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Christoph Maria Herbst, Rezitator wdr Rundfunkchor Köln ... - WDR.de

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<strong>Christoph</strong> <strong>Maria</strong> <strong>Herbst</strong>, <strong>Rezitator</strong><br />

<strong>wdr</strong> <strong>Rundfunkchor</strong> <strong>Köln</strong><br />

Leitung: Kaspars Putniņš<br />

Mo<strong>de</strong>ration: Nina Kawalun<br />

Samstag, 22. September 2012<br />

20.00 Uhr,<br />

Düsseldorf, Robert-Schumann-Hochschule<br />

Sonntag, 23. September 2012<br />

20.00 Uhr<br />

<strong>Köln</strong>, Funkhaus Wallrafplatz<br />

kaija saariaho<br />

Tag <strong>de</strong>s Jahrs<br />

ēriks es˘envalds<br />

Sun-Dogs (Nebensonnen)<br />

Dong-Hi Yi, Sopran<br />

Claudia Nüsse, Alt<br />

Arndt Schumacher, Bass<br />

knut nystedt/johann sebastian bach<br />

Immortal Bach<br />

Pause<br />

arvo pärt<br />

Magnificat<br />

veljo tormis<br />

Tower Bell in My Village<br />

Benita Borbonus, Sopran<br />

Sabine Kallhammer, Sopran<br />

Dong-Hi Yi, Sopran<br />

Sprecher: Vernon Kirk<br />

an<strong>de</strong>rs hillborg<br />

muo::aa:yiy::oum<br />

Sendung: <strong>wdr</strong> 3<br />

Mo, 3. Dezember 2012<br />

20.05 Uhr


2<br />

Neue Horizonte<br />

Musik ist niemals nur eine ästhetische, son<strong>de</strong>rn<br />

immer auch eine soziale, <strong>de</strong>m Leben zugewandte<br />

Praxis. Sie steht nie für sich allein.<br />

Musik ist keine absolute, ganz von <strong>de</strong>r Welt<br />

losgelöste Kunstform, son<strong>de</strong>rn entsteht im<br />

Dialog mit <strong>de</strong>r Außenwelt – als Ausdruck unseres<br />

Erfahrungshorizonts. Im Verhältnis zu<br />

an<strong>de</strong>ren Kunstformen, zu Alltagserfahrungen<br />

und philosophischen Betrachtungen erhält<br />

das Musizieren einen über <strong>de</strong>n bloßen Klang<br />

hinausreichen<strong>de</strong>n Sinn. Bil<strong>de</strong>r, Tanz, Literatur,<br />

soziale und politische Zusammenhänge fin<strong>de</strong>n<br />

in <strong>de</strong>r Musik eine klingen<strong>de</strong> Entsprechung.<br />

Mit <strong>de</strong>r Konzertreihe »<strong>wdr</strong>-Chor und<br />

Gäste« soll dieses Verhältnis auf seine Möglichkeiten<br />

hin befragt wer<strong>de</strong>n. In <strong>de</strong>r Spielzeit<br />

2012/13 sind <strong>de</strong>shalb Schauspieler, Schriftsteller,<br />

Journalisten, Instrumentalmusiker<br />

und Tänzer zu Gast, um <strong>de</strong>n Deutungsraum<br />

<strong>de</strong>r Chor musik zu weiten.


Das Nordlicht wie<strong>de</strong>rum ist ein beson<strong>de</strong>res<br />

Naturereignis. Als nutze jemand <strong>de</strong>n Himmel<br />

als Leinwand für ein Gemäl<strong>de</strong>, erscheint das<br />

Nordlicht, wenn elektrisch gela<strong>de</strong>ne Teilchen<br />

<strong>de</strong>s Sonnenwin<strong>de</strong>s auf die Erdatmosphäre<br />

treffen. Es ist von über irdischer Schönheit,<br />

erhaben und fragil. Und es erinnert <strong>de</strong>n Menschen<br />

daran, dass er, angesichts <strong>de</strong>r Größe<br />

<strong>de</strong>s Universums, nicht allmächtig ist.<br />

Komponisten <strong>de</strong>r nordischen Län<strong>de</strong>r<br />

haben ein beson<strong>de</strong>res Verhältnis zur Natur,<br />

zu <strong>de</strong>n Lichtphänomenen und <strong>de</strong>m Himmel.<br />

Sie sind ihnen in einem beson<strong>de</strong>ren Maße<br />

ausgesetzt. Und diese Voraussetzungen<br />

prägen ihre Musik. Das Helle, Unwirkliche,<br />

Naturverbun<strong>de</strong>ne ist eine beson<strong>de</strong>re Quali-<br />

tät <strong>de</strong>r Werke nordischer Komponisten, die<br />

immer wie<strong>de</strong>r auch Sujets und Phänomene<br />

<strong>de</strong>r Natur aufgreifen. Das können die Licht-<br />

Nordlichter <strong>de</strong>s Klangs<br />

Licht – das ist eine musikalische Qualität. Das Helle<br />

und das Dunkle sind Eigenschaften <strong>de</strong>s Klangs. Komponisten<br />

arbeiten mit <strong>de</strong>n Techniken <strong>de</strong>s Chiaro scuro.<br />

Sie tauchen ihre Werke in Licht.<br />

spiegelungen <strong>de</strong>r Nebensonnen sein, die Jahreszeiten<br />

o<strong>de</strong>r die Naturverbun<strong>de</strong>nheit <strong>de</strong>s<br />

ländlichen Lebens.<br />

Gleichwohl muss man sich vor pauschalen<br />

Zusammenfassungen hüten. Je<strong>de</strong>r Komponist<br />

hat eine eigene Klangsprache gefun<strong>de</strong>n, eine<br />

eigene Art, die Welt in Klang zu fassen. Es<br />

geht in <strong>de</strong>n Werken nordischer Komponisten<br />

auch nicht einfach nur um die Nachahmung<br />

<strong>de</strong>r Natur. Die Musik steht meist in einem bestimmten<br />

sozialen, politischen, historischen<br />

Zusammenhang, zu <strong>de</strong>m sie sich verhält. Das<br />

gilt vor allem für die Komponisten aus Finnland<br />

und <strong>de</strong>n baltischen Staaten, die in unterschiedlichem<br />

Gra<strong>de</strong> <strong>de</strong>n Repressionen Russlands<br />

und <strong>de</strong>r Sowjetunion ausgesetzt waren,<br />

Repressionen, die Züge eines Pogroms tragen<br />

konnten und das Verhältnis <strong>de</strong>r Menschen zu<br />

ihrem Land bis heute prägen.<br />

3


4<br />

Kaija Saariaho<br />

Tag <strong>de</strong>s Jahres<br />

(2001)<br />

»Die Klangwelt in Richtung Natur erweitern«<br />

– das hatte sich die finnische Komponistin<br />

Kaija Saariaho vorgenommen, als sie 2001<br />

das Chorstück Tag <strong>de</strong>s Jahres schrieb. Vom<br />

Tonband erklingen: Vogelgezwitscher, Wind<br />

und an<strong>de</strong>re Naturlaute. Und auch die Chorstim<br />

men wur<strong>de</strong>n, so Saariaho weiter, auf<br />

eine ursprüng liche und »archaische« Weise<br />

behan<strong>de</strong>lt.<br />

Ausgangspunkt dieser musikalischen<br />

Naturerkundung sind vier, nach <strong>de</strong>n Jahreszeiten<br />

benannte Texte von Friedrich Höl<strong>de</strong>rlin:<br />

Frühling, Sommer, <strong>Herbst</strong> und Winter. Höl<strong>de</strong>rlin<br />

schrieb diesen Zyklus spät im Leben, als<br />

er bereits zurückgezogen im berühmten<br />

Tübinger Turm lebte. In diesen Jahren unterzeichnete<br />

er seine Gedichte häufig mit <strong>de</strong>m<br />

Pseudonym Scardanelli, meist mit <strong>de</strong>m Zusatz<br />

»mit Unterthänigkeit« und einem frei erfun<strong>de</strong>nen<br />

Datum, das um Jahrzehnte vom eigentlichen<br />

Entstehungsdatum abweichen konnte.<br />

Der Tonfall dieser Gedichte ist einfach. Höl<strong>de</strong>r<br />

lin vermei<strong>de</strong>t verrätselte Formulierungen;<br />

er bemüht einfache Bil<strong>de</strong>r, die die Stimmung<br />

<strong>de</strong>r Jahreszeit einfangen und die ihrem Sym-<br />

für gemischten Chor und Elektronik<br />

bolgehalt nach <strong>de</strong>nnoch darüber hinaus<br />

weisen. Es geht Höl<strong>de</strong>rlin dabei auch darum,<br />

zwischen <strong>de</strong>m Menschen und <strong>de</strong>r Natur zu<br />

vermitteln, <strong>de</strong>n Menschen in <strong>de</strong>r Natur und<br />

als Teil <strong>de</strong>r Natur zu zeigen.<br />

Das ist allerdings nicht <strong>de</strong>r einzige Grund,<br />

warum Saariaho diese Texte vertonte. In jenen<br />

Jahren litt ein ihr nahe stehen<strong>de</strong>r Mensch<br />

(das Stück ist ihrer Mutter gewidmet) an einer<br />

Gehirnblutung, was die Kommunikation mit<br />

ihr erschwerte, da die Patientin je<strong>de</strong>s Gefühl<br />

für Raum und Zeit verloren hatte. Saariaho<br />

erzählt, dass sie damals eine neue Kommunikationslogik<br />

bzw. eben eine Kommunikation<br />

ohne Logik gesucht habe, und dass ihr die<br />

dissoziierten Texte Höl<strong>de</strong>rlins da entgegenkamen.<br />

Es steckt in <strong>de</strong>m Stück also sowohl<br />

etwas von <strong>de</strong>r Tragik <strong>de</strong>r Krankheit, als auch<br />

von <strong>de</strong>r Schönheit freien, ungezwungenen<br />

Denkens. Saariaho hat dafür eine einfache<br />

Klangsprache gewählt, mit klaren Intervallen,<br />

einfachen Rhythmen und Ausdrucksqualitäten<br />

wie das Flüstern, <strong>de</strong>m »misterioso«<br />

(Frühling), »espressivo« (Sommer), »energico«<br />

(<strong>Herbst</strong>) und »con tristezza« (Winter).


Als Wun<strong>de</strong>r wur<strong>de</strong> das Phänomen <strong>de</strong>r Nebensonnen<br />

in <strong>de</strong>r Antike und im Mittelalter<br />

ge<strong>de</strong>u tet. Zeitzeugen berichten von <strong>de</strong>r Unglaublichkeit<br />

einer zweiten und dritten Sonne<br />

am Himmel. Edward IV. erkannte darin ein<br />

göttliches Zeichen <strong>de</strong>r heiligen Dreifaltigkeit.<br />

Heute weiß man, dass Nebensonnen entstehen,<br />

wenn sich das Sonnenlicht in <strong>de</strong>n Eiskristallen<br />

von Cirruswolken spiegelt. Am Himmel<br />

leuchten dann rechts und links <strong>de</strong>r Sonne<br />

zwei weitere helle Punkte. Die Nebensonnen<br />

sind kein spezifisch nordisches Phänomen.<br />

Trotz<strong>de</strong>m lag es für <strong>de</strong>n litauischen Komponisten<br />

Ēriks Ešenvalds nahe, ihnen ein Chorwerk<br />

zu widmen, da das Verhältnis zum Himmel<br />

und Licht nördlich <strong>de</strong>r Ostsee beson<strong>de</strong>rs<br />

ausgeprägt ist.<br />

E˘senvalds hat für sein Stück Sun Dogs<br />

(Nebensonnen) historische Texte zusammengestellt,<br />

in <strong>de</strong>nen von Nebensonnen die Re<strong>de</strong><br />

ist – von einer Erwähnung im Jahre 163 v. Chr.<br />

in Italien über Jakob Hutters ausführliche<br />

Beschreibung <strong>de</strong>s Wun<strong>de</strong>rs aus <strong>de</strong>m Jahre<br />

1533 bis zu literarischen Darstellungen <strong>de</strong>r<br />

Gegenwart. Im ersten Teil <strong>de</strong>s Stückes, Die<br />

Zeugen, stellt er die verschie<strong>de</strong>nen Zeugnisse<br />

gegenüber, ein, wie <strong>de</strong>r Komponist erklärt,<br />

Dialog <strong>de</strong>r Epochen, in <strong>de</strong>m dasselbe Phänomen<br />

aus unterschiedlicher Perspektive beleuchtet<br />

wird. Alle beobachten ein Ähnliches,<br />

aber beschreiben und <strong>de</strong>uten es jeweils an<strong>de</strong>rs<br />

– mal aufgewühlt, mal eingeschüchtert,<br />

mal ungläubig, mal um Sachlichkeit bemüht.<br />

Ešenvalds lässt die Texte solistisch o<strong>de</strong>r von<br />

kleineren Chorgruppen vortragen, gefolgt<br />

von einem wortlosen Refrain mit einem über-<br />

Ēriks Ešenvalds<br />

Sun Dogs (Nebensonnen)<br />

(2008)<br />

für gemischten Chor und Triangel<br />

irdisch-schweben<strong>de</strong>n Klang, ätherisch und<br />

unfassbar wie die Nebensonnen selbst. Die<br />

Chorsänger schlagen dabei mit Strickna<strong>de</strong>ln<br />

auf Triangeln, was <strong>de</strong>n Refrain zusätzlich verschwommen<br />

und unscharf erscheinen lässt<br />

und schon mit <strong>de</strong>m leuchten<strong>de</strong>n Hof eines<br />

Himmelskörpers verglichen wor<strong>de</strong>n ist. Im<br />

zweiten Teil <strong>de</strong>s Stückes, <strong>de</strong>r Nebensonnen<br />

heißt, hat Ešenvalds seine Texte fragmentiert.<br />

Sie erscheinen jetzt als ein Strom aus Worten<br />

und Gedanken. Der Chorsatz ist in diesem<br />

zweiten Abschnitt insgesamt homophon<br />

gehalten, mit einem tonalen Zentrum um<br />

h-moll/D-dur.<br />

E˘senvalds, Jahrgang 1977, gehört zu einer<br />

Generation junger baltischer Chorkomponisten,<br />

die verschie<strong>de</strong>ne Traditionen aufgreifen<br />

und verarbeiten, darunter baltische Folklore,<br />

klassische Chormusik vergangener<br />

Jahrhun<strong>de</strong>rte, die Klangsprache <strong>de</strong>r Mo<strong>de</strong>rne,<br />

durchaus auch ungewöhnliche Klangeffekte,<br />

und <strong>de</strong>n politischen Impetus gemeinschaftlichen<br />

Singens, <strong>de</strong>r infolge <strong>de</strong>r »singen<strong>de</strong>n<br />

Revolution« von Estland aus um 1990 auch<br />

auf die an<strong>de</strong>ren baltischen Staaten übergriff.<br />

So entsteht eine Chormusik, die nicht nur<br />

effektvoll und dramatisch, son<strong>de</strong>rn auch <strong>de</strong>r<br />

Klangsprache und <strong>de</strong>n Kompositionsverfahren<br />

nach mo<strong>de</strong>rn ist. Sun Dogs ist ein in dieser<br />

Hinsicht durchaus typisches und beson<strong>de</strong>rs<br />

gelungenes Werk dieser Tradition.<br />

5


6<br />

Ein regelrechter Coup gelang Knut Nystedt<br />

1988 mit seinem Stück Immortal Bach. Dem<br />

Stück liegen die ersten acht Takte <strong>de</strong>s Chorals<br />

Komm süßer Tod von Johann Sebastian Bach<br />

zugrun<strong>de</strong>. Nystedt hat keine einzige eigene<br />

Note hinzu geschrieben, son<strong>de</strong>rn nur eine<br />

Reihe von Vortragsanweisungen erdacht, die<br />

<strong>de</strong>n ursprünglichen Choral in eine zeitgenössische<br />

Klangkomposition verwan<strong>de</strong>ln. Der<br />

Chor wird bei Nystedt in fünf Gruppen geteilt.<br />

Je<strong>de</strong>r Gruppe wird eine Dauer zugewiesen:<br />

4, 6, 8, 10 und 12 Sekun<strong>de</strong>n. So lange halten<br />

die Sänger die einzelnen Viertelnoten <strong>de</strong>s<br />

ursprünglichen Chorals aus. Am En<strong>de</strong> je<strong>de</strong>r<br />

<strong>de</strong>r drei Ka<strong>de</strong>nzen kommen dann alle Stimmen<br />

wie<strong>de</strong>r zusammen; sie »warten« dort<br />

aufeinan<strong>de</strong>r. Nystedt hat <strong>de</strong>n Choral gewissermaßen<br />

vertikal aufgeschnitten und die<br />

klare rhythmische Glie<strong>de</strong>rung suspendiert.<br />

Dadurch, dass die Töne unterschiedlich lang<br />

gesungen wer<strong>de</strong>n, überlagern sie sich. Das<br />

Ergebnis sind schweben<strong>de</strong> Akkor<strong>de</strong>, die dissonieren,<br />

aber nicht atonal wirken. Die I<strong>de</strong>e<br />

<strong>de</strong>r Unsterblichkeit, die Nystedt im Titel evoziert,<br />

kommt also nicht nur als Hommage und<br />

Verneigung vor <strong>de</strong>m großen Komponisten zum<br />

Knut Nystedt/<br />

Johann Sebastian Bach<br />

Immortal Bach (1988)<br />

für gemischten Chor<br />

tragen, son<strong>de</strong>rn auch in <strong>de</strong>r zeitlichen Disposition<br />

<strong>de</strong>s Werks: Nystedt verleiht <strong>de</strong>r Musik<br />

Bachs <strong>de</strong>n Schein <strong>de</strong>s Ewigen. Er veranschaulicht,<br />

wie viel Mo<strong>de</strong>rne in <strong>de</strong>n Werken<br />

<strong>de</strong>r alten Meister steckt und dass zwischen<br />

<strong>de</strong>r Klangsprache <strong>de</strong>r Gegenwart und <strong>de</strong>r<br />

<strong>de</strong>s Barocks eine enge Verbindung besteht.<br />

Nystedt, 1915 in Oslo geboren, ist nicht nur<br />

Komponist, son<strong>de</strong>rn auch langjähriger Chorleiter<br />

gewesen. Immortal Bach geht wesentlich<br />

auf diese Erfahrung zurück. Fast wie eine<br />

Intonationsübung o<strong>de</strong>r ein Versuch über das<br />

Sostenuto wirkt das Stück, das aber <strong>de</strong>r<br />

Klanglichkeit und <strong>de</strong>m Be<strong>de</strong>utungshorizont<br />

nach eben weit über <strong>de</strong>n Charakter einer<br />

bloßen Etü<strong>de</strong> hinausweist.


Arvo Pärt<br />

Magnificat (1989)<br />

für gemischten Chor a cappella<br />

Arvo Pärts Lebensweg ist in vielerlei Hinsicht<br />

symptomatisch für die Komponisten <strong>de</strong>r<br />

baltischen Staaten. Denn im Estland <strong>de</strong>r<br />

Sechziger jahre war es Komponisten untersagt,<br />

avantgardistische Musik zu schreiben.<br />

Sein Nekrolog, das erste estnische Werk in<br />

Zwölftontechnik, wur<strong>de</strong> 1960 verboten. Pärt<br />

stürzte 1968 schließlich in eine tiefe schöpferische<br />

Krise, die bis 1976 währte. Erst jetzt<br />

fand Pärt zu einer neuen Ausdrucksform, die<br />

vor allem auf die Beschäftigung mit <strong>de</strong>n Werken<br />

alter Meister, hier vor allem <strong>de</strong>njenigen<br />

von Johann Sebastian Bach sowie <strong>de</strong>m gregorianischen<br />

Gesang zurückgeht. »Tintinnabuli«<br />

nannte Pärt seinen Stil. Tintinnabulum be<strong>de</strong>utet<br />

Glöckchenspiel. Wie Glöckchen sollen in<br />

seinen Werken jetzt die Dreiklänge in <strong>de</strong>r Begleitung<br />

klingen, die er einer Melodiestimme<br />

unterlegt. Reduziert, kontemplativ und introvertiert<br />

wirkt die Musik von Arvo Pärt, <strong>de</strong>r<br />

eine tiefe religiöse, ja mystische Erfahrung<br />

vorausgegangen zu sein scheint.<br />

Der Text <strong>de</strong>s Magnificat ist <strong>Maria</strong>s Antwort<br />

auf die Botschaft <strong>de</strong>s Engels Gabriel, <strong>de</strong>r ihr<br />

die Geburt Jesu ankündigte. Der Text ist einerseits<br />

ein Lob Gottes. Es ist aber auch ein Text<br />

über die beschei<strong>de</strong>ne »Niedrigkeit seiner<br />

Magd« <strong>Maria</strong>, und <strong>de</strong>n Hochmut <strong>de</strong>r Herrschsüchtigen,<br />

über die Hungern<strong>de</strong>n, die Gott mit<br />

seinen Gaben beschenkt, und die Reichen, die<br />

er leer ausgehen lässt. Pärts Vertonung <strong>de</strong>s<br />

Texts trägt einerseits Züge <strong>de</strong>r Gottergebenheit.<br />

Es ist ein Werk <strong>de</strong>r Demut, was sich im<br />

Tonfall und <strong>de</strong>r harmonischen Progression<br />

nie<strong>de</strong>rschlägt: die getragene Prozession <strong>de</strong>r<br />

Akkor<strong>de</strong>, das Ausharren auf einem einzigen<br />

Ton, <strong>de</strong>m die ganze Schönheit Gottes innewohnt.<br />

Gleichzeitig tritt <strong>de</strong>r Solosopran als<br />

exponierte Frauengestalt mehrfach hervor,<br />

was sich leicht als Stimme <strong>Maria</strong>e hören lässt.<br />

Das gesamte Werk wird vom dissonanten Intervall<br />

<strong>de</strong>r Sekun<strong>de</strong> durchzogen, worin das<br />

Lei<strong>de</strong>n und das Hoffen ihren Ausdruck fin<strong>de</strong>n.<br />

Man hat das Stück <strong>de</strong>shalb auch als »Lei<strong>de</strong>nswerk«<br />

bezeichnet.<br />

7


8<br />

Während Pärt mit <strong>de</strong>m Tintinnabuli-Stil einen<br />

Rückzug nach Innen vollzog und <strong>de</strong>m politischen<br />

Missstand im sowjetisch besetzten Estland<br />

so aus <strong>de</strong>m Weg ging, schuf Veljo Tormis<br />

1978 ein Werk, das von <strong>de</strong>n Hörern als Musik<br />

<strong>de</strong>s Wi<strong>de</strong>rstands begriffen wur<strong>de</strong>. Tormis,<br />

1930 in Estland geboren, vertont in Tower Bell<br />

In My Village einen Text von Fernando Pessoa.<br />

Der portugiesische Schriftsteller, <strong>de</strong>r sich in<br />

<strong>de</strong>r mo<strong>de</strong>rnen Großstadt nie wirklich wohlfühlte,<br />

beschreibt die Vorzüge <strong>de</strong>s Lebens auf<br />

<strong>de</strong>m Lan<strong>de</strong>. Das Läuten <strong>de</strong>r Kirchturmglocke<br />

setzt eine Reihe von Gedanken in Gang, in<br />

<strong>de</strong>ren Mittelpunkt die Behauptung steht, dass<br />

das Dorf groß und weit sei, die Stadt hingegen<br />

<strong>de</strong>n Blick und die Gedanken ihrer Bewohner<br />

einenge. Das Dorf ist bei Pessoa die<br />

Quelle je<strong>de</strong>r persönlichen I<strong>de</strong>ntität, eine beinah<br />

spirituelle Instanz.<br />

Tormis vertont diesen Text als »Konzert«,<br />

bei <strong>de</strong>m neben <strong>de</strong>m Chor auch ein Sprecher<br />

und eine Glocke zum Einsatz kommen. Die<br />

Glocke eröffnet das Stück wie ein festlicher<br />

Ruf. Der Chor antwortet und ruft die Glocke<br />

an: »Oh, Turmglocke in meinem Dorf! Je<strong>de</strong>s<br />

mal, wenn du läutest, sorgenvolles nächtliches<br />

Klingen, antwortet meine Seele. Wie<br />

ein Echo!« Der Sprecher erhebt sich dann über<br />

die Musik und setzt zu einer vielschichtigen<br />

Betrachtung an, die nicht nur von <strong>de</strong>m Menschen,<br />

<strong>de</strong>r Stadt und <strong>de</strong>r Natur han<strong>de</strong>lt, son<strong>de</strong>rn<br />

auch über die Melodien <strong>de</strong>r Nacht und<br />

Veljo Tormis<br />

Tower Bell In My Village (1978)<br />

Konzert für gemischten Chor, Sprecher und Glocke<br />

die Existenz <strong>de</strong>s Menschen. Er beklagt die<br />

Gartenmauer, die ihn von <strong>de</strong>n Menschen<br />

trennt und mit <strong>de</strong>nen ihn nur <strong>de</strong>r Lichtschein<br />

ihrer Feuer und <strong>de</strong>r Wi<strong>de</strong>rhall ihres Lachens<br />

verbin<strong>de</strong>t.<br />

Mit einfachen Mitteln setzt Tormis sein<br />

Konzertstück in Szene. Der Gesang <strong>de</strong>s<br />

Chores ist schlicht, häufig im Unisono und<br />

oft mit nur wenigen Intervallschritten. Wie in<br />

vielen an<strong>de</strong>ren seiner Werke auch, verarbeitet<br />

Tormis Volkslie<strong>de</strong>r und archaische Runen-<br />

Gesänge. Dem Lied, schreibt Tormis, fällt eine<br />

soziale Funktion als »integraler Bestandteil<br />

<strong>de</strong>s Lebens eines Lan<strong>de</strong>s« zu. Die Sprache <strong>de</strong>r<br />

Glocke, mit ihrem religiösen, rituellen Symbolgehalt<br />

und ihrer Signalwirkung, ist ebenfalls<br />

je<strong>de</strong>m Hörer verständlich. Vom Publikum<br />

wur<strong>de</strong> Tower Bell als Werk <strong>de</strong>r Befreiung verstan<strong>de</strong>n,<br />

als eine Musik <strong>de</strong>r Sehnsucht und<br />

<strong>de</strong>s Verlangens, als eine Musik, die <strong>de</strong>n Wert<br />

<strong>de</strong>r kulturellen Unterschie<strong>de</strong> hervorhob, jener<br />

Unterschie<strong>de</strong>, die die sowjetische Regierung<br />

ja gera<strong>de</strong> zu nivellieren trachtete. Gleichzeitig<br />

ist Tormis Tower Bell kein Lamento, son<strong>de</strong>rn<br />

ein melancholisches Fest, das auch <strong>de</strong>r<br />

Schön heit und <strong>de</strong>m Glück gewidmet ist.


An<strong>de</strong>rs Hillborg<br />

»muo::aa:yiy::oum«<br />

(1983 – 85)<br />

für gemischten Chor<br />

Die Zeichenfolge »muo::aa:yiy::oum« ist eine<br />

phonetische Formel, die beschreibt, wie sich<br />

<strong>de</strong>r Vokalklang öffnet und schließt. Das<br />

gleichnamige Stück ist eine Etü<strong>de</strong> über diesen<br />

Vokalklang, über die Möglichkeiten <strong>de</strong>r Stimme<br />

und die Möglichkeiten <strong>de</strong>s Chorgesangs<br />

überhaupt. Bis zu einem gewissen Gra<strong>de</strong> geht<br />

es dabei um einen Naturklang und um die von<br />

<strong>de</strong>r Last <strong>de</strong>s Texts befreite Ursprünglichkeit<br />

<strong>de</strong>r Stimme. Hillborg nutzt die sechzehn Stimmen<br />

wie Partikel einer Wolke o<strong>de</strong>r eines<br />

Schwarms. Zunächst wird ein einziger Akkord<br />

durch verschie<strong>de</strong>ne Vokale und Konsonanten<br />

geführt, bis sich allmählich erste rhythmische<br />

Verschiebungen ergeben und die musikalische<br />

Zeit in pulsieren<strong>de</strong>n Sechzehntelnoten<br />

aufgeraut wird. Der Chorklang schwirrt und<br />

vibriert wie ein Naturereignis. Wie das Wuchern<br />

und <strong>de</strong>r Verfall <strong>de</strong>r Gewächse ist auch<br />

Hillborgs Klang kreatürlichen Prozessen ausgesetzt;<br />

auch er wächst und verfällt. Kurz vor<br />

Schluss erhebt sich die Musik ins vierfache<br />

Forte – ein erhabener Augenblick, <strong>de</strong>r schließlich<br />

in einem fast schon beiläufigen Pfeifton<br />

ausklingt. Die schwedische Musikwissenschaftlerin<br />

Birgitta Huldt nennt die elektronische<br />

Musik und buddhistische Mönchsgesänge<br />

als möglichen Referenzpunkt. Auch an<br />

die Minimal music erinnert muo::aa:yiy::oum<br />

bisweilen, an die Phasenverschiebungen eines<br />

Steve Reichs zum Beispiel. Und <strong>de</strong>nnoch ist<br />

Hillborg mit muo::aa:yiy::oum eine ganz eigene<br />

und eigenartige Klanglandschaft gelungen,<br />

die <strong>de</strong>n Chor in einem seltenen Licht zeigt.<br />

Björn Gottstein<br />

9


10<br />

Benita Borbonus<br />

Sabine Kallhammer<br />

Claudia Nüsse<br />

Arndt Schumacher<br />

Dong-Hi Yi<br />

sind Mitglie<strong>de</strong>r im<br />

<strong>wdr</strong> <strong>Rundfunkchor</strong> <strong>Köln</strong><br />

»<strong>Herbst</strong> liest temporeich und rhythmisch, […]<br />

erfrischend und inter pretiert glänzend.«<br />

Literaturkritik.<strong>de</strong><br />

<strong>Christoph</strong> <strong>Maria</strong> <strong>Herbst</strong><br />

Schauspieler, Synchronsprecher, Hörbuchinterpret,<br />

Autor<br />

zunächst Ausbildung als Bankkaufmann,<br />

dann Engagement in <strong>de</strong>r freien Theaterszene<br />

in Wuppertal<br />

Theaterengagements u. a. am Stadttheater<br />

Bremerhaven, am Metropoltheater München<br />

und am Hebbel Theater Berlin<br />

Für seine Rolle als »Stromberg« in <strong>de</strong>r<br />

gleichnamigen Comedy-Serie Auszeichnungen<br />

u. a. mit <strong>de</strong>m Bayerischen Fernsehpreis, <strong>de</strong>m<br />

Adolf-Grimme-Preis, <strong>de</strong>m Deutschen Fernsehpreis<br />

und drei <strong>de</strong>utschen Comedy-Preisen<br />

Zahlreiche Rollen in Kino- und Fernseh filmen,<br />

u. a. in Der Fischer und seine Frau, Vom<br />

Suchen und Fin<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Liebe, Wo ist Fred?,<br />

Jakobs Bru<strong>de</strong>r; sowie langjährige Zusammenarbeit<br />

mit Michael Herbig für <strong>de</strong>ssen Komödien,<br />

u. a. Wickie und die starken Männer<br />

Synchronisation von Animationsfilmen wie<br />

Urmel auf Eis, Urmel voll in Fahrt, Horton hört<br />

ein Hu! und Dany Boons Komödie Willkommen<br />

bei <strong>de</strong>n Sch’tis<br />

Als Sprecher außer<strong>de</strong>m Hörbuch-Adaption<br />

<strong>de</strong>r Tommy-Jaud-Romane Vollidiot, Resturlaub<br />

und Millionär, sowie Ralf Husmanns Nicht<br />

mein Tag und Stefan Zweigs Schachnovelle<br />

Zahlreiche bun<strong>de</strong>sweite Lesereisen,<br />

u. a. auch mit <strong>de</strong>m eigenen Buch Ein Traum<br />

von einem Schiff


»Kaspars Putniņš leitet dieses Konzert mit Gespür für<br />

Raum, Klang und die Möglichkeiten eines einzigartigen<br />

Klangkörpers sowie ganz beson<strong>de</strong>rs für eine einzig artige Literatur.<br />

Wer dabei war, musste einfach jubeln,<br />

<strong>de</strong>nn hier ist die höchste Form musikalischer Sinnlichkeit<br />

erreicht.«<br />

Leipziger Volkszeitung<br />

Kaspars Putniņš<br />

seit 1992 Dirigent <strong>de</strong>s Lettischen <strong>Rundfunkchor</strong>s<br />

1994 Gründung <strong>de</strong>s international angesehenen<br />

Vokalensembles <strong>de</strong>s Lettischen Rundfunks<br />

(Latvian Radio Chamber Singers)<br />

Zusammenarbeit mit führen<strong>de</strong>n Chören wie<br />

<strong>de</strong>m rias Kammerchor, <strong>Rundfunkchor</strong> Berlin,<br />

swr Vokalensemble Stuttgart, mdr <strong>Rundfunkchor</strong>,<br />

ndr Chor Hamburg, Collegium<br />

Vo cale Gent, Nie<strong>de</strong>rländischer <strong>Rundfunkchor</strong>,<br />

Nie<strong>de</strong>rländischer Kammerchor und bbc<br />

Singers<br />

In <strong>de</strong>r aktuellen Spielzeit u. a. Debüt beim<br />

Vokalensemble und Chor <strong>de</strong>s Dänischen<br />

Rundfunks<br />

Repertoire von <strong>de</strong>r Polyphonie <strong>de</strong>r Renaissance<br />

über Werke <strong>de</strong>r Romantik bis hin zu<br />

zeitgenössischer Musik mit beson<strong>de</strong>rem<br />

Schwerpunkt auf <strong>de</strong>r För<strong>de</strong>rung neuer herausragen<strong>de</strong>r<br />

Chormusik<br />

Zusammenarbeit mit zahlreichen baltischen<br />

Komponisten wie Pēteris Vasks, Maija Einfel<strong>de</strong>,<br />

Mārtiņš Viļums, Gun<strong>de</strong>ga Šmite, Toivo<br />

Tulev und Andris Dzenitis<br />

Auszeichnungen: 1998 mit <strong>de</strong>m lettischen<br />

»Grand Prix für Musik«, sowie 2000 mit <strong>de</strong>m<br />

Preis <strong>de</strong>s lettischen Ministerrats für herausragen<strong>de</strong><br />

kulturelle und wissenschaftliche<br />

Leistungen<br />

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