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Altstadtsanierung am "Pelô"

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Die Comunidade des Maciel<br />

mäßig zu Wertekonflikten zwischen den verschiedenen Einwohnertypen, bis hin zu regel-<br />

mäßigen physischen Aggressionen (Espinheira 1971: 22). Tägliche Schlägereien in den engen<br />

Gassen prägten das Bild des Maciel. Um nicht in die Gewalt verwickelt zu werden, blieben<br />

die Mitglieder vieler F<strong>am</strong>ilien nach Einbruch der Dunkelheit zu Hause. Die Frauen hatten<br />

Angst, als Prostituierte diskriminiert zu werden, wenn sie sich abends noch auf den Straßen<br />

aufhielten. Nita, eine Anwohnerin erzählt z.B.: "Nach 19.00 Uhr ging von meiner F<strong>am</strong>ilie<br />

keiner mehr auf die Straße. Wenn ich das gemacht hätte, hätten die anderen gedacht, daß ich<br />

auch eine Prostituierte sei. Auch mein Mann und die Kinder blieben fast immer im Haus. Für<br />

meinen Mann war es zwar nicht so gefährlich, aber immer gab es Streit auf der Straße,<br />

manchmal auch mit Messern oder Pistolen. Die Polizei habe ich fast nie gesehen, und wenn<br />

sie k<strong>am</strong>, dann schlugen sie auf jeden ein, egal ob der was gemacht hatte oder nicht. D<strong>am</strong>it<br />

wollten wir nichts zu tun haben".Die Polizei war zur Zeiten der comunidade in den Straßen<br />

des Maciel kaum präsent. Ihre Aktionen hatten oft einen willkürlichen Charakter, und<br />

richteten sich gegen alle Bewohner des Maciel, unabhängig davon, ob es sich um "Margina-<br />

le" 21) oder normale F<strong>am</strong>ilienmitglieder handelte. Die mangelnde polizeiliche Präsenz und<br />

die hohe Kriminalitätsrate führte zu dem Ruf des Stadtviertels als "Höllenschlund" (Boca do<br />

Inferno), in dem es vor allem nachts gefährlich war, sich aufzuhalten (vgl. Augel 1991b: 42).<br />

Für die F<strong>am</strong>ilien war die Gefahr überfallen oder in eine der zahlreichen Schlägereien<br />

verwickelt zu werden jedoch nicht in dem Maße akut, wie für Besucher von außerhalb. So<br />

21) Mit marginal werden im alltagssprachlichen Gebrauch insbesondere die Mitglieder aus der untersten<br />

Sozialschicht bezeichnet, die in der Mehrheit in den Favelas des Stadtgebiets leben. In den Medien wird<br />

der Begriff zudem oft im Zus<strong>am</strong>menhang mit Kriminalitätsdelikten verwendet, die von Farbigen begangen<br />

werden. Im Alltagsverständnis erhielt er so eine sehr negative Bedeutung. Mit Marginalität verbindet man<br />

in Brasilien das Bild von einem Farbigen, der potentiell kriminell ist, überwiegend in den Elendsvierteln<br />

der großen Städte lebt, und dem die Regeln der Gesellschaft nichts bedeuten. D<strong>am</strong>it hat das Alltagsverständnis<br />

kaum etwas mit dem soziologischen Verständnis von "den an den gesellschaftlichen Rand<br />

Gedrängten" zu tun. Vor allem wird so die Ursache von Marginalität nicht in gesellschaftlichen Defiziten<br />

gesucht, sondern beim betroffenen Individuum selbst. Hinter der alltagssprachlichen Konnotation versteckt<br />

sich unbewußt das Vorurteil, daß jemand aus freiem Willen "marginal" ist. Die Sozialisation der Millionen<br />

von Straßenkindern mag hier als typisches Beispiel gelten: Gesellschaftliche Normen, Regeln und Gesetze<br />

spielen im Alltag des Überlebensk<strong>am</strong>pfes der Kinder keine Rolle, sie passen sich der brutalen Hierarchie<br />

ihrer eigenen Gruppe an und internalisierten im Verlauf ihrer Entwicklung Normen- und Verhaltensregeln,<br />

die auch ihr Leben als Erwachsene beeinflussen. Sobald ein Straßenkind erwachsen ist, hat jedoch die<br />

gesellschaftliche Toleranz des "regellosen" Verhaltens, die man den Kindern in der Regel noch entgegenbringt,<br />

ein Ende. Ein Erwachsener verhält sich aus freier Entscheidung "marginal", ein Kind, weil es nicht<br />

anders kann. Daß das "marginale" Verhalten der Erwachsenen häufig auf deren Kindheitserfahrungen<br />

zurückzuführen ist, wird dabei von der Gesellschaft in der Regel nicht bedacht (vgl. zur Marginalität z.B.<br />

Perlman 1976).<br />

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