraubs zum ersten Mal aufgeführt<br />
wurde. „Dieses Projekt“, sagt der Oberbürgermeis-<br />
ter der Stadt, Michael Wolf, „hat uns selbstbe-<br />
wusst gemacht.“<br />
Wie viele Regionen in den neuen Bundeslän-<br />
dern musste sich auch das über 1.000-jährige Al-<br />
tenburg aus einem wirtschaftlichen Tief befreien.<br />
Viele Unternehmen verließen den Standort, der<br />
Uran- und Braunkohlebergbau wurde eingestellt.<br />
Die Einwohnerzahl sank von rund 49.000 im Jahr<br />
1990 auf etwa 36.000 im Jahr 2007. Noch vor drei<br />
Jahren bilanzierte die Stadt einen Schuldenberg<br />
von rund 31 Millionen Euro, die Arbeitslosenquote<br />
lag bei 20 Prozent, ein Investitionsstau hatte sich<br />
gebildet. „Wir befanden uns in einer sehr schwie-<br />
rigen wirtschaftlichen Situation“, berichtet Ste-<br />
fan Müller, Marketingleiter der Festspiele. „Und es<br />
fehlte uns die nötige Portion Eigenliebe.“ Gefragt<br />
war eine Maßnahme, die den Bürgern zugleich ihr<br />
Selbstwertgefühl zurückbringen, die Außendar-<br />
stellung der Stadt verbessern und die Wirtschaft<br />
vor Ort fördern sollte. In dieser Situation besan-<br />
nen sich Politiker, Unternehmer und Kulturschaf-<br />
fende auf die historischen Wurzeln Altenburgs.<br />
Das Prinzenraub-Jubiläum kam wie gerufen. Das<br />
Projekt rüttelte die Altenburger Bürger förmlich<br />
auf. Sie engagierten sich für den Prinzenraub und<br />
führten das Stück gemeinsam mit Profischauspie-<br />
lern vom Landestheater Altenburg auf – unter-<br />
stützt von der heimischen Wirtschaft.<br />
IM FOKUS<br />
des „Prinzenraub“ nicht nur Touristen, sondern auch Unternehmer in die Stadt ziehen. Die wei-<br />
chen Umfeldfaktoren werden immer wichtiger im Wettbewerb von Städten und Gemeinden.<br />
PRINZENRAUB-FESTIVAL ALS SYMBOL DES<br />
AUFBRUCHS<br />
› 01<br />
In Altenburg tauchen die<br />
Besucher der Prinzenraubfestspiele<br />
tief ins<br />
Mittelalter ein. Rudolf<br />
Trommer überzeugte 2006<br />
als Kanzler Haugwitz.<br />
der Spezialist 07
IM FOKUS<br />
„Die Region ist lebendiger, selbstständiger und<br />
attraktiver geworden“, findet der Leiter der Bru-<br />
nel-Niederlassung in Dresden, Falk Rosenlöcher.<br />
Die Verantwortlichen seien selbstbewusster ge-<br />
worden, das Stadtbild moderner. <strong>Brunel</strong> unter-<br />
stützt die Festspiele finanziell und durch strate-<br />
gische Beratung beispielsweise im Marketing.<br />
Zudem setzt sich Rosenlöcher für Kontakte zwi-<br />
schen Künstlern der Dresdner Semperoper und<br />
ihren Kollegen in Altenburg ein. Den eigenen<br />
Vertriebsraum in Sachsen und Thüringen über<br />
die Kultur näher zusammenzubringen, diene<br />
auch dem Unternehmen, so Rosenlöcher. Für ihn<br />
steht außer Frage, dass die Wirtschaft auch wei-<br />
che Standortfaktoren wie Kultur und Bildung för-<br />
dern muss. Diese Bereiche seien wichtig für die<br />
Zufriedenheit der Mitarbeiter und ihrer Familien.<br />
Der Prinzenraub fasziniert auch Uwe Eikemeier,<br />
Geschäftsführer des Altenburger Unternehmens<br />
Wellpappe Lucka. Das Stück mache den Menschen<br />
ihre Kultur und Geschichte bewusst und wecke<br />
neue Potenziale bei den Bürgern. Wie Rosenlöcher<br />
bringt auch Eikemeier Geschäftsfreunde aus ganz<br />
08<br />
der Spezialist<br />
Deutschland zum Prinzenraub und damit in die<br />
Altenburger Region. Zudem werben Lucka-Last-<br />
wagen für die Festspiele. Eine Maßnahme, von<br />
der nicht nur das Bühnenstück profitiert: „Wer-<br />
bung für den Prinzenraub bedeutet Werbung für<br />
Altenburg und die anderen Altenburger Marken“,<br />
erklärt Regisseur Lutz Gotter. Der höhere Bekannt-<br />
heitsgrad des Standorts diene auch den Altenbur-<br />
ger Spielkarten, dem Altenburger Likör oder dem<br />
Altenburger Bier.<br />
› 02<br />
MITTELSTÄNDISCHE FIRMEN PROFITIEREN<br />
VON ZUSÄTZLICHEN AUFTRÄGEN<br />
Mehr als 45.000 Menschen besuchten die Auffüh-<br />
rungen von 2005 bis 2008. Der Zuschauerraum im<br />
Schloss bietet rund 1.000 Personen Platz und war<br />
in den ersten drei Spielzeiten zu 92 Prozent aus-<br />
gelastet. Mindestens 65 Prozent der Zuschauer<br />
kamen nach Angaben von Stefan Müller in die-<br />
sem Jahr aus anderen Regionen, um das Histo-<br />
rienspiel zu sehen. Mit einem zusätzlichen Auf-<br />
tragsvolumen von rund 450.000 Euro im Jahr<br />
› 02<br />
Gute Stimmung auf der<br />
Prinzenraub-Premierenfeier:<br />
(v.l.) der ehemalige<br />
ZDF-Intendant Dieter<br />
Stolte, der Oberbürgermeister<br />
von Altenburg<br />
Michael Wolf (SPD), der<br />
ehemalige enviaM-Vorstand<br />
(Netze) Dr. Friedrich<br />
Glatzel und Dr.-Ing. Wolfgang<br />
Ahlemeyer, enviaM-<br />
Vorstand (Marketing/Vertrieb/Energiebeschaffung).
2008 profitieren nach seinen Angaben die kleinen<br />
und mittelständischen Unternehmen vor Ort und<br />
in der Region – vornehmlich aus den Bereichen<br />
Handel, Produktion und Dienstleistungen – direkt<br />
vom Prinzenraub. Die eigentliche Wertschöpfung,<br />
die nach Müllers vorsichtiger Schätzung bei ca.<br />
900.000 Euro in diesem Jahr liegt, hat die Stadt<br />
insgesamt noch nicht ermittelt. Der vom Prinzen-<br />
raub ausgehende Motivationsschub verleihe dem<br />
allgemeinen Aufwärtstrend mit sinkenden Schul-<br />
den, neuen Investitionen, weniger Arbeitslosen<br />
und mehr Arbeitsplätzen zusätzliche Zugkraft.<br />
ZEITGENÖSSIGE KUNST KURBELT DIE WIRT-<br />
SCHAFT IN KASSEL AN<br />
Was ein kulturelles Großereignis vor allem für die<br />
Imagewerbung eines Standorts bedeuten kann,<br />
zeigt seit mehr als 50 Jahren auch die documenta<br />
in Kassel. Alle fünf Jahre findet die Kunstaus-<br />
stellung in der nordhessischen Metropole statt.<br />
„Wer an Kassel denkt, denkt an documenta, und<br />
wer an documenta denkt, denkt an Kassel“, sagt<br />
Oberbürgermeister Bertram Hilgen. Rund 750.000<br />
Besucher, ein Drittel von ihnen aus dem Aus-<br />
land, haben im vergangenen Jahr die weltweit<br />
bedeutendste Ausstellung zeitgenössischer Kunst<br />
besucht und Geld in der Stadt gelassen – vorwie-<br />
gend in der Hotellerie, der Gastronomie, im Ein-<br />
zelhandel und im Verkehrsgewerbe.<br />
Doch nicht nur die Kunstbegeisterten steigern<br />
die Wertschöpfung. Ein erheblicher Teil des Aus-<br />
stellungsbudgets verbleibt nach Angaben von<br />
documenta-Geschäftsführer Bernd Leifeld in der<br />
Region, sei es als Lohn für die bis zu 800 Mitarbei-<br />
ter in documenta-Jahren, sei es durch den Ankauf<br />
IM FOKUS<br />
› 03<br />
Der Entführer der Prinzen<br />
auf dem Weg zur Hinrichtung:<br />
Laien- und Profischauspieler<br />
begeistern das<br />
Publikum gleichermaßen.<br />
Nahezu das gesamte Areal<br />
des Altenburger Schlosses<br />
wird dabei zur Freilichtbühne.<br />
› 03<br />
der Spezialist<br />
09
IM FOKUS<br />
von Waren und Dienstleistungen aus dem örtli-<br />
chen Handwerk.<br />
10<br />
Kultur hat letztlich auch die Wirtschaft im<br />
rheinland-pfälzischen Worms kräftig angekur-<br />
belt. Ähnlich wie Altenburg kann die Stadt am<br />
Rhein als Schauplatz der Nibelungensage um<br />
den Helden Siegfried mit historischen Pfunden<br />
wuchern. 2002, zum Nibelungenjahr, sprangen<br />
die Verantwortlichen hier ins kalte Wasser und<br />
brachten mit den Nibelungen-Festspielen erst-<br />
mals in Worms Theater der Premiumklasse auf die<br />
Bühne. Ein hochwertiges Stück an historischem<br />
Ort, mit Dieter Wedel ein Top-Regisseur und ein<br />
Ambiente rund um die Festspiele, das auch den<br />
VIPs die passende Bühne bietet. „Ein Kulturange-<br />
bot auf solch hohem Niveau“, sagt der Wormser<br />
Oberbürgermeister Michael Kissel, „ist durchaus<br />
ein Standortfaktor.“<br />
Während Worms als Nibelungenstadt sein<br />
Alleinstellungsmerkmal gefunden hat, dauert die<br />
Entwicklung hin zu einem unverwechselbaren<br />
Profil im thüringischen Altenburg noch an. Nach<br />
ersten Erfolgen ist Kontinuität gefragt, ohne dass<br />
der Spezialist<br />
das Ereignis Prinzenraub beliebig wird. Nach<br />
Überzeugung der Akteure ist das Projekt für viele<br />
Jahre machbar. Auch für Oberbürgermeister Wolf<br />
ist es aus dem kulturellen Leben der Stadt nicht<br />
mehr wegzudenken.<br />
Die Altenburger haben sich auch sonst viel vorge-<br />
nommen: Sie wollen neue Unternehmen akqui-<br />
rieren und ein familienfreundlicher Wohn- und<br />
Bildungsstandort werden. Ihre Probleme lösen sie<br />
jetzt – auch mit dem Erfolgserlebnis Prinzenraub<br />
im Rücken – offensiv. „Die Stadt wird ihren Weg<br />
gehen“, ist Wolf sicher, „nicht nur, weil ihr Ober-<br />
bürgermeister ein Berufsoptimist ist.“<br />
› 04<br />
„DIE STADT ALTENBURG WIRD IHREN WEG<br />
GEHEN“<br />
› 04<br />
Die Nibelungen-Festspiele<br />
in Worms begeistern nicht<br />
nur Kulturinteressierte,<br />
auch die Wirtschaft verzeichnet<br />
positive Effekte.<br />
INFO<br />
Kultur ist mittlerweile ein<br />
handfester Wirtschaftsfaktor.<br />
Laut einer EU-Studie<br />
aus dem Jahr 2006 trägt<br />
sie 2,6 Prozent zum<br />
Bruttoinlandsprodukt der<br />
Europäischen Union bei.<br />
Das Beispiel Worms verdeutlicht<br />
die Entwicklung.<br />
Rund fünf Millionen Euro<br />
betrug das Gesamtbudget<br />
für die Nibelungen-Festspiele<br />
im Jahr 2004. 1,8<br />
Millionen Euro wurden<br />
als Umsatz unmittelbar in<br />
Worms verbucht. Die Nettowertschöpfung<br />
betrug<br />
1,1 Millionen Euro.
Kultur Und wirtschaft als<br />
Strategische Partner<br />
Immer mehr Unternehmen setzen auch auf weiche Standortfaktoren, dazu gehört das<br />
kulturelle Angebot in der Region. Wie Künstler und Unternehmer voneinander profitieren<br />
können, erklärt Hans-Joachim Frey, Generalintendant des Bremer Theaters, im Interview.<br />
INTERVIEW › Daniel Günther und Stine Behrens<br />
Der Spezialist: Kultur gilt als eine treibende Wirt-<br />
schaftskraft. Warum ist das so und welche Rolle<br />
spielt Kultur in Deutschland?<br />
Frey: Grundsätzlich finde ich es erst mal schön,<br />
dass es sich überhaupt in diese Richtung entwi-<br />
ckelt. Darin steckt aber auch eine Gefahr: Kul-<br />
tur darf nicht darauf reduziert werden, wie viele<br />
Arbeitsplätze sie bringt oder welche ökonomi-<br />
schen Vorteile sie erzielt. Denn sonst wird Kultur<br />
auf eine ausschließlich dienende Funktion redu-<br />
ziert. Kultur ist ein ganz wesentliches Element<br />
einer Gesellschaft, etwas Kreatives, wo Poten-<br />
zial entsteht, wo über die Ränder geschaut wird<br />
und wo etwas entsteht, was nicht der Norm ent-<br />
spricht. Dass Kultur eine große Rolle in Deutsch-<br />
land spielt, lässt sich auch an harten Fakten zei-<br />
gen: So gibt es beispielsweise in Deutschland<br />
mehr Arbeitsplätze in der Kultur als in der Auto-<br />
mobilindustrie. Bei Ansiedlungsgesprächen mit<br />
Unternehmen geht es zu 90 Prozent um hard<br />
facts. Aber die letzten zehn Prozent sind rein emo-<br />
tional. Da sind auch Kunst und Kultur entschei-<br />
dende Faktoren. Das wissen die Menschen noch<br />
zu wenig, merken aber, dass es von immer größe-<br />
rer Relevanz sein kann. Insofern ist Kultur wirk-<br />
lich eine ganz treibende Kraft.<br />
Der Spezialist: Wie hat sich die Beziehung von<br />
Kultur und Wirtschaft in den letzten Jahren ver-<br />
ändert?<br />
Frey: Die Beziehung hat sich komplett verändert.<br />
Beide Bereiche entdecken einander mehr und<br />
mehr, was ich wirklich gut finde. Kunst und Kultur<br />
werden in Deutschland vom Staat finanziert. Der<br />
kann diese Rolle aber auf Dauer nicht halten. Des-<br />
halb geht die Kultur immer stärker auf die Wirt-<br />
› 05<br />
IM GESPRÄCH<br />
› 05<br />
Hans-Joachim Frey ist seit<br />
2007 Generalintendant<br />
des Bremer Theaters und<br />
setzt sich für den Dialog<br />
zwischen Kultur und Wirtschaft<br />
ein.<br />
d e r Spezialist<br />
11
PORTRÄT<br />
Hans-Joachim Frey<br />
wurde am 10. Juni 1965<br />
in Gehrden bei Hannover<br />
geboren. Er studierte<br />
Operngesang, Regie und<br />
Kulturmanagement in<br />
Hamburg. Von 1997 bis<br />
2003 war Frey Künstlerischer<br />
Betriebsdirektor, ab<br />
2003 Operndirektor der<br />
Semperoper in Dresden.<br />
Seit August 2007 ist er<br />
Generalintendant des<br />
Theaters Bremen. Schwerpunkte<br />
seiner Arbeit sind<br />
die Nachwuchsförderung,<br />
der künstlerische Dialog<br />
auf internationaler Ebene<br />
sowie der Austausch<br />
zwischen Kultur und<br />
Wirtschaft.<br />
schaft zu und gleichzeitig entdeckt die Wirtschaft<br />
die Kultur. Hier im Theater Bremen gründen wir<br />
beispielsweise gerade ein Board, das zukünftig<br />
auch Mitspracherechte haben soll. Unter den Mit-<br />
gliedern sind auch Wirtschaftsvertreter. So entste-<br />
hen neue Einflüsse für das Theater. Bei Kulturver-<br />
tretern gibt es da die Angst, dass die Wirtschaft<br />
zu dominant wird. Aber Unternehmer und Füh-<br />
rungskräfte sind Meinungsträger der Gesellschaft.<br />
Wenn ich sie nicht von einem künstlerischen Pro-<br />
jekt überzeugen kann, kann ich das Publikum<br />
auch nicht überzeugen. Sie sind wichtige Multi-<br />
plikatoren. Gleichzeitig entdeckt die Wirtschaft<br />
aber auch die Möglichkeiten, mit Kunst und Kul-<br />
tur etwas zu erzählen. Beispiele sind die Autostadt<br />
in Wolfsburg oder die Telekom-Werbung mit Paul<br />
Potts. Kunst wird genutzt und mit ihr wird etwas<br />
erreicht. Daher bin ich sehr optimistisch, dass sich<br />
das zukünftig weiterentwickelt.<br />
SPONSORING WIRD MEHR UND MEHR ZUR<br />
STRATEGISCHEN PARTNERSCHAFT<br />
Der Spezialist: Wo ist die Grenze für die Ver-<br />
mischung zwischen Kultur und Wirtschaft?<br />
Frey: Ich bin kein großer Freund von Grenzen.<br />
Aber eine Grenze wäre sicherlich irgendeine Form<br />
der Zensur, beispielsweise wenn bei Theaterstü-<br />
cken bestimmte Szenen nicht gezeigt werden sol-<br />
len. Wenn aber Filme oder Musicals bestimmten<br />
Spannungsbögen folgen, damit sie wirtschaftlich<br />
erfolgreich sind, halte ich diese Form der inhaltli-<br />
chen Mitsprache für nachvollziehbar.<br />
Der Spezialist: Wann macht es für ein Unterneh-<br />
men Sinn, sich kulturell zu engagieren?<br />
Frey: Für mich macht das natürlich immer Sinn.<br />
Zukünftig geht es aber nicht allein um Sponso-<br />
ring, sondern vielmehr auch um strategische<br />
Partnerschaften. Solch eine Partnerschaft war<br />
beispielsweise die Werbung für Radeberger Pilse-<br />
IM GESPRÄCH<br />
ner mit der Semperoper in Dresden. Beides wurde<br />
als gemeinsame Marke definiert. Durch den Spot<br />
erlangte nicht nur die Brauerei, sondern auch die<br />
Semperoper einen wahnsinnigen Popularitäts-<br />
effekt. Sie wurde zu einer der bekanntesten Kul-<br />
turmarken Deutschlands.<br />
JEDE KÜNSTLERISCHE ENTSCHEIDUNG IST<br />
EINE MARKETINGENTSCHEIDUNG<br />
Der Spezialist: Wirtschaft und Kultur lernen also<br />
voneinander?<br />
Frey: Es ist eine provokante These, aber ich denke,<br />
jede künstlerische Entscheidung ist eine Marke-<br />
tingentscheidung. Im Ursprung denke ich künst-<br />
lerisch, aber ich kann es nicht mehr von den Mar-<br />
ketinggedanken trennen. Wenn ich ein Stück<br />
auf den Spielplan nehme, muss ich mir Gedan-<br />
ken über die Zielgruppe machen. Ein Beispiel,<br />
wie man eine Oper einem breiteren Publikum<br />
zugänglich machen kann, kommt aus Italien: Mir<br />
bot jüngst ein Komponist aus Rom eine Oper an,<br />
in der 40 Prozent der Komposition Rockmusik<br />
sind, die von einem italienischen Rockmusik-Star<br />
gemacht wird. So wurde ein tolles künstlerisches<br />
Projekt mit einem Marketingeffekt kombiniert. Es<br />
lässt sich also nicht mehr eindeutig trennen. Ich<br />
möchte diese Idee nun hier mit einem deutschen<br />
Rockmusiker umsetzen.<br />
Der Spezialist: Wie steht Deutschland im Bezug<br />
auf das Zusammenspiel von Kultur und Wirt-<br />
schaft im internationalen Vergleich da?<br />
Frey: Da liegen wir ganz weit zurück. Man<br />
muss jedoch auch unterscheiden: Wir haben in<br />
Deutschland das dichteste Kultursystem der Welt.<br />
In Deutschland, Österreich und der Schweiz befin-<br />
den sich 70 Prozent aller weltweit bespielten The-<br />
ater. Wenn ich das im Verhältnis sehe, was jedes<br />
kleine Theater macht, sind wir ganz weit vorne.<br />
Aber in der Denke hängen wir hinterher. Die<br />
der Spezialist<br />
13
IM GESPRÄCH<br />
› 06<br />
Berlin, eine der größten<br />
Kulturstädte der Welt:<br />
Theater, Museen und<br />
Opernhäuser trotzen den<br />
Sparzwängen und ziehen<br />
mittlerweile mehr und<br />
mehr Unternehmen in die<br />
Bundeshauptstadt.<br />
14<br />
der Spezialist<br />
Bayerische Staatsoper ist beispielsweise im Hin-<br />
blick auf Sponsoring das erfolgreichste deutsche<br />
Opernhaus. Die Sponsoringeinnahmen liegen zwi-<br />
schen zwei und drei Millionen Euro. Im Vergleich<br />
dazu: Die Metropolitan Opera in New York hat ein<br />
Budget von fast 200 Millionen Dollar. Davon kom-<br />
men 1,5 Prozent vom Staat und der Rest ist privat<br />
finanziert. Aber dahinter steht auch ein anderes<br />
System. Hier in Deutschland sind wir staatliche<br />
Betriebe, in den USA funktionieren Opernhäuser<br />
oder Theater wie Stiftungen.<br />
Der Spezialist: Kultur gilt als Standortfaktor für<br />
eine Stadt oder gar eine ganze Region. Was wäre<br />
beispielsweise Berlin ohne Kultur?<br />
› 06<br />
Frey: Die Standortfrage ist eine Identitätsfrage.<br />
Ohne Kultur wäre Berlin nichts. Sie ist zwar Bun-<br />
deshauptstadt, hat aber eine nicht so starke Wirt-<br />
schaft. Die Berliner können stolz sein, dass sie es<br />
trotz der Haushaltslage geschafft haben, all diese<br />
Theater, Museen und Opernhäuser zu erhalten.<br />
Mittlerweile siedeln sich in der Stadt auch mehr<br />
Unternehmen an, weil sehr viele interessante<br />
Menschen und die Politik da sind. Aber Berlin ist<br />
in erster Linie die größte Kulturstadt der Welt. Das<br />
wissen die Berliner mittlerweile und nutzen das<br />
für ihr Standortmarketing.<br />
IMMATERIELLE WERTE UND GEISTIGE RES-<br />
SOURCEN ALS ZUKUNFTSCHANCE<br />
Der Spezialist: Im Jahr 2003 waren Sie an der<br />
Gründung des Internationalen Forums für Kunst<br />
und Kultur, des Forum Tiberius, beteiligt. Welche<br />
Ziele verfolgt diese Initiative?<br />
Frey: Das Ziel der Initiative ist in einem Satz<br />
gesagt: Vermittlung von Kultur für die Wirtschaft.<br />
Unser Slogan „Was kann Kultur für die Wirtschaft<br />
leisten?‘“ war natürlich von Anfang an provokant.<br />
Er ist auch kritisiert worden, weil Kultur darin eine<br />
dienende Funktion hat, sich also der Wirtschaft<br />
anbiedert. Aber wir wollen der Wirtschaft zei-<br />
gen, warum der Umgang mit Kultur so notwendig<br />
ist. Zudem gründen wir gerade einen Weltkultur-<br />
gipfel, bei dem die Frage im Vordergrund steht:<br />
Welches sind die großen zukünftigen Probleme<br />
dieser Welt? Das klingt platt, aber angesichts<br />
des Mangels an natürlichen Ressourcen könnte<br />
es durchaus sein, dass gerade in der westlichen<br />
Welt alles Materielle bald ausgeschöpft ist. Dann<br />
rücken verstärkt immaterielle Werte und geistige<br />
Ressourcen in den Vordergrund. Vielleicht ist es ja<br />
genau das, was uns Europäer in den nächsten Jah-<br />
ren auszeichnet.
Schraube sucht Mutter<br />
AUS DEN BRANCHEN<br />
Aus einem Baukasten individuell auf Kundenwunsch produzierte Produkte stellen die Herstel-<br />
ler oft vor Probleme, denn nicht alle Bauteile sind kompatibel. Produktkonfiguratoren helfen<br />
dem Außendienst vor Ort, alle passenden, umsetzbaren Kombinationen zu präsentieren und<br />
nicht mögliche auszuschließen.<br />
TEXT › Klaus Winter<br />
Produzierende Unternehmen können ein Lied<br />
davon singen: Der Vertrieb variantenreicher Pro-<br />
dukte ist ein schwieriges und zuweilen unrentab-<br />
les Geschäft. Denn wer sich bei der Konfiguration<br />
des Wunschproduktes auf Kataloge oder einfache<br />
Listen verlässt, riskiert Fehler. Im schlimmsten Fall<br />
verkauft der Mitarbeiter im Vertrieb dem Kunden<br />
ein Produkt, das in dieser Form gar nicht herstell-<br />
bar ist. Einen Ausweg aus diesem Dilemma bie-<br />
ten so genannte Produktkonfiguratoren, wie sie<br />
beispielsweise von der Firma encoway angebo-<br />
ten werden. Das im Jahr 2000 gegründete Unter-<br />
nehmen gehört zur Lenze-Gruppe und beschäftigt<br />
derzeit rund 60 Mitarbeiter an seinem Standort in<br />
Bremen.<br />
Die Konfigurationslösungen von encoway kön-<br />
nen per Schnittstelle direkt an die Enterprise-<br />
Resource-Planning(ERP)-Systeme der produzie-<br />
renden Unternehmen angebunden werden oder<br />
auch in Customer-Relationship-Management-<br />
(CRM)-Systeme integriert werden. In diesen Sys-<br />
temen sind häufig die Daten einzelner Kompo-<br />
nenten, das Beziehungswissen und Kundenda-<br />
ten hinterlegt. Diese werden für die Herstellung<br />
der Produkte und für die Erstellung der Angebote<br />
benötigt. Die Konfiguratoren berücksichtigen die<br />
Abhängigkeiten der einzelnen Komponenten für<br />
den vertrieblichen Auswahl- und Angebotspro-<br />
zess. So können quasi „auf Knopfdruck“ vor Ort<br />
beim Kunden korrekte Auftrags- und Bestelldaten<br />
generiert werden. Die Kunden von encoway stel-<br />
len komplexe, variantenreiche Produkte her, die<br />
individuell nach Kundenwunsch oder -anforde-<br />
rungen gefertigt werden.<br />
100 TRILLIARDEN MÖGLICHE KOMBINATIO-<br />
NEN – UND EBENSO VIELE UNMÖGLICHE<br />
Zu diesen Kunden zählt auch der Antriebstech-<br />
nikhersteller Lenze AG. Denn die Lenze-Getrie-<br />
bemotoren lassen sich theoretisch in Trilliarden<br />
möglichen Kombinationen aus einem Baukasten-<br />
system zusammenstellen – allerdings gibt es auch<br />
sehr viele „nicht baubare“ Zusammenstellungen,<br />
und die gilt es, von vornherein auszuschließen.<br />
Was die Aufgabe für den Vertrieb zusätzlich er-<br />
schwert, ist die Tatsache, dass nahezu alle Vari-<br />
› 07<br />
Damit die Auswahl komplexer<br />
Produkte nicht zum<br />
Suchspiel wird: Produktkonfiguratoren<br />
finden die<br />
realisierbaren Varianten.<br />
› 07<br />
der Spezialist 15
AUS DEN BRANCHEN<br />
anten wiederum Abhängigkeiten untereinander<br />
aufweisen, also nicht beliebig miteinander kom-<br />
binierbar sind. So passt nicht jedes Getriebe in<br />
jedes Gehäuse, nicht jede Bremse zu jedem Motor.<br />
Zudem kommen aus der Entwicklungsabteilung<br />
laufend neue Varianten hinzu. Um hier den Über-<br />
blick zu behalten, ist ein zuverlässiges Konfigura-<br />
tionswerkzeug unumgänglich.<br />
16<br />
Auch bei der Hydrometer <strong>GmbH</strong> ist keine Pro-<br />
duktanfrage wie die andere. Das Unternehmen<br />
entwickelt und fertigt innovative Messtechnik für<br />
den Wasser- und Wärmeverbrauch in Privathaus-<br />
halten und öffentlichen Einrichtungen. Fast jedes<br />
Messgerät wird individuell nach Kundenwunsch<br />
zusammengestellt. Um sowohl im eigenen Ver-<br />
trieb als auch in der Auftragsabwicklung Bestell-<br />
und Konfigurationsfehler auszuschließen, setzt<br />
das Unternehmen den Variantenkonfigurator Hy-<br />
kon von encoway ein. Die zentrale Wissensbasis<br />
des Hykon enthält Artikel, Komponenten und das<br />
Beziehungswissen eines Produktes. Die Vertriebs-<br />
mitarbeiter können über die Konfigurationsober-<br />
der Spezialist<br />
fläche Schritt für Schritt die Auswahlmöglich-<br />
keiten an technischen Merkmalen einschränken.<br />
Hat sich ein Kunde beispielsweise entschieden,<br />
in welcher Energieeinheit das Messgerät den Ver-<br />
brauch messen und anzeigen soll, zeigt der Konfi-<br />
gurator nur noch die weiteren Produktmerkmale<br />
an, die damit kombinierbar sind. Zudem wer-<br />
den über den Hykon weitere für die Auftragsab-<br />
wicklung relevante Daten zur Verfügung gestellt,<br />
wie Stücklisten, Prüfpläne und Typenschildda-<br />
ten. Diese werden in einem Warenkorb über eine<br />
Schnittstelle an das Warenwirtschaftssystem des<br />
Unternehmens übertragen. „Der Konfigurator ist<br />
aus unserem Betrieb heute nicht mehr wegzuden-<br />
ken“, betont Christoph Dörrbeck, Projektleiter bei<br />
der Hydrometer <strong>GmbH</strong>. Denn ohne Hykon würde<br />
es teilweise Tage dauern, um zu klären, ob die<br />
gewünschten Produktmerkmale in dieser Form<br />
kombinierbar und technisch umzusetzen sind.<br />
Die Tools sind speziell für den Vertrieb ent-<br />
wickelt und arbeiten webbasiert. Daher sind sie<br />
auch unterwegs und somit vor Ort beim Kunden<br />
› 08<br />
› 08<br />
Thomas Johnsen setzt bei<br />
encoway auf bedienungsfreundlicheSoftwarelösungen,<br />
die die Vertriebsmannschaft<br />
seiner Kunden<br />
umfassend unterstützen.
nutzbar. Daten von Produkten und Einzelbau-<br />
teilen können ebenso wie bereits vorhandenes<br />
Beziehungswissen beispielsweise aus gängigen<br />
ERP-Systemen von SAP, Microsoft oder Baan über-<br />
nommen und ergänzt werden. Die Vertriebsmit-<br />
arbeiter erhalten mit den Tools von encoway die<br />
Möglichkeit, mit Hilfe einer optisch ansprechen-<br />
den, einfach zu bedienenden Oberfläche selbst<br />
komplexeste Produkte fehlerfrei zusammenzu-<br />
stellen.<br />
ZUSATZFUNKTIONEN MACHEN DEN KONFIGU-<br />
RATOR ZUM VERTRIEBSINSTRUMENT<br />
Grundlage für das fehlerfreie Funktionieren ei-<br />
nes Konfigurationssystems ist die gewissenhafte<br />
Pflege der Bauteile und Variantenabhängigkei-<br />
ten. In einigen Unternehmen sind diese Abhän-<br />
gigkeiten bereits in den ERP-Systemen hinterlegt –<br />
sie müssen vom Konfigurator also nur ausgele-<br />
sen und entsprechend dargestellt werden. Wer<br />
die Variantenabhängigkeiten bislang noch nicht<br />
erfasst hat, der kann dies einfach und komforta-<br />
bel über das encoway-Tool erledigen – diese Infor-<br />
mationen werden wiederum in das ERP-System<br />
übernommen. „Entscheidend ist, dass die Daten-<br />
pflege immer nur an einer einzigen Stelle erfolgen<br />
muss und anschließend in allen beteiligten Syste-<br />
men zur Verfügung steht“, erklärt Thomas John-<br />
sen, Vertriebsleiter von encoway.<br />
Der Konfigurator bietet außerdem die Mög-<br />
lichkeit, jedes Bauteil mit begleitendem Marke-<br />
tingmaterial zu versehen. So können Fotos, tech-<br />
nische Zeichnungen, Konstruktionsdetails oder<br />
auch Animationen und Videodateien hinterlegt<br />
und zum Zweck einer besseren und anschauli-<br />
cheren Beratung abgerufen werden. Eine Funk-<br />
tion, die Dr. Armin Walter, Leiter Product & Sales<br />
Support der Lenze AG, zu schätzen weiß: „Unsere<br />
Mitarbeiter können so komplexe Zusammen-<br />
hänge unkompliziert und übersichtlich darstel-<br />
len. Außerdem wird das Mitführen von gedruck-<br />
tem Material nahezu überflüssig.“<br />
› 09<br />
AUS DEN BRANCHEN<br />
› 09<br />
Produktkonfiguratoren<br />
sparen Zeit, Ressourcen<br />
und Geld. Die Softwarelösung<br />
weiß, welche Bauteile<br />
kompatibel sind und<br />
welche nicht.<br />
der Spezialist<br />
17
HISTORY<br />
Gegen alle Widerstände<br />
Gewässer als Start- und Landebahnen für Flugzeuge zu benutzen war keine schlechte Idee.<br />
Doch die physikalischen Eigenschaften von Wasser und der Schiffsverkehr stellten den visionä-<br />
ren Vordenker und Erfinder des Wasserflugzeugs Wilhelm Kress vor große Herausforderungen.<br />
TEXT › Matthias Huthmacher<br />
Wir schreiben den 3. Oktober 1901. Auf dem idyl-<br />
lischen Wienerwaldsee, etwa 20 Kilometer west-<br />
lich der österreichischen Hauptstadt, gesche-<br />
hen seltsame Dinge: Wie eine urzeitliche Riesen-<br />
Libelle gleitet bei Tullnerbach eine dreiflügelige<br />
Erscheinung über die Wasserfläche. Das wunder-<br />
liche Fluggerät nimmt unter Motorenlärm Anlauf,<br />
rast in Richtung Staumauer, bremst kurz davor ab<br />
und dreht. Dreimal wiederholt sich dieses Manö-<br />
ver, dann, im vierten Versuch, passiert es: Beim<br />
Wenden erfasst eine Windböe das Fahrzeug – es<br />
kentert und versinkt in den Fluten.<br />
NICHTS, DAS SCHWERER ALS LUFT IST, KANN<br />
FLIEGEN – ODER DOCH?<br />
Der Mann, der sich mit knapper Not an die Was-<br />
seroberfläche retten kann, heißt Wilhelm Kress.<br />
Er wird als Erfinder des Wasserflugzeugs in die<br />
Geschichte der Luftfahrt eingehen. 67 Jahre ist<br />
er bereits alt und besessen von der Idee, sich mit<br />
Motorenkraft in die Lüfte zu erheben. Schon 1865<br />
baut er einen frei fliegenden Luftkreisel und ein<br />
Flugmodell mit Uhrfederantrieb, das sich jedoch<br />
als zu schwer erweist. Zu dieser Zeit stellen die<br />
Menschen den bislang als unumstößlich gelten-<br />
den Grundsatz in Frage, der besagt, dass nichts flie-<br />
gen könne, was schwerer sei als Luft. Das Gegenar-<br />
gument lautet: Es braucht nur genügend Auftrieb<br />
durch Luftströmung unter ausreichend Flügelflä-<br />
che. Im Sommer 1877 liefert Wilhelm Kress den<br />
18<br />
der Spezialist<br />
Beweis: Ein Drachenfliegermodell aus Stoff, Draht<br />
und Bambusrohr mit einer Flügelspannweite von<br />
1,30 Metern hebt vom Boden ab. Dabei segelt das<br />
„Aeroveloce“ nicht einfach: Es wird von zwei mit<br />
Tuch bespannten Luftschrauben bewegt. Für das<br />
Rotieren der sogenannten Fahnenpropeller sorgt<br />
ein Gummischnurantrieb.<br />
Doch Wilhelm Kress will mehr: Der Mensch<br />
selbst soll als Passagier durch die Luft getragen<br />
werden. Entwicklung und Bau eines entsprechen-<br />
den Gerätes kosten jedoch Geld, viel Geld. Kress<br />
› 10<br />
Modell eines Dreiflüglers<br />
von Wilhelm Kress. Das<br />
Flugzeug wurde aufgrund<br />
von Finanzierungsproblemen<br />
nie realisiert.<br />
PORTRÄT<br />
Am 29. Juli 1836 als Sohn<br />
deutscher Eltern im russischen<br />
Sankt Petersburg<br />
geboren, erlernt Wilhelm<br />
Kress dort den Beruf des<br />
Klavierbauers. Zwischen<br />
1857 und 1864 packt ihn<br />
auf Reisen durch Mitteleuropa<br />
zum ersten Mal das<br />
Flugfieber und das lässt<br />
ihn künftig nicht mehr los.
› 10
HISTORY<br />
› 11<br />
Konstruktionszeichnungen<br />
eines Wasserflugzeuges<br />
von Wilhelm Kress (1901).<br />
20<br />
der Spezialist<br />
fertigt also weitere unbemannte Flugobjekte,<br />
die er zum Verkauf anbietet. Durch Vorführun-<br />
gen versucht er, ein breiteres Publikum für seine<br />
Ideen zu begeistern. Gleichzeitig experimentiert<br />
er weiter, betreibt erste Hubschrauberstudien und<br />
besucht im Alter von 57 Jahren als Gasthörer die<br />
Technische Hochschule in Wien, um sein Wissen<br />
im Maschinenbau zu vertiefen. Schließlich findet<br />
er die Unterstützung einer Fördergruppe, sogar<br />
Kaiser Franz Joseph interessiert sich für das Vor-<br />
haben.<br />
› 11<br />
ERSTER STEUERKNÜPPEL, DER QUER- UND<br />
HÖHENRUDER KOMBINIERT<br />
1898 sind endlich genügend Mittel zusammen,<br />
um mit dem Bau eines bemannten Flugzeugs<br />
zu beginnen. Drei Jahre nimmt das Projekt „Dra-<br />
chenflieger 1“ in Anspruch. Dabei gelingt Wilhelm<br />
Kress mit dem ersten Steuerknüppel zur kom-<br />
binierten Bedienung von Quer- und Höhenru-<br />
der eine weitere bahnbrechende Erfindung – bis<br />
dahin mussten die Ruder einzeln betätigt werden.<br />
Als Motorisierung kauft er einen 30 PS leistenden<br />
Vierzylinder-Benziner von den Daimler-Werken,<br />
der zwei gegenläufig rotierende, elastische Fah-<br />
nenpropeller antreiben soll. Der Flugkörper selbst<br />
besteht aus einem dünnwandigen Stahlrohrrah-<br />
men, der drei mit Tuch bespannte, hintereinan-<br />
der gestaffelte und von oben nach unten versetzte<br />
Flügel sowie eine ausgeprägte Heckflosse trägt.<br />
Die Anordnung der Segel soll Störungen des Luft-<br />
stroms verhindern. Ihre Spannweiten betragen elf,<br />
zwölf und dreizehn Meter. Insgesamt kommen<br />
85 Quadratmeter Flügelfläche zusammen. Die Bo-<br />
denplatte für den Piloten und den Motor ist unter<br />
den Tragflächen auf zwei Schwimmern aus Alu-<br />
minium montiert. Das komplette Fluggerät misst<br />
16,32 Meter in der Länge und 4,50 Meter in der<br />
Höhe, das Gewicht beträgt 850 Kilogramm.<br />
ZEITZEUGEN SEHEN NUR EINEN „HÜPFER“<br />
Der Flugzeugbauer wählt Wasser als Start- und<br />
Landebahn, weil er dort bei Unfällen mit weniger<br />
Beschädigungen an der Maschine rechnet als auf<br />
einer Wiese. Und doch wird ihm das nasse Element<br />
zum Verhängnis: Der nahezu 400 Kilogramm wie-<br />
gende Motor, eigentlich für den Einsatz in Autos<br />
konzipiert, drückt die als Schwimmer dienenden,<br />
nach oben offenen Bootskiele zu tief ins Wasser –<br />
als jener Windstoß am 3. Oktober 1901 den Dreide-<br />
cker erfasst, läuft ein Schwimmkörper voll. Den-<br />
noch wollen Zeitzeugen gesehen haben, dass „Dra-<br />
chenflieger 1“ vor der fatalen Wende kurz die Was-<br />
seroberfläche verlassen hat – zwei Jahre vor dem<br />
bemannten Erstflug der Gebrüder Wright mit<br />
einem Landflugzeug. Dabei dürfte es sich jedoch<br />
allenfalls um einen Hüpfer gehandelt haben. Ver-<br />
mutlich wollte Wilhelm Kress an diesem schick-<br />
salhaften Donnerstag auch gar nicht fliegen: Ihm<br />
ging es um die Erprobung des Schwimmverhal-<br />
tens. Für die eigentlichen Flugversuche plante er,<br />
auf einen der größeren Seen in Kärnten zu gehen.<br />
Dazu kommt es nicht mehr. Zwar nimmt der<br />
beharrliche Tüftler noch ein vierflügeliges Was-<br />
serflugzeug auf geschlossenen Schwimmern in<br />
Angriff, das jedoch wegen finanzieller Schwierig-<br />
keiten nicht über den Rohbau hinauskommt. Wil-<br />
helm Kress stirbt am 24. Februar 1913 nach länge-<br />
rer Krankheit in Wien.
› 12<br />
Das Schwimmflugzeug<br />
Dornier Do-X verfügt über<br />
zwölf Motoren. Mit Platz<br />
für 170 Passagiere war es<br />
Anfang der Dreißiger-<br />
jahre das größte Flugzeug<br />
der Welt.<br />
Der erste Flug mit einem Wasserflugzeug gelingt<br />
noch zu Kress’ Lebzeiten: Der französische Inge-<br />
nieur Henri Fabre, der zuvor noch nie in einem<br />
Flugzeug gesessen hatte, startet und landet am<br />
28. März 1910 vor Marseille im Wasser. Fabre hatte<br />
unabhängig von Kress dessen Ansätze weiterent-<br />
wickelt. Zu den wesentlichen Veränderungen sei-<br />
nes Flugzeugs „Hydravion“ gehörten ein 50 PS<br />
starker, gewichtsoptimierter Sternmotor sowie<br />
robuste, geschlossene Schwimmer.<br />
WASSERFLUGZEUGE VERLIEREN NACH DEM<br />
ZWEITEN WELTKRIEG AN BEDEUTUNG<br />
In den folgenden Jahrzehnten entstehen in Eu-<br />
ropa zahlreiche Wasserflughäfen, weil damit kos-<br />
tengünstige Start- und Landebahnen verfügbar<br />
sind. Mit wachsendem Flugaufkommen verliert<br />
› 12<br />
der Spezialist<br />
HISTORY<br />
das Wasserflugzeug nach dem Zweiten Weltkrieg<br />
jedoch an Bedeutung. Der Platz auf den natürli-<br />
chen Landebahnen ist durch den Schiffsverkehr<br />
eingeschränkt. Wind und Wellengang erschweren<br />
Start und Landung, was einen geregelten Flug-<br />
verkehr behindert. Zudem sind den Dimensio-<br />
nen eines Wasserflugzeugs enge Grenzen gesetzt:<br />
Mit wachsender Größe des Flugkörpers werden<br />
auch immer größere Schwimmer nötig. Das führt<br />
schon in den Zwanziger- und Dreißigerjahren zur<br />
Entwicklung von Flugbooten, bei denen der kom-<br />
plette Rumpf wie ein Schiffskörper geformt ist.<br />
Sie erfordern wegen des Saugeffekts von Was-<br />
ser aber noch stärkere Motoren: Das 1952 fertig<br />
gestellte Flugboot „Saunders-Roe Saro Princess“<br />
gilt bis heute als das größte seiner Art und benö-<br />
tigte zum Transport von maximal 105 Passagie-<br />
ren schon zehn Turboprop-Triebwerke mit jeweils<br />
3.245 PS. Dazu kommen weitere konstruktionsbe-<br />
dingte Nachteile der wassergestützten Maschi-<br />
nen: Sowohl der Rumpf eines Flugboots als auch<br />
die nicht einziehbaren Schwimmer eines Wasser-<br />
flugzeugs verschlechtern im Vergleich zu landge-<br />
stützten Flugzeugen die Aerodynamik. Flugboote<br />
werden heute fast nur noch als Löschflugzeuge<br />
eingesetzt.<br />
Wasserflugzeuge dagegen dienen weiterhin<br />
der Personenbeförderung: Im Linienverkehr insel-<br />
reicher Regionen wie den Malediven, in Nordame-<br />
rika sowie für Rettungsmannschaften und Besu-<br />
cher abgelegener Gegenden sind die Flugzeuge<br />
auf Schwimmern unentbehrlich.<br />
21
› 13
technische projekte<br />
Komplexe Systeme schaffen<br />
Sicherheit<br />
Immer komplexer, immer sicherer. So lässt sich die Entwicklung der elektronischen Helfer im<br />
Automobil zusammenfassen. Die Ingenieure bei VW sorgen dafür, dass die Software und Hard-<br />
ware der Steuergeräte auch unter Extrembedingungen zuverlässig funktioniert.<br />
TEXT › Matthias Huthmacher<br />
Der 21. Oktober 1997 hat die Autowelt verändert. Beim soge-<br />
nannten Elchtest, einem in Nordeuropa schon damals gängi-<br />
gen, doppelten Ausweichmanöver, kippte die funkelnagelneue<br />
A-Klasse von Mercedes um. Das hatte weitreichende Folgen für<br />
die gesamte Automobilindustrie. Elektronische Stabilitätspro-<br />
gramme (ESP), bis dahin nur in gehobenen Fahrzeugklassen im<br />
Einsatz, traten ihren Siegeszug quer durch die Modellpaletten<br />
an. Geht es nach dem Willen der EU, dann werden sie ab dem<br />
Jahr 2012 für alle Neuwagen sogar vorgeschrieben.<br />
Dabei wurde ESP ursprünglich gar nicht gegen das Kippen<br />
eines Autos erdacht. Vielmehr soll über den gezielten Brems-<br />
eingriff an je nach Fahrsituation unterschiedlichen Rädern das<br />
Schleudern des Wagens schon im Keim erstickt werden. Gleich-<br />
zeitig greifen die meisten Systeme auch noch in das Motoren-<br />
management ein und nehmen Gas weg. Weil die Elektronik<br />
dadurch auch extreme Lenkwechsel entschärft, lässt sie erst<br />
gar kein destabilisierendes Aufschaukeln des Wagens zu – das<br />
Unterbinden von Kippneigungen gibt es damit quasi als Bonus<br />
dazu.<br />
DIE HERAUSFORDERUNG IST DIE STÄNDIG STEIGENDE<br />
KOMPLEXITÄT ELEKTRONISCHER SICHERHEITSSYSTEME<br />
Volkswagen zählt zu jenen Herstellern, die nach dem Elchtest<br />
am schnellsten reagierten und ESP rasch in ihre Baureihen<br />
einführten. Seither werden die Systeme stetig weiterentwi-<br />
ckelt, verbessert und ergänzt. Und hier sind sie an entscheiden-<br />
der Stelle dabei – vier Mitarbeiter der <strong>Brunel</strong> Niederlassung in<br />
Wolfsburg. Sie sind in der Abteilung EFBS der technischen Ent-<br />
wicklung der Volkswagen AG eingesetzt, so genannt nach den<br />
Anfangsbuchstaben der betroffenen Bereiche Entwicklung,<br />
Fahrwerk, Bremse sowie Schlupfre-<br />
gel- und Assistenzsysteme.<br />
Drei von ihnen beschäftigen<br />
sich mit der Entwicklung von Soft-<br />
und Hardware für ESP-Steuergeräte.<br />
Dabei ist Frank Goldberg, Diplom-<br />
Ingenieur der Elektrotechnik, zu-<br />
ständig für die Modellreihen Passat<br />
und Tiguan. Jean-Jacques Engamba,<br />
ebenfalls Elektrotechnik-Ingenieur,<br />
und Stefan Kraut, Ingenieur der<br />
Technischen Informatik, kümmern<br />
sich um das ESP für die Golf-Platt-<br />
form. Diese kommt innerhalb des<br />
Volkswagen-Konzerns auch noch bei<br />
Audi, Seat und Skoda zum Einsatz.<br />
Mit jeder Modelländerung muss<br />
die Software an die neue Mechanik<br />
und Elektronik angepasst werden.<br />
„Unsere größte Herausforderung ist<br />
aber die stetig zunehmende Kom-<br />
plexität elektronischer Sicherheits-<br />
systeme“, erklärt Frank Goldberg.<br />
Das ESP greift mittlerweile ja nicht<br />
nur auf die ABS-Bremse zurück, son-<br />
dern enthält zahlreiche weitere inte-<br />
grierte Funktionen. Dazu zählen bei-<br />
spielsweise Motor-Schleppmoment-<br />
Regelung, Antriebsschlupfregelung,<br />
elektronische Bremskraftverteilung,<br />
hydraulischer Bremsassistent, elek-<br />
› 13<br />
Bei jeder Modelländerung<br />
muss auch die Software<br />
an die neue Mechanik<br />
angepasst werden.<br />
der Spezialist 23
technische projekte<br />
› 14<br />
Aktuell arbeiten (v. l.) Jean-<br />
Jacques Engamba, Frank<br />
Goldberg und Christian<br />
Hoffmann an der Elektronik<br />
diverser VW Modelle.<br />
24<br />
der Spezialist<br />
Kleines Foto:<br />
Stefan Kraut<br />
tronische Differenzialsperre, Brems-<br />
scheibenwischer zum Trocknen der<br />
Bremsscheiben, die Gespannstabili-<br />
sierung für den Anhängerbetrieb<br />
oder die automatische Abstandsre-<br />
gelung ACC – je nach Fahrzeug sind<br />
mehr oder weniger dieser Aufgaben<br />
in der ESP-Steuerung enthalten.<br />
EPB: AUS DER HANDBREMSE<br />
WIRD EIN ANFAHRASSISTENT<br />
Und dann gibt es noch die elektro-<br />
mechanische Feststellbremse, kurz<br />
EPB (Electronic Parking Brake) ge-<br />
nannt. Christian Hoffmann, Diplom-<br />
Ingenieur der Elektrotechnik und der<br />
vierte der Wolfsburger <strong>Brunel</strong>-Inge-<br />
nieure, ist für die EPB-Steuergeräte<br />
von Passat und Tiguan verantwort-<br />
lich. Auf den ersten Blick stellt dieses<br />
System einfach einen Ersatz der klas-<br />
sischen, mechanisch über Seilzüge<br />
bedienten Handbremse dar, nur dass hier über Elektromoto-<br />
ren aktivierte Spindelantriebe die hinteren Bremsbeläge anle-<br />
gen und arretieren. Doch die EPB kann noch viel mehr. Sie dient<br />
beispielsweise auch als Anfahrassistent: Wird sie am Berg akti-<br />
viert, hält sie das Auto so lange fest, bis die Elektronik anhand<br />
von Gaspedalstellung und Kupplungsstand erkennt, dass wie-<br />
der angefahren werden soll – dann löst sie sich von selbst.<br />
Auch zur Autohold-Funktion des Tiguan trägt sie bei. Stoppt<br />
dessen Fahrer am Hang, muss er nicht die ganze Zeit auf dem<br />
Bremspedal stehen bleiben. Zunächst wird der durch das Tre-<br />
ten der Fußbremse aufgebaute Druck der Bremshydraulik „ein-<br />
gefroren“ und hält das Fahrzeug fest. Fällt aber der Druck des<br />
Bremssystems, etwa durch das Ausschalten des Motors, greift<br />
automatisch die EPB ein – das Auto bleibt am Platz. Außerdem<br />
kann über die EPB-Taste in einer Notsituation eine Vollbrem-<br />
sung ausgelöst werden. Um diese weiter reichenden Funktio-<br />
nen erfüllen zu können, muss auch die EPB mit dem ESP ver-<br />
netzt sein.<br />
„Wir sind Versuchs-, Test- und Entwicklungsingenieure in<br />
einem“, umschreibt Christian Hoffmann das weit gesteckte<br />
Aufgabenfeld des <strong>Brunel</strong>-Teams. „Wir definieren neue Aufgaben<br />
und entwerfen die Protokolle dazu, führen die Tests anschlie-<br />
ßend selbst durch, werten danach die Ergebnisse aus und doku-<br />
› 14
mentieren sie.“ Mit anderen Worten: Nicht nur ein verantwor-<br />
tungsvoller, sondern auch ein abwechslungsreicher Job. Eine<br />
Arbeit, die Theorie und Praxis gleichermaßen umfasst: „Die Zeit<br />
im Büro und draußen im Auto verteilt sich etwa 50:50“, so Hoff-<br />
mann.<br />
AUCH BEI SENSORAUSFÄLLEN MUSS DIE ELEKROMECHA-<br />
NISCHE PARKBREMSE ZUVERLÄSSIG FUNKTIONIEREN<br />
Der Arbeitsplatz wechselt ständig. Am Schreibtisch werden<br />
unterschiedliche Szenarien erdacht und die Steuereinheiten<br />
entsprechend programmiert. Im Labor erfolgt die Inbetrieb-<br />
nahme neuer Geräte: Dort müssen sie sich in den virtuell erzeug-<br />
ten Fahrsituationen einer HIL-Simulation („Hardware in the<br />
Loop“ – Der Spezialist berichtete über dieses Thema in Ausgabe<br />
11) erstmals bewähren. Doch dann geht es hinaus aufs Testge-<br />
lände oder auf die Straße. Über ihren Laptop haben die Ingeni-<br />
eure direkten Zugriff auf das zu prüfende Steuergerät des Autos<br />
und können es manipulieren. Damit provozieren sie im realen<br />
Fahrversuch jene Situationen, die sie vorab festgelegt haben.<br />
Das ESP-Trio beispielsweise lässt den Gierratensensor ausfal-<br />
len – die Stabilitätskontrolle verliert damit zwar den Zugriff auf<br />
dessen Daten, muss aber beim folgenden Fahrversuch trotz-<br />
dem Mindestfunktionen wie das ABS aktivieren. Oder Chris-<br />
tian Hoffmann simuliert einen Defekt des Kupplungssensors –<br />
die elektronische Parkbremse soll dennoch beim Anfahren<br />
mit zusätzlicher Betätigung der EPB-Taste die Bremsen lösen.<br />
„Fail safe test“ nennen sie das –<br />
auch bei auftretenden Fehlfunktio-<br />
nen einzelner Komponenten muss<br />
das Gesamtsystem sicher arbeiten.<br />
Meist sitzen die <strong>Brunel</strong>-Ingeni-<br />
eure bei der praktischen Fahrdyna-<br />
mikerprobung selbst hinterm Lenk-<br />
rad. Wie bei Autotestern üblich,<br />
haben sie dazu spezielle Fahrertrai-<br />
nings absolviert. Die idealen Voraus-<br />
setzungen zur praktischen Erpro-<br />
bung von Sicherheits- und Assis-<br />
tenzsystemen sind Straßen, die mit<br />
ausreichend Schnee und Eis bedeckt<br />
sind. Daher packen die Spezialisten<br />
auch schon mal mitten im Winter<br />
ihre dicken Daunenjacken ein und<br />
reisen dorthin, wo sie die optimalen<br />
Witterungsbedingungen finden.<br />
technische projekte<br />
› 15<br />
› 15<br />
Der Golf I und der Golf V<br />
im direkten Vergleich:<br />
Bereits das Fahrwerk des<br />
Golf I war Dank seiner<br />
großen Sicherheitsreserven<br />
wegweisend. Seither<br />
wurde es bei jedem Nachfolgemodellweiterentwickelt.<br />
d e r Spezialist 25
MITARBEITER UND KARRIERE<br />
Avionikspezialistin startet<br />
durch<br />
Sie hat eine exzellente internationale Ausbildung und arbeitet in einem Bereich, in dem es<br />
weltweit nur wenige Experten gibt: Yurong Zhang ist bei Lufthansa Technik in Hamburg im<br />
Einsatz, um Design und Entwicklung von Avioniksystemen zu unterstützen.<br />
TEXT › Frank Littek<br />
Manchmal, wenn Yurong Zhang in den großen<br />
Werkshallen von Lufthansa Technik in Hamburg<br />
oder Frankfurt unterwegs ist, scheint die Welt<br />
klein wie ein Dorf. „Es kommt immer wieder vor,<br />
dass ich einem Ingenieur begegne, mit dem ich<br />
schon vor etwa acht Jahren bei AMECO in Peking<br />
zusammengearbeitet habe“, stellt die 31-Jährige<br />
fest, die in China geboren wurde und dort aufge-<br />
wachsen ist. Kein Wunder: AMECO, die Aircraft<br />
Maintenance and Engineering Corporation, wur-<br />
de als Joint Venture zwischen der Lufthansa und<br />
Air China gegründet. Das Unternehmen hat sich<br />
auf die Instandhaltung und den Umbau moder-<br />
ner Verkehrsflugzeuge spezialisiert. Für Lufth-<br />
ansa-Techniker ist ein Aufenthalt in Peking des-<br />
halb nichts Ungewöhnliches. Die <strong>Brunel</strong>-Spezi-<br />
alistin Yurong Zhang sammelte bei AMECO im<br />
Anschluss an ihr Studium erste berufliche Erfah-<br />
rungen als Produktionsingenieurin.<br />
MODIFIZIERUNG UND MODERNISIERUNG VON<br />
FLUGZEUGEN SIND IHR SPEZIALGEBIET<br />
Seitdem ist viel Zeit vergangen – Zeit, in der Yu-<br />
rong Zhang viel Know-how und vor allem prak-<br />
tische Erfahrung gewinnen konnte. Heute, bei<br />
Lufthansa Technik, arbeitet sie nicht mehr als<br />
Produktionsingenieurin. Stattdessen gehören zu<br />
ihren Aufgaben das Design und die Entwick-<br />
lung von Avioniksystemen. Der Begriff Avio-<br />
nik bezeichnet die gesamte Elektronik an Bord<br />
26<br />
der Spezialist<br />
moderner Verkehrsflugzeuge. Für diesen äußerst<br />
komplexen Bereich gibt es nicht viele Spezialis-<br />
ten. Yurong Zhang ist eine davon.<br />
Lufthansa Technik agiert heute weltweit. Das<br />
Unternehmen übernimmt die Instandhaltung,<br />
Modernisierung und Modifizierung von Flugzeu-<br />
gen der Lufthansa Flotte sowie für Partner aus<br />
aller Welt. Große Airlines oder zahlungskräftige<br />
Einzelpersonen, Regierungen oder Unternehmen<br />
können hier individuelle Wünsche von der Leder-<br />
ausstattung bis zur Sonderlackierung verwirkli-<br />
chen lassen. Dabei spielen Arbeiten an Avionik-<br />
systemen eine große Rolle.<br />
Am Lufthansa Technik Standort in Hamburg<br />
gehört Yurong Zhang zu einem Team von 13 hoch-<br />
qualifizierten Spezialisten. Nur dieses Team darf<br />
Umbauten im Cockpit der Maschinen vornehmen.<br />
Die anfallenden Arbeiten sind so vielfältig wie<br />
die Wünsche der Kunden. Ein typisches Beispiel<br />
ist die Entwicklung eines neuen Kommunikati-<br />
onspanels für das Cockpit, an dem die junge<br />
Ingenieurin maßgeblich beteiligt war. Bei der<br />
ursprünglich vorhandenen Lösung gab es im Cock-<br />
pit jeweils vier einzelne Schaltelemente für die<br />
Kontrolle von UKW-, Kurzwellenfunk und ACARS.<br />
Die neue Lösung integriert die vier Schaltele-<br />
mente in einem Panel, über das die entsprechen-<br />
den Kommunikationssysteme zentral angesteu-<br />
ert werden können. ACARS steht als Abkürzung<br />
für Air-to-Ground Communication and Repor-<br />
ting System. Dabei handelt es sich um ein satel-<br />
PORTRÄT<br />
2006 wurde Yurong Zhang<br />
Mitarbeiterin von <strong>Brunel</strong>.<br />
Rund anderthalb Jahre<br />
lang war sie bei Lufthansa<br />
Technik in Frankfurt im<br />
Einsatz. Als dann der<br />
Standort Hamburg Bedarf<br />
an einer Avionikspezialistin<br />
anmeldete, hatte<br />
das Unternehmen eine<br />
Wunschkandidatin: Yurong<br />
Zhang.
MITARBEITER UND KARRIERE<br />
› 16<br />
Yurong Zhang ist in<br />
China geboren, studierte<br />
zunächst in ihrer Heimat,<br />
bevor sie in Deutschland<br />
ihren Master machte und<br />
2006 bei <strong>Brunel</strong> einstieg.<br />
28<br />
der Spezialist<br />
litenbasiertes Kommunikationsystem zwischen<br />
Flugzeug und Boden. Gehen im Cockpit Nach-<br />
richten über ACARS ein, werden diese auf einem<br />
kleinen Display angezeigt. Die Piloten haben die<br />
Möglichkeit, die Informationen auf einem klei-<br />
nen Drucker auszugeben. Über ACARS rufen die<br />
Piloten häufig Wetterberichte während des Flu-<br />
ges ab. Auch die Kommunikation mit Wartungs-<br />
technikern der eigenen Airline erfolgt meist über<br />
ACARS, genauso wie über das System wechseln-<br />
de Gatenummern für Anschlussflüge übermittelt<br />
werden. Yurong Zhang entwarf dabei das Panel,<br />
entwickelte das Testverfahren, mit dem die ord-<br />
nungsgemäße Funktion überprüft wurde, und<br />
auch gleich das Wartungshandbuch für das neue<br />
Bauteil.<br />
„ICH LERNE JEDEN TAG ETWAS NEUES. DAMIT<br />
WÄCHST MEINE ERFAHRUNG MIT JEDEM TAG“<br />
Die Arbeit bei Lufthansa Technik ist vielseitig,<br />
abwechslungsreich und technisch sehr tiefge-<br />
hend“, sagt Yurong Zhang über ihre Arbeit. Es<br />
gibt immer viele Möglichkeiten, ein technisches<br />
Problem zu lösen. Eine Herausforderung ihrer<br />
Arbeit liegt darin, den für den jeweiligen Kun-<br />
den optimalen Weg zu finden. Dazu braucht man<br />
vor allem eines: viel Erfahrung. Lernen ist für die<br />
junge Chinesin dabei ein nicht endender Prozess:<br />
„Ich lerne jeden Tag etwas Neues. Damit wächst<br />
meine Erfahrung mit jedem Tag.“<br />
Angefangen hat die Karriere von Yurong Zhang<br />
mit einem Studium der Luftfahrttechnik am Civil<br />
Aviation Institute der Northwestern Polytechni-<br />
cal University der Stadt Xi’an in China. Ihr Schwer-<br />
punkt war schon zu dieser Zeit die Avionik. Vor<br />
allem ihre Mutter, die auch Ingenieurin ist, hatte<br />
Vorbildcharakter: Durch sie kam Yurong Zhang<br />
sehr früh mit technischen Themen in Berührung.<br />
Das Studium beendete sie 1999 mit einem Noten-<br />
durchschnitt von 1,3 und arbeitete im Anschluss<br />
als Produktionsingenieurin bei AMECO in Peking.<br />
An diese Praxisphase schloss sich ein Masterstu-<br />
dium im Fachbereich Elektrische Kommunika-<br />
tionstechnik an der Universität Kassel an. Dass<br />
dabei die Wahl auf Deutschland fiel, hängt eng<br />
mit der Arbeit bei AMECO zusammen. „Viele Stu-<br />
denten in China streben ein Studium in den USA<br />
an. Das war zunächst auch mein Wunsch. In der<br />
Zeit bei AMECO habe ich dann sehr viel mit deut-<br />
schen Ingenieuren zusammengearbeitet und war<br />
beeindruckt von ihrer Qualifikation, von ihrer<br />
ruhigen und gründlichen Art, technische Pro-<br />
bleme zu lösen“, erinnert sich Yurong Zhang. So<br />
entschied sie sich für Kassel. Unterstützt wurde<br />
sie dabei durch Stipendien von der Siemens AG<br />
und der Rheinstahl-Stiftung. Das Studium gefiel<br />
ihr sehr gut. „In Deutschland haben Studenten<br />
mehr Möglichkeiten, sich auszusuchen, was sie<br />
lernen möchten. In China ist alles sehr viel fes-<br />
ter organisiert und vorgegeben“, vergleicht sie<br />
das Studium in beiden Ländern. „Außerdem müs-<br />
sen Studenten in China sehr viel mehr auswendig<br />
lernen“, erzählt sie weiter und fügt lachend hinzu:<br />
„Zudem sind die Semesterferien in Deutschland<br />
viel länger als in China.“<br />
› 16
Auf das Studium folgte dann bis Ende 2005 eine<br />
Anstellung als wissenschaftliche Mitarbeiterin an<br />
der Universität Hannover im Fachbereich Hoch-<br />
frequenztechnik. Zunächst war ihr Ziel die Promo-<br />
tion, doch sie orientierte sich um. Das Interesse an<br />
einer Tätigkeit in der Industrie wuchs. Auch privat<br />
ereignete sich viel: Im Jahr 2005 heiratete Yurong<br />
Zhang und brachte ihr erstes Kind, Tim Hans, zur<br />
Welt.<br />
DIE UNTERNEHMENSKULTUR GIBT DEN AUS-<br />
SCHLAG BEI DER WAHL DES ARBEITGEBERS<br />
Obwohl der berufliche Neueinstieg nach dem Stu-<br />
dium mit einem Baby eine neue Herausforderung<br />
darstellte, bewarb sich Yurong Zhang bei <strong>Brunel</strong><br />
auf eine Stelle als Ingenieurin für Hochfrequenz-<br />
technik. Sie hatte Erfolg. „Die Teamleiterin hatte<br />
für meine Situation mit dem Baby vollstes Ver-<br />
ständnis. Der Kontakt war sofort positiv.“ Ins-<br />
besondere dieser sehr menschliche Kontakt zur<br />
Teamleiterin ist für sie auch heute noch wichti-<br />
ger Bestandteil der Unternehmenskultur. Im Mai<br />
2006 kam sie zu <strong>Brunel</strong> und nahm die Arbeit bei<br />
Lufthansa Technik auf. Sie wurde zunächst am<br />
Standort Frankfurt eingesetzt und ist seit Januar<br />
2008 in Hamburg tätig.<br />
MITARBEITER UND KARRIERE<br />
› 17<br />
› 17<br />
Für Yurong Zhang gehört<br />
auch die Kontrolle der<br />
Arbeiten vor Ort zum<br />
Arbeitsalltag.<br />
der Spezialist 29
AUS DEN BRANCHEN<br />
Operation Schiffsverlängerung<br />
Schiffsneubauten sind teuer und zeitintensiv. Immer mehr Eigner lassen deshalb ihre Schiffe<br />
vom Kreuzfahrtriesen bis zum Kühlschiff verlängern. Dazu wird der Rumpf in der Mitte zerteilt<br />
und eine neue Sektion eingefügt. Eine technische und logistische Herausforderung.<br />
TEXT › Roland Bösker<br />
Eine Fähre ist heutzutage mehr als ein Wasserfahrzeug, das<br />
zwischen zwei Häfen pendelt. Die modernen Schiffe gleichen<br />
kleinen Städten: Die Passagiere können wählen, ob sie ins Res-<br />
taurant oder in eine Bar gehen, ob sie im Fitness-Studio schwit-<br />
zen oder ein Theaterstück anschauen möchten. Wie Metropolen<br />
an Land können auch die schwimmenden Kleinstädte bei wach-<br />
sender Nachfrage aus den Nähten platzen. Da Neubauten teuer<br />
sind und ihre Fertigstellung aufgrund der Auslastung der welt-<br />
weiten Neubauwerften viel Zeit kostet, entscheiden sich Reede-<br />
reien immer häufiger für einen auf den ersten Blick unkonven-<br />
tionellen Weg: Sie lassen Schiffe verlängern. Spezialist auf die-<br />
sem Gebiet ist die Bremerhavener Lloyd-Werft.<br />
KOMPLEXE BERECHNUNGEN FÜR VERÄNDERTE KRÄFTE<br />
Die Werft verlängert alle Schiffstypen, von Kühl- bis zu Passa-<br />
gierschiffen reicht die Palette. Das bislang größte Projekt der<br />
Bremerhavener war die Verlängerung der RoPax-Passagier-<br />
fähre Stena Hollandica um 51,75 Meter auf 240,05 Meter. Schiffe<br />
dieser Art transportieren Passagiere und Fahrzeuge, die an und<br />
von Bord fahren können. 54 Tage lang arbeiteten in Bremerha-<br />
ven rund 1.500 Mann an der Fähre, darunter sechs Ingenieure<br />
für die Aufsicht am Bau und rund 20 weitere für Planung und<br />
Leitung. Die Dimensionen der neuen Stena Hollandica: Sie bie-<br />
tet 3.980 Spurmeter Platz für Fahrzeuge. Würden also alle PKW<br />
und LKW im Laderaum hintereinander geparkt, wäre diese<br />
Schlange fast vier Kilometer lang. In den 398 Kabinen der ver-<br />
größerten Fähre übernachten 900 Passagiere – die Kapazität ist<br />
um mehr als ein Drittel gewachsen.<br />
30<br />
Maßgeblich an diesem Mammutprojekt beteiligt waren Rolf<br />
Ludemann und Benedikt Dreymann, Ingenieure bei der Lloyd-<br />
der Spezialist<br />
Audio-Version unter: www.brunel.de/podcast<br />
Werft in Bremerhaven. Ludemann<br />
leitete das Großprojekt, während<br />
Dreymann als Leiter der Konstruk-<br />
tionsabteilung unter anderem für<br />
Festigkeitsberechnungen und Pla-<br />
nungen der Arbeitsabläufe verant-<br />
wortlich war. Die besondere Her-<br />
ausforderung bei einer Schiffsver-<br />
längerung sieht auch das ungeübte<br />
Auge auf den ersten Blick. „Es sind<br />
die Größe und das enorme Gewicht<br />
eines Schiffes, die eine Verlängerung<br />
kompliziert machen“, erklärt Drey-<br />
mann. Entsprechend umfangreich<br />
gestaltet sich das Sammeln der rele-<br />
vanten technischen Daten, für das er<br />
und sein 15-köpfiges Team zuständig<br />
sind. Schon Wochen bevor ein Schiff<br />
in die Werft kommt, werten sie die<br />
Unterlagen der Reederei aus, stel-<br />
len Berechnungen zu Belastungen<br />
auf See und zu erforderlichen Mate-<br />
rialfestigkeiten an. „Das gesamte<br />
Schiffsskelett muss verstärkt wer-<br />
den“, erklärt Dreymann, „außerdem<br />
müssen zum Beispiel die Schweiß-<br />
nähte den Anforderungen der Zer-<br />
tifizierungsgesellschaftengenü- gen.“ Diese Gesellschaften, eine Art<br />
TÜV, legen für umgebaute Schiffe<br />
die gleichen Sicherheitskriterien<br />
› 18<br />
Neben der Außenhülle<br />
müssen alle Leitungen<br />
und Rohre durchtrennt<br />
werden, bevor das bereits<br />
im Vorfeld gefertigte Mittelstück<br />
millimetergenau<br />
eingepasst und verbunden<br />
wird.
› 18
AUS DEN BRANCHEN<br />
zugrunde wie für neue. Doch letztlich sind sämtliche Rechen-<br />
künste Theorie, denn im Laufe der Zeit werden auf den meisten<br />
Schiffen Aufbauten installiert oder der Innenraum wird verän-<br />
dert. Nicht all diese Änderungen findet man in den Unterlagen<br />
der Reedereien. „Wenn das zu verlängernde Schiff dann bei uns<br />
im Dock liegt, gleichen wir die Werte aus den Unterlagen mit<br />
der Realität ab und passen unsere Planungen an“, erklärt Drey-<br />
mann.<br />
DIE MITTELSTÜCKE WERDEN GENAU WIE KOMPLETTE<br />
SCHIFFE GEBAUT – NUR OHNE BUG UND HECK<br />
„Das neue Mittelteil der Stena Hollandica wurde nach unse-<br />
ren Vorgaben von der Bremerhavener Schichau-Seebeck-Werft<br />
gebaut“, beschreibt Rolf Ludemann. Als Grundlage für die<br />
Konstruktion dienten die Abmessungen, die in den Plänen des<br />
Ur-Schiffes stehen, Breiten und Längen der neuen Schiffssek-<br />
tion mussten präzise zwischen die alten Hälften passen. Bevor<br />
die Stena Hollandica ins Dock der Lloyd-Werft kam, waren<br />
Rohbau und ein Teil der Innenausstattung des neuen Mittel-<br />
stücks bereits fertiggestellt. Die Fertigung unterschied sich<br />
nicht von der eines kompletten Schiffs, es wurden nur der Bug<br />
und das Heck weggelassen. Nach dem Bau musste die Mittel-<br />
sektion mit Schleppern zur Lloyd-Werft verholt werden, wie<br />
es im Seemannsdeutsch heißt. Damit auf der Reise durch die<br />
Hafenbecken kein Wasser in die offenen Seiten eintrat, hat-<br />
ten die Arbeiter der Werft bereits während des Baus Schot-<br />
ten eingezogen, so dass die Konstruktion wie ein ganzes Schiff<br />
schwimmfähig war.<br />
32<br />
Währenddessen wurde in der Lloyd-Werft die Stena Hollan-<br />
dica ungefähr mittig mit Schneidbrennern entlang einer per<br />
Laser bestimmten Linie zerteilt. Hunderte Rohrleitungen und<br />
Kabel wurden getrennt und beschriftet sowie die Innenaus-<br />
stattung entfernt. „Die Außenfarbe des Schiffes haben wir in<br />
Nassstrahltechnik mit Strahldüsen abgetragen“, erklärt Bene-<br />
dikt Dreymann. Binnen drei Tagen im noch trockenen Dock<br />
war diese Arbeit erledigt. Der Bug wurde anschließend fest auf<br />
dem Boden des Docks aufgesetzt. Dazu wurden die Ballasttanks<br />
geflutet, die normalerweise auf See dazu dienen, das Gewicht<br />
im Schiff so zu verteilen, dass es ohne Neigung im Wasser liegt.<br />
Im Gegensatz zum Heck sollte der Bug während des gesam-<br />
ten Verlängerungsprozesses im Dock bleiben. Auch hier wur-<br />
den die offenen Seiten durch Schotten geschlossen. „Der hin-<br />
der Spezialist<br />
tere Teil des Schiffes musste nach<br />
dem Fluten des Docks von Schlep-<br />
pern ins Hafenbecken gezogen wer-<br />
den, um Platz für das neue Mittelteil<br />
zu machen“, beschreibt Dreymann<br />
weiter. „Damit das Heck ohne Nei-<br />
gung zur Seite oder in Längsrich-<br />
tung schwimmen konnte, haben<br />
wir einen speziellen Ponton, einen<br />
stählernen Schwimmkörper, an den<br />
Rumpf angeschweißt.“ Eine mathe-<br />
matische Herausforderung für die<br />
Ingenieure, schließlich mussten<br />
die Verbindungselemente zwischen<br />
dem Ponton und dem Schiffs-<br />
rumpf enormen Belastungen stand-<br />
halten. Nach der Installation des<br />
Schwimmelements wurde das Dock<br />
geflutet, indem es hydraulisch abge-<br />
senkt wurde. „Der Ponton lag wäh-<br />
rend des Anbaus auf hydraulischen<br />
Stützen auf. Vor dem Fluten wur-<br />
den diese entfernt und die mehr als<br />
300 Tonnen schwere Konstruktion<br />
hing minutenlang quasi freischwe-<br />
bend in der Luft“, so Dreymann. Rolf<br />
Ludemann ergänzt: „Am spannends-<br />
› 19<br />
Bevor das neue Mittelstück<br />
eingepasst werden<br />
kann, wird das Schiff mit<br />
Schneidbrennern ungefähr<br />
mittig geteilt. Hierbei ist<br />
höchste Präzision erforderlich.<br />
› 19
› 20<br />
Hafenschlepper verholen<br />
das auf der Bremerhavener<br />
Schichau-Seebeck-Werft<br />
vorgefertigte neue Mittelsegment.<br />
ten war der Augenblick, in dem<br />
das Heckteil aufschwamm. Unsere<br />
Berechnungen stimmten: Der Pon-<br />
ton hielt das Heck gerade und wir<br />
konnten es sicher aus dem Dock zie-<br />
hen.“<br />
Nun wurde das neue Mittelteil<br />
von Schleppern ins Dock geschoben.<br />
› 20<br />
Die Feinausrichtung erledigten hydraulische Winden. Binnen<br />
weniger als eineinhalb Stunden war diese Prozedur vollbracht.<br />
Anschließend wurde das Heck auf die gleiche Weise „eingefä-<br />
delt“ und der Ponton entfernt. Nachdem alle drei Teile neben-<br />
einander im Dock schwammen und die Schnittkanten für<br />
das Schweißen vorbereitet waren, wurden die Niveau-Unter-<br />
schiede zwischen Bug, Mittelteil und Heck ausgeglichen. Die<br />
Winden schoben die Sektionen bis auf zehn Millimeter anei-<br />
der Spezialist 33
AUS DEN BRANCHEN<br />
nander. Drei Tage dauerte diese Präzisionsarbeit. Die verblei-<br />
bende Lücke wurde beim Schweißen geschlossen. Um Span-<br />
nungen im Rumpf zu vermeiden, folgten die Schweißer – 24<br />
Mann an einer Naht – einer genau festgelegten Schweißfolge.<br />
Fertige Nähte wurden mit Röntgenstrahlen durchleuchtet, um<br />
Festigkeit und Qualität zu prüfen.<br />
DIE MANÖVRIERFÄHIGKEIT DES SCHIFFS WURDE DURCH<br />
DIE VERLÄNGERUNG SOGAR VERBESSERT<br />
Die Verlängerung verursacht kaum Mehrverbrauch von Diesel.<br />
„Länge läuft“, sagt Lloyd-Geschäftsführer Werner Lüken, selbst<br />
Ingenieur für Schiffsbetriebstechnik. Mehr Energie braucht<br />
im Falle der Stena Hollandica vor allem die Ausstattung der<br />
neuen Sektion vom Restaurant bis zur Klimaanlage. Die lie-<br />
fert ein neuer Hilfsdiesel mit 2,5 Megawatt Leistung. Ein zwei-<br />
ter 1,7 Megawatt starker Motor versorgt das neue Bugstrahl-<br />
ruder, mittels dessen das Schiff quer zur Fahrtrichtung manö-<br />
34<br />
der Spezialist<br />
vriert werden kann. „Die Manövrier-<br />
fähigkeit des Schiffes ist mit dem<br />
Umbau sogar verbessert worden“,<br />
zitiert Ludemann die Ergebnisse der<br />
Probefahrt.<br />
Seit 2007 ist die neue Stena Hol-<br />
landica wieder auf See unterwegs. In<br />
Bremerhaven wird der Blick derweil<br />
in Zukunft gerichtet. Die Werft ver-<br />
größert ihre Docks, um auch künf-<br />
tig Schiffe der PanMax-Klasse repa-<br />
rieren und umbauen zu können.<br />
Mit 295 Meter Länge und 32,2 Meter<br />
Breite sind dies die größten Schiffe,<br />
die den Panamakanal passieren kön-<br />
nen. Werner Lüken: „Aber der soll<br />
vergrößert werden und dem passen<br />
wir uns an der Weser an.“<br />
› 21<br />
› 21<br />
Beim Ausrichten des neuen<br />
Mittelteils ist Präzision<br />
gefragt. Hydraulische<br />
Winden manövrieren die<br />
drei Einzelsektionen bis<br />
auf 10 Millimeter aneinander.<br />
Allein diese Prozedur<br />
dauert drei Tage.
Videokunst als kreative<br />
Spielwiese<br />
KUNST & BRUNEL<br />
Hans-Werner Eberhardt ist „<strong>Brunel</strong> Künstler des Jahres 2008“. Der Bremer Videokünstler ver-<br />
fremdet Alltägliches und reiht Einzelsequenzen zu kurzen Filmen, die er in Endlosschleifen<br />
laufen lässt. Seine Filme sollen den Betrachter irritieren und so zum Nachdenken anregen.<br />
TEXT › Stine Behrens<br />
PORTRÄT<br />
Hans-Werner Eberhardt<br />
wurde am 9. März 1963 in<br />
Bochum geboren. Nach<br />
seinem Studium der<br />
Visuellen Kommunikation<br />
in Dortmund war er als<br />
Layouter und Art-Direktor<br />
bei verschiedenen Agenturen<br />
in ganz Deutschland<br />
tätig. 1998 machte sich<br />
Eberhardt selbstständig<br />
und gründete 1999 seine<br />
Mediendesign-Agentur<br />
plan2 GbR. Seit sieben<br />
Jahren widmet er sich der<br />
Videokunst.<br />
Eigentlich, sagt Hans-Werner Eberhardt, sei sei-<br />
ne Kunst Grundlagenforschung im Bereich des<br />
Geistigen: „Ich verfolge keinen konkreten Zweck,<br />
sondern probiere etwas aus, arbeite mich in neue<br />
Bereiche hinein.“ Die <strong>Brunel</strong> <strong>GmbH</strong> hat diese indi-<br />
viduelle Art der „Forschung“ überzeugt: Hans-<br />
Werner Eberhardt ist „Künstler des Jahres 2008“.<br />
Der 45-jährige Bremer ist Videokünstler. „Ein<br />
riesengroßer Bereich“, wie er bemerkt. Der Unter-<br />
schied zwischen seinen Werken und der als „klas-<br />
sisch“ geltenden Videokunst der Achtzigerjahre<br />
ist schnell erklärt: „Damals wurden Videos ana-<br />
log produziert. Heutzutage habe ich die Mög-<br />
lichkeiten, digital in die Daten einzugreifen, und<br />
kann mich so gestalterisch ganz anders auslas-<br />
sen.“ Daher muss das Ausgangsmaterial seiner<br />
Videos weder aufwendig noch extravagant sein.<br />
„Ich filme einfach drauflos. Das sind ganz banale<br />
Alltagssituationen, nichts Spezielles“, sagt Eber-<br />
hardt. So entsteht ein wachsender Fundus an<br />
der Spezialist 35
› 22<br />
Durch Verzerrungen, Dehnungen,<br />
Veränderungen<br />
der Farben und Spiegelungen<br />
entstehen abstrakte<br />
Bildnisse das Alltags.<br />
Im Video „Maschinencode“<br />
bewegen sich Figuren,<br />
davor läuft der Programmcode.<br />
36<br />
der Spezialist<br />
Material, den er auf der Festplatte seines Com-<br />
puters sammelt. Diesen durchstöbert er, „so wie<br />
andere Menschen ab und an ihre Fotoerinnerun-<br />
gen durchschauen“. Dabei stößt er immer wieder<br />
auf nur wenige Sekunden lange Sequenzen, die<br />
ihn aus ganz unterschiedlichen Gründen anspre-<br />
chen oder berühren – eine sehr persönliche Ange-<br />
legenheit.<br />
Das kann ein Baum sein, der sich sanft im Wind<br />
wiegt, oder eine Person, die auf eine interessante<br />
Art in die Kamera blickt.<br />
KUNST DURCH DIGITALE VERFREMDUNG<br />
„Diesen Ausschnitt nehme ich aus dem Video her-<br />
aus und bearbeite ihn, ich dehne, spiegele oder<br />
verändere die Farben. So lange, bis ich das Gefühl<br />
habe, das ist für mich rund.“ Eberhardt nennt die-<br />
sen Prozess „collagierendes Arbeiten“. Diese indi-<br />
viduelle Art, bewegte Bilder zu zerlegen und neu<br />
zusammenzusetzen, zieht sich wie ein roter Faden<br />
durch seine Arbeiten. Ein geübtes Auge würde<br />
seine Handschrift durchaus erkennen und Eber-<br />
hardts Videos von denen anderer Videokünstler<br />
unterscheiden.<br />
Sein Handwerkszeug ist sein Computer. Im<br />
Gegensatz zu Künstlern, die mit Pinsel und Staf-<br />
felei arbeiten, hat Eberhardt hier die Möglichkeit,<br />
Arbeitsschritte rückgängig zu machen. Dennoch<br />
oder gerade deshalb kann es Tage dauern, bis er<br />
ein Video fertig gestellt hat: „Der Computer muss<br />
gewaltige Datenmengen verarbeiten. Das gilt auch<br />
für Schritte, die ich wieder zurücknehme, weil das<br />
Resultat für mich beispielsweise nicht die Aus-<br />
sage hat, die ich erhofft hatte“, erklärt Eberhardt.<br />
Als Leinwand für seine virtuellen Motive eignen<br />
sich PC-Bildschirme, Fernseher oder digitale Bil-<br />
derrahmen.<br />
› 22
Auch beruflich hat Hans-Werner Eberhardt mit<br />
Medien zu tun. Seit 1988 arbeitet er als Medien-<br />
designer, konzipiert und gestaltet Internetseiten<br />
und Printerzeugnisse.<br />
RAUM FÜR INTERPRETATIONEN UND IRRITATI-<br />
ONEN DER WAHRNEHMUNG<br />
„Dadurch setze ich mich täglich mit der Wirkung<br />
von Medien auseinander“, so der Künstler, „da ist<br />
der Schritt nicht weit, mich auch intensiver mit<br />
bewegten Medien zu beschäftigen.“ Während es<br />
in seinem Beruf um Eindeutigkeit geht und die<br />
Botschaften seiner Arbeiten schnell erfassbar sein<br />
sollen, ist seine Kunst für ihn eine „kreative Spiel-<br />
wiese“. Hier kann er fernab von Kundenwünschen<br />
und wirtschaftlichen Zwängen „forschen“. Seine<br />
Werke sollen bewusst Raum für Interpretationen<br />
lassen, aber auch zum Nachdenken anregen. „Ich<br />
nenne es die ,Irritation der Wahrnehmung‘. Der<br />
Betrachter soll stutzig werden.“ Denn Vielen sei<br />
nicht bewusst, dass die Medien nur eine konstru-<br />
ierte Wirklichkeit darstellen. Mit seinen Videos<br />
möchte er zeigen, dass sich der zweite Blick und<br />
das Hinterfragen der Medien lohnt. „In den Videos<br />
ist nicht viel Action, es wird keine Story erzählt.<br />
Erst bei genauem Hinsehen merkt der Betrachter,<br />
dass in den auf zwei bis drei Minuten gestreck-<br />
ten und in einer Dauerschleife laufenden Sequen-<br />
zen etwas anders ist, etwas Überraschendes – und<br />
vielleicht wird er dadurch angestoßen, noch ein-<br />
mal genauer hinzuschauen.“<br />
› 23<br />
KUNST & BRUNEL<br />
› 23<br />
„Ruderer“ heißt dieses<br />
Werk von Hans-Werner<br />
Eberhardt, in dem der<br />
Protagonist aussichtslos<br />
gegen sich selbst anrudert.<br />
der Spezialist 37
Forschung & Wissenschaft<br />
Wundheilung für Oberflächen<br />
Oberflächen, die sich selbst reparieren, sind noch eine Zukunftsvision. Mögliche Einsatz-<br />
gebiete gibt es hingegen viele – vom Auto bis zum Windradrotor. Forscherteams testen zurzeit<br />
Nanokapillarnetzwerke, Nanokapseln und Nanocontainer auf Praxistauglichkeit.<br />
TEXT › Dr. Ralf Schrank<br />
Jeder kennt den Alptraum des Neuwagenbe-<br />
sitzers: die lange, hässliche Schramme in der<br />
Metallic-Lackierung des gerade teuer erstande-<br />
nen Wagens. Aber nicht nur Autos sind „oberflä-<br />
chenveredelt“ – lackiert, galvanisiert, emailliert,<br />
eloxiert, vakuumbeschichtet. Es gibt kaum ein<br />
Gebrauchsgut, das nicht mit einem schützenden<br />
oder dekorativen Überzug versehen wäre.<br />
FORSCHER ARBEITEN MIT HOCHDRUCK AN<br />
AKTIVEN REPARATURSYSTEMEN<br />
Nach einer Studie der Deutschen Forschungsge-<br />
sellschaft für Oberflächenbehandlung e. V. liegt<br />
das wirtschaftliche Volumen der Beschichtungs-<br />
und Oberflächentechnik allein in Deutschland<br />
bei 70 Milliarden Euro pro Jahr. Beim laufenden<br />
Betrieb von Windkraftanlagen beispielsweise stel-<br />
len die Inspektion und die Erneuerung der Rotor-<br />
blätter-Oberflächen nach Beschädigungen durch<br />
Korrosion und Witterungseinflüsse den größten<br />
Kostenfaktor dar.<br />
38<br />
Daher arbeiten Forscher mit Hochdruck an ak-<br />
tiven Reparatursystemen, die die passive Schutz-<br />
schicht im Falle einer Beschädigung wieder her-<br />
stellen sollen. Zwar ist das noch ferne Zukunfts-<br />
musik, jedoch gibt es viel versprechende Modell-<br />
studien, die sich mit Hilfe nanotechnischer Metho-<br />
den vielleicht in die Praxis umsetzen lassen. Pate<br />
stehen dabei biologische Heilungsprozesse, wie<br />
sie jeder beispielsweise von seiner Haut kennt:<br />
der Spezialist<br />
Sie ist in der Lage, Schäden durch Nachwach-<br />
sen auszuheilen. Dazu werden gezielt Reparatur-<br />
substanzen zur Wunde transportiert. Mit Erfolg<br />
haben Forscher bereits diese Art der Wundhei-<br />
lung nachgebildet. So gelang es, ein dreidimen-<br />
sionales Netzwerk aus haarfeinen Kapillaren in<br />
eine passive Schutzschicht einzubetten. Durch die<br />
Kapillaren zirkuliert eine Flüssigkeit, die im Kon-<br />
takt mit einem Katalysator zu einem Kunststoff<br />
aushärtet. Der Katalysator ist gleichmäßig in der<br />
Schicht verteilt. Wird die Schicht angekratzt und<br />
› 24<br />
› 24<br />
Die Rotoren von Windkraftanlagen<br />
könnten bald zu<br />
den vielfältigen Einsatzgebieten<br />
von selbstheilenden<br />
Schichten zählen.
SELBSTHEILUNG VON OBERFLÄCHENBESCHICHTUNGEN<br />
�������������������<br />
������������������������<br />
��������������������<br />
�������������<br />
eine Kapillare geöffnet, fi ndet an der Schadstelle<br />
die Reparaturreaktion statt. Wenn die Schicht an<br />
der gleichen Stelle nochmals verletzt wird, ist<br />
sogar ein zweiter Ausheilprozess möglich. Einfa-<br />
cher zu realisieren ist das Konzept der Reparatur-<br />
container, bei dem eine Schutzfl üssigkeit in win-<br />
zige Pakete eingekapselt wird. Die Pakete werden<br />
in der passiven Schutzschicht deponiert. Bei einer<br />
�����������<br />
�������������������������<br />
�����������������������������<br />
mechanischen Beschädigung der Schicht platzen<br />
einige Pakete. Der Container-Inhalt kann die pas-<br />
sive Schicht reparieren oder das Material darun-<br />
ter schützen. Allerdings nur einmal: Eine zweite<br />
Verletzung an der gleichen Stelle heilt nicht mehr<br />
aus.<br />
Bislang hat noch keines der in den letzten zehn<br />
Jahren vorgestellten aktiven Reparatursysteme<br />
der Spezialist 39
Forschung & Wissenschaft<br />
Eingang in die Praxis gefunden. Die realisier-<br />
ten Kapillaren und Container sind mit 2 bis 100<br />
Mikrometern (ein menschliches Haar ist etwa 25<br />
bis 50 Mikrometer dick) einfach zu groß. Dadurch<br />
stören sie die Funktionalität der heute allgemein<br />
verwendeten passiven Schutzschichten erheblich.<br />
Denn die sind ebenfalls nur einige zehn Mikro-<br />
meter dick. Wirklich „intelligente“ Schutzschich-<br />
ten werden daher Nanocontainer oder Nanonetz-<br />
werke enthalten müssen. Denn erst wenn die ein-<br />
gebetteten Reparaturkapillaren und -container<br />
nur noch um die 100 Nanometer (gleich 0,1 Mikro-<br />
meter) groß sind, beeinträchtigen sie die Wirk-<br />
samkeit der passiven Schutzschicht nicht mehr<br />
wesentlich.<br />
40<br />
Seit dem Frühjahr 2008 fördert die Volkswa-<br />
genstiftung zwei deutsche Forschungsprojekte,<br />
die dem Konzept der Selbstheilung den Weg in die<br />
Nanowelt ebnen sollen. Eines dieser Projekte ist<br />
am Institut für Industrielle Fertigung und Fabrik-<br />
betrieb (IFF) der Universität Stuttgart angesiedelt.<br />
Dr. Claudia Dos Santos lagert Kapseln mit einem<br />
Durchmesser von etwa 200 Nanometern in eine<br />
der Spezialist<br />
metallische Schutzschicht ein, die mit einem Rost-<br />
schutzmittel oder mit Öl gefüllt sind. Beschädigt<br />
ein Kratzer die Schutzschicht, platzen einige der<br />
Nanokapseln und verteilen ihren Inhalt an der<br />
Schadstelle.<br />
NANOKAPSELN WERDEN IN EINE DÜNNE<br />
SCHUTZSCHICHT EINGEBETTET<br />
Die Forscherin zu den Details: „Auf einer Metall-<br />
oberfläche scheiden wir galvanisch eine 30<br />
Mikrometer dicke Schutzschicht aus Zink, Nickel<br />
oder Kupfer ab, die mit den Nanokapseln durch-<br />
setzt sein soll. Die Schwierigkeit ist, dafür zu sor-<br />
gen, dass die hochempfindlichen Kapseln bei der<br />
Abscheidung intakt bleiben und sich gleichmäßig<br />
in der Schicht verteilen.“ Die gängigen Methoden<br />
der Galvanik, der elektrochemischen Abscheidung<br />
von Metallen aus wässrigen Salzlösungen, wür-<br />
den die Kapseln zerstören. Verschiedene Zusätze<br />
sollen sicherstellen, dass die Kapseln ihren kost-<br />
baren Inhalt nicht schon beim Galvanisieren ver-<br />
lieren.<br />
20 µ<br />
› 25<br />
› 25<br />
Aufgeborstener Mikrocontainer<br />
unter dem Rasterelektronenmikroskop.<br />
Der<br />
zunächst flüssige Inhalt<br />
härtet nach der Freisetzung<br />
aus und schließt<br />
die Beschädigung der<br />
Oberfläche.
Dr. Andreas Dietz vom Fraunhofer-Institut für<br />
Schicht- und Oberflächentechnik in Braunschweig<br />
erläutert das zweite Projekt: „Unsere Nanocontai-<br />
ner reagieren auf lokale Änderungen von Ionen-<br />
konzentrationen, etwa des pH-Werts, oder auf Tem-<br />
peraturänderungen. Ändert sich als Folge eines<br />
lokalen Korrosionsvorgangs einer dieser Parame-<br />
ter in einem begrenzten Areal der Schutzschicht,<br />
dann öffnen sich die Kapseln in diesem Areal und<br />
setzen ihren Inhalt frei.“ Sowohl das Projekt des<br />
Fraunhofer-Instituts, das im Verbund mit dem<br />
Chemie-Department der Universität Paderborn<br />
und dem Max-Planck-Institut Golm läuft, als auch<br />
das Projekt des IFF haben zum Ziel, die Container<br />
während des Galvanisierens in der Schutzschicht<br />
zu deponieren. Dabei kämpfen sie vor allem<br />
mit dem Basisproblem von Nanoteilchen: Wegen<br />
der großen anziehenden Oberflächenkräfte nei-<br />
gen sie zum Zusammenklumpen. Das erschwert<br />
die gleichmäßige Verteilung in der Schicht.<br />
INTELLIGENTE NANOCONTAINER<br />
Hohe wirtschaftliche Bedeutung hat auch das<br />
Aufbringen von Schutzschichten durch Lackieren.<br />
Deshalb hat sich die Arbeitsgruppe um Prof. Dr.-<br />
Ing. Guido Grundmeier von der Universität Pader-<br />
born zum Ziel gesetzt, Nanocontainer auch in<br />
dünne Schichten aus wasserlöslichen Lacken ein-<br />
zubetten. Grundmeier: „Wir wollen die Nanocon-<br />
tainer gezielt dort in der Schutzschicht positionie-<br />
ren, wo sie gebraucht werden. Dazu müssen wir<br />
die Hüllen so designen, dass die Container wäh-<br />
rend des Schichtaufbaus durch Anziehungs- und<br />
Abstoßungskräfte selbst den richtigen Platz fin-<br />
den.“ Container, die ein Rostschutzmittel enthal-<br />
ten, sollen sich an der Grenze zum Metall anrei-<br />
chern. Container mit tribologischen Wirkstoffen,<br />
so genannten Hartstoffen, dagegen in der äuße-<br />
ren Grenzschicht, um dort die Wirkungen von Rei-<br />
bung und Verschleiß zu verringern.<br />
Beide Projektgruppen stellen ihre Container<br />
nicht selbst her. Denn das ist eine Kunst, die nur<br />
sehr wenige beherrschen. Einer von ihnen ist Prof.<br />
Dr. Christian Mayer von der Universität Duisburg-<br />
Essen, mit dessen Nanocontainern die Stuttgarter<br />
Forscher experimentieren. Ein weiterer Experte<br />
auf diesem Gebiet ist Dr. Dmitry Shchukin vom<br />
Max-Planck-Institut für Kolloid- und Grenzflä-<br />
chenforschung in Potsdam. Als Projektpartner lie-<br />
fert er die Container für den Verbund aus Braun-<br />
schweig, Golm und Paderborn. Die Herausforde-<br />
rung für beide besteht darin, Nanocontainer zu<br />
produzieren, die trotz ihrer Winzigkeit eine aus-<br />
reichende Menge des Reparaturmediums enthal-<br />
ten und die ihren Inhalt exakt zum richtigen Zeit-<br />
punkt freisetzen. Denn das ist genau das, was die<br />
Projektteilnehmer brauchen.<br />
Forschung & Wissenschaft<br />
› 26<br />
› 26<br />
Ärgerliche Kratzer im<br />
Autolack könnten bald der<br />
Vergangenheit angehören.<br />
Bis dahin ist aber noch viel<br />
Entwicklungsarbeit nötig.<br />
Autolacke sind heute ca.<br />
100 bis 120 Mikrometer<br />
dick; Nanocontainer mit<br />
Reparaturflüssigkeit dürfen<br />
nur eine Größe von 100<br />
Nanometern haben, um<br />
die Wirksamkeit der passiven<br />
Schutzschicht nicht zu<br />
beeinträchtigen.<br />
d e r Spezialist 41
› 27
Architektur für Wasserwelten<br />
Die Idee, Häuser auf Pontons zu bauen, ist nicht neu. Steigende Meeresspiegel verschaffen<br />
PANORAMA<br />
dem Konzept neuen Auftrieb. Ein niederländisches Architekturbüro und die FH Lausitz liefern<br />
Lösungen, die sich an immer mehr Küsten und Flussufern auch ökonomisch auszahlen.<br />
TEXT › Marco Heinen<br />
Die Menschen am Mississippi wurden im ver-<br />
gangenen Juni von einer Jahrhundertflut heim-<br />
gesucht. Sintflutartige Regenfälle ließen den<br />
Strom auf einer Gesamtlänge von über 500 Kilo-<br />
metern über die Ufer treten. Ganze Ortschaften<br />
wurden überschwemmt, große Teile der Weizen-<br />
und Maisernte vernichtet. Extreme Wetterereig-<br />
nisse nehmen in Folge des Klimawandels zu. Der<br />
Anstieg der Meeresspiegel ist nach Prognosen vie-<br />
ler Experten kaum noch abzuwenden. Angesichts<br />
der sich wandelnden Lebensbedingungen ändern<br />
sich auch die Anforderungen an den künftigen<br />
Städtebau.<br />
„In den Niederlanden wird uns der steigende<br />
Meeresspiegel mehr betreffen als anderswo“,<br />
meint der Architekt und Industriedesigner Koen<br />
Olthuis. „Ich denke, dass hier in den nächsten 20<br />
Jahren rund eine Million Häuser gebaut werden.<br />
Es wäre keine weise Entscheidung, all diese Häu-<br />
ser nur auf festem Grund zu bauen“, meint er.<br />
Vor fünf Jahren gründete Olthuis zusammen mit<br />
dem Ingenieur Rolf Peters mit Waterstudio.NL<br />
das erste Architekturbüro in den Niederlanden,<br />
das sich hauptsächlich mit schwimmenden Häu-<br />
sern befasst. Rund 70 solcher Häuser soll es bis-<br />
lang in den Niederlanden geben, rund ein Drittel<br />
davon hat laut Olthuis sein Büro entworfen.<br />
Zwar war es auch der Klimawandel, der ihn<br />
anspornte, neue Wege zu gehen, doch mindes-<br />
tens ebenso wichtig ist das enorme wirtschaft-<br />
liche Potenzial, das sich damit verbindet. „Mehr<br />
als 100 der größten Städte der Welt sind nahe<br />
am Wasser gebaut und unsere Lösungen kom-<br />
men überall in Frage“, sagt der Architekt. Aus die-<br />
sem Grund versucht er seinen Entwürfen ein Aus-<br />
sehen zu geben, das nicht nur an einen Ort oder<br />
in eine bestimmte Landschaft passt. „Wir haben<br />
eine Vision entwickelt, so etwas weltweit umzu-<br />
setzen“, sagt er. „Darin sehen die Städte so aus wie<br />
heute, nur dass sie flexibler an den Klimawandel,<br />
die Wünsche und Bedürfnisse der Menschen und<br />
der Wirtschaft sowie die Demographie angepasst<br />
werden können.“<br />
FLACHE SEEN UND POLDER SIND IDEALES<br />
BAULAND FÜR SCHWIMMENDE HÄUSER<br />
Nach den Entwürfen von Peters und Olthuis<br />
wird derzeit ein Kongresszentrum auf der Donau<br />
bei Budapest realisiert. Außerdem arbeitet das<br />
Architekturbüro an einem Projekt mit 1.400 teils<br />
schwimmenden Häusern, teils auf hydraulischen<br />
Stelzen stehenden Häusern, Straßen, Parkhäu-<br />
sern und einer Schule, das ab 2010 in Naaldwijk<br />
nahe Den Haag entstehen wird. Das Gebiet befin-<br />
det sich in einem Polder, einem ehemals zur Land-<br />
gewinnung trocken gelegten und anschließend<br />
eingedeichten See unterhalb des Meeresspiegels.<br />
Aus diesem musste bislang das Wasser in einen<br />
rund eineinhalb Meter höher gelegenen Kanal<br />
abgepumpt werden. Ein teurer Aufwand, den man<br />
sich nun sparen kann, was zur Folge hat, dass sich<br />
› 27<br />
Wohnen auf dem Wasser<br />
wird nicht nur in den Niederlanden<br />
immer beliebter.<br />
Weltweit sind Küstenregionen<br />
von steigenden<br />
Meeresspiegeln bedroht<br />
und suchen nach Lösungen<br />
wie schwimmenden oder<br />
amphibischen Häusern.<br />
der Spezialist<br />
43
PANORAMA<br />
auf der Fläche erneut ein etwa 1,20 Meter tiefer<br />
See zu bilden beginnt. Damit entsteht ideales Bau-<br />
land für das Waterstudio.NL.<br />
44<br />
Neben den rein schwimmenden und auf Stel-<br />
zen stehenden Systemen beinhaltet das Portfolio<br />
der Niederländer auch amphibische Häuser. Wäh-<br />
rend die Stelzen in Gegenden mit stabilem Was-<br />
serlevel eingesetzt werden, sind die amphibischen<br />
Lösungen laut Olthuis „großartig für Hochwasser-<br />
gebiete geeignet.“ Diese Häuser sehen auf den<br />
ersten Blick aus wie normale Gebäude, deren Erd-<br />
geschoss rund einen Meter über dem Boden liegt.<br />
Ihre Fundamente bestehen jedoch aus einem spe-<br />
ziellen Schaum und sind nicht am Boden befes-<br />
tigt. Wird das Gebiet überflutet, schwimmen die<br />
amphibischen Häuser. Am Wegschwimmen wer-<br />
den sie von Teleskopstangen gehindert.<br />
STAHLBETON-PONTONS MIT EPS-SCHAUM-<br />
KERN SORGEN FÜR DEN NÖTIGEN AUFTRIEB<br />
Und so funktioniert die schwimmende Archi-<br />
tektur: Bei kleineren Wohngebäuden werden als<br />
der Spezialist<br />
Fundament innen hohle Pontons aus Stahlbe-<br />
ton benutzt. Hat das Gewässer nur eine geringe<br />
Tiefe, werden die schwimmenden Pontons mit<br />
Hilfe von Stahl-Pfählen am Grund des Gewässers<br />
fixiert. Über eine automatisch gesteuerte Hydrau-<br />
lik in den Pfählen kann der Ponton an den jeweili-<br />
gen Wasserstand angeglichen werden. Bei großen<br />
Bauwerken in tiefen Gewässern kommen erheb-<br />
lich größere Pontons aus Stahlbeton zur Anwen-<br />
dung, die zusätzlich mit EPS-Schaum (Expanded<br />
Polystyrene) gefüllt sind. „Der Schaum hat den<br />
Vorteil, dass die Pontons bei einer Havarie nicht<br />
mit Wasser vollaufen können“, erklärt der Diplom-<br />
ingenieur Frank Batke von der Fachhochschule<br />
Lausitz. Er gehört zu einem Team von Forschern,<br />
die sich im Fachbereich Architektur/Bauingeni-<br />
eurwesen/Versorgungstechnik mit schwimmen-<br />
den Bauten aller Art beschäftigen. Batke betont,<br />
dass es diverse Pontonsysteme und Materialien<br />
gibt. Die Herausforderung bestehe darin, für jedes<br />
Objekt den geeigneten Schwimmkörper zu finden:<br />
„Neben der Sicherung der Tragfähigkeit und der<br />
Schwimmstabilität muss der Einsatz des Mate-<br />
› 28<br />
› 28<br />
Bei der Wahl des richtigen<br />
Schwimmkörpers kommt<br />
es darauf an, ob das<br />
Gewässer einen Tidenhub<br />
aufweist und wie tief es<br />
ist. Bereits heute stehen<br />
Ponton- und Befestigungssysteme<br />
für unterschiedliche<br />
Bedingungen zur<br />
Verfügung.
ials wirtschaftlich bleiben.“ Die größeren Pon-<br />
tons werden in der Regel über Stahltrossen befes-<br />
tigt, die ebenfalls automatisch gesteuert sind. Sie<br />
können steigende und fallende Wasserstände<br />
ausgleichen und verhindern, dass Wellen, Strö-<br />
mungen oder Eisbildung die Gebäude in Schief-<br />
lage bringen. Je nach Entfernung zum Ufer wer-<br />
den die Versorgungsleitungen für Strom, Frisch-<br />
und Abwasser in flexiblen Röhren aus Polyethy-<br />
len vom Land aus gelegt. Alternativ dazu können<br />
autarke Einheiten mit Wasserentsalzungsanlagen<br />
sowie Solar- und Windkraft für die Energieversor-<br />
gung auf den „Inseln“ installiert werden.<br />
› 29<br />
SELBST WOLKENKRATZER BIS ZU 100<br />
METERN HÖHE SIND TECHNISCH MÖGLICH<br />
„Fast alles, was wir an Land tun können, ist auch<br />
auf dem Wasser möglich – vorausgesetzt es stehen<br />
genug Geld und Wasser zur Verfügung“, sagt Koen<br />
Olthuis. Es sei technisch möglich, Häuser mit bis<br />
zu 100 Metern Höhe auf Pontons zu bauen. „Von<br />
der Statik und Bauweise her unterscheidet sich ein<br />
schwimmendes Haus nämlich nicht im Gerings-<br />
ten von einem Haus an Land“, sagt Olthuis. Ein<br />
Haus an einer Küste sollte ohnehin von den Mate-<br />
rialien her salzhaltige Luft und Salzwasser vertra-<br />
gen. Der Wissenschaftler Frank Batke sieht diesen<br />
Punkt kritischer: „Die Aufbauten wurden bisher<br />
ähnlich wie die an Land konstruiert, sollten aber<br />
zukünftig anderen bauphysikalischen Gesichts-<br />
punkten folgen.“ Die Umwelteinflüsse direkt<br />
auf dem Wasser würden sich doch erheblich von<br />
denen an Land unterscheiden. Das beginnt bei der<br />
Sonneneinstrahlung und der Reflektion und endet<br />
beim Spritzwasser und dem damit verbundenen<br />
nötigen Schutz vor Feuchtigkeit. Wie diese Anpas-<br />
sungen aussehen können, daran wird derzeit an<br />
der FH Lausitz intensiv geforscht. Für Olthuis, den<br />
Praktiker, besteht die technische Herausforde-<br />
rung derzeit eher in der Logistik. Um diese Auf-<br />
gaben kümmern sich jedoch andere Spezialisten:<br />
„Es ist niemals nur der Architekt, der an so einem<br />
Projekt arbeitet.“ Kleinere Einheiten wie Einfami-<br />
lienhäuser würden direkt vor Ort montiert, doch<br />
für Großbauten mit vielen Stockwerken empfehle<br />
es sich, diese in einem Trockendock zu bauen und<br />
anschließend an ihren Bestimmungsort zu brin-<br />
gen: „Die Dimensionen sind genau wie bei einer<br />
Bohrinsel, die nach Fertigstellung auf das Meer<br />
geschleppt wird.“<br />
INFO<br />
Olthuis’ und Peters’ Projekte für die Vereinigten Arabischen Emirate<br />
am Persischen Golf erregten viel Aufsehen in den Medien: Die<br />
beiden konzipierten einen sich drehenden Hotelturm im Wasser,<br />
eine schwimmende Moschee, ein Schiffsterminal mit Hotel<br />
und Shops für mehrere Kreuzfahrtschiffe sowie eine Landschaft<br />
aus schwimmenden Inseln. Die Chancen, dass all diese Projekte<br />
verwirklicht werden, stehen nicht schlecht. Anfang 2009 sollen in<br />
Dubai innerhalb der künstlichen Inselgruppe „Palm Jebel Ali“ die<br />
ersten von 89 von Olthuis entworfenen schwimmenden Ponton-<br />
Inseln samt Häusern fertig gestellt werden.<br />
www.waterstudio.nl www.dutchdocklands.com<br />
PANORAMA<br />
› 29<br />
Dieser Entwurf eines<br />
schwimmenden und sich<br />
um die Längsachse drehenden<br />
Hotelturms, wurde<br />
speziell für die Gewässer<br />
vor Dubai entwickelt. Das<br />
schwimmende Fundament<br />
für das 25-stöckige<br />
Gebäude hat lediglich<br />
einen Tiefgang von sechs<br />
Metern.<br />
der Spezialist<br />
45<br />
45
querdenken<br />
Antwort auf die Frage<br />
aller Fußballfragen<br />
Strittige Torentscheidungen könnten längst der Vergangenheit angehören, doch noch ist das<br />
International Football Association Board gegen die Einführung von technischen Assistenz-<br />
systemen wie der Goal Line Technology, doch auch andere Sportarten könnten profi tieren.<br />
TEXT › Christian Patzelt<br />
Es ist der 30. Juli 1966. Im Finale der Fußball-Welt-<br />
meisterschaft im Londoner Wembley-Stadion ste-<br />
hen sich England und Deutschland gegenüber.<br />
Der Brite Geoff Hurst zielt in der Verlängerung<br />
auf das Tor des deutschen Keepers Hans Tilkowski.<br />
Der Ball prallt gegen die Latte und von dort in der<br />
Nähe der Torlinie auf den Boden. Nach Abstim-<br />
mung mit seinem Linienrichter entscheidet der<br />
Schweizer Schiedsrichter Gottfried Dienst auf<br />
„Tor“ für England. Zwar kassiert die deutsche Elf<br />
im Anschluss noch das 2:4, das vorentscheidende<br />
2:3 gilt aber bis heute als die umstrittenste Tor-<br />
entscheidung im Weltfußball. Der Begriff „Wem-<br />
bley-Tor“ ist fest im Vokabular jedes Fußballfans<br />
verankert und fällt immer im Zusammenhang<br />
mit folgender Frage: War der Ball wirklich mit vol-<br />
lem Umfang hinter der Linie?<br />
HOCHPRÄZISE 3-D-LOKALISIERUNG<br />
An einer Antwort darauf arbeiten seit 1999 die<br />
Gründungsaktionäre der Cairos technologies AG.<br />
Das Unternehmen ist im Bereich der hoch ge-<br />
nauen und zeitlich hochaufl ösenden 3-D-Loka-<br />
lisierung dynamischer Objekte tätig und stellte<br />
im Jahr 2007 das Goal-Line-Technology(GLT)-Sys-<br />
tem vor. Mit Hilfe von Magnetfeldern erkennt<br />
das System in Sekundenbruchteilen, ob ein Ball<br />
tatsächlich die Torlinie überquert hat, und gibt<br />
die Information über diverse Funkverbindungen<br />
an den Schiedsrichter weiter. Hinter dieser Tech-<br />
46<br />
der Spezialist<br />
Audio-Version unter: www.brunel.de/podcast<br />
nik steht unter anderem Christian Holzer. Der<br />
31-jährige Diplom-Sportwissenschaftler ist seit<br />
2004 im Vorstand von Cairos technologies und<br />
beurteilt die Dinge aus Sicht eines Fußballers: In<br />
den Neunzigerjahren stand Holzer im Profi kader<br />
des TSV 1860 München – als Torwart. „Man sollte<br />
sich neuen Techniken nicht verschließen, wenn<br />
die Grundideen des Spiels dadurch nicht beein-<br />
trächtigt werden“, sagt Holzer. „Technische Ent-<br />
wicklungen am Material haben das Spiel bisher<br />
schneller und attraktiver gemacht.“<br />
Das von ihm mitentwickelte GLT-System kann<br />
innerhalb eines Tages auf jedem Fußballplatz<br />
installiert werden. Rund um das Tor wird ein<br />
Magnetfeld erzeugt. Dazu werden an der Straf-<br />
1<br />
3<br />
2<br />
4<br />
› 30<br />
Das Goal-Line-Technology-<br />
System: Im Rasen in den<br />
beiden Torräumen<br />
wird ein schwaches<br />
Magnetfeld (1) erzeugt.<br />
Ein Sensor im Ball (2)<br />
kann diese Magnetfelder<br />
messen, sobald er in deren<br />
Nähe ist. Über Funk sendet<br />
ein Chip im Ball die Messwerte<br />
verschlüsselt zu<br />
zwei Empfangsantennen<br />
(3). Die Empfänger hinter<br />
dem Tor leiten die Daten<br />
an einen Computer (4) weiter,<br />
der berechnet, ob der<br />
Ball die Torlinie komplett<br />
überschritten hat und ein<br />
Tor vermeldet – oder eben<br />
nicht.<br />
3<br />
› 30
aumgrenze und hinter der Torauslinie mit einer<br />
Rasensäge fünf Millimeter breite und 15 Zenti-<br />
meter tiefe Spalten geöffnet. Darin werden zwei<br />
Millimeter dünne Spulendrähte verlegt, durch<br />
die Strom geleitet wird. So wird ein schwaches<br />
Magnetfeld im gesamten Strafraumbereich er-<br />
zeugt, das ein im Fußball integrierter Chip mes-<br />
sen kann. Sobald der Ball in Tornähe kommt, über-<br />
mittelt der Chip die Magnetfeldvektoren an zwei<br />
Empfangsantennen, die an den Torabspannungs-<br />
masten hinter dem Tor befestigt sind. Von dort<br />
aus werden die Werte auf einen Cairos-Rechner,<br />
der unter Linux betrieben wird, weitergeleitet.<br />
Der Rechner ermittelt auf Grundlage der Mess-<br />
werte bis auf den Zentimeter genau, ob der Ball<br />
die Torlinie mit seinem vollen Durchmesser über-<br />
› 31<br />
› 31<br />
Die nach wie vor umstrittenste<br />
Torszene der<br />
Fußballgeschichte: Das Tor<br />
zum 3:2 im WM- Endspiel<br />
im Wembley-Stadion, England<br />
gegen Deutschland<br />
am 30. Juli 1966.<br />
der Spezialist<br />
47
querdenken<br />
schritten hat. Trifft das zu, wird ein Funksignal<br />
über zusätzliche Antennen am Spielfeldrand auf<br />
die Spezial-Armbanduhr des Schiedsrichters über-<br />
tragen und dort blinkt ein „GOAL“ auf. Der gesamte<br />
Prozess, vom Überqueren der Torlinie bis hin zum<br />
Signal auf der Uhr des Schiedsrichters, dauert nur<br />
Bruchteile von Sekunden. Alle Daten werden ver-<br />
schlüsselt über 2,4-GHz-ISM-Band von Station zu<br />
Station gefunkt.<br />
DER BALL TRÄGT ROBUSTE HIGHTECH-MESS-<br />
GERÄTE IN SEINEM INNEREN<br />
Bei der Entwicklung des Systems gab es eine Viel-<br />
zahl von Herausforderungen, denen sich Christian<br />
Holzer teilweise mit vollem Körpereinsatz stellte.<br />
Er testete das System in verschiedenen Spielsitua-<br />
tionen. Dabei verwendeten Holzer und sein Team<br />
verschiedene Tore, Bälle, Sender und Empfänger<br />
und prüften deren Funktionalität und Zusam-<br />
menspiel miteinander. „Meine praktischen Erfah-<br />
rungen waren sehr wichtig. Als Torwart war ich<br />
schließlich genau am Ort des Geschehens aktiv“,<br />
48<br />
der Spezialist<br />
sagt der ehemalige Profi-Fußballer. Eine der wich-<br />
tigsten Aufgaben während der Testphase war, her-<br />
auszufinden, ob der Chip Bewegungen und Dyna-<br />
mik des Spielgerätes beeinflusst. Holzer: „Der Ball<br />
verhält sich nicht anders als andere neuwertige<br />
Produkte ohne technisches Innenleben.“ Neben<br />
der stabilen Flugbahn musste Cairos technologies<br />
zudem sicherstellen, dass das System wetterver-<br />
träglich und robust ist, damit das Zusammenspiel<br />
zwischen Funk- und Elektrotechnik reibungslos<br />
funktioniert. Der Ball ist nicht nur starken Stö-<br />
ßen ausgesetzt. Er fliegt mit zum Teil sehr hoher<br />
Geschwindigkeit, verändert abrupt seine Rich-<br />
tung und dreht sich vielfach nach einem Schuss.<br />
Diese auftretenden mechanischen Kräfte dür-<br />
fen die Übertragungen der Werte nicht beeinflus-<br />
sen. Der aus dreidimensionalen Magnetfeldsen-<br />
soren und einem Funkmodul bestehende Chip<br />
muss also abgesichert werden, um zuverlässig<br />
Daten senden zu können. Die Lösung: Der Ball ent-<br />
hält eine kugelförmige Hardware-Box aus Kunst-<br />
stoff. Darin sind der von Cairos technologies ent-<br />
wickelte Chip sowie zwei Batterien für die Ener-<br />
› 32<br />
› 32<br />
Rein äußerlich unterscheidet<br />
den Ball nichts vom<br />
klassischen Spielgerät.<br />
Innen verbirgt sich jedoch<br />
intelligente Messtechnik.<br />
Dem Schiedsrichter wird<br />
das Ergebnis der Messung<br />
schnell und bequem<br />
auf eine spezielle Uhr<br />
gesendet.
gieversorgung untergebracht. Die Box wird von<br />
zwölf Doppelschnüren gehalten, die an der Innen-<br />
seite des Balles befestigt sind. Wird der Ball aufge-<br />
pumpt, spannen sich die Schnüre und positionie-<br />
ren die Box mittig. Um die Integration der etwa<br />
15 bis 20 Gramm schweren Hardware kümmerte<br />
sich der Sportartikel-Hersteller „adidas“ als Pro-<br />
jektpartner von Cairos.<br />
DIE TECHNIK KÖNNTE AUCH BEI ANDEREN<br />
SPORTARTEN ANWENDUNG FINDEN<br />
Während der Klub-Weltmeisterschaft Ende 2007<br />
in Japan war das System bereits im Einsatz und<br />
hat fehlerfrei funktioniert. Danach ging ein Groß-<br />
teil der Fußballwelt davon aus, dass die Technik<br />
bis zur WM 2010 in Südafrika offiziell eingeführt<br />
wird. Aber das International Football Association<br />
Board (IFAB) lehnte das System ab. Laut Jérôme<br />
Valcke, Generalsekretär des Weltverbandes FIFA,<br />
gebe es Befürchtungen, die Einführung des Chip-<br />
Balles könnte weitere technische Hilfsmittel nach<br />
sich ziehen. Zudem würde das Spiel durch den<br />
Einsatz von zu viel Technik seinen ursprünglichen<br />
Reiz verlieren. Stattdessen plant die FIFA, künftig<br />
an jedem Tor einen zusätzlichen Schiedsrichter-<br />
Assistenten einzusetzen. Für Cairos Technology<br />
geht die Arbeit dennoch weiter. Das GLT-System<br />
ist zwar für den Fußball entwickelt worden, kann<br />
aber auch in anderen Sportarten eingesetzt wer-<br />
den. Cairos prüft derzeit die Anwendbarkeit.<br />
Christian Holzer ist überzeugt, dass es im Fuß-<br />
ball weiterhin „Phantom-Tore“ geben wird und es<br />
nur eine Frage der Zeit ist, bis Schiedsrichter tech-<br />
nische Lösungen als Hilfsmittel einsetzen dür-<br />
fen. Zuspruch bekommt er dabei von prominen-<br />
ter Seite. „Ich würde es sehr gerne sehen, wenn<br />
die FIFA mal ein wenig mehr Innovation wagen<br />
würde. Meine Überzeugung ist es, dass jeder,<br />
der den Fußball liebt, sich auch dafür engagiert,<br />
dass größtmögliche Gerechtigkeit herrscht“, sagt<br />
Arsène Wenger, Trainer von Arsenal London und<br />
gelernter Ingenieur. Auch ein Großteil der deut-<br />
schen Schiedsrichter hatte sich für die Einführung<br />
des Systems ausgesprochen und sich so Sicher-<br />
heit bei umstrittenen Torentscheidungen erhofft.<br />
Wer weiß, welche Legende vor 42 Jahren entstan-<br />
den wäre, wenn Schiedsrichter Gottfried Dienst<br />
und sein Linienrichter bereits Hilfsmittel wie den<br />
Chip-Ball zur Verfügung gehabt hätten.<br />
› 33<br />
QUERDENKEN<br />
› 33<br />
Christian Holzer, einer der<br />
„Väter“ des GLT-Systems,<br />
demonstriert vor der<br />
Presse, wie die Technik<br />
funktioniert.<br />
d e r Spezialist<br />
49
TERMINE<br />
termine<br />
AUSGABE 12 || Oktober 2008<br />
›21.–24. Okt.<br />
Auf der Systems 2008<br />
finden Sie unseren <strong>Brunel</strong>-<br />
Messecontainer in Halle B,<br />
Stand 235. Wir freuen uns<br />
auf Ihren Besuch.<br />
› 25.– 27. Nov.<br />
SPS/IPC/DRIVES 2008<br />
Die Messe findet in diesem<br />
Jahr zum 19. Mal statt und<br />
verzeichnete 2007 mit<br />
45.000 Besuchern und<br />
über 1.300 Ausstellern<br />
einen neuen Rekord.<br />
50<br />
der Spezialist<br />
Oktober bis Dezember 2008<br />
21. – 24. Okt. 2008<br />
25. – 27. Nov. 2008<br />
01. Oktober 1881<br />
03. Oktober 1906<br />
06. Dezember 1946<br />
Messen und veranstaltungen<br />
SYSTEMS 2008, MÜNCHEN<br />
Als Business-to-Business-Messe für den ITK-Markt konzentriert sich die SYS-<br />
TEMS in München auf marktreife ITK-Lösungen und präsentiert – gemäß<br />
dem Motto „Ideas for better business“ – aktuelle Trendthemen zur Optimie-<br />
rung von Geschäftsprozessen. www.systems.de<br />
SPS/IPC/DRIVES 2008, NÜRNBERG<br />
DSPS/IPC/DRIVES ist die Messe für elektrische Automatisierungstechnik. In<br />
diesem Jahr richtet die Fachmesse besonderes Augenmerk auf die Schwer-<br />
punkte Ethernet, Safety und Security, Motion Control, Wireless, RFID und<br />
erstmals die Thematik WEB in der Automation. www.mesago.de<br />
Meilensteine<br />
Das erste Elektrizitätswerk ging in Godalming, Großbritannien, ans Netz<br />
und machte die englische Kleinstadt zur ersten Stadt der Welt mit elektri-<br />
scher Straßenbeleuchtung.<br />
Auf der ersten Internationalen Konferenz für drahtlose Telegrafie in<br />
Berlin wurde das „SOS“-Signal, das die Abkürzung für „Save Our Souls“<br />
ist, zum international gültigen Notrufsignal erklärt. Es löste damit das<br />
bisher verwendete CQD-Signal (Come Quick, Danger) ab.<br />
Der amerikanische Physiker Willard Frank Libby stellt die erste Atomuhr<br />
vor. Seither definiert die Uhr die Dauer von einer Sekunde. Aufgrund ihrer<br />
Genauigkeit wird sie in 300.000 Jahren maximal eine Sekunde nachge-<br />
hen.
impressum<br />
AUSGABE 12 || Oktober 2008<br />
REDAKTIONSANSCHRIFT<br />
<strong>Brunel</strong> <strong>GmbH</strong>, Redaktion „Der Spezialist“<br />
Airport City, Hermann-Köhl-Str. 1a, 28199 Bremen<br />
redaktion@der-spezialist.de<br />
www.der-spezialist.de<br />
Telefon 0421-1 69 41-0<br />
HERAUSGEBER<br />
<strong>Brunel</strong> <strong>GmbH</strong><br />
VERANTWORTLICHER REDAKTEUR<br />
(V. I. S. D. P.)<br />
Carsten Siebeneich, General Manager <strong>Brunel</strong> <strong>GmbH</strong><br />
REDAKTION<br />
DIALOG Public Relations, Bremen<br />
GfG / Gruppe für Gestaltung <strong>GmbH</strong>, Bremen<br />
GESTALTUNG<br />
GfG / Gruppe für Gestaltung <strong>GmbH</strong>, Bremen<br />
FOTOGRAFIE (COPYRIGHTS)<br />
Sofern nicht abweichend, alle Angaben als Bildnummern:<br />
GfG / Gruppe für Gestaltung (Titel, S. 3, 05–06, S. 12,<br />
08–09, S. 35, 26), Fotolia (U2, 07, 24), Jens Paul Taubert<br />
(01–03), Rudolf Uhrig, Nibelungen-Festspiele, Worms (04),<br />
dpa Picture-Alliance (S. 18, 10, 12, 31), BMBWK (11), <strong>Brunel</strong><br />
Niederlassung, Wolfsburg (13–14, S. 24),Volkswagen AG<br />
(15), Sonja Brüggemann (S.27, 16–17), Lloyd Werft Bremerhaven<br />
<strong>GmbH</strong> (18–21), Hans-Werner Eberhardt (22–23, U5),<br />
Michael R. Kessler, University of Illinois (25), Waterstu-<br />
dios.NL (27–29), Cairos technologies AG (32–33)<br />
DRUCK<br />
Druckerei Girzig + Gottschalk <strong>GmbH</strong>, Bremen<br />
ERSCHEINUNGSWEISE<br />
3 Ausgaben / Jahr, Auflage 23.500 Stück<br />
INGENIEURE.<br />
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›› WIR SEHEN DIE WELT MIT<br />
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Artikeln des Spezialisten? Oder Sie möchten uns auf ein interessantes Thema für eine der nächsten<br />
Ausgaben aufmerksam machen? Dann senden Sie uns bitte eine E-Mail an: leserforum@der-spezialist.de<br />
Wir freuen uns auf Ihr Feedback und Ihre Anregungen!<br />
Ihr Redaktionsteam „Der Spezialist“
Künstler des Jahres 2008,<br />
Hans-Werner Eberhardt, Videokünstler.<br />
Screenshot aus „Heavens Gate“, anzusehen<br />
auf: www.brunel.de/karriere/aktuelles/<br />
video-podcasts.php<br />
Künstler des Jahres 2008,<br />
Hans-Werner Eberhardt, Videokünstler.<br />
Screenshot aus „Maschinencode“.<br />
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