Rosa Luxemburg Die Akkumulation des Kapitals Ein ... - Attac Berlin
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong>: <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong><br />
Gesamtübersicht "MLWerke" | <strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong><br />
<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - Gesammelte Werke. Herausgegeben vom Institut für Marxismus-Leninismus<br />
beim ZK der SED. Band 5, <strong>Berlin</strong>/DDR. 1975, »<strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>«, S. 5-411.<br />
1. Korrektur.<br />
Erstellt am 20.10.1998<br />
<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong><br />
<strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong><br />
<strong>Ein</strong> Beitrag<br />
zur ökonomischen Erklärung <strong>des</strong> Imperialismus<br />
<strong>Berlin</strong> 1913.<br />
Verlag: Buchhandlung Vorwärts Paul Singer G. m. b. H.<br />
Vorwort<br />
Erster Abschnitt. Das Problem der Reproduktion<br />
1. Kapitel. Gegenstand der Untersuchung<br />
2. Kapitel. <strong>Die</strong> Analyse <strong>des</strong> Reproduktionsprozesses bei Quesney und bei Ad.<br />
Smith<br />
3. Kapitel. Kritik der Smithschen Analyse<br />
4. Kapitel. Das Marxsche Schema der einfachen Reproduktion<br />
5. Kapitel. <strong>Die</strong> Geldzirkulation<br />
6. Kapitel. <strong>Die</strong> erweiterte Reproduktion<br />
7. Kapitel. Analyse <strong>des</strong> Marxschen Schemas der erweiterten Reproduktion<br />
8. Kapitel. <strong>Die</strong> Versuche der Lösung der Schwierigkeit bei Marx<br />
9. Kapitel. <strong>Die</strong> Schwierigkeit unter dem Gesichtswinkel <strong>des</strong><br />
Zirkulationsprozesses<br />
Zweiter Abschnitt. Geschichtliche Darstellung <strong>des</strong> Problems<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong>: <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong><br />
Erster Waffengang. Kontroverse zwischen Sismondi - Malthus und Say -<br />
Ricardo - MacCulloch<br />
10. Kapitel. <strong>Die</strong> Sismondische Theorie der Reproduktion<br />
11. Kapitel. MacCulloch gegen Sismondi<br />
12. Kapitel. Ricardo gegen Sismondi<br />
13. Kapitel. Say gegen Sismondi<br />
14. Kapitel. Malthus<br />
Zweiter Waffengang. Kontroverse zwischen Rodbertus und v. Kirchmann<br />
15. Kapitel. v. Kirchmanns Reproduktionstheorie<br />
16. Kapitel. Rodbertus' Kritik der klassischen Schule<br />
17. Kapitel. Rodbertus' Analyse der Reproduktion<br />
Dritter Waffengang. Struve - Bulgakow - Tugan-Baranowski gegen Woronzow<br />
- Nikolai-on<br />
18. Kapitel. Das Problem in neuer Auflage<br />
19. Kapitel. Herr Woronzow und sein »Überschuß«<br />
20. Kapitel. Nikolai-on<br />
21. Kapitel. <strong>Die</strong> »dritten Personen« und die drei Weltreiche Struves<br />
22. Kapitel. Bulgakow und die Ergänzung der Marxschen Analyse<br />
23. Kapitel. <strong>Die</strong> »Disproportionalität« <strong>des</strong> Herrn Tugan-Baranowski<br />
24. Kapitel. Der Ausgang <strong>des</strong> russischen »legalen« Marxismus<br />
Dritter Abschnitt. <strong>Die</strong> geschichtlichen Bedingungen der <strong>Akkumulation</strong><br />
25. Kapitel. Widersprüche <strong>des</strong> Schemas der erweiterten Reproduktion<br />
26. Kapitel. <strong>Die</strong> Reproduktion <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong> und ihr Milieu<br />
27. Kapitel. Der Kampf gegen die Naturalwirtschaft<br />
28. Kapitel. <strong>Die</strong> <strong>Ein</strong>führung der Warenwirtschaft<br />
29. Kapitel. Der Kampf gegen die Bauernwirtschaft<br />
30. Kapitel. <strong>Die</strong> internationale Anleihe<br />
31. Kapitel. Schutzzoll und <strong>Akkumulation</strong><br />
32. Kapitel. Der Militarismus auf dem Gebiet der Kapitalakkumulation<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, Vorwort<br />
Inhalt | 1. Kapitel<br />
<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - Gesammelte Werke. Herausgegeben vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Band<br />
5. <strong>Berlin</strong>/DDR. 1975. "<strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>", S. 7.<br />
1. Korrektur<br />
Erstellt am 20.10.1998<br />
Vorwort<br />
Den Anstoß zur vorliegenden Arbeit hat mir eine populäre <strong>Ein</strong>führung in die Nationalökonomie gegeben,<br />
die ich seit längerer Zeit für denselben Verlag vorbereite, an deren Fertigstellung ich aber immer wieder<br />
durch meine Tätigkeit an der Parteischule oder durch Agitation verhindert wurde. Als ich im Januar<br />
dieses Jahres, nach der Reichstagswahl, wieder einmal daranging, jene Popularisation der Marxschen<br />
ökonomischen Lehre wenigstens im Grundriß zum Abschluß zu bringen, bin ich auf eine unerwartete<br />
Schwierigkeit gestoßen. Es wollte mir nicht gelingen, den Gesamtprozeß der kapitalistischen Produktion<br />
in ihren konkreten Beziehungen sowie ihre objektive geschichtliche Schranke mit genügender Klarheit<br />
darzustellen. Bei näherem Zusehen kam ich zu der Ansicht, daß hier nicht bloß eine Frage der<br />
Darstellung, sondern auch ein Problem vorliegt, das theoretisch mit dem Inhalt <strong>des</strong> zweiten Ban<strong>des</strong> <strong>des</strong><br />
Marxschen "<strong>Kapitals</strong>" im Zusammenhang steht und zugleich in die Praxis der heutigen imperialistischen<br />
Politik wie deren ökonomische Wurzeln eingreift. Sollte mir der Versuch gelungen sein, dieses Problem<br />
wissenschaftlich exakt zu fassen, dann dürfte die Arbeit außer einem rein theoretischen Interesse, wie mir<br />
scheint, auch einige Bedeutung für unseren praktischen Kampf mit dem Imperialismus haben.<br />
Dezember 1912<br />
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R. L.
<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, Vorwort<br />
Inhalt | 1. Kapitel<br />
<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - Gesammelte Werke. Herausgegeben vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Band<br />
5. <strong>Berlin</strong>/DDR. 1975. "<strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>", S. 7.<br />
1. Korrektur<br />
Erstellt am 20.10.1998<br />
Vorwort<br />
Den Anstoß zur vorliegenden Arbeit hat mir eine populäre <strong>Ein</strong>führung in die Nationalökonomie gegeben,<br />
die ich seit längerer Zeit für denselben Verlag vorbereite, an deren Fertigstellung ich aber immer wieder<br />
durch meine Tätigkeit an der Parteischule oder durch Agitation verhindert wurde. Als ich im Januar<br />
dieses Jahres, nach der Reichstagswahl, wieder einmal daranging, jene Popularisation der Marxschen<br />
ökonomischen Lehre wenigstens im Grundriß zum Abschluß zu bringen, bin ich auf eine unerwartete<br />
Schwierigkeit gestoßen. Es wollte mir nicht gelingen, den Gesamtprozeß der kapitalistischen Produktion<br />
in ihren konkreten Beziehungen sowie ihre objektive geschichtliche Schranke mit genügender Klarheit<br />
darzustellen. Bei näherem Zusehen kam ich zu der Ansicht, daß hier nicht bloß eine Frage der<br />
Darstellung, sondern auch ein Problem vorliegt, das theoretisch mit dem Inhalt <strong>des</strong> zweiten Ban<strong>des</strong> <strong>des</strong><br />
Marxschen "<strong>Kapitals</strong>" im Zusammenhang steht und zugleich in die Praxis der heutigen imperialistischen<br />
Politik wie deren ökonomische Wurzeln eingreift. Sollte mir der Versuch gelungen sein, dieses Problem<br />
wissenschaftlich exakt zu fassen, dann dürfte die Arbeit außer einem rein theoretischen Interesse, wie mir<br />
scheint, auch einige Bedeutung für unseren praktischen Kampf mit dem Imperialismus haben.<br />
Dezember 1912<br />
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R. L.
<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 1. Kapitel<br />
Vorwort | Inhalt | 2. Kapitel<br />
<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - Gesammelte Werke. Herausgegeben vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Band<br />
5. <strong>Berlin</strong>/DDR. 1975. "<strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>", S. 9-24<br />
1. Korrektur<br />
Erstellt am 20.10.1998<br />
Erster Abschnitt<br />
Das Problem der Reproduktion<br />
Erstes Kapitel<br />
Gegenstand der Untersuchung<br />
Zu den unvergänglichen Verdiensten Marxens um die theoretische Nationalökonomie gehört seine<br />
Stellung <strong>des</strong> Problems der Reproduktion <strong>des</strong> gesellschaftlichen Gesamtkapitals. Bezeichnenderweise<br />
begegnen wir in der Geschichte der Nationalökonomie nur zwei Versuchen einer exakten Darstellung <strong>des</strong><br />
Problems: an ihrer Schwelle, bei dem Vater der Physiokratenschule, Quesnay, und an ihrem Ausgang,<br />
bei Karl Marx. In der Zwischenzeit hört das Problem nicht auf, die bürgerliche Nationalökonomie zu<br />
quälen, doch hat sie es nie bewußt und nie in seiner reinen Form, losgelöst von verwandten und<br />
durchkreuzenden Nebenproblemen, auch nur zu stellen, geschweige zu lösen gewußt. Bei der<br />
fundamentalen Bedeutung dieses Problems jedoch kann man bis zu einem gewissen Grad an der Hand<br />
dieser Versuche die Schicksale der wissenschaftlichen Ökonomie überhaupt verfolgen.<br />
Worin besteht das Problem der Reproduktion <strong>des</strong> Gesamtkapitals?<br />
Reproduktion ist wörtlich genommen einfach Wiederproduktion, Wiederholung, Erneuerung <strong>des</strong><br />
Produktionsprozesses, und es mag auf den ersten Blick nicht abzusehen sein, worin sich der Begriff der<br />
Reproduktion von dem allgemeinverständlichen der Produktion eigentlich unterscheiden und wozu<br />
hierfür ein neuer, befremdender Ausdruck nötig sein soll. Allein gerade in der Wiederholung, in der<br />
ständigen Wiederkehr <strong>des</strong> Produk- tionsprozesses liegt ein wichtiges Moment für sich. Zunächst ist<br />
die regelmäßige Wiederholung der Produktion die allgemeine Voraussetzung und Grundlage der<br />
regelmäßigen Konsumtion und damit die Vorbedingung der Kulturexistenz der menschlichen<br />
Gesellschaft unter allen ihren geschichtlichen Formen. In diesem Sinne enthält der Begriff der<br />
Reproduktion ein kulturgeschichtliches Moment. <strong>Die</strong> Produktion kann nicht wiederaufgenommen<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 1. Kapitel<br />
werden, die Reproduktion kann nicht stattfinden, wenn nicht bestimmte Vorbedingungen: Werkzeuge,<br />
Rohstoffe, Arbeitskräfte, als Ergebnis der vorhergegangenen Produktionsperiode gegeben sind. Auf den<br />
primitivsten Stufen der Kulturentwicklung aber, bei den Anfängen in der Beherrschung der äußeren<br />
Natur, ist diese Möglichkeit der Wiederaufnahme der Produktion je<strong>des</strong>mal noch mehr oder weniger vom<br />
Zufall abhängig. Solange hauptsächlich Jagd oder Fischfang die Grundlage der Existenz der Gesellschaft<br />
bilden, ist die Regelmäßigkeit in der Wiederholung der Produktion häufig unterbrochen durch Perioden<br />
<strong>des</strong> allgemeinen Hungerns. Bei manchen primitiven Völkern haben die Erfordernisse der Reproduktion<br />
als eines regelmäßig wiederkehrenden Prozesses schon sehr früh einen traditionellen und gesellschaftlich<br />
bindenden Ausdruck in bestimmten Zeremonien religiösen Charakters gefunden. So ist nach den<br />
gründlichen Forschungen von Spencer und Gillen der Totemkult der Australneger im Grunde genommen<br />
nichts anderes als die zur religiösen Zeremonie erstarrte Überlieferung gewisser seit undenklichen Zeiten<br />
regelmäßig wiederholter Maßnahmen der gesellschaftlichen Gruppen zur Beschaffung und Erhaltung<br />
ihrer tierischen und pflanzlichen Nahrung. Doch erst der Hackbau, die Zähmung der Haustiere und die<br />
Viehzucht zu Ernährungszwecken ermöglichten den regelmäßigen Kreislauf von Konsumtion und<br />
Produktion, der das Merkmal der Reproduktion bildet. Insofern erscheint also der Begriff der<br />
Reproduktion selbst als etwas mehr denn bloße Wiederholung: Er umschließt bereits eine gewisse Höhe<br />
in der Beherrschung der äußeren Natur durch die Gesellschaft oder, ökonomisch ausgedrückt, eine<br />
gewisse Höhe der Produktivität der Arbeit.<br />
Andererseits ist der Produktionsprozeß selbst auf allen gesellschaftlichen Entwicklungsstufen eine<br />
<strong>Ein</strong>heit von zwei verschiedenen, wenn auch eng miteinander verknüpften Momenten: der technischen<br />
und der gesellschaftlichen Bedingungen, d.h. der bestimmten Gestaltung <strong>des</strong> Verhältnisses der Menschen<br />
zur Natur und der Verhältnisse der Menschen untereinander. <strong>Die</strong> Reproduktion hängt gleichermaßen von<br />
beiden ab. Inwiefern sie an die Bedingungen der menschlichen Arbeitstechnik gebunden und selbst erst<br />
das Ergebnis einer gewissen Höhe in der Produktivität der Arbeit ist, haben wir soeben angedeutet.<br />
Aber nicht minder bestimmend sind die jeweiligen gesellschaftlichen Formen der Produktion. In einer<br />
primitiven kommunistischen Agrargemeinde wird die Reproduktion, wie der ganze Plan <strong>des</strong><br />
Wirtschaftslebens, von der Gesamtheit der Arbeitenden und ihren demokratischen Organen bestimmt:<br />
Der Entschluß zur Wiederaufnahme der Arbeit, ihre Organisation, die Sorge für nötige Vorbedingungen -<br />
Rohstoffe, Werkzeuge, Arbeitskräfte -, endlich die Bestimmung <strong>des</strong> Umfangs und der <strong>Ein</strong>teilung der<br />
Reproduktion sind das Ergebnis <strong>des</strong> planmäßigen Zusammenwirkens der Gesamtheit in den Grenzen der<br />
Gemeinde. In einer Sklavenwirtschaft oder auf einem Fronhof wird die Reproduktion auf Grund<br />
persönlicher Herrschaftsverhältnisse erzwungen und in allen Details geregelt, wobei die Schranke für<br />
ihren Umfang jeweilig das Verfügungsrecht <strong>des</strong> herrschenden Zentrums über einen größeren oder<br />
geringeren Kreis fremder Arbeitskräfte bildet. In der kapitalistisch produzierenden Gesellschaft gestaltet<br />
sich die Reproduktion ganz eigentümlich, was schon der Augenschein in gewissen auffälligen Momenten<br />
lehrt. In jeder anderen geschichtlich bekannten Gesellschaft wird die Reproduktion regelmäßig<br />
aufgenommen, sofern nur die Vorbedingungen: vorhandene Produktionsmittel und Arbeitskräfte, dies<br />
ermöglichen. Nur äußere <strong>Ein</strong>wirkungen: ein verheerender Krieg oder eine große Pest, die eine<br />
Entvölkerung und damit massenhafte Vernichtung der Arbeitskräfte und der vorrätigen Produktionsmittel<br />
herbeiführen, pflegen zu verursachen, daß auf ganzen großen Strecken früheren Kulturlebens die<br />
Reproduktion für längere oder kürzere Perioden nicht aufgenommen oder nur zum geringen Teil<br />
aufgenommen wird. Ähnliche Erscheinungen können teilweise bei <strong>des</strong>potischer Bestimmung über den<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 1. Kapitel<br />
Plan der Produktion hervorgerufen werden. Wenn der Wille eines Pharao im alten Ägypten Tausende<br />
von Fellachen für Jahrzehnte an den Bau von Pyramiden fesselte oder wenn im neuen Ägypten Ismael<br />
Pascha 20.000 Fellachen für den Bau <strong>des</strong> Suezkanals als Fronknechte abkommandierte oder wenn der<br />
Kaiser Shih-huang-ti, der Begründer der Dynastie Ch'in, 200 Jahre vor der christlichen Ära 400.000<br />
Menschen vor Hunger und Erschöpfung umkommen ließ und eine ganze Generation aufrieb, um die<br />
Große Mauer an der Nordgrenze Chinas auszubauen - so war in allen solchen Fällen die Folge, daß<br />
gewaltige Strecken Bauernlan<strong>des</strong> unbestellt blieben, das regelmäßige Wirtschaftsleben hier für lange<br />
Perioden unterbrochen wurde. Aber diese Unterbrechungen der Reproduktion hatten in jedem solchen<br />
Falle ganz sichtbare, klare Ursachen in der einseitigen Bestimmung über den Reproduktionsplan im<br />
ganzen durch das Herrschaftsverhältnis. In den kapitalistisch pro- duzierenden Gesellschaften<br />
sehen wir anderes. In gewissen Perioden sehen wir, daß sowohl alle erforderlichen materiellen<br />
Produktionsmittel wie Arbeitskräfte zur Aufnahme der Reproduktion vorhanden sind, daß andererseits<br />
die Konsumtionsbedürfnisse der Gesellschaft unbefriedigt bleiben und daß trotzdem die Reproduktion<br />
teils ganz unterbrochen ist, teil nur in verkümmertem Umfange vonstatten geht. Hier sind aber keine<br />
<strong>des</strong>potischen <strong>Ein</strong>griffe in den Wirtschaftsplan für die Schwierigkeiten <strong>des</strong> Reproduktionsprozesses<br />
verantwortlich. <strong>Die</strong> Aufnahme der Reproduktion ist hier vielmehr außer von allen technischen<br />
Bedingungen noch von der rein gesellschaftlichen Bedingung abhängig, daß nur diejenigen Produkte<br />
hergestellt werden, die sichere Aussicht haben, realisiert, gegen Geld ausgetauscht zu werden, und nicht<br />
nur überhaupt realisiert, sondern mit einem Profit von bestimmter, lan<strong>des</strong>üblicher Höhe. Profit als<br />
Endzweck und bestimmen<strong>des</strong> Moment beherrscht hier also nicht bloß die Produktion, sondern auch die<br />
Reproduktion, d.h. nicht bloß das Wie und Was <strong>des</strong> jeweiligen Arbeitsprozesses und der Verteilung der<br />
Produkte, sondern auch die Frage, ob, in welchem Umfange und in welcher Richtung der Arbeitsprozeß<br />
immer wieder von neuem aufgenommen wird, nachdem eine Arbeitsperiode ihren Abschluß gefunden<br />
hat. "Hat die Produktion kapitalistische Form, so die Reproduktion."(1)<br />
Infolge solcher rein historisch-gesellschaftlichen Momente also gestaltet sich der Reproduktionsprozeß<br />
der kapitalistischen Gesellschaft im ganzen zu einem eigenartigen, sehr verwickelten Problem. Schon das<br />
äußere Charakteristikum <strong>des</strong> kapitalistischen Reproduktionsprozesses zeigt seine spezifische<br />
geschichtliche Eigentümlichkeit: Er umfaßt nicht nur die Produktion, sondern auch die Zirkulation<br />
(Austauschprozeß), er ist die <strong>Ein</strong>heit beider.<br />
Vor allem ist die kapitalistische Produktion eine solche zahlloser Privatproduzenten ohne jede<br />
planmäßige Regelung und der Austausch der einzige gesellschaftliche Zusammenhang zwischen ihnen.<br />
<strong>Die</strong> Reproduktion findet hier als Anhaltspunkt für die Bestimmung der gesellschaftlichen Bedürfnisse<br />
immer nur die Erfahrungen der vorhergehenden Arbeitsperiode vor. Allein diese Erfahrungen sind<br />
Privaterfahrungen einzelner Produzenten, die nicht einen zusammenfassenden gesellchaftlichen<br />
Ausdruck finden. Ferner sind es immer nicht positive und direkte Erfahrungen über die Bedürfnisse der<br />
Gesellschaft, sondern indirekte und negative, die aus der jeweiligen Bewegung der Preise einen<br />
Rückschluß über das Zuviel oder Zuwenig der hergestellten Produktenmasse im Verhältnis zur<br />
zahlungsfähigen Nachfrage erlauben. <strong>Die</strong> Reproduktion wird aber immer wieder unter Benutzung dieser<br />
Erfahrungen über die vergangene Produktionsperiode von einzelnen Privatproduzenten in Angriff<br />
genommen. Daraus kann sich in der folgenden Periode ebenfalls nur wiederum ein Zuviel oder Zuwenig<br />
ergeben, wobei einzelne Produktionszweige ihre eigenen Wege gehen und in dem einen sich ein Zuviel<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 1. Kapitel<br />
herausstellen kann, dagegen in einem anderen ein Zuwenig. Bei der gegenseitigen technischen<br />
Abhängigkeit jedoch fast aller einzelnen Produktionszweige zieht ein Zuviel oder Zuwenig einiger<br />
größerer führender Produktionszweige auch die gleiche Erscheinung in den meisten übrigen<br />
Produktionszweigen nach sich. So ergibt sich von Zeit zu Zeit abwechselnd ein allgemeiner Überfluß<br />
oder ein allgemeiner Mangel an Produkten im Verhältnis zur Nachfrage der Gesellschaft. Daraus folgt<br />
schon, daß die Reproduktion in der kapitalistischen Gesellschaft eine eigentümliche, von allen anderen<br />
geschichtlichen Produktionsformen verschiedene Gestalt annimmt. Erstens macht jeder<br />
Produktionszweig eine in gewissen Grenzen unabhängige Bewegung durch, die von Zeit zu Zeit zu<br />
kürzeren oder längeren Unterbrechungen in der Reproduktion führt. Zweitens summieren sich die<br />
Abweichungen der Reproduktion in den einzelnen Zweigen von dem gesellschaftlichen Bedürfnis<br />
periodisch zu einer allgemeinen Inkongruenz, worauf eine allgemeine Unterbrechung der Reproduktion<br />
folgt. <strong>Die</strong> kapitalistische Reproduktion bietet somit eine ganz eigentümliche Figur. Während die<br />
Reproduktion unter jeder anderen Wirtschaftsform - abgesehen von äußeren, gewaltsamen <strong>Ein</strong>griffen -<br />
als ein ununterbrochener gleichmäßiger Kreislaut verläuft, kann die kapitalistische Reproduktion - um<br />
einen bekannten Ausdruck Sismondis anzuwenden - nur als eine fortlaufende Reihe einzelner Spiralen<br />
dargestellt werden, deren Windungen anfänglich klein, dann immer größer, zum Schluß ganz groß sind,<br />
worauf ein Zusammenschrumpfen folgt und die nächste Spirale wieder mit kleinen Windungen beginnt,<br />
um dieselbe Figur bis zur Unterbrechung durchzumachen.<br />
Der periodische Wechsel der größten Ausdehnung der Reproduktion und ihres Zusammenschrumpfens<br />
bis zur teilweisen Unterbrechung, d.h. das, was man als den periodischen Zyklus der matten Konjunktur,<br />
Hochkonjunktur und Krise bezeichnet, ist die auffälligste Eigentümlichkeit der kapitalistischen<br />
Reproduktion.<br />
Es ist jedoch sehr wichtig von vornherein festzustellen, daß der periodische Wechsel der Konjunkturen<br />
und die Krise zwar wesentliche Momente der Reproduktion, aber nicht das Problem der kapitalistischen<br />
Re- produktion an sich, nicht das eigentliche Problem darstellen. Periodischer Konjunkturwechsel<br />
und Krise sind die spezifische Form der Bewegung bei der kapitalistischen Wirtschaftsweise, sie sind<br />
aber nicht die Bewegung selbst. Um das Problem der kapitalistischen Reproduktion in reiner Gestalt<br />
darzustellen, müssen wir vielmehr gerade von jenem periodischen Konjunkturwechsel und von Krisen<br />
absehen. So befremdend dies erscheinen mag, so ist es eine ganz rationelle Methode, ja die einzige<br />
wissenschaftlich gangbare Methode der Untersuchung. Um das Problem <strong>des</strong> Wertes rein darzustellen und<br />
zu lösen, müssen wir von den Schwankungen der Preise absehen. <strong>Die</strong> vulgärökonomische Auffassung<br />
sucht stets das Wertproblem durch Hinweise auf die Schwankungen der Nachfrage und <strong>des</strong> Angebots zu<br />
lösen. <strong>Die</strong> klassische Ökonomie von Smith bis Marx hat die Sache umgekehrt angefaßt, indem sie<br />
erklärte: Schwankungen im gegenseitigen Verhältnis der Nachfrage und <strong>des</strong> Angebots können nur<br />
Abweichungen <strong>des</strong> Preises vom Wert, nicht aber den Wert selbst erklären. Um herauszufinden, was der<br />
Wert der Waren ist, müssen wir das Problem unter der Voraussetzung packen, daß sich Nachfrage und<br />
Angebot die Waage halten, d.h. der Preis und der Wert der Waren [sich] decken. Das wissenschaftliche<br />
Wertproblem beginnt also gerade dort, wo die Wirkung der Nachfrage und <strong>des</strong> Angebots aufhört. Genau<br />
dasselbe gilt für das Problem der Reproduktion <strong>des</strong> kapitalistischen Gesamtkapitals. Der periodische<br />
Wechsel der Konjunkturen und die Krisen bewirken, daß die kapitalistische Reproduktion als Regel um<br />
die zahlungsfähigen Gesamtbedürfnisse der Gesellschaft schwankt, sich bald von ihnen nach oben<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 1. Kapitel<br />
entfernt, bald unter sie bis zur nahezu völligen Unterbrechung sinkt. Nimmt man jedoch eine längere<br />
Periode, einen ganzen Zyklus mit wechselnden Konjunkturen, so wiegen sich Hochkonjunktur und Krise,<br />
d.h. die höchste Überspannung der Reproduktion mit ihrem Tiefstand und ihrer Unterbrechung, auf, und<br />
im Durchschnitt <strong>des</strong> ganzen Zyklus bekommen wir eine gewisse mittlere Größe der Reproduktion. <strong>Die</strong>ser<br />
Durchschnitt ist nicht bloß ein theoretisches Gedankenbild, sondern auch ein realer, objektiver<br />
Tatbestand. Denn trotz <strong>des</strong> scharfen Auf und Ab der Konjunkturen, trotz Krisen werden die Bedürfnisse<br />
der Gesellschaft schlecht oder recht befriedigt, die Reproduktion geht weiter ihren verschlungenen Gang,<br />
und die Produktivkräfte entwickeln sich immer mehr. Wie kommt dies nun zustande, wenn wir von Krise<br />
und Konjunkturwechsel absehen? - Hier beginnt die eigentliche Frage und der Versuch, das<br />
Reproduktionsproblem durch den Hinweis auf die Periodizität der Krisen zu lösen, ist im Grunde<br />
genommen ebenso vulgärökonomisch wie der Versuch, das Wertproblem durch Schwankungen<br />
von Nachfrage und Angebot zu lösen. Trotzdem worden wir weiter sehen, daß die Nationalökonomie<br />
beständig diese Neigung verriet, das Problem der Reproduktion, kaum daß sie es halbwegs bewußt<br />
aufgestellt oder wenigstens geahnt hatte, unversehens in das Krisenproblem zu verwandeln und sich so<br />
die Lösung selbst zu versperren. Wenn wir im folgenden von kapitalistischer Reproduktion sprechen, so<br />
ist darunter stets jener Durchschnitt zu verstehen, der sich als die mittlere Resultante <strong>des</strong><br />
Konjunkturwechsels innerhalb eines Zyklus ergibt.<br />
<strong>Die</strong> kapitalistische Gesamtproduktion wird durch eine schrankenlose. und beständig schwankende<br />
Anzahl von Privatproduzenten bewerkstelligt, die unabhängig voneinander, ohne jede gesellschaftliche<br />
Kontrolle außer der Beobachtung der Preisschwankungen und ohne jeden gesellschaftlichen<br />
Zusammenhang außer dem Warenaustausch produzieren. Wie kommt aus diesen zahllosen.<br />
unzusammenhängenden Bewegungen die tatsächliche Gesamtproduktion heraus? Wird die Frage so<br />
gestellt - und dies ist die erste allgemeine Form, unter der sich das Problem unmittelbar bietet, so wird<br />
dabei übersehen, daß die Privatproduzenten in diesem Fall keine einfachen Warenproduzenten, sondern<br />
kapitalistische Produzenten sind und daß auch die Gesamtproduktion der Gesellschaft keine Produktion<br />
zur Befriedigung der Konsumbedürfnisse schlechthin, auch keine einfache Warenproduktion, sondern<br />
kapitalistische Produktion ist. Sehen wir zu, welche Veränderungen im Problem dies mit sich bringt.<br />
Der Produzent, der nicht bloß Waren, sondern Kapital produziert, muß vor allem Mehrwert erzeugen.<br />
Mehrwert ist das Endziel und das bewegende Motiv <strong>des</strong> kapitalistischen Produzenten. <strong>Die</strong> hergestellten<br />
Waren müssen ihm, nachdem sie realisiert werden, nicht nur alle seine Auslagen, sondern darüber hinaus<br />
eine Wertgröße eintragen, der keine Auslage auf seiner Seite entspricht, die reiner Überschuß ist. Vom<br />
Standpunkte dieser Mehrwerterzeugung zerfällt das vom Kapitalisten vorgeschossene Kapital. ohne daß<br />
er es weiß und entgegen den Flausen, die er sich und der Welt über stehen<strong>des</strong> und umlaufen<strong>des</strong> Kapital<br />
vormacht, in einen Teil, der seine Auslagen für Produktionsmittel: Arbeitsräume, Roh- und Hilfsstoffe,<br />
Instrumente, darstellt, und einen anderen Teil, der in Arbeitslöhnen verausgabt wird. Den ersteren, der<br />
seine Wertgröße durch Gebrauch im Arbeitsprozeß unverändert auf das Produkt überträgt, nennt Marx<br />
den konstanten, den letzteren, der durch Aneignung unbezahlter Lohnarbeit zum Wertzuwachs, zur<br />
Erzeugung von Mehrwert führt, den variablen Kapitalteil. Von diesem Standpunkt entspricht die<br />
Wertzusammensetzung jeder kapitalistisch hergestellten Ware normalerweise der Formel c + v + m, wo-<br />
bei c den ausgelegten konstanten Kapitalwert, d.h. den auf die Ware übertragenen Wertteil der<br />
gebrauchten toten Produktionsmittel darstellt, v den ausgelegten variablen, d.h. in Löhnen verausgabten<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 1. Kapitel<br />
Kapitalteil bedeutet, endlich m den Mehrwert, d.h. den aus dem unbezahlten Teil der Lohnarbeit<br />
herrührenden Wertzuwachs repräsentiert. Alle drei Wertteile stecken zusammen in der konkreten Gestalt<br />
der hergestellten Ware - je<strong>des</strong> einzelnen Exemplars wie der gesamten Warenmasse als <strong>Ein</strong>heit betrachtet,<br />
ob es sich um Baumwollgewebe oder Ballettdarbietungen, gußeiserne Röhren oder liberale Zeitungen<br />
handelt. <strong>Die</strong> Herstellung der Waren ist nicht Zweck für den kapitalistischen Produzenten, sondern bloß<br />
Mittel zur Aneignung <strong>des</strong> Mehrwerts. Solange aber der Mehrwert in der Warengestalt steckt, ist er für<br />
den Kapitalisten unbrauchbar. Er muß, nachdem er hergestellt, realisiert, in seine reine Wertgestalt, d.h.<br />
in Geld, verwandelt werden. Damit dies geschieht und der Mehrwert in Geldgestalt vom Kapitalisten<br />
angeeignet wird, müssen auch seine gesamten Kapitalauslagen die Warenform abstreifen und in<br />
Geldform zu ihm zurückkehren. Erst wenn dies gelungen. wenn die gesamte Warenmasse also nach<br />
ihrem Wert gegen Geld veräußert ist, ist der Zweck der Produktion erreicht. <strong>Die</strong> Formel c + v + m<br />
bezieht sich dann genau so, wie früher auf die Wertzusammensetzung der Waren, jetzt auf die<br />
quantitative Zusammensetzung <strong>des</strong> aus dem Warenverkauf gelösten Gel<strong>des</strong>: <strong>Ein</strong> Teil davon (c) erstattet<br />
dem Kapitalisten seine Auslagen an verbrauchten Produktionsmitteln, ein anderer (v) seine Auslagen an<br />
Arbeitslöhnen. der letzte (m) bildet den erwarteten Überschuß, den "Reingewinn" <strong>des</strong> Kapitalisten in<br />
bar.(2) <strong>Die</strong>se Verwandlung <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong> aus ursprünglicher Gestalt, die den Ausgangspunkt jeder<br />
kapitalistischen Produktion darstellt, in tote und lebendige Produktionsmittel (d.h. Rohstoffe, Instrumente<br />
und Arbeitskraft), aus diesen durch lebendigen Arbeitsprozeß in Waren und endlich aus Waren durch den<br />
Austauschprozeß wieder in Geld, und zwar in mehr Geld als im Anfangsstadium, dieser Umschlag <strong>des</strong><br />
<strong>Kapitals</strong> ist jedoch nicht nur zur Produktion und Aneignung von Mehrwert nötig. Zweck und treiben<strong>des</strong><br />
Motiv der kapitalistischen Produktion ist nicht Mehrwert schlechthin, in beliebiger Menge, in einmaliger<br />
Aneignung, sondern Mehrwert schrankenlos, in unaufhörlichem Wachstum. in einer immer größeren<br />
Menge. <strong>Die</strong>s kann aber immer wieder nur durch dasselbe Zaubermittel: durch kapitalistische Produktion,<br />
d.h. durch Aneignung unbezahlter Lohnarbeit im Prozeß der Warenherstellung und durch<br />
Realisierung der so hergestellten Waren, erreicht werden. Produktion immer von neuem, Reproduktion<br />
als regelmäßige Erscheinung erhält damit in der kapitalistischen Gesellschaft ein ganz neues Motiv, das<br />
unter jeder anderen Produktionsform unbekannt ist. Unter jeder historisch bekannten Wirtschaftsweise<br />
sonst sind das bestimmende Moment der Reproduktion - die unaufhörlichen Konsumtionsbedürfnisse der<br />
Gesellschaft, mögen dies demokratisch bestimmte Konsumtionsbedürfnisse der Gesamtheit der<br />
Arbeitenden in einer agrarkommunistischen Markgenossenschaft sein oder <strong>des</strong>potisch bestimmte<br />
Bedürfnisse einer antagonistischen Klassengesellschaft, einer Sklavenwirtschaft, eines Fronhofs u.dgl.<br />
Bei der kapitalistischen Produktionsweise existiert für den einzelnen Privatproduzenten - und nur solche<br />
kommen hier in Betracht - die Rücksicht auf Konsumtionsbedürfnisse der Gesellschaft als Motiv zur<br />
Produktion gar nicht. Für ihn existiert nur die zahlungsfähige Nachfrage, und diese auch nur als ein<br />
unumgängliches Mittel zur Realisierung <strong>des</strong> Mehrwerts. <strong>Die</strong> Herstellung von Produkten für den Konsum,<br />
die das zahlungsfähige Bedürfnis der Gesellschaft befriedigen, ist <strong>des</strong>halb zwar ein Gebot der<br />
Notwendigkeit für den <strong>Ein</strong>zelkapitalisten, aber ebensosehr ein Umweg vom Standpunkte <strong>des</strong> eigentlichen<br />
Beweggrunds: der Aneignung <strong>des</strong> Mehrwerts. Und dieses Motiv ist es auch, das dazu treibt, immer<br />
wieder die Reproduktion aufzunehmen. <strong>Die</strong> Mehrwertproduktion ist es, die in der kapitalistischen<br />
Gesellschaft die Reproduktion der Lebensbedürfnisse im ganzen zum Perpetuum mobile macht. <strong>Die</strong><br />
Reproduktion ihrerseits, deren Ausgangspunkt kapitalistisch immer wieder das Kapital, und zwar in<br />
seiner reinen Wertform, in Geldform, bildet, kann offenbar nur dann in Angriff genommen werden, wenn<br />
die Produkte der vorhergegangenen Periode, die Waren, in ihre Geldform verwandelt, realisiert worden<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 1. Kapitel<br />
sind. Als erste Bedingung der Reproduktion erscheint also für den kapitalistischen Produzenten die<br />
gelungene Realisierung der in der vorhergegangenen Produktionsperiode hergestellten Waren.<br />
Jetzt gelangen wir zu einem zweiten wichtigen Umstand. <strong>Die</strong> Bestimmung <strong>des</strong> Umfangs der<br />
Reproduktion liegt - bei der privaten Wirtschaftsweise - im Belieben und Gutdünken <strong>des</strong><br />
<strong>Ein</strong>zelkapitalisten. Sein treiben<strong>des</strong> Motiv ist aber Mehrwertaneignung, und zwar möglichst rasch<br />
progressierende Mehrwertaneignung. <strong>Ein</strong>e Beschleunigung in der Mehrwertaneignung ist jedoch nur<br />
möglich durch Erweiterung der kapitalistischen Produktion, die den Mehrwert schafft. Der Großbetrieb<br />
hat bei der Mehrwerterzeugung in jeder Hinsicht Vorteile gegenüber dem Kleinbetrieb. <strong>Die</strong><br />
kapitalistische Produktionsweise erzeugt also nicht bloß ein ständiges Motiv zur Reproduktion<br />
überhaupt, sondern auch ein Motiv zur ständigen Erweiterung der Reproduktion, zur Wiederaufnahme<br />
der Produktion in größerem Umfang als bisher.<br />
Nicht genug. <strong>Die</strong> kapitalistische Produktionsweise schafft nicht bloß im Mehrwerthunger <strong>des</strong><br />
Kapitalisten die treibende Kraft zur rastlosen Erweiterung der Reproduktion, sondern sie verwandelt<br />
diese Erweiterung geradezu in ein Zwangsgesetz, in eine wirtschaftliche Existenzbedingung für den<br />
<strong>Ein</strong>zelkapitalisten. Unter der Herrschaft der Konkurrenz besteht die wichtigste Waffe <strong>des</strong><br />
<strong>Ein</strong>zelkapitalisten im Kampf um den Platz auf dem Absatzmarkt in der Billigkeit der Waren. Alle<br />
dauernden Methoden zur Herabsetzung der Herstellungskosten der Waren - die nicht durch<br />
Herabdrückung der Löhne oder Verlängerung der Arbeitszeit eine Extrasteigerung <strong>des</strong> Mehrwerts<br />
erzielen und selbst auf mancherlei Hindernisse stoßen können - laufen aber auf eine Erweiterung der<br />
Produktion hinaus. Ob es sich um Ersparnisse an Baulichkeiten und Werkzeugen handelt oder um<br />
Anwendung leistungsfähigerer Produktionsmittel oder um weitgehende Ersetzung der Handarbeit durch<br />
Maschinen oder um rapide Ausnutzung einer günstigen Marktkonjunktur zur Anschaffung billiger<br />
Rohstoffe - in allen Fällen hat der Großbetrieb Vorteile vor dem Klein- und Mittelbetrieb.<br />
<strong>Die</strong>se Vorteile wachsen in sehr weiten Grenzen zusammen mit der Ausdehnung <strong>des</strong> Betriebes. <strong>Die</strong><br />
Konkurrenz selbst zwingt <strong>des</strong>halb jede Vergrößerung eines Teils der kapitalistischen Betriebe den<br />
anderen als Existenzbedingung auf. So ergibt sich eine unaufhörliche Tendenz zur Ausdehnung der<br />
Reproduktion, die sich unaufhörlich mechanisch, wellenartig über die ganze Oberfläche der<br />
Privatproduktion verbreitet.<br />
Für den <strong>Ein</strong>zelkapitalisten äußert sich die Erweiterung der Reproduktion darin, daß er einen Teil <strong>des</strong><br />
angeeigneten Mehrwerts zum Kapital schlägt, akkumuliert. <strong>Akkumulation</strong>, Verwandlung <strong>des</strong> Mehrwerts<br />
in tätiges Kapital, ist der kapitalistische Ausdruck der erweiterten Reproduktion.<br />
<strong>Die</strong> erweiterte Reproduktion ist keine Erfindung <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>. Sie bildet vielmehr seit jeher die Regel in<br />
jeder historischen Gesellschaftsform, die wirtschaftlichen und kulturellen Fortschritt aufweist. <strong>Die</strong><br />
einfache Reproduktion - die bloße ständige Wiederholung <strong>des</strong> Produktionsprozesses im früheren Umfang<br />
- ist zwar möglich und kann auf langen Zeitstrecken der gesellschaftlichen Entwicklung beobachtet<br />
werden. So z.B. in den uraltertümlichen agrarkommunistischen Dorfgemeinden, in denen der Zuwachs<br />
der Bevölkerung nicht durch eine allmähliche Erweiterung der Produktion, sondern durch periodische<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 1. Kapitel<br />
Ausscheidung <strong>des</strong> Nachwuchses und Gründung von ebenso winzigen, sich selbst genügenden<br />
Filialgemeinden berücksichtigt wird. Ebenso bieten die alten kleinen Handwerksbetriebe in Indien oder<br />
China das Beispiel einer von Generation auf Generation vererbten traditionellen Wiederholung der<br />
Produktion in denselben Formen und demselben Umfang. Doch ist in allen solchen Fällen die einfache<br />
Reproduktion Grundlage und sicheres Zeichen <strong>des</strong> allgemeinen wirtschaftlichen und kulturellen<br />
Stillstands. Alle entscheidenden Produktionsfortschritte und Kulturdenkmäler, wie die großen<br />
Wasserwerke <strong>des</strong> Orients, die ägyptischen Pyramiden, die römischen Heerstraßen, die griechischen<br />
Künste und Wissenschaften, die Entwicklung <strong>des</strong> Handwerks und der Städte im Mittelalter, wären<br />
unmöglich ohne erweiterte Reproduktion, denn nur eine stufenweise Ausdehnung der Produktion über<br />
die unmittelbaren Bedürfnisse hinaus und das ständige Wachstum der Bevölkerung wie ihrer Bedürfnisse<br />
bilden zugleich die wirtschaftliche Grundlage und den sozialen Antrieb zu entscheidenden<br />
Kulturfortschritten. Namentlich der Austausch und mit ihm die Entstehung der Klassengesellschaft und<br />
ihre historischen Fortschritte bis zur kapitalistischen Wirtschaftsform wären undenkbar ohne erweiterte<br />
Reproduktion. In der kapitalistischen Gesellschaft jedoch kommen der erweiterten Reproduktion einige<br />
neue Charaktere zu. Zunächst wird sie hier, wie bereits angeführt, zum Zwangsgesetz für den<br />
<strong>Ein</strong>zelkapitalisten. <strong>Ein</strong>fache Reproduktion, selbst Rückgang in der Reproduktion sind zwar auch bei der<br />
kapitalistischen Produktionsweise nicht ausgeschlossen, sie bilden vielmehr periodische Erscheinungen<br />
der Krisen nach der ebenso periodischen Überspannung der erweiterten Reproduktion in der<br />
Hochkonjunktur. Doch geht die allgemeine Bewegung der Reproduktion - über die periodischen<br />
Schwankungen <strong>des</strong> zyklischen Konjunkturwechsels hinweg - in der Richtung einer unaufhörlichen<br />
Erweiterung. Für den <strong>Ein</strong>zelkapitalisten bedeutet die Unmöglichkeit, mit dieser allgemeinen Bewegung<br />
Schritt zu halten, das Ausscheiden aus dem Konkurrenzkampf, den wirtschaftlichen Tod.<br />
Ferner kommt noch anderes hinzu. Bei jeder rein oder vorwiegend naturalwirtschaftlichen<br />
Produktionsweise - in einer agrarkommunistischen Dorfgemeinde Indiens oder in einer römischen Villa<br />
mit Sklavenarbeit oder im feudalen Fronhof <strong>des</strong> Mittelalters - bezieht sich Begriff und Zweck der<br />
erweiterten Reproduktion nur auf die Produktenmenge, auf die Masse der hergestellten<br />
Konsumgegenstände. <strong>Die</strong> Konsumtion als Zweck beherrscht den Umfang und Charakter sowohl <strong>des</strong><br />
Arbeitsprozesses im einzelnen wie der Reproduktion im allgemeinen. Anders unter der kapitalistischen<br />
Wirtschaftsweise. <strong>Die</strong> kapitalistische Produktion ist nicht eine solche zu Konsumtionszwecken,<br />
sondern eine Wertproduktion. <strong>Die</strong> Wertverhältnisse beherrschen den gesamten Produktions- wie<br />
Reproduktionsprozeß. Kapitalistische Produktion ist nicht Produktion von Konsumgegenständen, auch<br />
nicht von Waren schlechthin, sondern von Mehrwert. Erweiterte Reproduktion bedeutet also<br />
kapitalistisch: Ausdehnung der Mehrwertproduktion. <strong>Die</strong> Mehrwertproduktion geht zwar in der Form der<br />
Warenproduktion, in letzter Linie also Produktion von Konsumgegenständen, vor sich. Allein in der<br />
Reproduktion werden diese zwei Gesichtspunkte durch Verschiebungen in der Produktivität der Arbeit<br />
immer wieder getrennt. <strong>Die</strong>selbe Kapitalgröße und Mehrwertgröße wird sich durch Steigerung der<br />
Produktivität fortschreitend in einer größeren Menge Konsumgegenstände darstellen. <strong>Die</strong><br />
Produktionserweiterung im Sinne der Herstellung einer größeren Masse von Gebrauchswerten braucht<br />
also an sich noch nicht erweiterte Reproduktion im kapitalistischen Sinne zu sein. Umgekehrt kann das<br />
Kapital ohne Änderung in der Produktivität der Arbeit in gewissen Schranken durch Steigerung der<br />
Ausbeutungsstufe - zum Beispiel durch Herabdrückung der Löhne - einen größeren Mehrwert<br />
herausschlagen. ohne eine größere Produktenmenge herzustellen. Aber in diesem wie in jenem Fall<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 1. Kapitel<br />
werden gleichermaßen die Elemente der erweiterten Reproduktion im kapitalistischen Sinne hergestellt.<br />
Denn diese Elemente sind: Mehrwert sowohl als Wertgröße wie als Summe von sachlichen<br />
Produktionsmitteln. <strong>Die</strong> Erweiterung der Mehrwertproduktion wird, als Regel betrachtet, durch<br />
Vergrößerung <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong> bewirkt, diese aber durch Hinzuschlagen eines Teils <strong>des</strong> angeeigneten<br />
Mehrwerts zum Kapital. Dabei ist es gleichgültig, ob der kapitalistische Mehrwert zur Erweiterung der<br />
alten Unternehmung oder als selbständiger Ableger zu Neugründungen verwendet wird. <strong>Die</strong> erweiterte<br />
Reproduktion im kapitalistischen Sinne bekommt also den spezifischen Ausdruck <strong>des</strong> Kapitalwachstums<br />
durch progressive Kapitalisierung <strong>des</strong> Mehrwerts oder, wie Marx dies rennt, Kapitalakkumulation. <strong>Die</strong><br />
allgemeine Formel der erweiterten Reproduktion unter der Herrschaft <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong> stellt sich also<br />
folgendermaßen dar:<br />
(c + v) + m/x + m'<br />
wobei m/x den kapitalisierten Teil <strong>des</strong> in der früheren Produktionsperiode angeeigneten Mehrwerts<br />
darstellt, m' den neuen, aus dem gewachsenen Kapital erzeugten Mehrwert. <strong>Die</strong>ser neue Mehrwert wird<br />
zu einem Teil wieder kapitalisiert. Der ständige Fluß dieser abwechselnden Mehrwertaneignung und<br />
Mehrwertkapitalisierung, die sich wechselseitig bedingen, bildet den Prozeß der erweiterten<br />
Reproduktion im kapitalistischen Sinne.<br />
Allein hier sind wir erst bei der allgemeinen, abstrakten Formel der Reproduktion. Betrachten wir<br />
näher die konkreten Bedingungen, die zur Verwirklichung dieser Formel erforderlich sind.<br />
Der angeeignete Mehrwert stellt sich, nachdem er auf dem Markt glücklich die Warenform abgestreift<br />
hat, als eine bestimmte Geldsumme dar. In dieser Form hat er die absolute Wertgestalt, in der er seine<br />
Laufbahn als Kapital beginnen kann. Aber in dieser Gestalt steht er zugleich erst an der Schwelle seiner<br />
Laufbahn. Mit Geld kann man keinen Mehrwert schaffen<br />
Damit der zur <strong>Akkumulation</strong> bestimmte Teil <strong>des</strong> Mehrwerts auch wirklich kapitalisiert wird, muß er die<br />
konkrete Gestalt annehmen, die ihn erst befähigt, als produktives, d.h. neuen Mehrwert hecken<strong>des</strong><br />
Kapital zu wirken. Dazu ist es notwendig, daß er, genau wie das Originalkapital, in zwei Teile zerfällt, in<br />
einen konstanten, in toten Produktionsmitteln und einen variablen, in Arbeitslöhnen dargestellten Teil.<br />
Erst dann wird er, nach dem Vorbild <strong>des</strong> alten <strong>Kapitals</strong>, in die Formel c + v + m gebracht werden<br />
können.<br />
Dazu genügt aber nicht der gute Wille <strong>des</strong> Kapitalisten zu akkumulieren, auch nicht seine "Sparsamkeit"<br />
und "Enthaltsamkeit", womit er den größeren Teil seines Mehrwerts zur Produktion verwendet, statt ihn<br />
in persönlichem Luxus ganz zu verjubeln. Dazu ist vielmehr erforderlich, daß er auf dem Warenmarkt<br />
die konkreten Gestalten vorfindet, die er seinem neuen Kapitalzuwachs zu geben gedenkt, also erstens<br />
gerade die sachlichen Produktionsmittel - Rohstoffe, Maschinen usw. -, deren er zu der von ihm<br />
geplanten und gewählten Produktionsart bedarf, um dem konstanten Kapitalteil die produktive Form zu<br />
geben. Zweitens aber muß auch die als variabler Teil bestimmte Kapitalportion die Verwandlung<br />
vornehmen können, und hierfür ist zweierlei notwendig: vor allem, daß sich auf dem Arbeitsmarkt die<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 1. Kapitel<br />
zuschüssigen Arbeitskräfte in genügender Anzahl vorfinden. deren es gerade bedarf, um den neuen<br />
Kapitalzuwachs in Bewegung zu setzen, und ferner, daß - da die Arbeiter nicht von Geld leben können -<br />
auf dem Warenmarkt auch die zuschüssigen Lebensmittel sich vorfinden, gegen die die neu zu<br />
beschäftigenden Arbeiter den vom Kapitalisten erhaltenen variablen Kapitalteil auszutauschen in der<br />
Lage sind.<br />
Sind alle diese Vorbedingungen vorhanden, dann kann der Kapitalist seinen kapitalisierten Mehrwert in<br />
Bewegung setzen, ihn als prozessieren<strong>des</strong> Kapital neuen Mehrwert erzeugen lassen. Damit ist die<br />
Aufgabe noch nicht endgültig gelöst. Das neue Kapital mitsamt dem erzeugten Mehrwert steckt<br />
vorerst noch in Gestalt einer neuen zuschüssigen Warenmasse irgendeiner Gattung. In dieser Gestalt ist<br />
das neue Kapital nur noch erst vorgeschossen und der von ihm erzeugte Mehrwert erst in seiner für den<br />
Kapitalisten unbrauchbaren Form. Damit das neue Kapital seinen Lebenszweck erfüllt, muß es seine<br />
Warengestalt abstreifen und mitsamt dem von ihm erzeugten Mehrwert in reiner Wertform, als Geld, in<br />
die Hand <strong>des</strong> Kapitalisten zurückkehren. Gelingt das nicht, dann sind neues Kapital und Mehrwert ganz<br />
oder teilweise verloren, die Kapitalisierung <strong>des</strong> Mehrwerts ist fehlgeschlagen, die <strong>Akkumulation</strong> hat<br />
nicht stattgefunden. Damit die <strong>Akkumulation</strong> tatsächlich vollzogen wird, ist also unbedingt erforderlich,<br />
daß die von dem neuen Kapital erzeugte zuschüssige Warenmenge auf dem Markt einen Platz für sich<br />
erobert, um realisiert werden zu können.<br />
So sehen wir, daß die erweiterte Reproduktion unter kapitalistischen Bedingungen, d.h. als<br />
Kapitalakkumulation, an eine ganze Reihe eigentümlicher Bedingungen geknüpft ist. Fassen wir sie<br />
genau ins Auge. Erste Bedingung: <strong>Die</strong> Produktion muß Mehrwert erzeugen, denn der Mehrwert ist die<br />
elementare Form, unter der der Produktionszuwachs kapitalistisch allein möglich ist. <strong>Die</strong>se Bedingung<br />
muß im Produktionsprozeß selbst, im Verhältnis zwischen Kapitalist und Arbeiter, in der<br />
Warenproduktion eingehalten werden. Zweite Bedingung: Damit der Mehrwert, der zur Erweiterung der<br />
Reproduktion bestimmt ist, angeeignet wird, muß er, nachdem die erste Bedingung eingehalten, erst<br />
realisiert, in Geldform gebracht werden. <strong>Die</strong>se Bedingung führt uns auf den Warenmarkt, wo die<br />
Chancen <strong>des</strong> Austausches über die weiteren Schicksale <strong>des</strong> Mehrwerts, also auch der künftigen<br />
Reproduktion, entscheiden. Dritte Bedingung: Vorausgesetzt, daß die Realisierung <strong>des</strong> Mehrwerts<br />
gelungen und ein Teil <strong>des</strong> realisierten Mehrwerts zum Kapital zwecks <strong>Akkumulation</strong> geschlagen worden<br />
ist, muß das neue Kapital erst die produktive Gestalt, d.h. die Gestalt von toten Produktionsmitteln und<br />
Arbeitskräften annehmen, ferner muß der gegen Arbeitskräfte ausgetauschte Kapitalteil die Gestalt von<br />
Lebensmitteln für die Arbeiter annehmen. <strong>Die</strong>se Bedingung führt uns wieder auf den Warenmarkt und<br />
auf den Arbeitsmarkt. Ist hier das Nötige gefunden, hat erweiterte Reproduktion der Waren<br />
stattgefunden, dann tritt die vierte Bedingung hinzu: <strong>Die</strong> zuschüssige Warenmenge, die das neue Kapital<br />
samt neuem Mehrwert darstellt, muß realisiert, in Geld umgewandelt werden. Erst wenn dies gelungen,<br />
hat die erweiterte Reproduktion im kapitalistischen Sinne stattgefunden. <strong>Die</strong>se letzte Bedingung führt<br />
uns wieder auf den Warenmarkt.<br />
So spielt die kapitalistische Reproduktion wie die Produktion fortwährend zwischen der<br />
Produktionsstätte und dem Warenmarkt, zwischen dem Privatkontor und Fabrikraum, zu denen<br />
"Unbefugten der Zutritt streng verboten" und wo <strong>des</strong> <strong>Ein</strong>zelkapitalisten souveräner Wille höchstes<br />
Gesetz ist, und dem Warenmarkt, dem niemand Gesetze vorschreibt und wo kein Wille und keine<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 1. Kapitel<br />
Vernunft sich geltend machen. Aber gerade in der Willkür und Anarchie, die auf dem Warenmarkt<br />
herrschen, macht sich dem <strong>Ein</strong>zelkapitalisten seine Abhängigkeit von der Gesellschaft, von der<br />
Gesamtheit der produzierenden und konsumierenden <strong>Ein</strong>zelglieder fühlbar. Zur Erweiterung seiner<br />
Reproduktion braucht er zuschüssige Produktionsmittel und Arbeitskräfte nebst Lebensmitteln für diese,<br />
aber das Vorhandensein solcher hängt von Momenten, Umständen, Vorgängen ab, die hinter seinem<br />
Rücken, ganz unabhängig von ihm sich vollziehen. Um seine vergrößerte Produktenmasse realisieren zu<br />
können, braucht er einen erweiterten Absatzmarkt, aber die tatsächliche Erweiterung der Nachfrage im<br />
allgemeinen wie insbesondere nach seiner Warengattung ist eine Sache, der gegenüber er völlig machtlos<br />
ist.<br />
<strong>Die</strong> aufgezählten Bedingungen, die alle den immanenten Widerspruch zwischen privater Produktion und<br />
Konsumtion und gesellschaftlichem Zusammenhang beider zum Ausdruck bringen, sind keine neuen<br />
Momente, die erst bei der Reproduktion auftreten. Es sind die allgemeinen Widersprüche der<br />
kapitalistischen Produktion. Sie bieten sich jedoch als besondere Schwierigkeiten <strong>des</strong><br />
Reproduktionsprozesses dar, und zwar aus folgenden Gründen: Unter dem Gesichtswinkel der<br />
Reproduktion, namentlich der erweiterten Reproduktion, erscheint die kapitalistische Produktionsweise<br />
nicht bloß in ihren allgemeinen Grundcharakteren, sondern auch in einem bestimmten<br />
Bewegungsrhythmus als ein Prozeß in seinem Fortgang, wobei das spezifische Ineinandergreifen der<br />
einzelnen Zahnräder seiner Produktionsperioden zum Vorschein kommt. Unter diesem Gesichtswinkel<br />
lautet also die Frage nicht in ihrer Allgemeinheit: Wie vermag jeder <strong>Ein</strong>zelkapitalist die<br />
Produktionsmittel und Arbeitskräfte vorzufinden, die er braucht, und die Waren auf dem Markt<br />
abzusetzen, die er hat produzieren lassen, obwohl es gar keine gesellschaftliche Kontrolle und<br />
Planmäßigkeit gibt, die Produktion und Nachfrage miteinander in <strong>Ein</strong>klang bringen würde. <strong>Die</strong> Antwort<br />
auf diese Frage lautet: <strong>Ein</strong>erseits sorgen der Drang der <strong>Ein</strong>zelkapitale nach Mehrwert und die<br />
Konkurrenz unter ihnen wie auch die automatischen Wirkungen der kapitalistischen Ausbeutung und der<br />
kapitalistischen Konkurrenz dafür, daß sowohl jegliche Waren, also auch Produktionsmittel hergestellt<br />
werden wie daß eine wachsende Klasse proletarisierter Arbeiter im allgemeinen zur Verfügung <strong>des</strong><br />
<strong>Kapitals</strong> stehen. Andererseits äußert sich die Planlosigkeit dieser Zusammenhänge darin, daß das<br />
Klappen von Nachfrage und Angebot auf allen Gebieten nur durch ständige Abweichungen von ihrer<br />
Übereinstimmung, durch Preisschwankungen stündlich und durch Konjunkturschwankungen und Krisen<br />
periodisch, durchgesetzt wird.<br />
Unter dem Gesichtswinkel der Reproduktion lautet die Frage anders: Wie ist es möglich, daß die planlos<br />
vor sich gehende Versorgung <strong>des</strong> Marktes mit Produktionsmitteln und Arbeitskräften wie die planlos und<br />
unberechenbar sich verändernden Absatzbedingungen dem <strong>Ein</strong>zelkapitalisten die jeweilig seinen<br />
<strong>Akkumulation</strong>sbedürfnissen entsprechenden, also in einem bestimmten Quantitätsverhältnis wachsenden<br />
Mengen und Gattungen Produktionsmittel, Arbeitskräfte und Absatzmöglichkeiten sichern? Fassen wir<br />
die Sache präziser. Der Kapitalist produziere nach der uns bekannten Formel in folgendem Verhältnis: 40<br />
c + 10 v + 10 m, wobei das konstante Kapital viermal so groß wie das variable, die Ausbeutungsrate 100<br />
Prozent sei. <strong>Die</strong> Warenmasse wird alsdann einen Wert von 60 darstellen. Nehmen wir an, der Kapitalist<br />
sei in der Lage, die Hälfte seines Mehrwertes zu kapitalisieren, und schlage sie zum alten Kapital nach<br />
derselben Zusammensetzung <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>. <strong>Die</strong> nächste Produktionsperiode würde dann in der Formel<br />
zum Ausdruck kommen 44 c + 11 v + 11 m = 66. Nehmen wir an, daß der Kapitalist auch weiter in der<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 1. Kapitel<br />
Lage ist, die Hälfte seines Mehrwertes zu kapitalisieren und so je<strong>des</strong> Jahr. Damit er dies bewerkstelligen<br />
kann, ist erforderlich, daß er nicht bloß überhaupt, sondern in der bestimmten Progression<br />
Produktionsmittel, Arbeitskräfte und Absatzgebiet vorfindet, die seinem <strong>Akkumulation</strong>sfortschritt<br />
entsprechen.<br />
Fußnoten von <strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong><br />
(1) K. Marx. Das Kapital. Bd. I, 4. Auf., 1890, S. 529. [Karl Marx: Das Kapital, Erster Band. In: Karl<br />
Marx/Friedrich Engels: Werke, Bd. 23, S. 591.
<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 2. Kapitel<br />
1. Kapitel | Inhalt | 3. Kapitel<br />
<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - Gesammelte Werke. Herausgegeben vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Band<br />
5. <strong>Berlin</strong>/DDR. 1975. "<strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>", S. 24-39.<br />
1. Korrektur<br />
Erstellt am 20.10.1998<br />
Zweites Kapitel<br />
<strong>Die</strong> Analyse <strong>des</strong> Reproduktionsprozesses<br />
bei Quesnay und bei Adam Smith<br />
Bis jetzt haben wir die Reproduktion vom Standpunkt <strong>des</strong> <strong>Ein</strong>zelkapitalisten betrachtet, der<br />
typischer Vertreter, Agent der Reproduktion ist, die ja durch lauter einzelne privatkapitalistische<br />
Unternehmungen ins Werk gesetzt wird. <strong>Die</strong>se Betrachtung hat uns schon genug Schwierigkeiten <strong>des</strong><br />
Problems gezeigt. <strong>Die</strong> Schwierigkeiten wachsen aber und verwickeln sich außerordentlich, sobald wir uns<br />
von der Betrachtung <strong>des</strong> <strong>Ein</strong>zelkapitalisten zur Gesamtheit der Kapitalisten wenden.<br />
Schon ein oberflächlicher Blick zeigt, daß die kapitalistische Reproduktion als gesellschaftliches<br />
Ganzes nicht einfach als die mechanische Summe der einzelnen privatkapitalistischen Reproduktionen<br />
aufgefaßt werden darf. Wir haben z.B. gesehen, daß eine der Grundvoraussetzungen für die erweiterte<br />
Reproduktion <strong>des</strong> <strong>Ein</strong>zelkapitalisten eine entsprechende Erweiterung seiner Absatzmöglichkeit auf dem<br />
Warenmarkt ist. Nun mag diese Erweiterung dem einzelnen Kapitalisten nicht durch absolute<br />
Ausdehnung der Absatzschranken im ganzen, sondern durch Konkurrenzkampf auf Kosten anderer<br />
<strong>Ein</strong>zelkapitalisten gelingen, so daß dem einen zugute kommt, was ein anderer oder mehrere andere vom<br />
Markt verdrängte Kapitalisten als Verlust buchen. <strong>Die</strong>ser Vorgang wird dem einen Kapitalisten an<br />
erweiterter Reproduktion einbringen, was er anderen als Defizit in der Reproduktion aufzwingt. Der eine<br />
Kapitalist wird erweiterte Reproduktion, andere werden nicht einmal die einfache bewerkstelligen<br />
können, und die kapitalistische Gesellschaft im ganzen wird nur eine lokale Verschiebung. nicht aber eine<br />
quantitative Veränderung in der Reproduktion verzeichnen. Ebenso kann die erweiterte Reproduktion <strong>des</strong><br />
einen Kapitalisten mit Produktionsmitteln und Arbeitskräften ins Werk gesetzt werden, die durch den<br />
Bankrott, also gänzliches oder teilweises Aufgeben der Reproduktion bei anderen Kapitalisten, freigesetzt<br />
worden sind.<br />
<strong>Die</strong>se alltäglichen Vorgänge beweisen, daß die Reproduktion <strong>des</strong> gesellschaftlichen Gesamtkapitals etwas<br />
anderes ist als die ins unermeßliche gesteigerte Reproduktion <strong>des</strong> <strong>Ein</strong>zelkapitalisten, daß sich die<br />
Reproduktionsvorgänge der einzelnen Kapitale vielmehr unaufhörlich kreuzen und in ihrer Wirkung<br />
jeden Moment gegenseitig in größerem oder geringerem Grade aufheben können. Bevor wir also den<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 2. Kapitel<br />
Mechanismus und die Gesetze der kapitalistischen Gesamtreproduktion untersuchen, ist es notwendig,<br />
die Frage zu stellen, was wir uns denn unter der Reproduktion <strong>des</strong> Gesamtkapitals vorstellen sollen und<br />
ob es überhaupt möglich ist, aus dem Wust der zahllosen Bewegungen der <strong>Ein</strong>zelkapitale, die sich alle<br />
Augenblicke nach unkontrollierbaren und unberechenbaren Regeln verändern und teils parallel<br />
nebeneinander verlaufen, sich teils kreuzen und aufheben, so etwas wie eine Gesamtreproduktion zu<br />
konstruieren. Gibt es denn überhaupt ein Gesamtkapital der Gesellschaft, und was stellt dieser Begriff<br />
allenfalls in der realen Wirklichkeit dar? Das ist die erste Frage, die sich die wissenschaftliche<br />
Erforschung der Reproduktionsgesetze stellen muß. Der Vater der Physiokratenschule, Quesnay, der mit<br />
der klassischen Unerschrockenheit und <strong>Ein</strong>fachheit in der ersten Morgenröte der Nationalökonomie<br />
wie der bürgerlichen Wirtschaftsordnung an das Problem herantrat, nahm die Existenz <strong>des</strong><br />
Gesamtkapitals als einer realen agierenden Größe ohne weiteres als selbstverständlich an. Sein berühmtes<br />
und von niemand bis Marx enträtseltes "Tableau économique" stellt in wenigen Zahlen die<br />
Reproduktionsbewegung <strong>des</strong> Gesamtkapitals dar, bei der Quesnay zugleich berücksichtigt, daß sie unter<br />
der Form <strong>des</strong> Warenaustausches, d.h. zugleich als Zirkulationsprozeß aufgefaßt werden muß. "Quesnays<br />
Tableau économique zeigt in wenigen großen Zügen, wie ein dem Werte nach bestimmtes Jahresergebnis<br />
der nationalen Produktion sich so durch die Zirkulation verteilt, daß ... <strong>des</strong>sen einfache Reproduktion<br />
vorgehn kann ... <strong>Die</strong> zahllosen individuellen Zirkulationsakte sind sofort zusammengefaßt in ihrer<br />
charakteristisch-gesellschaftlichen Massenbewegung - der Zirkulation zwischen großen, funktionell<br />
bestimmten ökonomischen Gesellschaftsklassen."(1)<br />
Bei Quesnay besteht die Gesellschaft aus drei Klassen: der produktiven, d.h. aus Landwirten; der sterilen,<br />
die alle außerhalb der Landwirtschaft Tätigen umfaßt: Industrie, Handel, liberale Berufe; und der Klasse<br />
der Grundbesitzer einschließlich <strong>des</strong> Souveräns und der <strong>Ein</strong>nehmer <strong>des</strong> Zehnten. Das nationale<br />
Gesamtprodukt kommt in der Hand der Produktiven als eine Menge von Nahrungsmitteln und Rohstoffen<br />
im Werte von fünf Milliarden Livres zum Vorschein. Davon stellen zwei Milliarden das jährliche<br />
Betriebskapital der Landwirtschaft dar, eine Milliarde den jährlichen Verschleiß <strong>des</strong> fixen <strong>Kapitals</strong>, zwei<br />
Milliarden sind das Reineinkommen, das an die Grundeigentümer geht. Außer diesem Gesamtprodukt<br />
haben die Landwirte - die hier rein kapitalistisch als Pächter gedacht sind - zwei Milliarden Livres an<br />
Geld in der Hand. <strong>Die</strong> Zirkulation geht nun in der Weise vonstatten daß die Pächterklasse den<br />
Grundbesitzern zwei Milliarden in Geld (das Resultat der vorherigen Zirkulationsperiode) als Pachtzins<br />
zahlt. Damit kauft die Grundbesitzerklasse für eine Milliarde von den Pächtern Lebensmittel und für die<br />
andere Milliarde von den Sterilen Industrieprodukte. <strong>Die</strong> Pächter ihrerseits kaufen für die zu ihnen<br />
zurückgekehrte Milliarde Industrieprodukte, worauf die sterile Klasse für die in ihren Händen<br />
befindlichen zwei Milliarden landwirtschaftliche Produkte: für eine Milliarde Rohstoffe usw. als Ersatz<br />
für das jährliche Betriebskapital und für eine Milliarde Lebensmittel, kauft. So ist zum Schluß das Geld<br />
zu seinem Ausgangspunkt, der Pächterklasse, zurückgekehrt, das Produkt ist unter alle Klassen verteilt,<br />
so daß die Kon- sumtion aller gesichert [ist] und zugleich sowohl die produktive wie die sterile<br />
Klasse ihre Produktionsmittel erneuert wie die Klasse der Grundbesitzer ihre Revenue erhalten hat. <strong>Die</strong><br />
Voraussetzungen der Reproduktion sind alle vorhanden, die Bedingungen der Zirkulation alle eingehalten<br />
worden, und die Reproduktion kann ihren regelmäßigen Lauf beginnen. (2)<br />
Wie mangelhaft und primitiv diese Darstellung bei aller Genialität <strong>des</strong> Gedankens ist, werden wir im<br />
weiteren Verlaufe der Untersuchung sehen. Hier ist jedenfalls hervorzuheben, daß Quesnay an der<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 2. Kapitel<br />
Schwelle der wissenschaftlichen Nationalökonomie nicht den geringsten Zweifel an der Möglichkeit der<br />
Darstellung <strong>des</strong> gesellschaftlichen Gesamtkapitals und seiner Reproduktion hegte. Allein schon bei Adam<br />
Smith beginnt zugleich mit der tieferen Analyse der Kapitalverhältnisse auch die Verwirrung in den<br />
klaren und großen Zügen der physiokratischen Vorstellung. Smith warf die ganze Grundlage der<br />
wissenschaftlichen Darstellung <strong>des</strong> kapitalistischen Gesamtprozesses um, indem er jene falsche<br />
Preisanalyse aufgestellt hat, die seit ihm die bürgerliche Ökonomie lange Zeit beherrschte, nämlich die<br />
Theorie, wonach der Wert der Waren zwar die Menge der auf sie verausgabten Arbeit darstelle, zugleich<br />
aber der Preis sich nur aus den drei Komponenten Arbeitslohn, Kapitalprofit und Grundrente<br />
zusammensetze. Da dies offenbar sich auch auf die Gesamtheit der Waren, auf das nationale Produkt<br />
beziehen muß, so bekommen wir die verblüffende Entdeckung, daß der Wert der kapitalistisch<br />
hergestellten Waren in seiner Gesamtheit zwar alle bezahlten Löhne und Kapitalprofite nebst Rente, d.h.<br />
den gesamten Mehrwert repräsentiert, also auch ersetzen kann, daß aber dabei dem auf die Herstellung<br />
dieser Waren verwendeten konstanten Kapital gar kein Wertteil der Warenmasse entspricht. v + m, das ist<br />
nach Smith die Wertformel <strong>des</strong> kapitalistischen Gesamtprodukts. "<strong>Die</strong>se drei Teile", sagt Smith, seine<br />
Ansicht an dem Beispiel <strong>des</strong> Korns erläuternd (Arbeitslohn, Profit und Grundrente), "scheinen entweder<br />
unmittelbar oder in letzter Linie den ganzen Getreidepreis auszumachen. Man könnte vielleicht noch<br />
einen vierten Teil für notwendig halten, um die Abnutzung <strong>des</strong> Arbeitsviehs und der<br />
Wirtschaftsutensilien auszuglei- chen. Aber es muß beachtet werden, daß der Preis aller<br />
Wirtschaftsutensilien sich wieder aus denselben drei Teilen zusammensetzt; so wird der Preis eines<br />
Arbeitspfer<strong>des</strong> z.B. gebildet durch: 1 die Rente <strong>des</strong> Bodens, welcher es ernährt hat, 2. die auf seine Zucht<br />
verwendete Arbeit und 3. den Kapitalgewinn <strong>des</strong> Pächters, welcher sowohl die Bodenrente als die<br />
Arbeitslöhne vorgestreckt hat. Wenn also auch der Getreidepreis den Wert <strong>des</strong> Pfer<strong>des</strong> sowohl als <strong>des</strong>sen<br />
Ernährung enthält, so löst er sich doch mittelbar oder unmittelbar in die genannten drei Bestandteile:<br />
Bodenrente, Arbeit und Kapitalgewinn, auf." (3) Indem uns Smith, wie Marx sagt, auf diese Weise von<br />
Pontius zu Pilatus herumschickt, löst er das konstante Kapital immer wieder in v + m auf. Freilich hatte<br />
Smith gelegentliche Zweifel und Rückfälle in die entgegengesetzte Meinung. Im zweiten Buch sagt er:<br />
"Es ist im ersten Buche dargelegt worden, daß der Preis der meisten Waren in drei Teile zerfällt, von<br />
denen einer den Arbeitslohn, ein anderer den Kapitalgewinn und ein dritter die Bodenrente bezahlt,<br />
welche auf die Erzeugung der Ware und ihr Zumarktebringen verwendet wurden ... Da dies bei jeder<br />
einzelnen Ware besonders genommen der Fall ist, so muß dasselbe, wie ebenfalls bereits bemerkt, für<br />
sämtliche den ganzen Jahresertrag von Boden und Arbeit eines jeden Lan<strong>des</strong> darstellende Waren im<br />
ganzen genommen ebenfalls gelten. Der gesamte Preis oder Tauschwert dieses Jahresertrages muß sich in<br />
dieselben drei Teile auflösen und unter die verschiedenen <strong>Ein</strong>wohner <strong>des</strong> Lan<strong>des</strong> entweder als Lohn ihrer<br />
Arbeit oder als Gewinn ihres <strong>Kapitals</strong> oder als Rente ihres Bodens verteilen." Hier stutzt nun Smith und<br />
erklärt unmittelbar weiter:<br />
"Obgleich aber der Gesamtwert <strong>des</strong> genannten Jahresertrages derart unter die verschiedenen<br />
Lan<strong>des</strong>bewohner sich verteilt und ein <strong>Ein</strong>kommen für sie darstellt, müssen wir doch bei letzterem ebenso<br />
wie bei der Rente eines Privatgutes zwischen Brutto- und Nettorente unterscheiden."<br />
"<strong>Die</strong> Bruttorente eines Privatgutes besteht aus dem, was der Pächter bezahlt, und die Nettorente aus dem,<br />
was dem Grundbesitzer nach Abzug der Verwaltungs-, Reparatur- und anderer Kosten übrigbleibt, oder<br />
aus dem, was er ohne Schädigung seines Gutes seinem für unmittelbaren Verbrauch vorbehaltenen<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 2. Kapitel<br />
Vermögen zuwenden, für Tafel, Haushalt, Zieraten an Wohnung und Hausgerät, Privatgenüsse und<br />
Zerstreuungen ausgeben kann. Sein wirklicher Reichtum steht im Verhältnis nicht zu seiner Brutto-,<br />
sondern zu seiner Nettorente."<br />
"Das Bruttoeinkommen aller Bewohner eines großen Lan<strong>des</strong> umfaßt den gesamten Jahresertrag<br />
ihres Bodens und ihrer Arbeit und ihr Nettoeinkommen das, was hiervon nach Abzug der<br />
Unterhaltungskosten zuerst ihres festliegenden und dann ihres umlaufenden <strong>Kapitals</strong> übrigbleibt, oder<br />
das, was sie ohne Beeinträchtigung ihres <strong>Kapitals</strong> ihrem für unmittelbaren Verbrauch vorbehaltenen<br />
Vermögen zuwenden, auf ihren Unterhalt, ihre Annehmlichkeiten und Genüsse ausgeben können. Ihr<br />
wirklicher Reichtum steht ebenfalls nicht im Verhältnis zu ihrem Brutto-, sondern zu ihrem<br />
Nettoeinkommen."(4)<br />
Aber Smith führt hier einen dem konstanten Kapital entsprechenden Wertteil <strong>des</strong> Gesamtprodukts nur<br />
ein, um ihn im nächsten Augenblick wieder durch Auflösung in Löhne, Profite und Renten<br />
hinauszuführen. Und schließlich bleibt es bei seiner Erklärung:<br />
" ... Ebenso wie Maschinen, Gewerbsgeräte usw., die das festliegende Kapital <strong>des</strong> einzelnen oder der<br />
Gemeinschaft ausmachen, weder einen Teil <strong>des</strong> Brutto- noch <strong>des</strong> Nettoeinkommens darstellen, ebenso<br />
bildet Geld, vermittels <strong>des</strong>sen das gesamte Gesellschaftseinkommen regelmäßig unter alle<br />
Gesellschaftsmitglieder verteilt wird, an sich keinen Bestandteil dieses <strong>Ein</strong>kommens."(5)<br />
Das konstante Kapital (das Smith fixes - in der schwerfälligen Loewenthalschen Übersetzung:<br />
festliegen<strong>des</strong> - nennt) wird also mit dem Geld auf eine Stufe gestellt und geht überhaupt in das<br />
Gesamtprodukt der Gesellschaft (ihr "Bruttoeinkommen") nicht ein, es existiert nicht als Wertteil <strong>des</strong><br />
Gesamtprodukts!<br />
Da selbst der König sein Recht verliert, wo nichts da ist, so kann offenbar aus der Zirkulation, aus dem<br />
gegenseitigen Austausch <strong>des</strong> so zusammengesetzten Gesamtprodukts auch nur die Realisierung der<br />
Löhne (v) und <strong>des</strong> Mehrwerts (m) erreicht, keineswegs aber das konstante Kapital ersetzt werden, und der<br />
Fortgang der Reproduktion erweist sich als unmöglich. Zwar wußte Smith ganz genau, und es fiel ihm<br />
nicht ein zu leugnen daß jeder einzelne Kapitalist außer einem Lohnfonds, d.h. variablem Kapital. zum<br />
Betrieb auch noch konstanten <strong>Kapitals</strong> bedarf. Allein für die Gesamtheit der kapitalistischen Produktion<br />
verschwand bei der obigen Preisanalyse der Waren das konstante Kapital auf rätselhafte Weise spurlos,<br />
und damit war das Problem der Reproduktion <strong>des</strong> Gesamtkapitals von Grund aus verfahren. Es ist klar,<br />
daß, wenn die elementarste Voraussetzung <strong>des</strong> Problems: die Darstellung <strong>des</strong> gesellschaftlichen<br />
Gesamtkapitals. Schiffbruch gelitten hatte, daran auch die ganze Analyse scheitern mußte. <strong>Die</strong><br />
irrtümliche Theorie von Ad. Smith übernahmen Ricardo, Say, Sismondi und andere, und sie stolperten<br />
alle bei der Betrachtung <strong>des</strong> Reproduktionsproblems über diese elementare Schwierigkeit: die<br />
Darstellung <strong>des</strong> Gesamtkapitals.<br />
<strong>Ein</strong>e andere Schwierigkeit vermengte sich mit der obigen gleich zu Beginn der wissenschaftlichen<br />
Analyse. Was ist Gesamtkapital der Gesellschaft? Bei dem einzelnen ist die Sache klar, seine<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 2. Kapitel<br />
Betriebsauslagen sind sein Kapital. Der Wert seines Produkts bringt ihm - vorausgesetzt die<br />
kapitalistische Produktionsweise, also Lohnarbeit - außer seinen gesamten Auslagen noch einen<br />
Überschuß, den Mehrwert ein, der nicht sein Kapital ersetzt, sondern sein Reineinkommen ist, das er ganz<br />
verzehren kann, ohne sein Kapital zu beeinträchtigen, also seinen Konsumtionsfonds. Der Kapitalist kann<br />
freilich einen Teil dieses Reineinkommens "sparen", ihn nicht selbst verzehren, sondern zum Kapital<br />
schlagen. Aber das ist eine andere Sache, ein neuer Vorgang, Bildung eines neuen <strong>Kapitals</strong>, das auch<br />
wieder nebst Überschuß aus der folgenden Reproduktion ersetzt wird. Jedenfalls und stets ist aber das<br />
Kapital <strong>des</strong> einzelnen das, was er zur Produktion als Betriebsvorschuß brauchte, <strong>Ein</strong>kommen das, was er<br />
für sich als Konsumtionsfonds verzehrt oder verzehren kann. Nehmen wir nun einen Kapitalisten und<br />
fragen, was sind die Löhne, die er seinen Arbeitern zahlt, so wird die Antwort lauten, sie sind offenbar<br />
ein Teil seines Betriebskapitals. Fragen wir aber, was sind diese Löhne für die Arbeiter, die sie<br />
empfangen. so kann die Antwort unmöglich lauten, sie sind Kapital; für die Arbeiter sind die<br />
empfangenen Löhne nicht Kapital, sondern <strong>Ein</strong>kommen, Konsumtionsfonds. Nehmen wir ein anderes<br />
Beispiel. <strong>Ein</strong> Maschinenfabrikant läßt in seiner Fabrik Maschinen herstellen; sein Produkt ist jährlich eine<br />
gewisse Anzahl Maschinen. In diesem jährlichen Produkt, in seinem Wert steckt aber sowohl das vom<br />
Fabrikanten vorgestreckte Kapital als auch das erzielte Reineinkommen. <strong>Ein</strong> Teil der bei ihm<br />
hergestellten Maschinen repräsentiert somit sein <strong>Ein</strong>kommen und ist bestimmt, im Zirkulationsprozeß, im<br />
Austausch dieses <strong>Ein</strong>kommen zu bilden. Wer aber von unserem Fabrikanten seine Maschinen kauft, kauft<br />
sie offenbar nicht als <strong>Ein</strong>kommen, nicht, um sie zu konsumieren, sondern um sie als Produktionsmittel zu<br />
verwenden; für ihn sind diese Maschinen Kapital.<br />
Wir gelangen durch diese Beispiele zu dem Resultat: Was für den einen Kapital, ist für den anderen<br />
<strong>Ein</strong>kommen und umgekehrt. Wie kann unter diesen Umständen so etwas wie Gesamtkapital der<br />
Gesellschaft konstruiert werden? In der Tat folgerte fast die gesamte wissenschaftliche Ökonomie<br />
bis Marx, daß es kein gesellschaftliches Kapital gäbe.(6) Bei Smith sehen wir noch Schwankungen und<br />
Widersprüche in dieser Frage, ebenso bei Ricardo. <strong>Ein</strong> Say erklärt schon kategorisch:<br />
"Auf diese Weise verteilt sich der gesamte Wert der Produkte in der Gesellschaft. Ich sage der gesamte<br />
Wert; denn wenn mein Profit nur einen Teil <strong>des</strong> Wertes <strong>des</strong> Produktes darstellt, an <strong>des</strong>sen Herstellung ich<br />
mitgewirkt habe, so bildet der übrige Teil den Profit meiner Mitproduzenten. <strong>Ein</strong> Tuchfabrikant kauft<br />
einem Pächter Wolle ab; er entlohnt verschiedene Arten Arbeiter und verkauft das Tuch, das so<br />
entstanden ist, zu einem Preis, der ihm seine Auslagen zurückerstattet und ihm einen Profit läßt. Er<br />
betrachtet als Profit, als Fonds für sein <strong>Ein</strong>kommen in seiner Industrie nur das, was ihm als<br />
Reineinkommen bleibt nach Abzug seiner Kosten. Aber diese Kosten waren nichts anderes als<br />
Vorschüsse, die er an andere Produzenten der verschiedenen Teile <strong>des</strong> <strong>Ein</strong>kommens macht und für die er<br />
sich aus dem Bruttowert <strong>des</strong> Tuchs schadlos hält. Das, was er dem Pächter für Wolle bezahlt hat, war<br />
<strong>Ein</strong>kommen <strong>des</strong> Landwirts, seiner Hirten, <strong>des</strong> Gutsbesitzers, <strong>des</strong> Pachthofs. Der Pächter betrachtet als<br />
sein Nettoprodukt nur das, was ihm verbleibt nach der Abfindung seiner Arbeiter und seines Grundherrn;<br />
aber das, was er ihnen bezahlt hat, bildete einen Teil der <strong>Ein</strong>kommen dieser letzteren, es war der Lohn für<br />
die Arbeiter, es war der Pachtzins für den Grundherrn, also für den einen das <strong>Ein</strong>kommen aus der Arbeit,<br />
für den anderen das <strong>Ein</strong>kommen aus seinem Boden. Und es ist der Wert <strong>des</strong> Tuches, der das alles ersetzt<br />
hat. Man kann sich keinen Teil <strong>des</strong> Wertes dieses Tuches vorstellen, der nicht dazu gedient hörte, ein<br />
<strong>Ein</strong>kommen zu zahlen. Sein ganzer Wert ist so draufgegangen."<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 2. Kapitel<br />
"Mann ersieht daraus, daß der Ausdruck Reinprodukt nur auf einzelne Unternehmer Anwendung finden<br />
kann, daß aber die <strong>Ein</strong>kommen aller einzelnen zusammengenommen oder der Gesellschaft dem<br />
nationalen Rohprodukt der Erde, der Kapitale und der Industrie (Say nennt so die Arbeit) gleich ist. Das<br />
vernichtet (ruine) das System der Ökonomen <strong>des</strong> achtzehnten Jahrhunderts (Physiokraten), die als<br />
<strong>Ein</strong>kommen der Gesellschaft nur das Reinprodukt <strong>des</strong> Bodens betrachteten und folgerten, daß die<br />
Gesellschaft nur einen diesem Reinprodukt entsprechenden Wert konsumieren könne, als ob die<br />
Gesellschaft nicht den ganzen Wert, den sie geschaffen, konsumieren könnte!"(7)<br />
Say belegt diese Theorie in einer ihm eigenen Weise. Während Ad. Smith den Beweis dadurch zu<br />
erbringen suchte, daß er je<strong>des</strong> private Kapital auf seine Produktionsstätte verwies, um es in bloßes<br />
Arbeitsprodukt aufzulösen, je<strong>des</strong> Arbeitsprodukt aber, streng kapitalistisch, als eine Summe bezahlter und<br />
unbezahlter Arbeit, als v + m auffaßte, und so dazu kam, schließlich das Gesamtprodukt der Gesellschaft<br />
in v + m aufzulösen, beeilt sich Say natürlich, mit sicherer Hand diese klassischen Irrtümer in ordinäre<br />
Vulgarismen zu verballhornen. Says Beweisführung beruht darauf, daß der Unternehmer in jedem<br />
Stadium der Produktion die Produktionsmittel (die für ihn Kapital bilden) anderen Leuten, den Vertretern<br />
früherer Produktionsstadien, bezahlt und daß jene Leute diese Bezahlung ihrerseits teils als eigenes<br />
<strong>Ein</strong>kommen in die Tasche stecken, teils als Zurückerstattung der Auslagen gebrauchen, die sie selbst<br />
vorgestreckt hatten, um noch anderen Leuten ihr <strong>Ein</strong>kommen zu bezahlen. <strong>Die</strong> Smithsche endlose Kette<br />
von Arbeitsprozessen verwandelt sich bei Say in eine endlose Kette von gegenseitigen Vorschüssen auf<br />
<strong>Ein</strong>kommen und Zurückerstattungen aus dem Verkauf; auch der Arbeiter erscheint hier als ganz<br />
gleichgestellt dem Unternehmer: Er bekommt im Lohn sein <strong>Ein</strong>kommen "vorgestreckt" und bezahlt es<br />
seinerseits mit geleisteter Arbeit. So stellt sich der schließliche Wert <strong>des</strong> gesellschaftlichen<br />
Gesamtprodukts als Summe von lauter "vorgeschossenen" <strong>Ein</strong>kommen dar und geht im Austauschprozeß<br />
drauf, sämtliche Vorschüsse zu ersetzen. Bezeichnend für die Flachheit Says ist, daß er die<br />
gesellschaftlichen Zusammenhänge der kapitalistischen Reproduktion an dem Beispiel der<br />
Uhrenproduktion demonstriert - einem damals (und zum Teil heute noch) rein manufakturmäßigen<br />
Zweig, in dem die "Arbeiter" auch als kleine Unternehmer figurieren und der Produktionsprozeß <strong>des</strong><br />
Mehrwerts durch lauter sukzessive Austauschakte der einfachen Warenproduktion maskiert ist.<br />
Auf diese Weise bringt Say die von Smith angerichtete Verwirrung zum gröbsten Ausdruck: <strong>Die</strong> ganze<br />
von der Gesellschaft jährlich hergestellte Produktenmasse geht in ihrem Wert in lauter <strong>Ein</strong>kommen auf;<br />
sie wird also jährlich auch ganz konsumiert. Der Wiederbeginn der Produktion ohne Kapital, ohne<br />
Produktionsmittel erscheint als ein Rätsel, die kapitalistische Reproduktion als ein unlösbares Problem.<br />
Vergleicht man die Verschiebung, die das Problem der Reproduktion seit den Physiokraten bis Ad. Smith<br />
erfahren hat, so ist sowohl ein teilweiser Fortschritt wie ein teilweiser Rückschritt nicht zu verkennen.<br />
Das Charakteristische an dem ökonomischen System der Physiokraten war ihre Annahme, daß die<br />
Landwirtschaft allein Überschuß, d.h. Mehrwert, schaffe, die agrikole Arbeit somit die einzige<br />
produktive - im kapitalistischen Sinne - sei. Dementsprechend sehen wir im "Tableau éonomique", daß<br />
die "sterile" Klasse der Manufakturarbeiter nur für dieselben zwei Milliarden Wert schafft, die sie an<br />
Rohstoffen und Lebensmitteln verzehrt. Dementsprechend gehen auch im Austausch die gesamten<br />
Manufakturwaren je zur Hälfte an die Klasse der Pächter und der Grundbesitzer, während die<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 2. Kapitel<br />
Manufakturklasse selbst ihre eigenen Produkte gar nicht konsumiert. So reproduziert die<br />
Manufakturklasse in ihrem Warenwert eigentlich nur das verbrauchte zirkulierende Kapital, ein<br />
<strong>Ein</strong>kommen der Unternehmerklasse wird hier gar nicht geschaffen. Das einzige <strong>Ein</strong>kommen der<br />
Gesellschaft über alle Kapitalauslagen hinaus, das in Zirkulation kommt, wird in der Landwirtschaft<br />
geschaffen und von der Grundbesitzerklasse in Gestalt der Grundrente verzehrt, während die<br />
Pächterklasse auch nur ihr Kapital wieder ersetzt: eine Milliarde Zinsen vom fixen Kapital und zwei<br />
Milliarden zirkulieren<strong>des</strong> Betriebskapital, was zusammen sachlich zu zwei Dritteln in Rohstoffen und<br />
Lebensmitteln, zu einem Drittel in Manufakturprodukten besteht. Ferner fällt auf, daß Quesnay die<br />
Existenz <strong>des</strong> fixen <strong>Kapitals</strong>, das er "avances primitives" im Unterschied von "avances annuelles" nennt,<br />
überhaupt nur bei der Landwirtschaft annimmt. <strong>Die</strong> Manufaktur arbeitet bei ihm anscheinend ohne je<strong>des</strong><br />
fixe Kapital, nur mit dem jährlich umlaufenden Betriebskapital, schafft dementsprechend in ihrer<br />
jährlichen Warenmasse auch keinen Wertteil zum Ersatz <strong>des</strong> Verschleißes an fixem Kapital (wie<br />
Baulichkeiten, Werkzeuge usw.).(8)<br />
<strong>Die</strong>sen augenscheinlichen Mängeln gegenüber bringt die englische klassische Schule vor allem den<br />
entscheidenden Fortschritt, daß sie jede Art Arbeit als produktiv erklärt, d.h. die Schaffung <strong>des</strong><br />
Mehrwerts sowohl in der Manufaktur wie in der Landwirtschaft aufdeckt. Wir sagen: die englische<br />
klassische Schule, weil Ad. Smith auch in dieser Hinsicht neben klaren und entschiedenen Äußerungen<br />
im angegebenen Sinne gelegentlich ruhig selbst in die physiokratische Anschauung zurückfällt; erst bei<br />
Ricardo bekommt die Arbeitswerttheorie die höchste und konsequenteste Ausbildung, die sie in den<br />
Schranken der bürgerlichen Auffassung erreichen konnte. Daraus ergab sich, daß wir in der<br />
Manufakturabteilung der gesellschaftlichen Gesamtproduktion ebenso die jährliche Hervorbringung<br />
eines Überschusses über sämtliche Kapitalanlagen, eines Reineinkommens, d.h. Mehrwerts, annehmen<br />
müssen wie in der Landwirtschaft.(9) Auf der anderen Seite ist Smith durch die Entdeckung der<br />
produktiven mehrwertschaffenden Eigenschaft jeder Art Arbeit, ganz gleich, ob in der Manufaktur oder<br />
in der Landwirtschaft, darauf geführt worden, daß auch die landwirtschaftliche Arbeit außer der<br />
Grundrente für die Grundbesitzerklasse noch Überschuß für die Pächterklasse über ihre sämtlichen<br />
Kapitalausgaben hervorbringen muß. So entstand auch neben Kapitalersatz jährliches <strong>Ein</strong>kommen der<br />
Pächterklasse.(10) Endlich hat Smith durch systematische Ausarbeitung der von Quesnay aufgebrachten<br />
Begriffe der "avances primitives" und "avances annuelles" unter der Rubrik von fixem und<br />
zirkulierendem Kapital u.a. klargemacht, daß die Manufakturabteilung der gesellschaftlichen Produktion<br />
genauso eines fixen <strong>Kapitals</strong> außer dem zirkulierenden bedarf wie die Landwirtschaft, folglich auch eines<br />
entsprechenden Wertteils zum Ersatz <strong>des</strong> Verschleißes jenes <strong>Kapitals</strong>. So war Smith auf dem besten<br />
Wege, in die Begriffe vorn Kapital und <strong>Ein</strong>kommen der Gesellschaft Ordnung zu bringen und sie exakt<br />
darzustellen. Den Höhepunkt der Klarheit, zu der er sich in dieser Beziehung durchgerungen hat, drückt<br />
die folgende Formulierung aus:<br />
"Obgleich der gesamte Jahresertrag von Boden und Arbeit eines jeden Lan<strong>des</strong> in letzter Linie zweifellos<br />
für den Verbrauch seiner Bewohner und dafür bestimmt ist, denselben ein <strong>Ein</strong>kommen zu verschaffen, so<br />
teilt er sich doch bei seinem ersten Hervortreten aus dem Boden oder den Händen der produktiven<br />
Arbeiter naturgemäß in zwei Teile. Der eine der- selben, und oft der größte, ist vor allem zur<br />
Wiedererstattung eines <strong>Kapitals</strong> oder zur Erneuerung der einem Kapital entzogenen Nahrungsmittel,<br />
Rohstoffe und angefertigter Waren bestimmt und der andere zur Herstellung eines <strong>Ein</strong>kommens entweder<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 2. Kapitel<br />
für den Eigner dieses <strong>Kapitals</strong> als <strong>des</strong>sen Gewinn oder für irgendeinen anderen als <strong>des</strong>sen<br />
Bodenrente."(11)<br />
"Das Bruttoeinkommen aller Bewohner eines großen Lan<strong>des</strong> umfaßt den gesamten Jahresertrag ihres<br />
Bodens und ihrer Arbeit und ihr Nettoeinkommen das, was hiervon nach Abzug der Unterhaltungskosten<br />
zuerst ihres festliegenden (fixen) und dann ihres umlaufenden <strong>Kapitals</strong> übrigbleibt, oder das, was sie ohne<br />
Beeinträchtigung ihres <strong>Kapitals</strong> ihrem für unmittelbaren Verbrauch vorbehaltenen Vermögen zuwenden,<br />
auf ihren Unterhalt, ihre Annehmlichkeiten und Genüsse ausgeben können. Ihr wirklicher Reichtum steht<br />
ebenfalls nicht im Verhältnis zu ihrem Brutto-, sondern zu ihrem Nettoeinkommen."(12)<br />
Hier erscheinen die Begriffe <strong>des</strong> Gesamtkapitals und <strong>Ein</strong>kommens in einer allgemeinen und strengeren<br />
Fassung als im "Tableau économique": das gesellschaftliche <strong>Ein</strong>kommen losgelöst von der einseitigen<br />
Verknüpfung mit der Landwirtschaft, das Kapital in seinen beiden Formen, <strong>des</strong> fixen und zirkulierenden,<br />
verbreitert zur Grundlage der gesamten gesellschaftlichen Produktion. Statt der irreführenden<br />
Unterscheidung der beiden Produktionsabteilungen der Landwirtschaft und der Manufaktur, sind hier in<br />
den Vordergrund geschoben andere Kategorien von funktioneller Bedeutung: die Unterscheidung von<br />
Kapital und <strong>Ein</strong>kommen, ferner die Unterscheidung von fixem und zirkulierendem Kapital. Von hier aus<br />
schreitet Smith fort zur Analyse <strong>des</strong> gegenseitigen Verhältnisses und der Verwandlungen dieser<br />
Kategorien in ihrer gesellschaftlichen Bewegung: in der Produktion und Zirkulation, d.h. im<br />
Reproduktionsprozeß der Gesellschaft. Er hebt hier einen radikalen Unterschied zwischen dem fixen und<br />
dem zirkulierenden Kapital vom gesellschaftlichen Standpunkt hervor: "<strong>Die</strong> ganzen Unterhaltungskosten<br />
<strong>des</strong> festliegenden (soll heißen: fixen) <strong>Kapitals</strong> müssen augenscheinlich von dem Nettoeinkommen der<br />
Gesellschaft ausgeschieden werden. Weder die zur Erhaltung ihrer nutzbringenden Maschinen,<br />
Gewerbegeräte, Gebäude usw. notwendigen Roh- stoffe noch das Produkt der auf deren Formung<br />
verwendeten Arbeit kann jemals einen Teil <strong>des</strong>selben ausmachen. Der Preis dieser Arbeit wird allerdings<br />
einen Teil <strong>des</strong> gesamten Nettoeinkommens bilden, da die dabei beschäftigten Arbeiter ihre Löhne ihrem<br />
für unmittelbaren Verbrauch vorbehaltenen Vermögen zuwenden können; aber bei anderen Arten von<br />
Arbeit fällt sowohl deren Preis als deren Produkt diesem Vermögensteile zu: ihr Preis dem der Arbeiter<br />
und ihr Produkt dem anderer Leute, deren Subsistenzmittel, Annehmlichkeiten und Zerstreuungen durch<br />
die Arbeit jener Werkleute vermehrt werden."(13)<br />
Hier stößt Smith auf die wichtige Unterscheidung zwischen Arbeitern, die Produktionsmittel, und<br />
solchen, die Konsumtionsmittel herstellen. Bei den ersteren bemerkt er, daß der Wertbestandteil, den sie<br />
zum Ersatz ihrer Löhne schaffen, in Gestalt von Produktionsmitteln (wie Rohstoffe, Maschinen usw.) zur<br />
Welt kommt, d.h., daß hier der zum <strong>Ein</strong>kommen der Arbeiter bestimmte Teil <strong>des</strong> Produkts in einer<br />
Naturalform existiert, die unmöglich zur Konsumtion dienen kann. Was die letztere Kategorie der<br />
Arbeitet betrifft, so bemerkt Smith, daß hier umgekehrt das gesamte Produkt, also sowohl der in ihm<br />
enthaltene Wertteil, der die Löhne (das <strong>Ein</strong>kommen) der Arbeiter ersetzt, als auch der übrige Teil (Smith<br />
spricht es nicht aus, aber dem Sinne nach müßte seine Folgerung lauten: so auch der Teil, der das<br />
verbrauchte fixe Kapital darstellt) in Gestalt von Konsumartikeln erscheinen. Wir werden weiter sehen,<br />
wie nahe hier Smith an den Angelpunkt der Analyse gelangt ist, von dem aus Marx das Problem in<br />
Angriff genommen hat. Der allgemeine Schluß jedoch, bei dem Smith selbst bleibt, ohne die Grundfrage<br />
weiter zu verfolgen, ist der: Jedenfalls kann alles, was zur Erhaltung und Erneuerung <strong>des</strong> fixen <strong>Kapitals</strong><br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 2. Kapitel<br />
der Gesellschaft bestimmt ist, nicht zum Reineinkommen der Gesellschaft gerechnet werden.<br />
Anders das zirkulierende Kapital.<br />
"Scheiden auch die sämtlichen Unterhaltungskosten <strong>des</strong> festliegenden (fixen) <strong>Kapitals</strong> derart notwendig<br />
aus dem Nettoeinkommen der Gesellschaft aus, so ist dies doch nicht bei denen <strong>des</strong> Umlaufskapitals der<br />
Fall. Von den vier Bestandteilen <strong>des</strong> letzteren - Geld, Nahrungsmittel, Rohstoffe und angefertigte Waren -<br />
werden die drei letzten, wie bereits dargelegt, ihm regelmäßig entzogen und entweder dem festliegenden<br />
(fixen) Kapital oder dem für unmittelbaren Verbrauch vorbehaltenen Vermögen der Gesellschaft<br />
zugewendet. Jeder Teil dieser Verbrauchswaren, der nicht zum Unterhalt <strong>des</strong> festliegenden (fixen)<br />
<strong>Kapitals</strong> verwendet wird, fließt dem zum Verbrauch vorbehaltenen Vermögen zu und bildet einen<br />
Teil <strong>des</strong> Nettoeinkommens der Gesellschaft. Der Unterhalt dieser drei Bestandteile <strong>des</strong> Umlaufskapitals<br />
entzieht somit dem Nettoeinkommen der Gesellschaft nur so viel von dem jährlichen Ertrage als zur<br />
Erhaltung <strong>des</strong> festliegenden <strong>Kapitals</strong> notwendig ist."(14)<br />
Man sieht, daß Smith hier in die Kategorie <strong>des</strong> zirkulierenden <strong>Kapitals</strong> einfach alles außer dem bereits<br />
angewandten fixen Kapital, also sowohl Lebensmittel wie Rohstoffe wie auch das gesamte noch nicht<br />
realisierte Warenkapital (also zum Teil noch einmal dieselben Lebensmittel und Rohstoffe, zum Teil<br />
Waren, die ihrer Naturalgestalt gemäß zum Ersatz <strong>des</strong> fixen <strong>Kapitals</strong> gehören), zusammengeworfen, den<br />
Begriff <strong>des</strong> zirkulierenden <strong>Kapitals</strong> zweideutig und schillernd gemacht hat. Aber neben und mitten durch<br />
diese Verwirrung gibt er dabei eine weitere wichtige Unterscheidung:<br />
"In dieser Hinsicht verhält sich das Umlaufskapital der Gesellschaft anders als das eines Privaten. Das<br />
letztere bildet durchaus keinen Teil seines Nettoeinkommens, welches einzig und allein aus Gewinn<br />
hervorgehen muß. Obgleich aber das Umlaufskapital eines jeden einzelnen einen Teil <strong>des</strong>jenigen seiner<br />
Gemeinschaft ausmacht, ist es <strong>des</strong>halb von dem Nettoeinkommen dieser Gemeinschaft nicht ebenso<br />
vollkommen ausgeschlossen."<br />
Smith erläutert das Gesagte durch das folgende Beispiel:<br />
"Obgleich die sämtlichen Waren, die ein Kaufmann in seinem Laden hat, gewiß nicht zu seinem für<br />
unmittelbaren Verbrauch vorbehaltenen Vermögen gerechnet werden dürfen, können sie doch als ein Teil<br />
dieses Vermögens anderer Leute betrachtet werden, welche mit Hilfe eines anderweitigen <strong>Ein</strong>kommens<br />
und ohne sein oder ihr Kapital zu verringern dem Kaufmann den Wert seiner Waren samt Gewinn<br />
regelmäßig wiedererstatten können."(15)<br />
Smith hat hier fundamentale Kategorien in bezug auf die Reproduktion und Bewegung <strong>des</strong><br />
gesellschaftlichen Gesamtkapitals herausgebracht. Fixes und zirkulieren<strong>des</strong> Kapital, Privatkapital und<br />
gesellschaftliches Kapital, Privateinkommen und gesellschaftliches <strong>Ein</strong>kommen, Produktionsmittel und<br />
Konsummittel sind hier als große Kategorien herausgehoben und zum Teil in ihrer wirklichen, objektiven<br />
Durchkreuzung angedeutet, zum Teil ertränkt in den subjektiven theoretischen Widersprüchen der<br />
Smithschen Analyse. Das knappe, strenge und klassisch durchsichtige Schema <strong>des</strong> Physiokratismus<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 2. Kapitel<br />
ist hier aufgelöst in einen Wust von Begriffen und Beziehungen, die auf den ersten Blick ein Chaos<br />
darstellen. Aus diesem Chaos treten aber bereits halb und halb neue, tiefer, moderner und lebendiger als<br />
bei Quesnay gepackte Zusammenhänge <strong>des</strong> gesellschaftlichen Reproduktionsprozesses hervor, die in dem<br />
Chaos unfertig steckenbleiben, wie Michelangelos Sklave in seinem Marmorblock.<br />
Das ist das eine Bild, das Smith zum Problem liefert. Gleichzeitig aber faßt er es von einer ganz anderen<br />
Seite - von der Wertanalyse an. Gerade dieselbe über die Physiokraten hinausführende Theorie von der<br />
wertschaffenden Eigenschaft jeder Arbeit sowohl wie die streng kapitalistische Unterscheidung jeder<br />
Arbeit in bezahlte (den Lohn ersetzende) sowie unbezahlte (Mehrwert schaffende) Arbeit wie endlich die<br />
strenge Spaltung <strong>des</strong> Mehrwerts in seine zwei Hauptkategorien Profit und Grundrente - lauter Fortschritte<br />
über die physiokratische Analyse hinaus -, verleiteten Smith zu jener merkwürdigen Behauptung, der<br />
Preis jeder Ware bestehe aus Lohn + Profit + Grundrente oder kürzer, im Marxschen Ausdruck, aus v +<br />
m. Daraus folgte, daß auch die Gesamtheit der von der Gesellschaft jährlich hergestellten Waren in ihrem<br />
totalen Wert in diese zwei Teile: Löhne und Mehrwert, restlos zerfalle. Hier verschwand plötzlich die<br />
Kategorie <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong> gänzlich, die Gesellschaft produziert nichts als <strong>Ein</strong>kommen, nichts als<br />
Konsumartikel, die auch von der Gesellschaft ganz verzehrt werden. <strong>Die</strong> Reproduktion ohne Kapital wird<br />
zum Rätsel, und die Analyse <strong>des</strong> Problems im ganzen macht einen gewaltigen Schritt hinter die<br />
Physiokraten zurück.<br />
<strong>Die</strong> Nachfolger Smith' fassen seine Doppeltheorie just von der falschen Seite an. Während die wichtigen<br />
Ansätze zu einer exakten Darstellung <strong>des</strong> Problems, die er im zweiten Buch gibt, bis auf Marx unberührt<br />
blieben, wurde die im ersten Buch gegebene grundfalsche Preisanalyse von den meisten seiner<br />
Nachfolger als teure Erbschaft gehoben und entweder unbekümmert akzeptiert, wie bei Ricardo, oder<br />
zum flachen Dogma fixiert, wie bei Say. Wo bei Smith fruchtbare Zweifel und anregende Widersprüche<br />
waren, tritt bei Say die anmaßende Unerschütterlichkeit <strong>des</strong> Vulgrarus. Für Say wird die Smithsche<br />
Beobachtung, daß, was für den einen Kapital, für den anderen <strong>Ein</strong>kommen sein könne, zum Grund, jede<br />
Unterscheidung zwischen Kapital und <strong>Ein</strong>kommen auf gesellschaftlichem Maßstab überhaupt für absurd<br />
zu erklären. <strong>Die</strong> Absurdität hingegen, daß der Gesamtwert der jährlichen Produktion in lauter<br />
<strong>Ein</strong>kommen eingehe und konsumiert werde, wird von Say zum Dogma von absoluter Gültigkeit erhoben.<br />
Da die Gesellschaft somit je<strong>des</strong> Jahr ihr Gesamtprodukt restlos verkonsumiert, so verwandelt sich<br />
die gesellschaftliche Reproduktion, die ja ohne Produktionsmittel ins Werk tritt, in eine ähnliche<br />
Wiederholung <strong>des</strong> biblischen Wunders einer Weltschöpfung aus nichts.<br />
In diesem Zustand blieb das Reproduktionsproblem bis auf Marx.<br />
Fußnoten von <strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong><br />
(1) Das Kapital. Bd. II. 2 Aufl., 1893. S. 332. [Karl Marx. Das Kapital. Zweiter Band. In: Karl<br />
Marx/Friedrich Engels: Werke, Bd. 24, S. 359.]
<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 2. Kapitel<br />
(2) Siehe Analyse du Tableau économique. In Journal de l'Agriculture, du Commerce et <strong>des</strong> Finances,<br />
hrsg. von Du Pont 1766; S. 305 ff der Onckenschen Ausgabe der "Œvres de Quesnay". Quesnay bemerkt<br />
ausdrücklich, daß die von ihm geschilderte Zirkulation zwei Bedingungen zur Voraussetzung hat: einen<br />
ungehinderten Handelsverkehr und ein System von Steuern, die nur auf die Rente gelegt sind: "Mais ces<br />
données ont <strong>des</strong> conditions sine quabus non, elles supposent que la liberté du commerce soutient le débit<br />
de productions à un bon prix ... elles supposent d'ailleurs que le cultivateur n'ait à payer directement ou<br />
indirectement d'autre charges que le revenu, dont une partie, par exemple les deux septièmes, doit former<br />
le revenu du souverain." (l.c. S. 311.)
<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 2. Kapitel<br />
(10) "<strong>Die</strong> zur landwirtschaftlichen Arbeit verwendeten Menschen ... reproduzieren mithin nicht nur, wie<br />
die Fabrikarbeiter, einem ihrem eigenen Verbrauche oder dem sie beschäftigenden Kapitale samt dem<br />
Gewinne <strong>des</strong> Kapitalisten gleichen Wert, sondern einen viel größeren. Außer dem Kapitale <strong>des</strong> Pächters<br />
samt seinem ganzen Gewinne reproduzieren sie auch regelmäßig die Rente für den Grundbesitzer." (l.c.,<br />
Bd. I., S. 377)
<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 3. Kapitel<br />
2. Kapitel | Inhalt | 4. Kapitel<br />
<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - Gesammelte Werke. Herausgegeben vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Band<br />
5. <strong>Berlin</strong>/DDR. 1975. "<strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>", S. 39-50.<br />
1. Korrektur.<br />
Erstellt am 20.10.1998<br />
Drittes Kapitel<br />
Kritik <strong>des</strong> Smithschen Analyse<br />
Fassen wir die Ergebnisse zusammen, zu denen die Analyse bei Smith vorgedrungen war. Sie<br />
lassen sich in folgenden Punkten darstellen.<br />
1. Es gibt ein fixes Kapital der Gesellschaft, das in keinem Teil in das Reineinkommen der Gesellschaft<br />
eingeht. <strong>Die</strong>ses fixe Kapital bilden "Rohstoffe, mit denen die nützlichen Maschinen und<br />
Industriewerkzeuge instand gehalten werden müssen", und "das Produkt der zur Umwandlung dieser<br />
Rohstoffe in die verlangte Gestalt erforderlichen Arbeit". Indem Smith die Produktion dieses fixen<br />
<strong>Kapitals</strong> noch ausdrücklich der Produktion direkter Lebensmittel als besondere Art entgegenstellt,<br />
verwandelt er tatsächlich fixes Kapital in das, was Marx konstantes genannt hat, d.h. den Kapitalanteil,<br />
der in allen sachlichen Produktionsmitteln, im Gegensatz zur Arbeitskraft, besteht.<br />
2. Es gibt ein zirkulieren<strong>des</strong> Kapital der Gesellschaft. Davon bleibt aber nach Ausscheidung <strong>des</strong> "fixen"<br />
(will sagen: konstanten) Kapitalteils nur die Kategorie der Lebensmittel, die jedoch für die Gesellschaft<br />
kein Kapital, sondern Reineinkommen, Konsumtionsfonds bildet.<br />
3. Kapital und Reineinkommen einzelner decken sich nicht mit Kapital und Reineinkommen der<br />
Gesellschaft. Was für die Gesellschaft nur fixes (will sagen: konstantes) Kapital ist, kann für einzelne<br />
nicht Kapital, sondern <strong>Ein</strong>kommen, Konsumtionsfonds sein, nämlich in den Wertteilen <strong>des</strong> fixen<br />
<strong>Kapitals</strong>, die Löhne für die Arbeiter und Profite für die Kapitalisten darstellen. Umgekehrt kann<br />
zirkulieren<strong>des</strong> Kapital einzelner für die Gesellschaft kein Kapital, sondern <strong>Ein</strong>kommen sein, namentlich<br />
insofern es Lebensmittel darstellt.<br />
4. Das jährlich hergestellte gesellschaftliche Gesamtprodukt enthält in seinem Wert überhaupt kein Atom<br />
Kapital, sondern löst sich ganz auf in drei <strong>Ein</strong>kommensarten: Arbeitslöhne, Kapitalprofite und<br />
Grundrenten.<br />
Wer sich aus den hier angeführten Gedankenfragmenten das Bild der jährlichen Reproduktion <strong>des</strong><br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 3. Kapitel<br />
gesellschaftlichen Gesamtkapitals und ihres Mechanismus zusammenstellen möchte, dürfte bald an<br />
der Aufgabe verzweifeln. Wie bei alledem schließlich das gesellschaftliche Kapital jährlich immer<br />
wieder erneuert, die Konsumtion aller durch das <strong>Ein</strong>kommen gesichert wird und zugleich die einzelnen<br />
ihre Kapital- und <strong>Ein</strong>kommensgesichtspunkte einhalten - dies erscheint noch unendlich entfernt von der<br />
Lösung. Es ist aber nötig, sich die ganze Ideenwirre und die Fülle der widersprechenden Gesichtspunkte<br />
zu vergegenwärtigen, um zu ermessen, wieviel Licht erst Marx in das Problem hineingetragen hat.<br />
Fangen wir mit dem letzten Dogma Ad. Smith' an, das allein genügte, um das Reproduktionsproblem in<br />
der klassischen Nationalökonomie scheitern zu lassen. <strong>Die</strong> Wurzel der bizarren Vorstellung Smith', daß<br />
das Gesamtprodukt der Gesellschaft in seinem Werte in lauter Löhne, Profite und Grundrenten restlos<br />
aufgehen müßte, liegt gerade in seiner wissenschaftlichen Erfassung der Werttheorie. Arbeit ist die<br />
Quelle alles Wertes. Jede Ware ist, als Wert betrachtet, Produkt der Arbeit und nichts mehr. Jede<br />
geleistete Arbeit ist aber als Lohnarbeit - diese Identifizierung der menschlichen Arbeit mit<br />
kapitalistischer Lohnarbeit ist gerade das klassische bei Smith - zugleich Ersatz für die ausgelegten<br />
Arbeitslöhne wie Überschuß aus unbezahlter Arbeit als Profit für den Kapitalisten und Rente für den<br />
Grundeigentümer. Was für jede einzelne Ware stimmt, muß für die Gesamtheit der Waren stimmen. Der<br />
gesamte Warenhaufen, der jährlich von der Gesellschaft produziert wird, ist als Wertquantum nur<br />
Produkt der Arbeit, und zwar sowohl bezahlter wie unbezahlter Arbeit, zerfällt also gleichfalls in lauter<br />
Löhne und Profite nebst Renten. Freilich kommen bei jeder Arbeit noch Rohstoffe, Instrumente usw. in<br />
Betracht. Allein, was sind diese Rohstoffe und Instrumente anderes als gleichfalls Produkte der Arbeit,<br />
und zwar wiederum teils bezahlter, teils unbezahlter Arbeit. Wir können so weit zurückgehen, so viel<br />
drehen und wenden, wie wir wollen, wir werden im Wert resp. Preis sämtlicher Waren nichts finden, was<br />
nicht einfach menschliche Arbeit wäre. Jede Arbeit zerfällt aber in einen Teil, der Löhne ersetzt, und<br />
einen anderen, der an die Kapitalisten und Grundbesitzer geht. Es gibt nichts als Löhne und Profite - es<br />
gibt aber doch Kapital -, Kapital der einzelnen und Kapital der Gesellschaft. Wie also aus diesem krassen<br />
Widerspruch herauskommen? Daß hier in der Tat eine äußerst harte theoretische Nuß vorlag, beweist die<br />
Tatsache, wie lange Marx selbst sich in die Materie hineinbohrte, ohne zunächst vorwärtszukommen und<br />
einen Ausweg zu finden, wie man dies in seinen "Theorien über den Mehrwert", I, S.179-252 [Karl<br />
Marx: Theorien über den Mehrwert, Erster Teil. In: Karl Marx/Friedrich Engels: Werke, Bd. 26.1,<br />
S. 78-121, 158-168, 190/191 u. 202-222.], verfolgen kann. <strong>Die</strong> Lösung gelang ihm aber doch glänzend,<br />
und zwar auf Grund seiner Werttheorie. Smith hatte vollkommen recht: Der Wert jeder Ware im<br />
einzelnen und aller insgesamt stellt nichts als Arbeit dar. Er hatte ferner recht, wenn er sagte: Jede Arbeit<br />
(kapitalistisch betrachtet) zerfällt in bezahlte (die Löhne ersetzt) und unbezahlte (die als Mehrwert an die<br />
verschiedenen Besitzerklassen der Produktionsmittel wandert). Er vergaß aber oder übersah vielmehr,<br />
daß die Arbeit neben der Eigenschaft, neuen Wert zu schaffen, auch noch die Eigenschaft hat, den alten<br />
Wert, der in den Produktionsmitteln steckt, auf die neue, mit diesen Produktionsmitteln hergestellte Ware<br />
zu übertragen. <strong>Ein</strong> Arbeitstag <strong>des</strong> Bäckers von 10 Stunden kann nicht mehr Wert schaffen als den von 10<br />
Stunden, und diese 10 Stunden zerfallen kapitalistisch in bezahlte und unbezahlte, in v + m. Aber die in<br />
diesen 10 Stunden hergestellte Ware wird mehr Wert darstellen als den der 10stündigen Arbeit. Sie wird<br />
nämlich auch noch den Wert <strong>des</strong> Mehls, <strong>des</strong> vernutzten Backofens, der Arbeitsgebäude, <strong>des</strong><br />
Feuerungsmaterials usw., kurz aller zum Backen nötigen Produktionsmittel enthalten. Der Wert der Ware<br />
könnte sich nur unter einer Bedingung glatt in v + m auflösen: wenn der Mensch in der Luft arbeiten<br />
würde, ohne Rohstoff, ohne Arbeitsinstrument, ohne Werkstätte. Da aber jede materielle Arbeit<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 3. Kapitel<br />
irgendwelche Produktionsmittel voraussetzt, die selbst Produkte vergangener Arbeit sind, so muß sie<br />
diese vergangene Arbeit, d.h. den von ihr geschaffenen Wert, auch auf das neue Produkt übertragen.<br />
Hier handelt es sich nicht um einen Vorgang, der etwa nur in der kapitalistischen Produktion stattfindet.<br />
sondern um allgemeine von der historischen Form der Gesellschaft unabhängige Grundlagen der<br />
menschlichen Arbeit. Das Operieren mit selbstgefertigten Arbeitsinstrumenten ist das fundamentale<br />
kulturhistorische Kennzeichen der menschlichen Gesellschaft. Der Begriff der vergangenen Arbeit, die<br />
jeder neuen vorausgeht und ihr die Operationsbasis bereitet, drückt die kulturhistorische Verknüpfung<br />
zwischen Mensch und Natur aus, die dauernde Kette der ineinander verschlungenen<br />
Arbeitsanstrengungen der menschlichen Gesellschaft, deren Anfang sich in der grauen Dämmerung der<br />
gesellschaftlichen Menschwerdung verliert, deren Ende nur mit dem Untergang der gesamten<br />
Kulturmenschheit erreicht werden kann. Jede menschliche Arbeit haben wir uns also zu denken als<br />
vorgehend an der Hand von Arbeitsmitteln, die selbst schon Produkt früherer Arbeit sind. In jedem neuen<br />
Produkt steckt also nicht bloß die neue Arbeit, die ihm die letzte Gestalt verliehen, sondern auch<br />
die vergangene, die zu ihm den Stoff, das Arbeitsinstrument usw. geliefert hatte. In der Wertproduktion,<br />
d.h. in der Warenproduktion, wozu auch die kapitalistische gehört, wird diese Erscheinung nicht<br />
aufgehoben, sie bekommt nur einen spezifischen Ausdruck. Sie drückt sich in dem Doppelcharakter der<br />
warenproduzierenden Arbeit aus, die einerseits als nützliche konkrete Arbeit irgendeiner Art den<br />
nützlichen Gegenstand, den Gebrauchswert schafft, andererseits als abstrakte, allgemeine gesellschaftlich<br />
notwendige Arbeit Wert schafft. In ihrer ersten Eigenschaft tut sie, was die menschliche Arbeit stets<br />
getan: die vergangene Arbeit, die in den benutzten Produktionsmitteln steckt, auf das neue Produkt<br />
mitzuübertragen, nur daß auch diese vergangene Arbeit jetzt als Wert, als alter Wert erscheint. In ihrer<br />
zweiten Eigenschaft schafft sie Neuwert, der kapitalistisch in bezahlte und unbezahlte Arbeit: v + m<br />
zerfällt. Der Wert jeder Ware muß also sowohl alten Wert enthalten, den die Arbeit in ihrer Eigenschaft<br />
als nützliche konkrete Arbeit von den Produktionsmitteln auf die Ware überträgt, wie Neuwert, den<br />
dieselbe Arbeit in ihrer Eigenschaft als gesellschaftlich notwendige durch ihre bloße Verausgabung,<br />
durch ihre Dauer schafft.<br />
<strong>Die</strong>se Unterscheidung konnte Smith nicht machen, da er den Doppelcharakter der wertschaffenden<br />
Arbeit nicht auseinanderhielt, und Marx glaubt an einer Stelle, in diesem fundamentalen Irrtum der<br />
Smithschen Werttheorie sogar die eigentliche tiefste Quelle seines seltsamen Dogmas von der restlosen<br />
Auflösung aller hergestellten Wertmasse in v + m erblicken zu müssen.(1) <strong>Die</strong> Nichtunterscheidung der<br />
beiden Seiten der warenproduzierenden Arbeit: der konkreten nützlichen und der abstrakten<br />
gesellschaftlich notwendigen, bildet in der Tat eines der hervorragendsten Merkmale nicht bloß der<br />
Smithschen, sondern der Werttheorie der ganzen klassischen Schule.<br />
Unbekümmert um alle sozialen Konsequenzen hat die klassische Ökonomie die menschliche Arbeit als<br />
den allein wertschaffenden Faktor erkannt und diese Theorie bis zu jener Klarheit ausgearbeitet, die uns<br />
in der Ricardoschen Fassung vorliegt. Worin aber der fundamentale Unterschied zwischen der<br />
Ricardoschen und der Marxschen Arbeitswerttheorie liegt - ein Unterschied, der nicht nur von<br />
bürgerlichen Ökonomen verkannt, sondern auch in den Popularisationen der Marxschen Lehre meist<br />
unberücksichtigt bleibt -, ist, daß Ricardo, entsprechend seiner allgemeinen naturrechtlichen Auffassung<br />
von der bürgerlichen Wirtschaft, auch das Wertschaffen für eine natürliche Eigenschaft der<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 3. Kapitel<br />
menschlichen Arbeit, der individuellen konkreten Arbeit <strong>des</strong> <strong>Ein</strong>zelmenschen hielt.<br />
<strong>Die</strong>se Auffassung tritt noch krasser bei Ad. Smith zutage, der ja z.B. den "Hang zum Tausche" direkt für<br />
eine Besonderheit der menschlichen Natur erklärt, nachdem er ihn vorher umsonst bei Tieren, wie bei<br />
Hunden usw., gesucht.<br />
Übrigens erkennt Smith, wenn er auch den "Hang zum Tausche" bei Tieren bezweifelt, der tierischen<br />
Arbeit gleich der menschlichen wertschaffende Eigenschaft zu, namentlich dort, wo er gelegentlich<br />
Rückfälle in die physiokratische Auffassung aufweist.<br />
"Kein anderes gleich großes Kapital setzt eine größere Menge von produktiver Arbeit in Bewegung als<br />
das <strong>des</strong> Landmannes. Nicht nur seine Arbeitsleute, sondern auch sein Arbeitsvieh sind produktive<br />
Arbeiter ... <strong>Die</strong> zur landwirtschaftlichen Arbeit verwendeten Menschen und Tiere reproduzieren mithin<br />
nicht nur, wie die Fabrikarbeiter, einen ihrem eigenen Verbrauche oder dem sie beschäftigenden Kapitale<br />
samt dem Gewinn <strong>des</strong> Kapitalisten gleichen Wert, sondern einen viel größeren. Außer dem Kapital <strong>des</strong><br />
Pächters samt seinem ganzen Gewinn reproduzieren sie auch regelmäßig die Rente für den<br />
Grundbesitz."(2)<br />
Hier kommt am drastischsten zum Ausdruck, daß Smith das Wertschaffen direkt für eine physiologische<br />
Eigenschaft der Arbeit als einer Äußerung <strong>des</strong> tierischen Organismus <strong>des</strong> Menschen hielt. So wie die<br />
Spinne aus ihrem Körper das Gespinst produziert, so schafft der arbeitende Mensch Wert - der arbeitende<br />
Mensch schlechthin, jeder Mensch, der nützliche Gegenstände schafft, denn der arbeitende Mensch ist<br />
von Hause aus Warenproduzent, wie die menschliche Gesellschaft von Natur aus eine auf Austausch<br />
beruhende, die Warenwirtschaft die normal-menschliche Wirtschaftsform ist.<br />
Erst Marx erkannte im Werte ein besonderes, unter bestimmten geschichtlichen Bedingungen<br />
entstehen<strong>des</strong> gesellschaftliches Verhältnis, kam dadurch zur Unterscheidung der beiden Seiten der<br />
warenproduzierenden Arbeit: der konkreten individuellen und der unterschiedslosen gesellschaftlichen<br />
Arbeit, durch welche Unterscheidung erst die Lösung <strong>des</strong> Geldrätsels wie im Scheine einer Blendlaterne<br />
hell in die Augen springt.<br />
Um auf diese Weise im Schoße der bürgerlichen Wirtschaft, statisch, den zwieschlächtigen Charakter der<br />
Arbeit, den arbeitenden Menschen und den wertschaffenden Warenproduzenten auseinanderzuhalten,<br />
mußte Marx vorher dynamisch, in der geschichtlichen Zeitfolge, den Warenproduzenten vom<br />
Arbeitsmenschen schlechthin unterscheiden, das heißt die Warenproduktion bloß als eine bestimmte<br />
historische Form der gesellschaftlichen Produktion erkennen. Marx mußte, mit einem Worte, um die<br />
Hieroglyphe der kapitalistischen Wirtschaft zu enträtseln, mit einer entgegengesetzten Deduktion wie die<br />
Klassiker, statt mit dem Glauben an das Menschlich-Normale der bürgerlichen Produktionsweise mit der<br />
<strong>Ein</strong>sicht in ihre historische Vergänglichkeit, an die Forschung herantreten, er mußte die metaphysische<br />
Deduktion der Klassiker in ihr Gegenteil, in die dialektische umkehren.(3)<br />
Damit ist gegeben, daß für Smith die klare Unterscheidung der beiden Seiten der wertschaffenden Arbeit,<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 3. Kapitel<br />
insofern sie einerseits den alten Wert der Produktionsmittel auf das neue Produkt überträgt, andererseits<br />
zugleich Neuwert schafft, unmöglich war. Es scheint uns jedoch, daß sein Dogma von der Auflösung <strong>des</strong><br />
Gesamtwerts in v + m noch aus einer anderen Quelle fließt. Es kann nicht angenommen werden, daß<br />
Smith die Tatsache selbst aus dem Auge läßt, daß jede hergestellte Ware nicht bloß den bei ihrer<br />
unmittelbaren Produktion geschaffenen Wert, sondern auch den Wert sämtlicher bei ihrer Herstellung<br />
verbrauchten Produktionsmittel enthält. Gerade dadurch, daß er uns für die restlose Auflösung <strong>des</strong><br />
Gesamtwerts in v + m immer von einem Produktionsstadium in ein früheres, wie Marx sich ausdrückt,<br />
von Pontius zu Pilatus schickt, beweist er, daß er sich der Tatsache selbst wohl bewußt ist. Das<br />
Merkwürdige ist dabei nur, daß er auch den alten Wert der Produktionsmittel immer wieder in v + m<br />
auflöst und so schließlich den ganzen in der Ware enthaltenen Wert darin aufgehen läßt.<br />
So in dem von uns bereits zitierten Passus über den Getreidepreis: "In dem Getreidepreis z.B. bezahlt ein<br />
Teil die Bodenrente für den Besitzer, ein anderer die Arbeitslöhne oder den Unterhalt der Arbeiter und<br />
<strong>des</strong> Arbeitsviehs und der dritte den Gewinn <strong>des</strong> Pächters. <strong>Die</strong>se drei Teile scheinen entweder unmittelbar<br />
oder in letzter Linie den ganzen Getreidepreis auszumachen. Man könnte vielleicht noch einen vierten<br />
Teil für notwendig halten, um die Abnutzung <strong>des</strong> Arbeitsviehs und der Wirtschaftsutensilien<br />
auszugleichen. Aber es muß beachtet werden, daß der Preis aller Wirtschaftsutensilien sich wieder aus<br />
denselben drei Teilen zusammensetzt: 1. die Rente <strong>des</strong> Bodens, welcher es ernährt hat; 2. die auf seine<br />
Zucht verwendete Arbeit und 3. den Kapitalgewinn <strong>des</strong> Pächters, welcher sowohl die Bodenrente<br />
als die Arbeitslöhne vorgestreckt hat. Wenn also auch der Getreidepreis den Wert <strong>des</strong> Pfer<strong>des</strong> sowohl als<br />
<strong>des</strong>sen Ernährung enthält, so löst er sich doch mittelbar oder unmittelbar in die genannten drei<br />
Bestandteile: Bodenrente, Arbeit und Kapitalgewinn, auf."<br />
Was Smith verwirrte, war, scheint es uns, folgen<strong>des</strong>:<br />
1. Jede Arbeit geht vor sich mit irgendwelchen Produktionsmitteln. Aber das, was bei einer gegebenen<br />
Arbeit Produktionsmittel (Rohstoff, Instrument usw.), ist selbst Produkt einer früheren Arbeit. Für den<br />
Bäcker ist Mehl Produktionsmittel, dem er neue Arbeit zusetzt. Aber Mehl ist selbst aus der Arbeit <strong>des</strong><br />
Müllers hervorgegangen, wo es nicht Produktionsmittel, sondern, genauso wie jetzt die Backware,<br />
Produkt war. Bei diesem Produkt war Korn als Produktionsmittel vorausgesetzt, aber wenn wir noch eine<br />
Stufe zurückgehen, so war Korn beim Landbauer nicht Produktionsmittel, sondern Produkt. Man kann<br />
kein wertenthalten<strong>des</strong> Produktionsmittel finden, das nicht selbst Produkt einer früheren Arbeit wäre.<br />
2. Kapitalistisch gesprochen, folgt daraus: Alles Kapital, das zur Herstellung irgendeiner Ware von<br />
Anfang bis zu Ende gebraucht wurde, läßt sich schließlich in ein gewisses Quantum geleisteter Arbeit<br />
auflösen.<br />
3. Der Gesamtwert der Ware, alle Kapitalauslagen inbegriffen, löst sich also einfach in ein gewisses<br />
Arbeitsquantum auf. Und was auf jede Ware, muß sich auch auf die Gesamtheit der jährlich von der<br />
Gesellschaft hergestellten Warenmasse beziehen, auch ihr Gesamtwert löst sich in ein Quantum<br />
geleisteter Arbeit auf.<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 3. Kapitel<br />
4. Jede kapitalistisch geleistete Arbeit zerfällt in zwei Teile: bezahlte, die die Löhne ersetzt, und<br />
unbezahlte, die Profite und Renten, d.h. Mehrwert schafft. Jede kapitalistisch geleistete Arbeit entspricht<br />
der Formel v + m.(4)<br />
Alle bisherigen Thesen sind vollkommen richtig und unbestreitbar. Ihre Erfassung durch Smith beweist<br />
die Stärke und Unbeirrtheit seiner wissenschaftlichen Analyse und seinen Fortschritt in der Wert- und<br />
Mehrwertauffassung über die Physiokraten hinaus. Nur daß er bei These 3 gelegentlich in der<br />
Schlußfolgerung den groben Schnitzer machte: der Gesamtwert der jährlich hergestellten Warenmasse<br />
löse sich in das Quantum der in diesem Jahre geleisteten Arbeit auf, während er selbst an anderen Stellen<br />
zeigt, daß er sehr wohl weiß, der Wert der in einem Jahre von der Nation hergestellten Waren<br />
schließe notwendig auch die Arbeit früherer Jahre - nämlich die in den übernommenen<br />
Produktionsmitteln eingeschlossene Arbeit - ein.<br />
Und doch mußte die aus den obigen ganz richtigen vier Thesen gezogene Schlußfolgerung Smith': der<br />
Gesamtwert jeder Ware wie der jährlichen Warenmasse der Gesellschaft löse sich restlos in v + m auf,<br />
ganz falsch sein. Smith identifiziert die richtige These: aller Wert der Ware stellt nichts als<br />
gesellschaftliche Arbeit dar, mit der falschen: aller Wert stellt nichts als v + m dar. <strong>Die</strong> Formel v + m<br />
drückt die Funktion der lebendigen Arbeit unter kapitalistischen Wirtschaftsverhältnissen aus, nämlich<br />
die Doppelfunktion: 1. Ersatz <strong>des</strong> variablen <strong>Kapitals</strong> (der Löhne); 2. Schaffung <strong>des</strong> Mehrwerts für den<br />
Kapitalisten. <strong>Die</strong>se Funktion erfüllt die Lohnarbeit während ihrer Anwendung durch den Kapitalisten,<br />
und durch die Realisierung <strong>des</strong> Warenwerts in Geld zieht der Kapitalist sowohl das in Löhnen<br />
vorgeschossene variable Kapital zurück, wie er den Mehrwert in die Tasche steckt. v + m drückt also das<br />
Verhältnis zwischen Lohnarbeiter und Kapitalist aus, ein Verhältnis, das je<strong>des</strong>mal mit der Herstellung<br />
der Ware zu Ende ist. Ist die Ware verkauft und das Verhältnis v + m in Geld für den Kapitalisten<br />
realisiert, dann ist das Verhältnis und seine Spur in der Ware also erloschen. Der Ware und ihrem Wert<br />
sieht man absolut nicht an, in welchem Verhältnis und ob überhaupt ihr Wert durch bezahlte und<br />
unbezahlte Arbeit hergestellt ist, das einzige, was zweifellose Tatsache, ist der Umstand, daß die Ware<br />
ein gewisses Quantum gesellschaftlich notwendiger Arbeit enthält, was in ihrem Austausch zum<br />
Ausdruck kommt. Für den Austausch selbst also wie für den Gebrauch der Ware ist es völlig<br />
gleichgültig, ob die Arbeit, die sie darstellt, in v + m zerfiel oder nicht. Nur ihr Quantum als Wert spielt<br />
eine Rolle im Austausch, und nur ihre konkrete Beschaffenheit, ihre Nützlichkeit spielt eine Rolle im<br />
Gebrauch. <strong>Die</strong> Formel v + m drückt also sozusagen nur das intime Verhältnis zwischen Kapital und<br />
Arbeit, die soziale Funktion der Lohnarbeit aus, die im Produkt ganz erlischt. Anders mit dem<br />
ausgelegten Kapitalteil, der in Produktionsmitteln angelegt ist, dem konstanten Kapital. Der Kapitalist<br />
muß außer Lohnarbeit noch Produktionsmittel anschaffen, weil jede Arbeit gewisser Rohstoffe,<br />
Instrumente, Baulichkeiten zu ihrer Tätigkeit bedarf. Der kapitalistische Charakter auch dieser<br />
Bedingung der Produktion kommt darin zum Ausdruck, daß diese Produktionsmittel eben als c, als<br />
Kapital erscheinen, d.h. 1. als Eigentum einer anderen Person als die Arbeitenden, getrennt von der<br />
Arbeitskraft, als Eigentum der Nichtarbeitenden; 2. als bloßer Vorschuß, Auslage zum Zwecke der<br />
Mehrwerterzeugung. Das konstante Kapital c erscheint hier nur als Grundlage für v + m. Aber das<br />
konstante Kapital drückt noch etwas mehr aus, nämlich die Funktion der Produktionsmittel im<br />
menschlichen Arbeitsprozeß unabhängig von jeder historisch-gesellschafthchen Form. Der Rohstoffe und<br />
Instrumente zur Arbeit bedarf in gleichem Maße der Feuerländer bei der Anfertigung seines<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 3. Kapitel<br />
Familienkanus, die kommunistische Bauerngemeinde in Indien bei der Bestellung der Gemeindeäcker,<br />
der ägyptische Fellache beim Anbau seiner Dorfländereien wie beim Bau der Pyramiden für den Pharao,<br />
der griechische Sklave in der kleinen athenischen Manufaktur, der feudale Fronbauer, der mittelalterliche<br />
Zunfthandwerker und der moderne Lohnarbeiter. <strong>Die</strong> aus menschlicher Arbeit bereits hervorgegangenen<br />
Produktionsmittel sind der Ausdruck <strong>des</strong> Kontakts der menschlichen Arbeit mit dem Naturstoff und<br />
dadurch ewige allgemeine Vorbedingung <strong>des</strong> menschlichen Produktionsprozesses. <strong>Die</strong> Figur c in der<br />
Formel c + v + m drückt also eine bestimmte Funktion der Produktionsmittel aus, die mit dem Aufhören<br />
der Arbeit nicht erlischt. Während es für den Austausch wie für den Gebrauch der Ware völlig<br />
gleichgültig ist, ob sie durch bezahlte oder unbezahlte Arbeit, durch Lohnarbeit, Sklavenarbeit,<br />
Fronarbeit oder irgendeine andere Arbeit zustande gekommen, ist es für den Gebrauch der Ware von<br />
entscheidender Wichtigkeit, ob sie selbst Produktionsmittel oder Lebensmittel ist. <strong>Die</strong> Tatsache, daß bei<br />
der Herstellung einer Maschine bezahlte und unbezahlte Arbeit verwendet worden, ist nur für den<br />
Fabrikanten der Maschine und seine Arbeiter von Bedeutung; für die Gesellschaft, die durch den<br />
Austausch die Maschine erwirbt, ist nur ihre Eigenschaft als Produktionsmittel, ihre Funktion im<br />
Produktionsprozeß von Bedeutung. Und genauso, wie jede produzierende Gesellschaft der wichtigen<br />
Funktion der Produktionsmittel seit jeher darin Rechnung tragen mußte, daß sie in jeder<br />
Produktionsperiode für die Herstellung erforderlicher Produktionsmittel der nächsten Periode Sorge trug,<br />
so kann auch die kapitalistische Gesellschaft je<strong>des</strong> Jahr ihre Wertproduktion nach der Formel v + m, das<br />
heißt die Ausbeutung der Lohnarbeit nur dann in Angriff nehmen, wenn das erforderliche Quantum<br />
Produktionsmittel zur Bildung <strong>des</strong> konstanten <strong>Kapitals</strong> als Frucht der vorhergehenden<br />
Produktionsperiode vorhanden ist. <strong>Die</strong>se spezifische Verknüpfung jeder vergangenen Produktionsperiode<br />
mit der darauffolgenden, die die allgemeine ewige Grundlage <strong>des</strong> gesellschaftlichen<br />
Reproduktionsprozesses bildet und die darin besteht, daß ein Teil der Produkte jeder Periode bestimmt<br />
ist, Produktionsmittel für die folgende zu bilden, verschwand vor dem Blicke Smith'. An den<br />
Produktionsmitteln inter- essierte ihn nicht ihre spezifische Funktion in dem Produktionsprozeß,<br />
wo sie angewendet, sondern nur die Tatsache, daß sie selbst ein Produkt der kapitalistisch angewendeten<br />
Lohnarbeit sind wie jede andere Ware. <strong>Die</strong> spezifisch kapitalistische Funktion der Lohnarbeit im<br />
Produktionsprozeß <strong>des</strong> Mehrwerts verdeckte ihm ganz die ewige allgemeine Funktion der<br />
Produktionsmittel im Arbeitsprozeß. Sein bürgerlich befangener Blick übersah völlig hinter dem<br />
besonderen sozialen Verhältnis zwischen Lohnarbeit und Kapital das allgemeine Verhältnis zwischen<br />
Mensch und Natur. Hier scheint uns die eigentliche Quelle <strong>des</strong> wunderlichen Dogmas von Ad. Smith<br />
über die Auflösung <strong>des</strong> Gesamtwerts der gesellschaftlichen Jahresproduktion in v + m zu liegen. Smith<br />
übersah, daß das c als erstes Glied der Formel c + v + m der notwendige Ausdruck für die allgemeine<br />
gesellschaftliche Grundlage der kapitalistischen Ausbeutung der Lohnarbeit ist.<br />
Der Wert jeder Ware muß also in der Formel c + v + m ausgedrückt werden. Es fragt sich nun, inwiefern<br />
dies auf die Gesamtheit der Waren in einer Gesellschaft Anwendung findet. Wenden wir uns an die<br />
Zweifel Smith' darüber, nämlich an seine Aufstellung, fixes und zirkulieren<strong>des</strong> Kapital sowie<br />
<strong>Ein</strong>kommen <strong>des</strong> einzelnen decken sich nicht mit denselben Kategorien vom gesellschaftlichen<br />
Standpunkt (S. 39, Punkt 3). Was für den einen zirkulieren<strong>des</strong> Kapital, sei für andere nicht Kapital,<br />
sondern <strong>Ein</strong>kommen, z.B. die Kapitalvorschüsse für Löhne. <strong>Die</strong>se Behauptung beruht auf einem Irrtum.<br />
Wenn der Kapitalist den Arbeitern Löhne auszahlt, so gibt er nicht variables Kapital her, das in die<br />
Hände der Arbeiter wandert, um in ihr <strong>Ein</strong>kommen verwandelt zu werden, sondern er gibt nur die<br />
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Wertform seines variablen <strong>Kapitals</strong> für <strong>des</strong>sen Naturalform - die Arbeitskraft - hin. Das variable Kapital<br />
ist stets in der Hand <strong>des</strong> Kapitalisten erst in Geldform, dann in Gestalt der Arbeitskraft, die er gekauft,<br />
später in Form eines Wertteils der hergestellten Waren, um schließlich aus dem Erlös der Waren in<br />
Geldform - nebst Zuwachs - zu ihm zurückzukehren. Andererseits gelangt der Arbeiter nie in Besitz <strong>des</strong><br />
variablen <strong>Kapitals</strong>. Für ihn ist die Arbeitskraft nie Kapital, sondern sein Vermögen (nämlich Vermögen<br />
zu arbeiten, das einzige, das er besitzt). Hat er sie veräußert und hat er Geld als Lohn eingenommen, so<br />
ist dieser Lohn für ihn gleichfalls kein Kapital, sondern der Preis seiner verkauften Ware. Endlich die<br />
Tatsache, daß der Arbeiter mit den erhaltenen Löhnen Lebensmittel kauft, hat mit der Funktion, die<br />
dieses Geld als variables Kapital in den Händen <strong>des</strong> Kapitalisten gespielt hat, so wenig zu tun wie der<br />
Privatgebrauch, den jeder Verkäufer einer Ware mit dem erhaltenen Geld macht. Nicht das variable<br />
Kapital <strong>des</strong> Kapitalisten wird also zum <strong>Ein</strong>- kommen <strong>des</strong> Arbeiters, sondern der Preis der vom<br />
Arbeiter verkauften Ware Arbeitskraft, während das variable Kapital nach wie vor in der Hand <strong>des</strong><br />
Kapitalisten bleibt und als solches fungiert.<br />
Genauso falsch die Vorstellung, das <strong>Ein</strong>kommen (Mehrwert) <strong>des</strong> Kapitalisten, das z.B. in noch nicht<br />
realisierten Maschinen steckt, was beim Maschinenfabrikanten der Fall, sei fixes Kapital für einen<br />
anderen, nämlich den Käufer der Maschinen. Was <strong>Ein</strong>kommen <strong>des</strong> Maschinenfabrikanten ist, sind nicht<br />
Maschinen oder ein Teil der Maschine, sondern der in ihnen steckende Mehrwert, also unbezahlte Arbeit<br />
seiner Lohnarbeiter. Nach dem Verkauf der Maschine bleibt dieses <strong>Ein</strong>kommen nach wie vor in der<br />
Hand <strong>des</strong> Maschinenfabrikanten, es hat nur seine Erscheinungsform gewechselt, ist aus Maschinenform<br />
in Geldform verwandelt. Umgekehrt ist der Käufer der Maschine nicht erst durch ihren Ankauf in Besitz<br />
seines fixen <strong>Kapitals</strong> gelangt, sondern er hatte dieses vorher schon als ein gewisses Geldkapital in der<br />
Hand gehabt. Durch den Ankauf der Maschine hat er nur seinem Kapital die entsprechende sachliche<br />
Gestalt gegeben, die er brauchte, um es produktiv fungieren zu lassen. Vor dem Verkauf der Maschine<br />
wie nach ihrem Verkauf bleibt das <strong>Ein</strong>kommen (der Mehrwert) in der Hand <strong>des</strong> Maschinenfabrikanten,<br />
das fixe Kapital in der Hand <strong>des</strong> anderen - <strong>des</strong> kapitalistischen Käufers der Maschine. Genauso wie im<br />
ersten Beispiel das variable Kapital stets in der Hand <strong>des</strong> Kapitalisten, das <strong>Ein</strong>kommen in der Hand <strong>des</strong><br />
Arbeiters blieb,<br />
Was die Verwirrung bei Smith und allen seinen Nachfolgern angestiftet hat, ist, daß sie bei dem<br />
kapitalistischen Warenaustausch die Gebrauchsform der Waren mit ihren Wertverhältnissen<br />
durcheinanderwarfen, und ferner, daß sie die einzelnen Kapitalzirkulationen und Warenzirkulationen<br />
nicht auseinanderhielten, die sich auf Schritt und Tritt ineinander verschlingen. <strong>Ein</strong> und derselbe Akt <strong>des</strong><br />
Warenaustausches kann von einer Seite gesehen Kapitalzirkulation, von der anderen einfacher<br />
Warenaustausch zur Befriedigung der Konsumbedürfnisse sein. Der falsche Satz: Was für den einen<br />
Kapital, ist für den anderen <strong>Ein</strong>kommen und umgekehrt, reduziert sich also auf den richtigen Satz: Was<br />
für den einen Kapitalzirkulation, ist für den anderen einfacher Warenaustausch und umgekehrt. Dadurch<br />
wird nur die Verwandlungsfähigkeit <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong> in seiner Laufbahn und die Verschlingung<br />
verschiedener Interessensphären in dem gesellschaftlichen Austauschprozeß zum Ausdruck gebracht, die<br />
scharf umrissene Existenz aber <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong> im Gegensatz zum <strong>Ein</strong>kommen, und zwar in seinen beiden<br />
markanten Gestalten als konstantes und variables, wird damit nicht aufgehoben.<br />
Und doch kommt Smith in seinen Behauptungen, daß sich Kapital und <strong>Ein</strong>kommen der einzelnen<br />
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mit diesen Kategorien der Gesamtheit nicht völlig decken, der Wahrheit sehr nahe, nur daß es zur klaren<br />
Aufdeckung <strong>des</strong> Zusammenhangs noch weiterer Zwischenglieder bedurfte.<br />
Fußnoten von <strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong><br />
(1) Siehe Das Kapital, Bd. II, S. 351 [Karl Marx: Das Kapital, Zweiter Band. In: Karl Marx/Friedrich<br />
Engels: Werke Bd. 24. S. 376/377.]
<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 4. Kapitel<br />
3. Kapitel | Inhalt | 5. Kapitel<br />
<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - Gesammelte Werke. Herausgegeben vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Band<br />
5. <strong>Berlin</strong>/DDR. 1975. "<strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>", S. 50-66.<br />
1. Korrektur.<br />
Erstellt am 20.10.1998<br />
Viertes Kapitel<br />
Das Marxsche Schema der einfachen Reproduktion<br />
Betrachten wir die Formel c + v + m als Ausdruck <strong>des</strong> gesellschaftlichen Gesamtprodukts. Haben<br />
wir es hier bloß mit einer theoretischen Konstruktion, mit einem abstrakten Schema zu tun, oder wohnt<br />
dieser Formel in der Anwendung auf die Gesamtgesellschaft ein realer Sinn inne, hat sie objektive<br />
gesellschaftliche Existenz?<br />
Das c, konstantes Kapital, ist theoretisch erst von Marx als Kategorie von grundlegender Bedeutung<br />
aufgebracht worden. Allein schon Smith selbst, der ausschließlich mit den Kategorien fixes und<br />
zirkulieren<strong>des</strong> Kapital arbeitet, verwandelt das fixe Kapital tatsächlich und unbewußt für sich in<br />
konstantes, d.h., er faßt darunter nicht bloß Produktionsmittel, die in mehreren Jahren verschleißen,<br />
sondern auch solche, die jährlich ganz in die Produktion aufgehen.(1) Sein Dogma selbst von der<br />
Auflösung <strong>des</strong> Gesamtwerts in v + m und seine Beweisführung dafür führen ihn dazu, die zwei<br />
Kategorien der Produktionsbedingungen: die lebendige Arbeit und alle toten Produktionsmittel,<br />
auseinanderzuhalten. Auf der anderen Seite, wenn er aus den <strong>Ein</strong>zelkapitalen und -einkommen den<br />
gesellschaftlichen Reproduktionsprozeß zu konstruieren sucht, bleibt ihm als "fixes" Kapital in<br />
Wirklichkeit das konstante übrig.<br />
Jeder einzelne Kapitalist verwendet zur Produktion seiner Waren gewisse sachliche Produktionsmittel:<br />
Baulichkeiten, Rohstoffe, Werkzeuge. Zur Herstellung der Gesamtheit der Waren ist in der gegebenen<br />
Gesellschaft offenbar die Gesamtheit der von den <strong>Ein</strong>zelkapitalisten verwendeten sachlichen<br />
Produktionsmittel notwendig. <strong>Die</strong> Existenz dieser Produktionsmittel in der Gesellschaft ist eine ganz reale<br />
Tatsache, wenn sie auch in Gestalt lauter privater <strong>Ein</strong>zelkapitale existieren. Hier kommt die allgemeine<br />
absolute Bedingung der gesellschaftlichen Produktion unter allen ihren historischen Formen zum<br />
Ausdruck. <strong>Die</strong> besondere kapitalistische Form äußert sich darin, daß die sachlichen<br />
Produktionsmittel eben als c, als Kapital fungieren, d.h. als Eigentum von Nichtarbeitenden, als Gegenpol<br />
proletarisierter Arbeitskräfte, als Gegenstück der Lohnarbeit. Das v, variables Kapital, ist Summe der in<br />
der Gesellschaft während der Jahresproduktion tatsächlich gezahlten Löhne. Auch diese Tatsache hat eine<br />
reale objektive Existenz, wenn sie gleich in einer Unzahl von <strong>Ein</strong>zellöhnen zum Vorschein kommt. In<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 4. Kapitel<br />
jeder Gesellschaft ist die Anzahl der tatsächlich in der Produktion angespannten Arbeitskräfte und ihre<br />
jährliche Erhaltung eine Frage von grundlegender Wichtigkeit. <strong>Die</strong> besondere kapitalistische Form dieser<br />
Kategorie als v, als variables Kapital, besagt: 1., daß die Existenzmittel der Arbeitenden ihnen als Lohn,<br />
d.h. als Preis ihrer verkauften Arbeitskraft, entgegentreten, als Kapitaleigentum anderer, Nichtarbeitender,<br />
Besitzer der sachlichen Produktionsmittel; 2. als eine Geldsumme, d.h. bloß als Wertgestalt ihrer<br />
Lebensmittel. Das v drückt aus sowohl, daß die Arbeitenden "frei" sind in doppeltem Sinne: persönlich<br />
frei und frei von allen Produktionsmitteln - als daß die Warenproduktion die allgemeine Form der<br />
Produktion in der gegebenen Gesellschaft ist.<br />
Endlich das m - Mehrwert - stellt die Gesamtsumme aller von den <strong>Ein</strong>zelkapitalisten erzielten Mehrwerte<br />
dar. In jeder Gesellschaft wird Mehrarbeit geleistet und wird z.B. auch in der sozialistischen Gesellschaft<br />
geleistet werden müssen. In dreifachem Sinne: als Arbeitsquantum zur Erhaltung Nichtarbeitender<br />
(Arbeitsunfähiges, Kinder, Greise, Gebrechlicher, öffentlicher Beamten und sog. liberaler Berufe, die am<br />
Produktionsprozeß nicht unmittelbar teilnehmen (2)), als Assekuranzfonds der Gesellschaft für<br />
elementare Unglücksfälle, die den jährlichen Ausfall der Produktenmasse gefährden (Mißernte,<br />
Waldbrand, Überschwemmungen), endlich als Fonds zur Erweiterung der Produktion, sei es infolge <strong>des</strong><br />
Bevölkerungszuwachses, sei es infolge der kulturellen Hebung der Bedürfnisse. <strong>Die</strong> kapitalistische Form<br />
äußert sich in doppelter Hinsicht: 1. darin, daß die Mehrarbeit als Mehrwert, d.h. in Warenform und in<br />
Geld realisierbar geleistet wird, 2. darin, daß sie als Eigentum nichtarbeitender Besitzer der<br />
Produktionsmittel zum Vorschein kommt.<br />
<strong>Die</strong> beiden Figuren v + m endlich stellen zusammen gleichfalls eine objektive Größe von allgemeiner<br />
Gültigkeit dar: die Gesamtsumme der in der Gesellschaft im Verlaufe eines Jahres geleisteten<br />
lebendigen Arbeit. Jede menschliche Gesellschaft, von welcher geschichtlichen Form auch, muß sich für<br />
diese Tatsache interessieren, sowohl im Verhältnis zu den erzielten Resultaten wie im Verhältnis zu den<br />
vorhandenen und verfügbaren Arbeitskräften überhaupt. Auch die <strong>Ein</strong>teilung in v + m ist eine allgemeine,<br />
von den besonderen historischen Formen der Gesellschaft unabhängige Erscheinung. Der kapitalistische<br />
Ausdruck dieser <strong>Ein</strong>teilung äußert sich nicht nur in den qualitativen Besonderheiten beider, die bereits<br />
hervorgehoben sind, sondern auch in ihrem quantitativen Verhältnis, darin, daß v die Tendenz zeigt, auf<br />
das physiologische und soziale Minimum. das zur Existenz der Arbeitenden notwendig ist, herabgedrückt<br />
zu werden, und daß das m auf Kosten <strong>des</strong> v und im Verhältnis zu ihm stets zu wachsen die Tendenz hat.<br />
Letzterer Umstand drückt endlich die vorherrschende Eigentümlichkeit der kapitalistischen Produktion<br />
aus: die Tatsache, daß die Schaffung und Aneignung von Mehrwert der eigentliche Zweck und das<br />
treibende Motiv dieser Produktion ist.<br />
Man sieht: <strong>Die</strong> der kapitalistischen Formel <strong>des</strong> Gesamtprodukts zugrunde liegenden Beziehungen sind<br />
von allgemeiner Gültigkeit und werden in jeder planmäßig organisierten Wirtschaftsform Gegenstand<br />
einer bewußten Regelung seitens der Gesellschaft - der Gesamtheit der Arbeitenden und ihrer<br />
demokratischen Organe in einer kommunistischen Gesellschaft, <strong>des</strong> besitzenden Zentrums und seiner<br />
<strong>des</strong>potischen Gewalt in einer auf Klassenherrschaft beruhenden Gesellschaft. Unter der kapitalistischen<br />
Produktionsform besteht eine planmäßige Regelung <strong>des</strong> Ganzen nicht. <strong>Die</strong> Gesamtheit der Kapitale wie<br />
der Waren der Gesellschaft besteht in Wirklichkeit aus einer Summe unzähliger zersplitterter<br />
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<strong>Ein</strong>zelkapitale und einzelner Warenposten.<br />
Es entsteht somit die Frage, ob denn diese Summen selbst in der kapitalistischen Gesellschaft etwas mehr<br />
als den Sinn einer bloßen statistischen Aufstellung, noch dazu von sehr ungenauem und schwankendem<br />
Charakter besitzen. Auf dem Maßstab der Gesamtgesellschaft kommt jedoch zum Ausdruck, daß die<br />
völlig selbständige, selbstherrliche <strong>Ein</strong>zelexistenz der privatkapitalistischen Betriebe bloß die historisch<br />
bedingte Form, während der gesellschaftliche Zusammenhang die Grundlage ist. Obwohl die<br />
<strong>Ein</strong>zelkapitale völlig unabhängig agieren und eine gesellschaftliche Regelung vollständig fehlt, vollzieht<br />
sich die Gesamtbewegung aller Kapitale als ein einheitliches Ganzes. Auch diese Gesamtbewegung<br />
äußert sich in spezifisch kapitalistischen Formen. Während bei jeder planmäßig organi- sierten<br />
Produktionsform die Regelung sich vor allem auf das Verhältnis der gesamten geleisteten und zu<br />
leistenden Arbeit und den Produktionsmitteln - in den Zeichen unserer Formel gesprochen: zwischen (v +<br />
m) und c - oder zwischen der Summe der benötigten Lebensmittel benötigten Produktionsmittel - in der<br />
Formel dasselbe (v + m) zu c - bezieht, wird kapitalistisch die zur Erhaltung der toten Produktionsmittel<br />
wie der lebenden Arbeitskräfte benötigte gesellschaftliche Arbeit als ein Ganzes, als Kapital behandelt,<br />
dem die geleistete Mehrarbeit als m, Mehrwert, entgegengestellt wird. Das Verhältnis dieser beiden<br />
Größen m und (c + v) ist ein reales, objektives, handgreifliches Verhältnis der kapitalistischen<br />
Gesellschaft. nämlich die durchschnittliche Profitrate, die tatsächlich je<strong>des</strong> Privatkapital nur als ein Teil<br />
eines gemeinsamen Ganzen, <strong>des</strong> gesellschaftlichen Gesamtkapitals, behandelt, ihm den Profit als einen<br />
ihm nach Größe zukommenden Teil <strong>des</strong> aus der Gesellschaft herausgepreßten Gesamtmehrwerts ohne<br />
Rücksicht auf das von ihm tatsächlich erzielte Quantum zuweist. Das gesellschaftliche Gesamtkapital mit<br />
seinem Gegenstück, dem gesellschaftlichen Gesamtmehrwert, sind also nicht bloß reale Größen von<br />
objektiver Existenz, sondern ihr Verhältnis, der Durchschnittsprofit, leitet und lenkt - vermittelst <strong>des</strong><br />
Mechanismus <strong>des</strong> Wertgesetzes - den ganzen Austausch, nämlich die quantitativen Austauschverhältnisse<br />
der einzelnen Warenarten unabhängig von ihren besonderen Wertverhältnissen, ferner die<br />
gesellschaftliche Arbeitsteilung, d.h. die Zuweisung entsprechender Kapitalportionen und Arbeitskräfte<br />
zu den einzelnen Produktionssphären, die Entwicklung der Produktivität der Arbeit, nämlich einerseits<br />
das Stimulieren der <strong>Ein</strong>zelkapitale zu Pionierarbeiten, um sich über den Durchschnittsprofit zu erheben,<br />
und andererseits die Ausbreitung der von den einzelnen erzielten Fortschritte auf die Gesamtproduktion<br />
usw. Mit einem Wort: Das gesellschaftliche Gesamtkapital beherrscht durch die Durchschnittsprofitrate<br />
die scheinbar selbständigen Bewegungen der <strong>Ein</strong>zelkapitale völlig.(3)<br />
<strong>Die</strong> Formel c + v + m paßt also nicht bloß auf die Wertzusammenset- zung jeder einzelnen Ware,<br />
sondern auch auf die Gesamtheit der in einer Gesellschaft kapitalistisch produzierten Waren. <strong>Die</strong>s bezieht<br />
sich aber nur auf die Wertzusammensetzung. Darüber hinaus hört die Analogie auf.<br />
<strong>Die</strong> genannte Formel ist nämlich vollkommen exakt, wenn wir das Gesamtprodukt einer kapitalistisch<br />
produzierenden Gesellschaft als Totalität, als Arbeitsprodukt eines Jahres, auf ihre betreffenden<br />
Bestandteile analysieren wollen. <strong>Die</strong> Figur c zeigt uns an, wieviel von vergangener, in früheren Jahren in<br />
Gestalt von Produktionsmitteln geleisteter Arbeit in das Produkt dieses Jahres mit übernommen worden<br />
ist. <strong>Die</strong> Figur v + m zeigt den Wertbestandteil <strong>des</strong> Produkts, der ausschließlich im letzten Jahre durch<br />
Neuarbeit geschaffen worden ist, endlich das Verhältnis von v und m zeigt uns die Verteilung <strong>des</strong><br />
jährlichen Arbeitspensums der Gesellschaft zwischen der Erhaltung der Arbeitenden und der Erhaltung<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 4. Kapitel<br />
der Nichtarbeitenden. <strong>Die</strong>se Analyse bleibt richtig und maßgebend auch für die Reproduktion <strong>des</strong><br />
<strong>Ein</strong>zelkapitals, ohne jede Rücksicht auf die sachliche Gestalt <strong>des</strong> von ihm geschaffenen Produkts. Bei<br />
dem Kapitalisten der Maschinenindustrie erscheinen c wie v wie m unterschiedslos in Gestalt von<br />
Maschinen oder Maschinenteilen wieder. Bei seinem Kollegen von der Zuckerbranche kommen c wie v<br />
und m aus dem Produktionsprozeß in Zuckergestalt zur Welt. Beim Eigentümer eines Tingeltangels<br />
werden sie in den Körperreizen der Tänzerinnen und der "Exzentriks" vergegenständlicht. Sie<br />
unterscheiden sich voneinander in dem unterschiedslosen Produkt nur als <strong>des</strong>sen aliquote Wertteile. Und<br />
dies genügt für die Reproduktion <strong>des</strong> <strong>Ein</strong>zelkapitals vollkommen. Denn die Reproduktion <strong>des</strong><br />
<strong>Ein</strong>zelkapitals beginnt mit der Wertgestalt <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, ihr Ausgangspunkt ist eine gewisse Geldsumme,<br />
die aus der Realisierung <strong>des</strong> hergestellten Produkts herausspringt. <strong>Die</strong> Formel c + v + m ist dann die<br />
gegebene Grundlage für die <strong>Ein</strong>teilung jener Geldsumme in einen Teil zum Ankauf von sachlichen<br />
Produktionsmitteln, einen anderen zum Ankauf der Arbeitskraft und einen dritten zur persönlichen<br />
Konsumtion <strong>des</strong> Kapitalisten, falls, wie wir hier zunächst annehmen, einfache Reproduktion stattfindet,<br />
oder nur zum Teil zur persönlichen Konsumtion, zum Teil zur Vergrößerung <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, falls erweiterte<br />
Reproduktion stattfinden soll. Daß er zur tatsächlichen Reproduktion mit dem so eingeteilten Geldkapital<br />
wieder den Warenmarkt beschreiten muß, um die sachlichen Voraussetzungen der Produktion: Rohstoffe,<br />
Werkzeuge usw. sowie Arbeitskräfte zu erwerben, versteht sich von selbst. Daß der <strong>Ein</strong>zelkapitalist dann<br />
auf dem Markt die Produktionsmittel und Arbeitskräfte, die er für sein Ge- schäft braucht, auch<br />
tatsächlich vorfindet, erscheint dem <strong>Ein</strong>zelkapitalisten wie seinem wissenschaftlichen Ideologen, dem<br />
Vulgärökonomen, ebenso selbstverständlich.<br />
Anders bei der gesellschaftlichen Gesamtproduktion. Vom Standpunkte der Gesamtgesellschaft kann der<br />
Warenaustausch nur eine Translokation, einen allseitigen Platzwechsel der einzelnen Teile <strong>des</strong><br />
Gesamtprodukts bewerkstelligen, er kann aber seine sachliche Zusammensetzung nicht ändern. Nach wie<br />
vor diesem Platzwechsel kann die Reproduktion <strong>des</strong> Gesamtkapitals nur dann stattfinden, wenn sich in<br />
dem aus der letzten Produktionsperiode hervorgegangenen Gesamtprodukt 1. genügende<br />
Produktionsmittel, 2. ausreichende Lebensmittel zur Erhaltung der früheren Anzahl Arbeitskräfte, 3., last<br />
not least, die erforderlichen Lebensmittel zur "stan<strong>des</strong>gemäßen" Erhaltung der Kapitalistenklasse nebst<br />
Zubehör vorfinden. Hier werden wir auf ein neues Gebiet geleitet: aus reinen Wertverhältnissen zu<br />
sachlichen Gesichtspunkten. Es kommt jetzt auf die Gebrauchsgestalt <strong>des</strong> gesellschaftlichen<br />
Gesamtprodukts an. Was dem <strong>Ein</strong>zelkapitalisten völlig Hekuba, wird für den Gesamtkapitalisten ernste<br />
Sorge. Während für den <strong>Ein</strong>zelkapitalisten gehupft wie gesprungen ist, ob die von ihm produzierte Ware<br />
Maschine, Zucker, künstlicher Dünger oder ein freisinniges Intelligenzblatt ist, vorausgesetzt nur, daß er<br />
sie an den Mann bringt, um sein Kapital nebst Mehrwert herauszuziehen, bedeutet es für den<br />
Gesamtkapitalisten unendlich viel, daß sein Gesamtprodukt eine ganz bestimmte Gebrauchsgestalt hat,<br />
und zwar, daß in diesem Gesamtprodukt dreierlei Dinge vorzufinden sind: Produktionsmittel zur<br />
Erneuerung <strong>des</strong> Arbeitsprozesses, einfache Lebensmittel zur Erhaltung der Arbeiterklasse und bessere<br />
Lebensmittel mit dem nötigen Luxus zur Erhaltung <strong>des</strong> Gesamtkapitalisten selbst. Ja, der Wunsch in<br />
dieser Hinsicht ist nicht allgemein und vag, sondern ganz exakt quantitativ bestimmt. Fragen wir, wie<br />
groß die Mengen der vom Gesamtkapitalisten benötigten Dinge aller drei Kategorien sind, so bekommen<br />
wir einen genauen Voranschlag - vorausgesetzt immer die einfache Reproduktion, die wir als<br />
Ausgangspunkt nehmen - in der Wertzusammensetzung <strong>des</strong> Gesamtprodukts <strong>des</strong> letzten Jahres. <strong>Die</strong><br />
Formel c + v + m, die wir bis jetzt so gut für das Gesamtkapital wie für das <strong>Ein</strong>zelkapital als eine bloße<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 4. Kapitel<br />
quantitative <strong>Ein</strong>teilung <strong>des</strong> Gesamtwertes, d.h. der im Jahresprodukt der Gesellschaft steckenden<br />
Arbeitsmenge aufgefaßt haben, erscheint jetzt zugleich als die gegebene Grundlage der sachlichen<br />
<strong>Ein</strong>teilung <strong>des</strong> Produkts. Es ist klar, daß, um die Reproduktion in demselben Umfang in Angriff zu<br />
nehmen, der Gesamtkapitalist in seinem neuen Gesamtprodukt so viel Produktionsmittel vorfinden muß,<br />
wie es der Größe c entspricht, so viel einfache Lebensmittel für die Arbeiter, wie es der Lohnsumme v<br />
entspricht, und so viel feinere Lebensmittel für sich nebst Anhang, wie es die Größe m erfordert. <strong>Die</strong><br />
Wertzusammensetzung <strong>des</strong> gesellschaftlichen Jahresprodukts übersetzt sich also in die sachliche Gestalt<br />
dieses Produkts in folgender Weise: Das gesamte c der Gesellschaft muß als ebenso viele<br />
Produktionsmittel, das v als Lebensmittel der Arbeiter und m als Lebensmittel der Kapitalisten<br />
wiedererscheinen - wenn anders die einfache Reproduktion ermöglicht werden soll.<br />
Hier kommen wir an einen handgreiflichen Unterschied zwischen dem <strong>Ein</strong>zelkapitalisten und dem<br />
Gesamtkapitalisten. Ersterer reproduziert je<strong>des</strong>mal sein konstantes und variables Kapital sowie seinen<br />
Mehrwert: 1. alle drei Teile in einem einheitlichen Produkt von derselben sachlichen Gestalt, 2. in einer<br />
ganz gleichgültigen Gestalt, die bei jedem <strong>Ein</strong>zelkapitalisten von anderer Beschaffenheit ist. Der<br />
Gesamtkapitalist reproduziert jeden Wertteil seines Jahresprodukts in einer anderen sachlichen Gestalt,<br />
und zwar das c als Produktionsmittel, das v als Lebensmittel der Arbeiter und das m als Lebensmittel der<br />
Kapitalisten. Für die Reproduktion <strong>des</strong> <strong>Ein</strong>zelkapitals waren nur Wertverhältnisse maßgebend, die<br />
sachlichen Bedingungen als selbstverständliche Erscheinung <strong>des</strong> Warenaustausches vorausgesetzt. Für die<br />
Reproduktion <strong>des</strong> Gesamtkapitals vereinigen sich Wertverhältnisse mit sachlichen Standpunkten. Es ist<br />
übrigens klar, daß das <strong>Ein</strong>zelkapital nur insofern reine Wertgesichtspunkte pflegen und sachliche<br />
Bedingungen als ein Gesetz <strong>des</strong> Himmels betrachten kann, als das Gesamtkapital umgekehrt den<br />
sachlichen Gesichtspunkten Rechnung trägt. Würde das gesamte c der Gesellschaft nicht in Gestalt<br />
derselben Menge Produktionsmittel jährlich reproduziert werden, so würde jeder <strong>Ein</strong>zelkapitalist mit<br />
seinem in Geld realisierten c umsonst den Warenmarkt abschreiten, er könnte die benötigten sachlichen<br />
Bedingungen für seine individuelle Reproduktion nicht finden. Vom Standpunkte der Reproduktion<br />
kommen wir also mit der allgemeinen Formel c + v + m für das Gesamtkapital nicht aus - übrigens wieder<br />
ein Beweis, daß der Begriff der Reproduktion etwas Reales und mehr ist als eine bloße Umschreibung <strong>des</strong><br />
Begriffes Produktion. Wir müssen vielmehr Unterscheidungen sachlichen Charakters machen und das<br />
Gesamtkapital statt als einheitliches Ganzes in seinen drei Hauptabteilungen darstellen oder der<br />
Vereinfachung halber, da dies theoretisch zunächst keinen Harm tut, in zwei Abteilungen betrach- <br />
ten: als Produktion von Produktionsmitteln und als Produktion von Lebensmitteln für Arbeiter und<br />
Kapitalisten. Jede Abteilung muß getrennt für sich betrachtet werden, wobei in jeder die<br />
Grundbedingungen der kapitalistischen Produktion eingehalten werden müssen. Zugleich müssen wir<br />
aber von den Gesichtspunkten der Reproduktion aus die gegenseitigen Zusammenhänge der beiden<br />
Abteilungen hervorheben. Denn nur im Zusammenhang betrachtet, ergeben sie eben die Grundlagen der<br />
Reproduktion <strong>des</strong> gesellschaftlichen Gesamtkapitals als Ganzes.<br />
So findet bei der Darstellung <strong>des</strong> Gesamtkapitals und seines Gesamtprodukts eine gewisse Verschiebung<br />
statt, wenn wir vom <strong>Ein</strong>zelkapital ausgehen. Quantitativ, als Wertgröße, setzt sich das c der Gesellschaft<br />
exakt aus der Summe der konstanten <strong>Ein</strong>zelkapitale zusammen, dasselbe bezieht sich auf die beiden<br />
anderen Figuren v und m. Aber ihre Erscheinungsform ist verschoben. Während das c der <strong>Ein</strong>zelkapitale<br />
aus dem Produktionsprozeß wiedererscheint als Wertpartikel einer unendlichen Buntheit von<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 4. Kapitel<br />
Gebrauchsgegenständen, erscheint es im Gesamtprodukt sozusagen zusammengezogen in einer<br />
bestimmten Menge Produktionsmittel. Und ebenso sind v und m, die bei den <strong>Ein</strong>zelkapitalen als<br />
Segmente eines Warenbreis von buntester Erscheinung wieder auftauchen, im Gesamtprodukt<br />
zusammengezogen in entsprechende Mengen Lebensmittel für Arbeiter und Kapitalisten. <strong>Die</strong>s ist auch die<br />
Tatsache, auf die Smith annähernd stieß in seinen Betrachtungen über die Nichtkongruenz der Kategorien<br />
fixes Kapital, zirkulieren<strong>des</strong> Kapital und <strong>Ein</strong>kommen bei dem <strong>Ein</strong>zelkapitalisten und bei der Gesellschaft.<br />
Wir sind zu folgenden Ergebnissen gekommen:<br />
1. <strong>Die</strong> Produktion der Gesamtgesellschaft im ganzen betrachtet kann ebenso wie die <strong>des</strong><br />
<strong>Ein</strong>zelkapitalisten in der Formel c + v + m ausgedruckt werden.<br />
2. <strong>Die</strong> gesellschaftliche Produktion zerfällt in zwei Abteilungen: Produktion von Produktionsmitteln und<br />
Produktion von Lebensmitteln.<br />
3. Beide Abteilungen werden kapitalistisch betrieben, d.h. als Mehrwertproduktion, die Formel c + v + m<br />
findet also auch auf jede dieser Abteilungen im einzelnen Anwendung.<br />
4. <strong>Die</strong> beiden Abteilungen sind aufeinander angewiesen, müssen <strong>des</strong>halb gewisse Quantitätsverhältnisse<br />
aufweisen. Und zwar muß die eine alle Produktionsmittel beider Abteilungen, die andere alle<br />
Lebensmittel für die Arbeiter und Kapitalisten beider Abteilungen herstellen.<br />
Von diesen Gesichtspunkten ausgehend, konstruiert Marx die folgende Formel der kapitalistischen<br />
Reproduktion:<br />
I. 4.000 c + 1.000 v + 1.000 m = 6.000 Produktionsmittel.<br />
II. 2.000 c + 500 v + 500 m = 3.000 Konsumtionsmittel.(4)<br />
<strong>Die</strong> Zahlen dieser Formel drücken Wertgrößen, also Geldmengen, aus, die an sich willkürlich, ihre<br />
Verhältnisse aber exakt sind. <strong>Die</strong> beiden Abteilungen unterscheiden sich durch die Gebrauchsgestalt der<br />
hergestellten Waren voneinander. Ihre gegenseitige Zirkulation vollzieht sich folgendermaßen: <strong>Die</strong> erste<br />
Abteilung liefert für die ganze Produktion, also für sich wie für die zweite Abteilung, Produktionsmittel;<br />
daraus folgt schon, daß zum glatten Fortgang der Reproduktion (hier wird immer noch einfache<br />
Reproduktion - im alten Umfang - zugrunde gelegt) das Gesamtprodukt der ersten Abteilung (6.000 I) an<br />
Wert der Summe der konstanten Kapitale in den beiden Abteilungen (I 4.000 c + II 2.000 c) gleich sein<br />
muß. Ebenso liefert die zweite Abteilung Lebensmittel für die ganze Gesellschaft, also sowohl für die<br />
eigenen Arbeiter und Kapitalisten wie für diejenigen der ersten Abteilung. Daraus folgt, daß für den<br />
glatten Verlauf der Konsumtion und der Produktion und ihre Erneuerung im früheren Umfange nötig ist,<br />
daß die von der zweiten Abteilung gelieferte Gesamtmenge der Lebensmittel an Wert den<br />
<strong>Ein</strong>kommensbeträgen aller beschäftigten Arbeiter und Kapitalisten der Gesellschaft gleichkommt - hier<br />
3.000 II = (1.000 v + 1.000 m) I + (500 v + 500 m) II.<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 4. Kapitel<br />
Hier haben wir nur in der Tat in Wertverhältnissen ausgedrückt, was Grundlage nicht nur der<br />
kapitalistischen Reproduktion, sondern der Reproduktion jeder Gesellschaft ist. In jeder produzierenden<br />
Gesellschaft, welche ihre soziale Form auch sei - in der primitiven kleinen Dorfgemeinde der Bakaïri<br />
Brasiliens, in dem großen Oikos mit Sklaven eines Timon von Athen oder auf den kaiserlichen Fronhöfen<br />
Karls <strong>des</strong> Großen -, muß die verfügbare Arbeitsmenge der Gesellschaft so verteilt werden. daß sowohl<br />
Produktionsmittel in genügender Menge wie Lebensmittel hergestellt werden. Und zwar müssen die<br />
ersteren ausreichen ebenso zur direkten Herstellung von Lebensmitteln wie zur künftigen Erneuerung der<br />
Produktionsmittel selbst, die Lebensmittel aber zur Erhaltung der mit ihrer Herstellung wie mit der<br />
Herstellung der Produktionsmittel beschäftigten Arbeitenden und obendrein zur Erhaltung aller<br />
Nichtarbeitenden. Insofern ist das Marxsche Schema in seiner allgemeinen Proportion die allgemeine<br />
absolute Grundlage der gesellschaftlichen Reproduktion, nur daß hier die gesellschaftlich notwendige<br />
Arbeit als Wert erscheint, die Produktionsmittel als konstantes Kapital, die zur Erhaltung der Arbeiten-<br />
den notwendige Arbeit als variables Kapital und die zur Erhaltung der Nichtarbeitenden notwendige<br />
als Mehrwert.<br />
In der kapitalistischen Gesellschaft beruht aber die Zirkulation zwischen den zwei großen Abteilungen auf<br />
Warenaustausch, auf Austausch von Äquivalenten. <strong>Die</strong> Arbeiter und Kapitalisten der Abteilung I können<br />
nur soviel Lebensmittel von der Abteilung II erhalten, wie sie ihr an der eigenen Ware, an<br />
Produktionsmitteln, liefern können. Der Bedarf der Abteilung II an Produktionsmitteln wird aber<br />
bemessen durch die Größe ihres konstanten <strong>Kapitals</strong>. Daraus folgt also, daß die Summe <strong>des</strong> variablen<br />
<strong>Kapitals</strong> und <strong>des</strong> Mehrwerts in der Produktion der Produktionsmittel - hier (1.000 v + 1.000 m) I - dem<br />
konstanten Kapital in der Produktion der Lebensmittel - hier 2.000 c II - gleich sein muß.<br />
<strong>Ein</strong>e wichtige Bemerkung muß noch zu dem obigen Schema gemacht werden. Das angegebene konstante<br />
Kapital seiner beiden Abteilungen ist in Wirklichkeit nur ein Teil <strong>des</strong> von der Gesellschaft angewandten<br />
konstanten <strong>Kapitals</strong>. Letzteres zerfällt in fixes - Baulichkeiten, Werkzeuge, Arbeitstiere -, das in mehreren<br />
Produktionsperioden fungiert, in jeder aber nur mit einem Teil seines Wertes - im Verhältnis zum eigenen<br />
Verschleiß - in das Produkt eingeht, und in zirkulieren<strong>des</strong> - Rohstoffe, Hilfsstoffe, Heizungs- und<br />
Beleuchtungsstoffe -, das in jeder Produktionsperiode ganz mit dem Wert in das neue Produkt eingeht.<br />
Für die Reproduktion kommt aber nur der Teil der Produktionsmittel in Betracht, der wirklich in die<br />
Wertproduktion eingeht, der übrige, außerhalb <strong>des</strong> Produkts übriggebliebene und fortfungierende Teil <strong>des</strong><br />
fixen <strong>Kapitals</strong> muß zwar im Auge behalten, kann jedoch bei der exakten Darstellung der<br />
gesellschaftlichen Zirkulation außer Betracht gelassen werden, ohne die Richtigkeit der Darstellung zu<br />
beeinträchtigen. <strong>Die</strong>s kann leicht bewiesen werden.<br />
Denken wir uns das konstante Kapital 6.000 c der I. und der II. Abteilung, das in das Jahresprodukt dieser<br />
Abteilung tatsächlich eingeht als bestehend aus 1.500 c fixem und 4.500 c zirkulierendem, wobei die<br />
1.500 c fixes den Jahresverschleiß der Baulichkeiten, Maschinen, Arbeitstiere darstellen usw. <strong>Die</strong>ser<br />
Jahresverschleiß sei gleich 10 Prozent <strong>des</strong> Gesamtwerts <strong>des</strong> fixen <strong>Kapitals</strong>, das in Anwendung kommt.<br />
Dann hätten wir in Wirklichkeit in den beiden Abteilungen 15.000 c fixes 4.500 c zirkulieren<strong>des</strong> Kapital,<br />
zusammen also 19.500 c + 1.500 v an gesellschaftlichem Gesamtkapital. Das ganze fixe Kapital jedoch,<br />
<strong>des</strong>sen Lebensdauer (bei 10 Prozent Jahresverschleiß) auf 10 Jahre angenommen wird, muß erst nach 10<br />
Jahren erneuert werden. Inzwischen geht je<strong>des</strong> Jahr ein Zehntel seines Werts in die gesellschaftliche<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 4. Kapitel<br />
Produktion ein. Würde das gesamte fixe Kapital der Gesellschaft in gleichem Maße verschleißen und<br />
gleiche Lebensdauer haben, so müßte es - bei unserer Annahme - alle zehn Jahre auf einmal in seiner<br />
Totalität erneuert werden. <strong>Die</strong>s ist aber nicht der Fall. Von den verschiedenen Gebrauchsgestalten und<br />
Teilen <strong>des</strong> fixen <strong>Kapitals</strong> dauern die einen kürzer, die anderen länger, der Verschleiß und die Lebensdauer<br />
sind bei verschiedenen Gattungen und Individuen <strong>des</strong> fixen <strong>Kapitals</strong> ganz verschieden. Daraus ergibt sich,<br />
daß auch die Erneuerung die Reproduktion <strong>des</strong> fixen <strong>Kapitals</strong> in seiner konkreten Gebrauchsgestalt<br />
durchaus nicht auf einmal in ihrer Totalität vorgenommen zu werden braucht, sondern daß fortwährend an<br />
verschiedenen Punkten der gesellschaftlichen Produktion eine Erneuerung von Teilen <strong>des</strong> fixen <strong>Kapitals</strong><br />
stattfindet, während andere Teile noch in ihrer alten Gestalt fortfahren zu fungieren. Der 10prozentige<br />
Verschleiß <strong>des</strong> fixen <strong>Kapitals</strong>, den wir in unserem Beispiel angenommen haben, bedeutet also nicht, daß<br />
alle 10 Jahre eine einmalige Reproduktion <strong>des</strong> fixen <strong>Kapitals</strong> im Werte von 15.000 c stattfinden muß,<br />
sondern daß jährlich im Durchschnitt die Erneuerung und der Ersatz eines Teils <strong>des</strong> gesamten fixen<br />
<strong>Kapitals</strong> der Gesellschaft, der dem zehnten Wertteil dieses <strong>Kapitals</strong> entspricht, stattfinden muß, d.h., daß<br />
in der Abteilung I, die den Gesamtgebrauch der Gesellschaft an Produktionsmitteln zu decken hat,<br />
jährlich neben der Reproduktion der ganzen Roh- und Hilfsstoffe usw., <strong>des</strong> zirkulierenden <strong>Kapitals</strong> im<br />
Werte von 4.500, auch noch die Herstellung von Gebrauchsgestalten <strong>des</strong> fixen <strong>Kapitals</strong>, also<br />
Baulichkeiten, Maschinen usw. im Belaufe von 1.500, die dem tatsächlichen Verschleiß <strong>des</strong> fixen<br />
<strong>Kapitals</strong> entspricht, stattfinden muß; zusammen 6.000 c, die auch im Schema angenommen wurden. Fährt<br />
die Abteilung I fort, in dieser Weise jährlich ein Zehntel <strong>des</strong> fixen <strong>Kapitals</strong> in seiner Gebrauchsgestalt zu<br />
erneuern, so wird sich finden, daß alle zehn Jahre das ganze fixe Kapital der Gesellschaft an Kopf und<br />
Gliedern durch neue Exemplare ersetzt worden ist, daß also die Reproduktion auch derjenigen seiner<br />
Teile, die wir, dem Wert nach, außer Betracht gelassen haben, im obigen Schema vollkommen<br />
berücksichtigt ist.<br />
Praktisch äußert sich dieser Vorgang darin, daß jeder Kapitalist aus seiner jährlichen Produktion nach der<br />
Realisierung der Waren eine gewisse Geldsumme für Amortisation <strong>des</strong> fixen <strong>Kapitals</strong> auf die Seite legt.<br />
<strong>Die</strong>se einzelnen Jahresabschreibungen müssen erst einen Betrag von gewisser Höhe ausmachen, bevor der<br />
Kapitalist tatsächlich sein fixes Kapital erneuert resp. durch andere, leistungsfähigere Exemplare ersetzt.<br />
<strong>Die</strong>se abwechselnde Tätigkeit jährlicher Rücklagen von Geldbeträgen für die Er- neuerung <strong>des</strong><br />
fixen <strong>Kapitals</strong> und einer periodischen Verwendung der angesammelten Summe zur tatsächlichen<br />
Erneuerung <strong>des</strong> fixen <strong>Kapitals</strong> fällt aber bei verschiedenen individuellen Kapitalisten auseinander, so daß<br />
die einen noch Rücklagen machen, während andere bereits die Renovierung vornehmen. Auf diese Weise<br />
ergibt je<strong>des</strong> Jahr die Erneuerung eines Teils <strong>des</strong> fixen <strong>Kapitals</strong>. <strong>Die</strong> Geldvorgänge maskieren hier nur den<br />
wirklichen Vorgang, der den Reproduktionsprozeß <strong>des</strong> fixen <strong>Kapitals</strong> charakterisiert.<br />
Das ist bei näherem Zusehen auch ganz in der Ordnung. Das fixe Kapital nimmt zwar in seiner Totalität<br />
am Produktionsprozeß teil, aber nur als eine Masse von Gebrauchsgegenständen. Baulichkeiten,<br />
Maschinen, Arbeitsvieh werden in ihrer ganzen Körperlichkeit im Arbeitsprozeß in Anspruch genommen.<br />
In die Wertproduktion jedoch gehen sie - darin besteht gerade ihre Besonderheit als fixes Kapital - nur mit<br />
einem Teil ihres Wertes ein. Da im Prozeß der Reproduktion (unter Voraussetzung einfacher<br />
Reproduktion) es nur darauf ankommt, die während der Jahresproduktion an Lebensmitteln wie an<br />
Produktionsmitteln tatsächlich verzehrten Werte in ihrer Naturalgestalt wieder zu ersetzen, so kommt<br />
auch das fixe Kapital für die Reproduktion nur in dem Maße in Betracht, als es tatsächlich in die<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 4. Kapitel<br />
produzierten Waren eingegangen ist. Der übrige in der gesamten Gebrauchsgestalt <strong>des</strong> fixen <strong>Kapitals</strong><br />
verkörperte Wertteil ist von entscheidender Wichtigkeit für die Produktion als Arbeitsprozeß, existiert<br />
aber nicht für die jährliche Reproduktion der Gesellschaft als Wertbildungsprozeß.<br />
Übrigens trifft der Vorgang, der hier in Wertverhältnissen zum Ausdruck kommt, genauso für jede auch<br />
nicht warenproduzierende Gesellschaft zu. Wenn es z.B. zur Herstellung <strong>des</strong> berühmten Mörissees nebst<br />
dazugehörigen Nilkanälen im alten Ägypten, jenem Wundersee, von dem uns Herodot erzählt, daß er<br />
"von Händen gemacht" war, sagen wir, einst einer zehnjährigen Arbeit von 1.000 Fellachen bedurft hatte<br />
und wenn zur Instandhaltung dieser großartigsten Wasseranlage der Welt je<strong>des</strong> Jahr die volle Arbeitskraft<br />
von weiteren 100 Fellachen erforderlich war (die Zahlen sind, versteht sich, willkürlich), so kann man<br />
sagen, daß das Mörisstaubecken mit Kanälen nach hundert Jahren allemal neureproduziert wurde, ohne<br />
daß in Wirklichkeit je<strong>des</strong> Jahrhundert die Anlage in ihrer Gesamtheit auf einmal hergestellt worden wäre.<br />
<strong>Die</strong>s ist so wahr, daß, als mit den stürmischen Wechselfällen der politischen Geschichte und den fremden<br />
Eroberungen die übliche rohe Vernachlässigung der alten Kulturwerke eintrat, wie sie z.B. auch von den<br />
Engländern in Indien an den Tag gelegt wurde, als für die Reproduktionsbedürfnisse der altertümlichen<br />
Kultur das Verständnis geschwunden war, da verschwand mit der Zeit der ganze Mörissee, mit<br />
Wasser, Dämmen und Kanälen, mit den beiden Pyramiden in seiner Mitte, dem Koloß darauf und anderen<br />
Wunderdingen, so spurlos, wie wenn er nie errichtet worden wäre. Nur zehn Zeilen im Herodot, ein Fleck<br />
auf der Weltkarte <strong>des</strong> Ptolemäus sowie Spuren alter Kulturen und großer Dörfer und Städte zeugen, daß<br />
einst reiches Leben aus der grandiosen Wasseranlage quoll, wo sich heute öde Sandwüsten im inneren<br />
Libyen und öde Sümpfe entlang der Seeküste erstrecken.<br />
In einem Falle könnte uns nur das Marxsche Schema der einfachen Reproduktion vom Standpunkte <strong>des</strong><br />
fixen <strong>Kapitals</strong> ungenügend oder lückenhaft erscheinen. Wenn wir uns nämlich in die Produktionsperiode<br />
zurückversetzen, wo das gesamte fixe Kapital erst geschaffen wurde. In der Tat, die Gesellschaft besitzt<br />
an geleisteter Arbeit mehr als den Teil <strong>des</strong> fixen <strong>Kapitals</strong>, der jeweilig in den Wert <strong>des</strong> Jahresprodukts<br />
eingeht und von ihm wieder ersetzt wird. In den Zahlen unseres Beispiels: das gesellschaftliche<br />
Gesamtkapital beträgt nicht 6.000 c + 1.500 v wie im Schema, sondern 19.500 c + 1.500 v. Jährlich wird<br />
zwar von dem fixen Kapital, das nach unserer Annahme 15.000 c beträgt, 1.500 in Gestalt von<br />
entsprechenden Produktionsmitteln reproduziert. Aber so viel wird auch jährlich in derselben Produktion<br />
verzehrt. Nach zehn Jahren wird zwar das ganze fixe Kapital als Gebrauchsgestalt, als eine Summe von<br />
Gegenständen total erneuert. Aber nach zehn Jahren wie in jedem Jahre besitzt die Gesellschaft 15.000 c<br />
an fixem Kapital, während sie nur 1.500 c jährlich leistet, oder an konstantem Kapital besitzt sie im<br />
ganzen 19.500, während sie nur 6.000 c schafft. Offenbar muß sie diesen Überschuß an 13.500 fixem<br />
Kapital durch ihre Arbeit geschaffen haben; sie besitzt an aufgespeicherter vergangener Arbeit mehr, als<br />
es aus unserem Reproduktionsschema hervorgeht. Jeder gesellschaftliche jährliche Arbeitstag stützt sich<br />
schon hier, als auf gegebene Basis, auf einige vorgeleistete, aufgespeicherte jährliche Arbeitstage. Doch<br />
mit dieser Frage nach der vergangenen Arbeit, die die Grundlage aller jetzigen Arbeit ist, versetzen wir<br />
uns an den "Anfang aller Anfänge", der in der wirtschaftlichen Entwicklung der Menschen ebensowenig<br />
gilt wie in der natürlichen Entwicklung <strong>des</strong> Stoffes. Das Reproduktionsschema will und soll nicht den<br />
Anfangsmoment, den gesellschaftlichen Prozeß in statu nascendi darstellen, sondern es packt ihn mitten<br />
im Fluß, als ein Glied in "<strong>des</strong> Daseins unendlicher Kette". <strong>Die</strong> vergangene Arbeit ist stets die<br />
Voraussetzung <strong>des</strong> gesellschaftlichen Reproduktionsprozesses, mögen wir ihn so weit zurückverfolgen,<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 4. Kapitel<br />
wie wir wollen. Wie die gesellschaftliche Arbeit kein Ende, so hat sie auch keinen Anfang. <strong>Die</strong> Anfänge<br />
der Grundlagen <strong>des</strong> Reproduktionsprozesses verlieren sich in jener sagenhaften Dämmerung der<br />
Kulturgeschichte, in der sich auch die Entstehungsgeschichte <strong>des</strong> Mörissees <strong>des</strong> Herodot verliert. Mit dem<br />
technischen Fortschritt und der Kulturentwicklung ändert sieh die Gestalt der Produktionsmittel, plumpe<br />
Paläolithen werden durch geschliffene Werkzeuge ersetzt, Steinwerkzeuge durch elegante Bronze- und<br />
Eisengeräte, Handwerkzeug durch Dampfmaschine. Aber bei all dem Wechsel in der Gestalt der<br />
Produktionsmittel und den gesellschaftlichen Formen <strong>des</strong> Produktionsprozesses besitzt die Gesellschaft<br />
als Grundlage ihres Arbeitsprozesses stets eine gewisse Menge vergegenständlichter vergangener Arbeit,<br />
die ihr als Basis für die jährliche Reproduktion dient.<br />
Bei der kapitalistischen Produktionsweise erhält die in den Produktionsmitteln aufgespeicherte<br />
vergangene Arbeit der Gesellschaft die Gestalt von Kapital, und die Frage nach der Herkunft der<br />
vergangenen Arbeit. welche die Grundlage <strong>des</strong> Reproduktionsprozesses bildet, verwandelt sich in die<br />
Frage nach der Genesis <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>. <strong>Die</strong>se ist freilich viel weniger sagenhaft, vielmehr mit blutigen<br />
Lettern in die neuzeitliche Geschichte eingetragen als das Kapitel von der sogenannten ursprünglichen<br />
<strong>Akkumulation</strong>. <strong>Die</strong> Tatsache selbst aber, daß wir uns die einfache Reproduktion nicht anders als unter<br />
Voraussetzung vergangener aufgespeicherter Arbeit denken können, die an Umfang die jährlich zur<br />
Erhaltung der Gesellschaft geleistete Arbeit übertrifft, berührt die wunde Stelle der einfachen<br />
Reproduktion und beweist, daß sie nicht bloß für die kapitalistische Produktion, sondern für den<br />
Kulturfortschritt im allgemeinen bloß eine Fiktion ist. Um uns nur diese Fiktion selbst exakt - im Schema -<br />
vorzustellen, müssen wir als ihre Voraussetzung die Ergebnisse eines vergangenen Produktionsprozesses<br />
annehmen, der selbst unmöglich auf die einfache Reproduktion beschränkt, vielmehr bereits auf die<br />
erweiterte Reproduktion gerichtet war. Zur Erläuterung dieser Tatsache an einem Beispiel können wir das<br />
gesamte fixe Kapital der Gesellschaft mit einer Eisenbahn vergleichen. <strong>Die</strong> Dauerhaftigkeit und also auch<br />
der jährliche Verschleiß verschiedener Teile der Eisenbahn sind sehr verschieden. Solche Teile wie<br />
Viadukte, Tunnels können Jahrhunderte dauern, Lokomotiven Jahrzehnte, sonstiges rollen<strong>des</strong> Material<br />
wird sich in ganz kurzen Fristen. zum Teil in wenigen Monaten abnutzen. Es ergibt sich aber dabei ein<br />
gewisser durchschnittlicher Verschleiß, der, sagen wir, 30 Jahre ausmachen, also jährlich auf den<br />
Wertverlust von 1/30 <strong>des</strong> Ganzen hinauslaufen wird. <strong>Die</strong>ser Wertverlust wird nun fortlaufend wieder<br />
ersetzt durch teilweise Reproduktion der Eisenbahn (die als Reparaturen figu- rieren mag), indem<br />
heute ein Wagen, morgen ein Lokomotiventeil, übermorgen eine Strecke Gleise erneuert wird. Auf diese<br />
Weise wird nach Verlauf von 30 Jahren (bei unserer Annahme) die alte Eisenbahn durch eine neue<br />
ersetzt, wobei jahrein, jahraus dieselbe Arbeitsmenge von der Gesellschaft geleistet wird, also einfache<br />
Reproduktion stattfindet. Aber so kann eine Eisenbahn bloß reproduziert, so kann sie nicht produziert<br />
werden. Um sie in Gebrauch nehmen und ihren allmählichen Verschleiß durch den Gebrauch allmählich<br />
ersetzen zu können, muß die Eisenbahn erst einmal ganz fertiggestellt werden. Man kann die Eisenbahn<br />
stückweise reparieren, man kann sie aber nicht stückweise - heute eine Achse, morgen einen Wagen -<br />
gebrauchsfähig machen. Denn dies charakterisiert gerade das fixe Kapital, daß es sachlich, als<br />
Gebrauchswert, jederzeit in seiner Totalität in den Arbeitsprozeß eingeht. Um seine Gebrauchsgestalt also<br />
einmal erst fertigzustellen, muß die Gesellschaft auf einmal eine größere Arbeitsmenge auf seine<br />
Herstellung konzentrieren. Sie muß - um in den Zahlen unseres Beispiels zu sprechen - zur Herstellung<br />
der Eisenbahn ihre dreißigjährige, auf die Reparaturen verwendete Arbeitsmenge, sagen wir, auf zwei<br />
oder drei Jahre konzentrieren. In dieser Herstellungsperiode muß sie demnach eine über den Durchschnitt<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 4. Kapitel<br />
hinausgehende Arbeitsmenge leisten, also zur erweiterten Reproduktion greifen, worauf sie - nach<br />
Fertigstellung der Eisenbahn - zur einfachen Reproduktion zurückkehren mag. Freilich darf man sich<br />
dabei das jeweilige gesamte fixe Kapital der Gesellschaft nicht als einen zusammenhängenden<br />
Gebrauchsgegenstand oder Komplex von Gegenständen vorstellen, der immer auf einmal geschaffen<br />
werden müsse. Aber alle wichtigeren Arbeitsinstrumente, Gebäude, Verkehrsmittel, landwirtschaftlichen<br />
Konstruktionen bedürfen zu ihrer Herstellung einer größeren konzentrierten Arbeitsausgabe, was so gut<br />
auf die moderne Eisenbahn und das Luftschiff wie auf das ungeschliffene Stein und die Handmühle<br />
zutrifft. Daraus folgt, daß die einfache Reproduktion an sich nur in periodischer Abwechslung mit<br />
erweiterter Reproduktion gedacht werden kann, was nicht bloß durch den Kulturfortschritt und das<br />
Wachstum der Bevölkerung im allgemeinen, sondern durch die ökonomische Form <strong>des</strong> fixen <strong>Kapitals</strong><br />
oder der Produktionsmittel bedingt ist, die in jeder Gesellschaft dem fixen Kapital entsprechen.<br />
Marx befaßt sich mit diesem Widerspruch zwischen der Form <strong>des</strong> fixen <strong>Kapitals</strong> und der einfachen<br />
Reproduktion nicht direkt. Was er hervorhebt, ist nur die Notwendigkeit einer ständigen<br />
"Überproduktion", also erweiterten Reproduktion im Zusammenhang mit der unregelmäßigen<br />
Verschleißquote <strong>des</strong> fixen <strong>Kapitals</strong>, die in einem Jahre größer, in einem ande- ren geringer ist, was<br />
periodisch ein Defizit in der Reproduktion zur Folge haben müßte, falls einfache Reproduktion streng<br />
eingehalten wäre. Er faßt hier also die erweiterte Reproduktion unter dem Gesichtspunkt <strong>des</strong><br />
Assekuranzfonds der Gesellschaft für das fixe Kapital ins Auge, nicht vom Standpunkte seiner<br />
Herstellung selbst.(5)<br />
In einem ganz anderen Zusammenhang bestätigt Marx indirekt, wie es uns scheint, vollkommen die oben<br />
ausgesprochene Auffassung. Bei der Analyse der Verwandlung von Revenue in Kapital im Band II, Teil 2<br />
der "Theorien über den Mehrwert" bespricht er die eigentümliche Reproduktion <strong>des</strong> fixen <strong>Kapitals</strong>,<br />
<strong>des</strong>sen Ersatz an sich schon einen <strong>Akkumulation</strong>sfonds liefere, und zieht die folgenden Schlüsse:<br />
"Aber worauf wir hier kommen wollen, ist folgen<strong>des</strong>. Wäre das in dem Maschinenbau angewandte<br />
Gesamtkapital auch nur groß genug, um den jährlichen déchet der Maschinerie zu ersetzen, so würde es<br />
viel mehr Maschinerie produzieren als jährlich bedurft wird, da der déchet zum Teil nur idealiter existiert<br />
und realiter erst nach einer gewissen Reihe von Jahren in natura zu ersetzen ist. Das so angewandte<br />
Kapital liefert jährlich eine Masse Maschinerie, die für neue Kapitalanlagen vorhanden ist und diese<br />
neuen Kapitalanlagen antizipiert. Z.B. während dieses Jahrs beginnt der Maschinenbauer seine Fabrik. Er<br />
liefere für 12.000 l. Maschinerie während <strong>des</strong> Jahrs. So hätte er während der 11 folgenden Jahre bei<br />
bloßer Reproduktion der von ihm produzierten Maschinerie nur für 1.000 1. zu produzieren, und selbst<br />
diese jährliche Produktion würde nicht jährlich konsumiert. Noch weniger, wenn er sein ganzes Kapital<br />
anwendet. Damit dies in Gange bleibe und sich bloß fortwährend jährlich reproduziere, ist neue<br />
fortwährende Erweiterung der Fabrikation, die diese Maschinen braucht, nötig. (Noch mehr wenn er<br />
selbst akkumuliert.)<br />
Hier ist also, selbst wenn in dieser Produktionssphäre das in ihr investierte Kapital nur reproduziert wird,<br />
beständige <strong>Akkumulation</strong> in den übrigen Produktionssphären nötig."(6)<br />
Der Maschinenbauer <strong>des</strong> Marxschen Beispiels können wir uns als die Produktionssphäre <strong>des</strong> fixen<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 4. Kapitel<br />
<strong>Kapitals</strong> der Gesamtgesellschaft denken. Dann folgt daraus, daß bei Erhaltung der einfachen<br />
Reproduktion in dieser Sphäre, d.h. wenn die Gesellschaft jährlich dasselbe Quantum Ar- beit auf<br />
die Herstellung <strong>des</strong> fixen <strong>Kapitals</strong> verwendet (was ja praktisch ausgeschlossen), sie in den übrigen<br />
Produktionssphären je<strong>des</strong> Jahr eine Erweiterung der Produktion vornehmen muß. Hält sie aber hier nur<br />
die einfache Reproduktion ein, dann muß sie zur bloßen Erneuerung <strong>des</strong> einmal geschaffenen fixen<br />
<strong>Kapitals</strong> nur einen geringen Teil der zu seiner Schaffung angewandten Arbeit verausgaben. Oder - um die<br />
Sache umgekehrt zu formulieren - die Gesellschaft muß von Zeit zu Zeit, um sich große Anlagen fixen<br />
<strong>Kapitals</strong> zu schaffen, auch unter Voraussetzung der einfachen Reproduktion im ganzen periodisch<br />
erweiterte Reproduktion anwenden.<br />
Mit dem Kulturfortschritt wechselt nicht bloß die Gestalt, sondern auch der Wertumfang der<br />
Produktionsmittel - richtiger: die in ihnen aufgespeicherte gesellschaftliche Arbeit. <strong>Die</strong> Gesellschaft<br />
erübrigt außer der zu ihrer unmittelbaren Erhaltung notwendigen Arbeit immer mehr Arbeitszeit und<br />
Arbeitskräfte, die sie zur Herstellung von Produktionsmitteln in immer größerem Umfang verwendet. Wie<br />
kommt dies nun im Reproduktionsprozeß zum Ausdruck? Wie schafft die Gesellschaft - kapitalistisch<br />
gesprochen - aus ihrer jährlichen Arbeit mehr Kapital, als sie ehedem besaß? <strong>Die</strong>se Frage greift in die<br />
erweiterte Reproduktion hinüber, mit der wir uns hier noch nicht zu befassen haben.<br />
Fußnoten von <strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong><br />
(1) Wir sprechen hier wie im folgenden der <strong>Ein</strong>fachheit halber und im Sinne <strong>des</strong> gewohnten<br />
Sprachgebrauchs immer von jährlicher Produktion, was meist nur für die Landwirtschaft stimmt. <strong>Die</strong><br />
industrielle Produktionsperiode und der Kapitalumschlag brauchen sich mit dem Jahreswechsel gar nicht<br />
zu decken.
<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 4. Kapitel<br />
Marx/Friedrich Engels Werke, Bd. 24. S. 431.]
<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 5. Kapitel<br />
4. Kapitel | Inhalt | 6. Kapitel<br />
<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - Gesammelte Werke. Herausgegeben vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Band<br />
5. <strong>Berlin</strong>/DDR. 1975. "<strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>", S. 66-79.<br />
1. Korrektur.<br />
Erstellt am 20.10.1998<br />
Fünftes Kapitel<br />
<strong>Die</strong> Geldzirkulation<br />
Bis jetzt haben wir bei der Betrachtung <strong>des</strong> Reproduktionsprozesses von der Geldzirkulation ganz<br />
abgesehen. Nicht vom Geld als Wertdarstellung und Wettmesser; alle Verhältnisse der gesellschaftlichen<br />
Arbeit wurden vielmehr als in Geld ausgedrückt angenommen und gemessen. Nun ist es auch notwendig,<br />
das gegebene Schema der einfachen Reproduktion vom Standpunkte <strong>des</strong> Gel<strong>des</strong> als Austauschmittel zu<br />
prüfen.<br />
Wie schon der alte Quesnay annahm, muß zum Verständnis <strong>des</strong> gesellschaftlichen<br />
Reproduktionsprozesses im Besitz der Gesellschaft außer gewissen Produktions- und<br />
Konsumtionsmitteln noch eine gewisse Geldsumme vorausgesetzt werden.(1) Es fragt sich zweierlei: in<br />
wessen Händen und wie groß die Summe sein muß. Das erste, was außer Zweifel ist, ist die<br />
Tatsache, daß die Lohnarbeiter ihren Lohn in Geld erhalten, um sich Lebensmittel dafür zu kaufen.<br />
Gesellschaftlich läuft das im Reproduktionsprozeß darauf hinaus, daß die Arbeiter bloße Anweisung auf<br />
einen bestimmten Lebensmittelfonds bekommen, der ihnen zugewiesen wird wie in jeder Gesellschaft,<br />
gleichgültig welcher geschichtlichen Produktionsform. Der Umstand aber, daß die Arbeitenden hier ihre<br />
Lebensmittel nicht direkt, sondern durch Warenaustausch kriegen, ist ebenso wesentlich für die<br />
kapitalistische Produktionsform, wie daß sie ihre Arbeitskraft nicht direkt auf Grund eines persönlichen<br />
Herrschaftsverhältnisses, sondern durch Warenaustausch, nämlich Verkauf der Arbeitskraft, den<br />
Besitzern der Produktionsmittel zur Verfügung stellen. Der Verkauf der Arbeitskraft und der freie Kauf<br />
der Lebensmittel durch die Arbeiter sind das entscheidende Moment der Kapitalproduktion. Bei<strong>des</strong><br />
drückt sich aus und wird vermittelt durch die Geldform <strong>des</strong> variablen <strong>Kapitals</strong> v.<br />
Vor allem kommt also Geld in Zirkulation durch die Auszahlung der Löhne. <strong>Die</strong> Kapitalisten beider<br />
Abteilungen, alle Kapitalisten müssen also vor allem Geld in den Verkehr werfen, jeder im Betrage der<br />
von ihm gezahlten Löhne. Kapitalisten I müssen im Besitz von 1.000, Kapitalisten II von 500 in Geld<br />
sein, die sie ihren Arbeitern auszahlen. In unserem Schema kämmen auf diese Weise zwei Geldbeträge in<br />
Zirkulation: I 1.000 v und II 500 v. Beide werden durch die Arbeiter angelegt in Lebensmitteln, d.h. in<br />
Produkten der Abteilung II. Dadurch wird die Arbeitskraft erhalten, d.h. das variable Kapital der<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 5. Kapitel<br />
Gesellschaft in seiner Naturalform reproduziert - als die Grundlage der übrigen Kapitalreproduktion.<br />
Ferner werden zugleich auf diese Weise die Kapitalisten II von ihrem Gesamtprodukt 1.500 los, und zwar<br />
500 an die eigenen Arbeiter, 1.000 an die der anderen Abteilung. <strong>Die</strong> Kapitalisten II sind durch diesen<br />
Austausch in den Besitz von 1.500 Geld gekommen: 500 sind zu ihnen zurückgekehrt als eigenes<br />
variables Kapital, das von neuem wird als solches zirkulieren können, also vorläufig seine Bewegung<br />
abgeschlossen hat. 1.000 sind her neu erworben aus der Realisierung eines Drittels <strong>des</strong> eigenen Produkts.<br />
Mit diesen 1.000 in Geld kaufen die Kapitalisten II von den Kapitalisten I Produktionsmittel zur<br />
Erneuerung <strong>des</strong> verbrauchten eigenen konstanten <strong>Kapitals</strong>. Durch diesen Kauf hat die Abteilung II die<br />
Hälfte <strong>des</strong> benötigten konstanten <strong>Kapitals</strong> (II c) in Naturalform erneuert, dafür ist die eigene<br />
Geldsumme, die sie als Löhne an ihre Arbeiter ausgezahlt hatten und die jetzt nach zwei Austauschakten<br />
zu ihnen zurückkehrt, um später wieder als variables Kapital fungieren zu können, womit vorläufig die<br />
Bewegung dieser Geldsumme erschöpft ist. <strong>Die</strong> gesellschaftliche Zirkulation ist jedoch noch nicht zu<br />
Ende. Noch haben die Kapitalisten I ihr Mehrwertprodukt. das für sie in der ungenießbaren Gestalt von<br />
Produktionsmitteln steckt, nicht realisiert, um Lebensmittel für sich zu kaufen, und noch haben die<br />
Kapitalisten II die andere Hälfte ihres konstanten <strong>Kapitals</strong> nicht erneuert. <strong>Die</strong>se zwei Austauschakte<br />
decken sich in Wertgröße wie materiell, denn die Kapitalisten I kriegen die Lebensmittel von der<br />
Abteilung II zur Realisierung <strong>des</strong> eigenen Mehrwerts I 1.000 m, indem sie ihrerseits den Kapitalisten II<br />
dafür die diesen fehlenden Produktionsmittel II 1.000 liefern. In<strong>des</strong> zur Vermittlung dieses Austausches<br />
bedarf es einer neuen Geldsumme Wir könnten zwar die früher in Bewegung gesetzten Geldsummen<br />
noch einigemal in Zirkulation werfen lassen, wogegen theoretisch nichts einzuwenden wäre. Praktisch<br />
jedoch kommt dies nicht in Betracht, denn die Konsumtionsbedürfnisse der <strong>Kapitals</strong>ten müssen ebenso<br />
ununterbrochen befriedigt werden wie die der Arbeiter, beide laufen also parallel mit dem<br />
Produktionsprozeß und müssen durch besondere Geldsummen vermittelt werden. Es folgt daraus, daß die<br />
Kapitalisten beider Abteilungen, alle Kapitalisten, außer einem Geldbetrag für das variable Kapital auch<br />
noch Vorratsgeld zur Realisierung <strong>des</strong> eigenen Mehrwerts in Konsumgegenständen in der Hand haben<br />
müssen. Andererseits läuft parallel mit der Produktion - also vor der Realisierung <strong>des</strong> Gesamtprodukts -<br />
der fortlaufende Ankauf gewisser Teile <strong>des</strong> konstanten <strong>Kapitals</strong>, nämlich <strong>des</strong>sen zirkulierender Teil (Roh-<br />
und Hilfsstoffe, Beleuchtungsmittel usw.). Daraus ergibt sich, daß nicht bloß die Kapitalisten I zur<br />
Deckung ihrer eigenen Konsumtion, sondern auch die Kapitalisten II zur Deckung ihres Bedarfs an<br />
konstantem Kapital gewisse Geldbeträge in der Hand haben müssen. Der Austausch von I 1.000 m in<br />
Produktionsmitteln gegen II 1.000 c in Lebensmitteln wird also durch Geld vermittelt, das zum Teil von<br />
den Kapitalisten I für ihre Konsumbedürfnisse, zum Teil von den Kapitalisten II für ihren<br />
Produktionsbedarf vorgestreckt wird. (2) Von der zu diesem Austausch notwendigen Geldsumme 1.000<br />
mag jede Kapitalistenabteilung je 500 vorstrecken oder sich in anderer Proportion darin teilen;<br />
jedenfalls steht zweierlei fest: 1. ihre gemeinsame vorrätige Geldsumme muß ausreichen, den Austausch<br />
zwischen I 1.000 m und II 1.000 c zu vermitteln; 2. wie die Geldsumme auch verteilt war, nach dem<br />
vollzogenen gesellschaftlichen Gesamtaustausch befindet sich jede Kapitalistengruppe wieder im Besitz<br />
der gleichen Geldsumme, die sie in die Zirkulation geworfen hatte. Letzteres gilt ganz allgemein von der<br />
gesellschaftlichen Gesamtzirkulation: Nachdem die Zirkulation vollzogen, kehrt das Geld immer zu<br />
seinem Ausgangspunkt zurück, so daß nach allseitigem Ausrausch alle Kapitalisten zweierlei erreicht<br />
haben: erstens haben sie ihre Produkte, deren Naturalform ihnen gleichgültig war, gegen solche<br />
ausgetauscht, deren Naturalform sie, sei es als Produktionsmittel, sei es als eigene Konsummittel,<br />
brauchen, und zweitens ist das Geld, das sie selbst zur Vermittlung dieser Austauschakte in den Verkehr<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 5. Kapitel<br />
geworfen haben, wieder in ihrer Hand.<br />
Vom Standpunkte der einfachen Warenzirkulation ist dies ein unbegreifliches Phänomen. Hier wechseln<br />
vielmehr Ware und Geld beständig ihren Platz, der Besitz der Ware schließt den Besitz <strong>des</strong> Gel<strong>des</strong> aus,<br />
das Geld nimmt ständig den von der Ware geräumten Platz ein und umgekehrt. Das stimmt auch<br />
vollkommen für jeden individuellen Akt <strong>des</strong> Warenaustausches, unter <strong>des</strong>sen Form die gesellschaftliche<br />
Zirkulation vor sich geht. Sie selbst ist aber mehr als Warenaustausch, nämlich Kapitalzirkulation. Für<br />
diese ist aber gerade charakteristisch und wesentlich, daß sie das Kapital nicht bloß als Wertgröße mit<br />
Zuwachs, nämlich Mehrwert, in die Hände der Kapitalisten zurückführt, sondern daß sie auch die<br />
gesellschaftliche Reproduktion vermittelt, also die Naturalform <strong>des</strong> produktiven <strong>Kapitals</strong><br />
(Produktionsmittel und Arbeitskraft), und die Erhaltung der Nichtarbeitenden sichert. Da der ganze<br />
gesellschaftliche Prozeß der Zirkulation von den Kapitalisten ausgeht, die sowohl im Besitze der<br />
Produktionsmittel wie <strong>des</strong> zur Vermittlung der Zirkulation nötigen Gel<strong>des</strong> sind, so muß nach jedem<br />
Kreislauf <strong>des</strong> gesellschaftlichen <strong>Kapitals</strong> alles wieder in ihre Hände, und zwar bei jeder Gruppe und<br />
jedem <strong>Ein</strong>zelkapitalisten nach Maßgabe ihrer <strong>Ein</strong>lagen sich zurückfinden. In den Händen der Arbeiter<br />
befindet sich das Geld nur vorübergehend, um den Austausch <strong>des</strong> variablen <strong>Kapitals</strong> zwischen seiner<br />
Geldform und seiner Naturalform zu vermitteln, in den Händen der Kapitalisten ist es die<br />
Erscheinungsform eines Teils ihres <strong>Kapitals</strong>, muß also immer wieder zu ihnen zurückkehren.<br />
Bis jetzt haben wir die Zirkulation nur betrachtet, sofern sie zwischen den beiden großen Abteilungen der<br />
Produktion stattfindet. Außerdem sind aber noch übriggeblieben: vom Produkt der ersten Abteilung<br />
4.000 in Gestalt von Produktionsmitteln, die in der Abteilung I verbleiben, um ihr eigenes konstantes<br />
Kapital 4.000 c zu erneuern, ferner in der zweiten Abteilung 500 in Lebensmitteln, die gleichfalls in<br />
derselben Abteilung verbleiben, nämlich als Konsummittel der eigenen Kapitalistenklasse, im Betrage<br />
ihres Mehrwerts II 500 m. Da die Produktion in beiden Abteilungen kapitalistisch, d.h. ungeregelte<br />
Privatproduktion ist, so kann die Verteilung <strong>des</strong> eigenen Produkts jeder Abteilung unter ihre<br />
<strong>Ein</strong>zelkapitalisten - als Produktionsmittel der Abteilung I oder als Konsummittel der Abteilung II - nicht<br />
anders vor sich gehen als auf dem Wege <strong>des</strong> Warenaustausches, also einer großen Anzahl einzelner Kauf-<br />
und Verkaufsakte unter Kapitalisten derselben Abteilung. Zu diesem Austausch, also sowohl zur<br />
Erneuerung der Produktionsmittel in I 4.000 c wie zur Erneuerung der Konsummittel der<br />
Kapitalistenklasse in II 500 m, bedarf es gleichfalls gewisser Geldbeträge in den Händen der Kapitalisten<br />
beider Abteilungen. <strong>Die</strong>ser Teil der Zirkulation bietet an sich kein besonderes Interesse, denn er trägt den<br />
Charakter einfacher Warenzirkulation, da hier Käufer wie Verkäufer zu einer und derselben Kategorie<br />
von Agenten der Produktion gehören, und sie bewirkt bloß den Stellenwechsel von Geld und Ware<br />
innerhalb derselben Klasse und Abteilung. Gleichwohl muß das Geld, das zu dieser Zirkulation<br />
erforderlich ist, im voraus in den Händen der Kapitalistenklasse sein und ist ein Teil ihres <strong>Kapitals</strong>.<br />
Bis jetzt bot die Zirkulation <strong>des</strong> gesellschaftlichen Gesamtkapitals auch unter Berücksichtigung der<br />
Geldzirkulation an sich nichts Merkwürdiges. Daß zu dieser Zirkulation im Besitze der Gesellschaft eine<br />
gewisse Geldsumme notwendig ist, muß aus zwei Gründen von vornherein als selbstverständlich<br />
erscheinen: Erstens ist die allgemeine Form der kapitalistischen Produktionsweise die Warenproduktion,<br />
womit auch Geldzirkulation gegeben ist, zweitens beruht die Kapitalzirkulation auf beständiger<br />
Verwandlung der drei Formen <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>: Geldkapital, produktives Kapital, Warenkapital. Um diese<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 5. Kapitel<br />
Verwandlungen zu ermöglichen, muß auch Geld vorhanden sein, das die Rolle <strong>des</strong> Geldkapitals spielen<br />
kann. Und endlich, da dieses Geld eben als Kapital fungiert - in unserem Schema haben wir<br />
ausschließlich mit kapitalistischer Produktion zu tun -, so ist damit gegeben, daß dieses Geld sich wie<br />
Kapital in jeder Gestalt im Besitz der Kapitalistenklasse befinden muß, von ihr in Zirkulation geworfen<br />
wird, um zu ihr aus der Zirkulation zurückzukehren.<br />
Nur ein Detail kann auf den ersten Blick frappieren. Wenn das ganze Geld, das in der Gesellschaft<br />
zirkuliert, von den Kapitalisten hineinge- worfen wird, so folgt daraus, daß die Kapitalisten auch<br />
zur Realisierung ihres eigenen Mehrwerts das Geld selbst vorschießen müssen. <strong>Die</strong> Sache sieht so aus,<br />
als wenn sich die Kapitalisten als Klasse ihren eigenen Mehrwert mit eigenem Geld bezahlen müßten,<br />
und da das entsprechende Geld auch noch vor der jeweiligen Realisierung <strong>des</strong> Produkts jeder<br />
Produktionsperiode, bereits von früher her, im Besitze der Kapitalistenklasse sein muß, so kann es auf<br />
den ersten Blick scheinen, daß die Mehrwertaneignung nicht, wie tatsächlich, auf unbezahlter Arbeit der<br />
Lohnarbeiter beruht, sondern ein Resultat <strong>des</strong> bloßen Warenaustausches ist, zu dem die<br />
Kapitalistenklasse selbst das Geld im gleichen Betrage liefert. <strong>Ein</strong>e kurze Überlegung verscheucht den<br />
falschen Schein. Nach dem allgemeinen Ablauf der Zirkulation befindet sich die Kapitalistenklasse nach<br />
wie vor im Besitz ihres Geldbetrages, der zu ihr zurückkehrt oder in ihren Händen bleibt, während sie<br />
außerdem Lebensmittel in gleichem Betrage erworben und verzehrt hat - wir bleiben wohlgemerkt immer<br />
bei der Hauptvoraussetzung <strong>des</strong> Reproduktionsschemas einfache Reproduktion, d.h. Erneuerung der<br />
Produktion im alten Umfang und Verwendung <strong>des</strong> ganzen produzierten Mehrwerts zu persönlichen<br />
Konsumtionszwecken der Kapitalistenklasse.<br />
Der falsche Schein verschwindet übrigens ganz, wenn wir nicht bei einer Reproduktionsperiode<br />
stehenbleiben, sondern mehrere Perioden in ihrer Aufeinanderfolge und gegenseitigen Verschlingung<br />
betrachten. Das, was die Kapitalisten heute als Geld zur Realisierung ihres eigenen Mehrwertes in die<br />
Zirkulation werfen, ist nämlich nichts anderes als die Geldgestalt ihres Mehrwertes aus der vergangenen<br />
Produktionsperiode. Wenn der Kapitalist zum Ankauf seiner Lebensmittel Geld aus der eigenen Tasche<br />
vorschießen muß, während sein neuproduzierter Mehrwert in ungenießbarer Naturalform oder <strong>des</strong>sen<br />
genießbare Naturalform in fremden Händen sich befindet, so kam andererseits das Geld, das er jetzt sich<br />
selbst vorschießt, in seine Tasche als Resultat der Realisierung seines Mehrwertes aus der vorigen<br />
Periode. Und dieses Geld wird zu ihm wieder zurückkehren, wenn er seinen neuen in Warenform<br />
steckenden Mehrwert realisiert hat. Im Laufe mehrerer Perioden ergibt sich also, daß die<br />
Kapitalistenklasse regelmäßig aus der Zirkulation außer allen Naturalformen ihres <strong>Kapitals</strong> auch noch<br />
ihre eigenen Konsummittel herausfischt, wobei aber ihr ursprünglicher Geldbetrag ständig in ihrem<br />
Besitz unverändert bleibt.<br />
Für den <strong>Ein</strong>zelkapitalisten ergibt sich aus der Betrachtung der Geldzirkulation, daß er nie sein<br />
Geldkapital zum vollen Betrag in Produk- tionsmittel verwandeln kann, vielmehr stets einen<br />
gewissen Kapitalteil in Geldform zu Zwecken <strong>des</strong> variablen <strong>Kapitals</strong>, für Löhne, übriglassen und ferner<br />
Kapitalreserven für fortlaufenden Ankauf von Produktionsmitteln im Verlaufe der Produktionsperiode<br />
zurücklegen muß. Außer diesen Kapitalreserven muß er aber Geldvorrat für Zwecke der persönlichen<br />
Konsumtion besitzen.<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 5. Kapitel<br />
Für den Reproduktionsprozeß <strong>des</strong> gesellschaftlichen Gesamtkapitals ergibt sich daraus die Notwendigkeit<br />
der Produktion und Reproduktion <strong>des</strong> Geldmaterials. Da diese in unserer Annahme gleichfalls als<br />
kapitalistische gedacht werden muß - nach dem besprochenen Marxschen Schema kennen wir keine<br />
andere als kapitalistische Produktion -, so muß das Schema eigentlich als unvollständig erscheinen. Den<br />
beiden großen Abteilungen der gesellschaftlichen Produktion: der Produktion von Produktionsmitteln<br />
und der Produktion von Konsumtionsmitteln, müßte als dritte Abteilung beigeordnet werden die<br />
Produktion von Austauschmitteln, für die es gerade charakteristisch ist, daß sie weder zur Produktion<br />
noch zur Konsumtion dienen, sondern die gesellschaftliche Arbeit in unterschiedsloser<br />
gebrauchsunfähiger Wate darstellen. Zwar sind Geld und Geldproduktion wie auch der Austausch und<br />
die Warenproduktion viel älter als die kapitalistische Produktionsweise. Bei letzterer aber ist die<br />
Geldzirkulation erst zur allgemeinen Form der gesellschaftlichen Zirkulation und dadurch zum<br />
wesentlichen Element <strong>des</strong> gesellschaftlichen Reproduktionsprozesses geworden. <strong>Die</strong> Darstellung der<br />
Geldproduktion und -reproduktion in ihrer organischen Verschlingung mit den beiden anderen<br />
Abteilungen der gesellschaftlichen Produktion würde erst das erschöpfende Schema <strong>des</strong> kapitalistischen<br />
Gesamtprozesses in seinen wesentlichen Punkten liefern.<br />
Hier weichen wir allerdings von Marx ab. Marx reiht die Goldproduktion (der <strong>Ein</strong>fachheit halber wird die<br />
gesamte Geldproduktion auf die Herstellung <strong>des</strong> Gel<strong>des</strong> reduziert) der ersten Abteilung der<br />
gesellschaftlichen Produktion ein. "<strong>Die</strong> Produktion von Gold gehört, wie die Metallproduktion überhaupt,<br />
zur Klasse I, der Kategorie, die die Produktion von Produktionsmitteln umfaßt."(3) Das stimmt nur<br />
soweit, als es sich eben um Goldproduktion im Sinne der Metallproduktion, d.h. Metall zu gewerblichen<br />
Zwecken (Schmucksachen, Zahnplomben usw.) handelt. Als Geld ist Gold nicht Metall, sondern<br />
Verkörperung der abstrakten gesellschaftlichen Arbeit und als solche sowenig Produktionsmittel wie<br />
Konsumtionsmittel. Übrigens zeigt ein Blick auf das Reproduktionsschema selbst, zu welchen<br />
Unzuträglichkeiten die Verwechselung der Austauschmittel mit Produktionsmitteln fuhren müßte. Stellen<br />
wir neben die beiden Abteilungen der gesellschaftlichen Produktion die schematische Darstellung der<br />
jährlichen Goldproduktion (im Sinne <strong>des</strong> Geldmaterials), so bekommen wir die folgenden drei Reihen:<br />
I. 4.000 c + 1.000 v + 1.000 m = 6.000 Produktionsmittel.<br />
II: 2.000 c + 500 v + 500 m = 3.000 Konsummittel.<br />
III. 20 c + 5 v + 5 m = 30 Geldmittel.<br />
<strong>Die</strong> (von Marx als Beispiel gewählte) Wertgröße 30 entspricht offenbar nicht dem jährlich in der<br />
Gesellschaft umlaufenden Geldquantum, sondern lediglich dem jährlich reproduzierten Teil dieses<br />
Geldquantums, also dem jährlichen Verschleiß <strong>des</strong> Geldmaterials, der bei gleichbleibendem Umfang der<br />
gesellschaftlichen Reproduktion und gleichbleibender Dauer <strong>des</strong> Kapitalumschlags sowie<br />
gleichbleibender Raschheit der Warenzirkulation im Durchschnitt derselbe bleibt. Betrachten wir die<br />
dritte Reihe, wie Marx will, als integrierenden Teil der ersten, so ergibt sich die folgende Schwierigkeit.<br />
Das konstante Kapital der dritten Abteilung 20 c besteht aus wirklichen, konkreten Produktionsmitteln<br />
wie in den beiden anderen (Baulichkeiten, Werkzeuge, Hilfsstoffe, Gefäße usw.), das Produkt jedoch<br />
dieser Abteilung, 30 g, das Geld darstellt, kann in keinerlei Produktionsprozeß in seiner Naturalgestalt als<br />
konstantes Kapital fungieren. Zählen wir also dieses Produkt 30 g als integrierenden Teil <strong>des</strong> Produkts<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 5. Kapitel<br />
der ersten Abteilung 6.000 p, dann bekommen wir ein gesellschaftliches Defizit an Produktionsmitteln<br />
zum gleichen Wertbetrag, das die Reproduktion im gleichen Umfang entweder in der Abteilung I oder in<br />
der Abteilung II unmöglich machen wird. Nach der bisherigen Annahme - die die Grundlage <strong>des</strong> ganzen<br />
Marxschen Schemas bildet - ist das Produkt jeder der beiden Abteilungen in seiner sachlichen<br />
Gebrauchsgestalt der Ausgangspunkt der Reproduktion im ganzen, die Proportionen <strong>des</strong> Schemas<br />
basieren auf dieser Annahme, ohne die sie sich in Chaos auflösen. So beruhte der erste grundlegende<br />
Wertzusammenhang auf der Gleichung. I 6.000 p = I 4.000 c + II 2.000 c. Für das Produkt III 30 kann<br />
dies nicht stimmen, denn das Gold kann nicht (etwa in der Proportion I 20 e + II 10 c) von den beiden<br />
Abteilungen als Produktionsmittel verwendet werden. Der zweite vom ersten abgeleitete grundlegende<br />
Zusammenhang beruhte auf der Gleichung I 1.000 v + I 1.000 m = II 2.000 c. Für die Goldproduktion<br />
würde das bedeuten, daß sie soviel Konsummittel der zweiten Abteilung entzieht, wie sie ihr<br />
Produktionsmittel lie- fert. Das stimmt jedoch genausowenig. <strong>Die</strong> Goldproduktion entzieht zwar<br />
dem gesellschaftlichen Gesamtprodukt sowohl konkrete Produktionsmittel, die sie als konstantes Kapital<br />
verwendet, wie auch konkrete Konsummittel für ihre Arbeiter und Kapitalisten zum Betrage ihres<br />
variablen <strong>Kapitals</strong> und Mehrwerts. Allein ihr eigenes Produkt kann sowenig in irgendeiner Produktion als<br />
Produktionsmittel fungieren, wie es als Lebensmittel in die menschliche Konsumtion eingehen kann. <strong>Die</strong><br />
<strong>Ein</strong>reihung der Geldproduktion in die Abteilung I würde also alle sachlichen und Wertproportionen <strong>des</strong><br />
Marxschen Schemas verletzen und ihm seine Geltung nehmen.<br />
Der Versuch Marxens, die Goldproduktion als Teil der Abteilung I (Produktionsmittel) unterzubringen,<br />
führt ihn auch zu bedenklichen Resultaten. Der erste Zirkulationsakt zwischen dieser neuen<br />
Unterabteilung, die Marx I g nennt, und der Abteilung II (Konsummittel) besteht, wie üblich, darin, daß<br />
die Arbeiter der Abteilung I g mit dem von den Kapitalisten an Löhnen erhaltenen Geldbetrag (5 v)<br />
Konsummittel von der Abteilung II kaufen. Das hierbei gebrauchte Geld ist noch nicht Produkt der neuen<br />
Produktion, sondern Geldvorrat der Kapitalisten I g aus dem im Lande vordem befindlichen<br />
Geldquantum, was ja ganz in der Ordnung ist. Nun läßt aber Marx die Kapitalisten II mit dem erhaltenen<br />
5 an Geld erstens von I g für 2 Gold "als Warenmaterial" kaufen, springt also aus der Geldproduktion in<br />
die gewerbliche Goldproduktion über, die so wenig mit dem Problem der Geldproduktion zu tun hat wie<br />
die Produktion von Stiefelwichse. Da aber von den eingenommenen I g 5 v immer noch 3 übrigbleiben,<br />
mit denen die Kapitalisten II nichts anzufangen wissen, da sie sie nicht als konstantes Kapital gebrauchen<br />
können, so läßt sie Marx diesen Geldbetrag - aufschatzen! Um aber dadurch kein Defizit im konstanten<br />
Kapital von II entstehen zu lassen, daß ja ganz gegen Produktionsmittel (I v + m) auszutauschen ist.<br />
findet Marx folgenden Ausweg: "So muß dies Geld ganz aus II c übertragen werden in II m, ob dies nun<br />
in notwendigen Lebensmitteln oder in Luxusmitteln existiere, und dagegen entsprechender Warenwert<br />
übertragen werden aus II m in II c. Resultat: <strong>Ein</strong> Teil <strong>des</strong> Mehrwerts wird als Geldschatz<br />
aufgespeichert."(4) Das Resultat ist seltsam genug. Indem wir die Reproduktion bloß <strong>des</strong> jährlichen<br />
Verschleißes <strong>des</strong> Geldmaterials berücksichtigt haben, ergab sich plötzlich Aufschatzung <strong>des</strong> Gel<strong>des</strong>, also<br />
ein Überschuß an Geldmaterial. <strong>Die</strong>ser Überschuß entsteht - man weiß nicht weshalb - auf Kosten der<br />
Kapitalisten der Lebensmittelabteilung, die sich kasteien sollen, nicht etwa, um ihre eigene<br />
Mehrwertproduktion zu erweitern, sondern damit Lebensmittel genug da sind für die Arbeiter der<br />
Goldproduktion.<br />
Für diese christliche Tugend werden aber die Kapitalisten der Abteilung II schlecht genug belohnt. Nicht<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 5. Kapitel<br />
bloß können sie trotz "Abstinenz" keine Erweiterung ihrer Produktion vornehmen, sondern sie sind nicht<br />
einmal in der Lage, ihre Produktion im früheren Umfang in Angriff zu nehmen. Denn mag der<br />
entsprechende "Warenwert" auch aus II m in II c übertragen werden, es kommt nicht bloß auf Wert,<br />
sondern auf sachliche, konkrete Gestalt dieses Wertes an, und da jetzt ein Teil <strong>des</strong> Produkts von I in Geld<br />
besteht, das nicht als Produktionsmittel gebraucht werden kann, so kann II trotz Abstinenz sein<br />
konstantes Kapital sachlich nicht in vollem Umfange erneuern. Und so wäre die Voraussetzung <strong>des</strong><br />
Schemas - einfache Reproduktion - nach zwei Richtungen verletzt: Aufschatzung <strong>des</strong> Mehrwerts und<br />
Defizit <strong>des</strong> konstanten <strong>Kapitals</strong>. <strong>Die</strong>se von Marx erzielten Resultate beweisen selbst, daß die<br />
Goldproduktion unmöglich in einer der beiden Abteilungen seines Schemas untergebracht werden kann,<br />
ohne das Schema selbst umzuschmeißen. <strong>Die</strong>s schon auf Grund <strong>des</strong> ersten Austausches zwischen den<br />
Abteilungen I und II. <strong>Die</strong> Untersuchung über den Austausch von neuproduziertem Gold innerhalb <strong>des</strong><br />
konstanten <strong>Kapitals</strong> der Abteilung I, die sich Marx vorgenommen hatte, fand sich im Manuskript nicht,<br />
wie Fr. Engels (Kap. II, S. 449, Fußnote 55 [Karl Marx: Das Kapital. Zweiter Band. In: Karl<br />
Marx/Friedrich Engels: Werke, Bd. 24, S. 469.]) hervorhebt. Sie hätte die Unzuträglichkeiten noch<br />
gesteigert. Übrigens bestätigt Marx selbst unsere Auffassung und erschöpft die Frage mit zwei Worten,<br />
wenn er so knapp wie treffend sagt: "Geld an sich selbst ist kein Element der wirklichen<br />
Reproduktion."(5)<br />
<strong>Ein</strong>e Darstellung der Geldproduktion als gesonderte dritte Abteilung der gesellschaftlichen<br />
Gesamtproduktion hat noch einen gewichtigen Grund. Das Marxsche Schema der einfachen<br />
Reproduktion hat Geltung als Grundlage und Ausgangspunkt <strong>des</strong> Reproduktionsprozesses nicht bloß für<br />
kapitalistische, sondern - mutatis mutandis - auch für jede geregelte planmäßige Wirtschaftsordnung, z.B.<br />
für die sozialistische. <strong>Die</strong> Geldproduktion hingegen fällt mit der Warenform der Produkte, d.h. mit dem<br />
Privateigentum an Produktionsmitteln, weg. Sie bildet die "falschen Kosten" der anarchischen<br />
Wirtschaftsweise <strong>des</strong> Kapitalismus, eine spezifische Last der privatwirtschaftlichen Gesellschaft, die in<br />
der jährlichen Ausgabe einer beträchtlichen Arbeitsmenge zur Herstellung von Produkten zum<br />
Ausdruck kommt, Produkte, die weder als Produktionsmittel noch als Konsummittel dienen. <strong>Die</strong>se<br />
spezifische Arbeitsausgabe der kapitalistisch produzierenden Gesellschaft, die in einer gesellschaftlich<br />
geregelten Wirtschaft in Wegfall kommt, findet am exaktesten Ausdruck als gesonderte Abteilung im<br />
allgemeinen Reproduktionsprozeß <strong>des</strong> Gesamtkapitals. Es ist dabei ganz gleichgültig, ob wir uns ein<br />
Land vorstellen, das selbst Gold produziert, oder ein solches, das es aus dem Auslande bezieht. Im<br />
letzteren Falle vermittelt nur der Austausch dieselbe Ausgabe an gesellschaftlicher Arbeit, die direkt zur<br />
Produktion <strong>des</strong> Gol<strong>des</strong> notwendig war.<br />
Man ersieht aus dem bisherigen, daß das Problem der Reproduktion <strong>des</strong> Gesamtkapitals nicht so roh ist,<br />
wie es oft vom reinen Krisenstandpunkt aufgefaßt wird, wobei die Frage etwa so gestellt wird: Wie ist es<br />
möglich, daß bei der planlosen Wirtschaft zahlloser <strong>Ein</strong>zelkapitale die Gesamtbedürfnisse der<br />
Gesellschaft durch ihre Gesamtproduktion gedeckt werden? Worauf dann der Hinweis auf die ständigen<br />
Oszillationen der Produktion um die Nachfrage, d.h. auf den periodischen Konjunkturwechsel etwa, die<br />
Antwort geben soll. Bei dieser Auffassung, die das gesellschaftliche Gesamtprodukt als einen<br />
unterschiedslosen Warenbrei und das gesellschaftliche Bedürfnis in entsprechend abstruser Weise<br />
behandelt, wird das Wichtigste: die Differentia specifica der kapitalistischen Produktionsweise<br />
übersehen. Das kapitalistische Reproduktionsproblem birgt in sich, wie wir sahen, eine ganze Anzahl<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 5. Kapitel<br />
exakter Verhältnisse, die sich sowohl auf die spezifisch kapitalistischen Kategorien wie - mutatis<br />
mutands - auf die allgemeinen Kategorien der menschlichen Arbeit beziehen und deren Vereinigung<br />
sowohl in ihrem Widerspruch wie in ihrer Übereinstimmung das eigentliche Problem darstellt. Das<br />
Marxsche Schema ist die wissenschaftliche Lösung <strong>des</strong> Problems.<br />
Wir haben uns zu fragen, welche Bedeutung das analysierte Schema <strong>des</strong> Reproduktionsprozesses für die<br />
Wirklichkeit hat. Nach diesem Schema geht das gesellschaftliche Gesamtprodukt hübsch restlos in der<br />
Zirkulation auf, Konsumbedürfnisse sind sämtlich befriedigt, die Reproduktion geht glatt vonstatten, die<br />
Geldzirkulation folgt der Warenzirkulation, der Kreislauf <strong>des</strong> gesellschaftlichen <strong>Kapitals</strong> schließt sich<br />
genau. Wie sieht die Sache im Leben aus? Für eine planmäßig geleitete Produktion gibt das Schema in<br />
seinen Verhältnissen eine genaue Grundlage der <strong>Ein</strong>teilung der gesellschaftlichen Arbeit - immer<br />
vorausgesetzt einfache Reproduktion, d.h. gleichbleibenden Produktionsumfang. In der kapita- <br />
listischen Wirtschaft fehlt jede planmäßige Organisation <strong>des</strong> Gesamtprozesses. Deshalb geht in ihr auch<br />
nichts so glatt nach der mathematischen Formel, wie es im Schema aussieht. Der Kreislauf der<br />
Reproduktion verläuft vielmehr unter ständigen Abweichungen von den Verhältnissen <strong>des</strong> Schemas, was<br />
sich äußert<br />
im täglichen Oszillieren der Preise,<br />
im beständigen Schwanken der Profite,<br />
im unaufhörlichen Fluktuieren der Kapitale aus einem Produktionszweig in die anderen,<br />
im periodischen zyklischen Pendeln der Reproduktion zwischen Überspannung und Krise.<br />
Bei all diesen Abweichungen jedoch stellt das Schema jenen gesellschaftlich notwendigen Durchschnitt<br />
dar, um den sich jene Bewegungen vollziehen und dem sie immer wieder zustreben, nachdem sie sich<br />
von ihm entfernt haben. <strong>Die</strong>ser Durchschnitt macht es, daß die schwankenden Bewegungen der<br />
<strong>Ein</strong>zelkapitale nicht in ein Chaos ausarten, sondern auf eine bestimmte Gesetzmäßigkeit zurückgeführt<br />
werden, welche die Fortexistenz der Gesellschaft trotz ihrer Planlosigkeit sichert.<br />
Vergleicht man das Marxsche Reproduktionsschema mit dem "Tableau éconimique" Quesnays, so<br />
springt die Ähnlichkeit sowohl wie der große Abstand sofort in die Äugen. <strong>Die</strong> beiden Schemata, die die<br />
Entwicklungsstrecke der klassischen Nationalökonomie flankieren, sind die beiden einzigen Versuche<br />
der exakten Darstellung <strong>des</strong> scheinbaren Chaos, das die Gesamtbewegung der kapitalistischen Produktion<br />
und Konsumtion in ihre gegenseitigen Verschlingung und ihrem Auseinanderfallen zahlloser<br />
Privatproduzenten und Konsumenten darstellt. Beide reduzieren das wirre Durcheinander in der<br />
Bewegung der <strong>Ein</strong>zelkapitale auf einige einfache Zusammenhänge, in denen die Möglichkeit der<br />
Existenz und der Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaft trotz ihres ungeregelten anarchischen<br />
Getriebes verankert ist. Beide vereinigen nämlich den doppelten Gesichtspunkt, welcher der<br />
Gesamtbewegung <strong>des</strong> gesellschaftlichen <strong>Kapitals</strong> zugrunde liegt: daß sie zugleich als Kapitalbewegung<br />
eine Produktion und Aneignung von Mehrwert und als gesellschaftliche Bewegung Produktion und<br />
Konsumtion von sachlichen Notwendigkeiten der menschlichen Kulturexistenz ist. In beiden vermittelt<br />
die Zirkulation der Produkte als Warenzirkulation den Gesamtprozeß, und in beiden folgt die Bewegung<br />
<strong>des</strong> Gel<strong>des</strong> nur als äußerer Ausdruck an der Oberfläche der Bewegung der Warenzirkulation.<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 5. Kapitel<br />
In der Ausführung dieser großen Grundlinien liegt aber ein tiefer Ab- stand. Das Quesnaysche<br />
"Tableau" macht zwar die Mehrwertproduktion zu einem Angelpunkt der Gesamtreproduktion, faßt aber<br />
den Mehrwert noch unter der naiven feudalen Form der Grundrente auf, versieht also eine Teilform für<br />
das Ganze.<br />
Es macht ebenso die sachliche Unterscheidung in der Masse <strong>des</strong> Gesamtprodukts zum anderen<br />
Angelpunkt der gesellschaftlichen Reproduktion, faßt sie aber unter dem naiven Gegensatz zwischen<br />
landwirtschaftlichen und manufakturmäßigen Produkten auf, versieht also äußere Unterschiede in den<br />
Stoffen, mit denen der arbeitende Mensch zu tun hat, für grundlegende Kategorien <strong>des</strong> menschlichen<br />
Arbeitsprozesses überhaupt.<br />
Bei Marx ist die Mehrwertproduktion in ihrer reinen und allgemeinen, also absoluten Form der<br />
Kapitalproduktion aufgefaßt. Zugleich sind die ewigen sachlichen Bedingungen der Produktion in der<br />
grundlegenden Unterscheidung von Produktionsmitteln und Konsumtionsmitteln berücksichtigt und das<br />
Verhältnis beider auf ein exaktes Wertverhältnis zurückgeführt.<br />
Fragt man, warum die von Quesnay so glücklich angeschnittene Lösung <strong>des</strong> Problems bei der späteren<br />
bürgerlichen Nationalökonomie scheiterte und was zu dem gewaltigen Sprung, den die Analyse mit dem<br />
Marxschen Schema macht, erforderlich war, so ergeben sich hauptsächlich zwei Vorbedingungen. Vor<br />
allem fußt das Marxsche Reproduktionsschema auf der klaren und scharfen Unterscheidung der beiden<br />
Seiten der Arbeit in der Warenproduktion: der konkreten nützlichen Arbeit, die bestimmte<br />
Gebrauchswerte schafft, und der abstrakten allgemeinmenschlichen Arbeit, die als gesellschaftlich<br />
notwendige Werte schafft. <strong>Die</strong>ser geniale Grundgedanke der Marxschen Werttheorie, der ihm u.a. die<br />
Lösung <strong>des</strong> Geldproblems ermöglicht hat, führte ihn auch zu der Auseinanderhaltung und zur<br />
Vereinigung der beiden Gesichtspunkte im Gesamtreproduktionsprozeß: der Wertstandpunkte und der<br />
sachlichen Zusammenhänge. Zweitens liegt dem Schema die scharfe Unterscheidung von konstantem<br />
und variablem Kapital zugrunde, bei der erst die Mehrwertproduktion in ihrem inneren Mechanismus<br />
aufgedeckt und als Wertverhältnis mit den beiden sachlichen Kategorien der Produktion:<br />
Produktionsmittel und Konsumtionsmittel, in ein exaktes Verhältnis gebracht werden konnte.<br />
An alle diese Standpunkte stieß die klassische Ökonomie nach Quesnay, namentlich bei Smith und<br />
Ricardo, annähernd. Bei Ricardo erhielt die Werttheorie jene strenge Fassung, die es macht, daß man sie<br />
häufig sogar mit der Marxsehen verwechselt. Vom Standpunkte seiner Werttheorie hat Ricardo auch die<br />
Smithsche Auflösung <strong>des</strong> Preises aller Waren in v + m, die soviel Unheil in der Analyse der<br />
Reproduktion angerichtet hat, als falsch eingesehen; doch kümmerte er sich um diesen Smithschen<br />
Schnitzer nicht weiter, wie er sich für das Problem der Gesamtreproduktion im ganzen nicht erwärmte.<br />
Überhaupt brachte die Ricardosche Analyse in gewisser Hinsicht einen Rückschritt hinter Smith, wie<br />
dieser zum Teil einen Rückschritt hinter die Physiokraten machte. Wenn Ricardo die Grundkategorien<br />
der bürgerlichen Ökonomie: Wert, Lohn, Mehrwert, Kapital, viel schärfer und einheitlicher<br />
herausgearbeitet hat als alle seine Vorgänger, so hat er sie dafür starrer behandelt. Ad. Smith hatte viel<br />
mehr Sinn für die lebendigen Zusammenhänge, für die große Bewegung <strong>des</strong> Ganzen. Kam es ihm auch<br />
gelegentlich nicht darauf an, für ein und dasselbe Problem zwei oder, wie bei dem Wertproblem, gar drei<br />
bis vier verschiedene Lösungen zu geben und sich in verschiedenen Teilen der Analyse selbst munter zu<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 5. Kapitel<br />
widersprechen, so führten doch gerade seine Widersprüche darauf, das Ganze immer wieder von anderer<br />
Seite anzupacken und in der Bewegung zu fassen. <strong>Die</strong> Schranke, an der beide - Smith wie Ricardo -<br />
scheitern mußten, war ihr bürgerlich begrenzter Horizont. Um die Grundkategorien der kapitalistischen<br />
Produktion: Wert und Mehrwert, in ihrer lebendigen Bewegung, als gesellschaftlichen<br />
Reproduktionsprozeß zu erfassen, mußte man diese Bewegung historisch, die Kategorien selbst als<br />
geschichtlich bedingte Formen allgemeiner Arbeitsverhältnisse auffassen. Damit ist gegeben, daß das<br />
Problem der Reproduktion <strong>des</strong> Gesamtkapitals nur von einem Sozialisten gelöst werden konnte.<br />
Zwischen dem "Tableau économique" und dem Reproduktionsschema im zweiten Band <strong>des</strong> "<strong>Kapitals</strong>"<br />
liegt nicht bloß zeitlich, sondern auch inhaltlich das Glück und Ende der bürgerlichen Ökonomie.<br />
Fußnoten von <strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong><br />
(1) In seiner siebenten Bemerkung zum "Tableau" sagt Quesnay, nachdem er gegen die merkantilistische<br />
Theorie vom Geld, das mit Reichtum identisch sei, polemisiert hat: "La masse d'argent ne peut accroître<br />
dans une nation qu'autant que cette reproduction elle-même s'y accroît; autrement, l'accroissement de la<br />
masse d'argent ne pourrait se faire qu'au préjudice de la reproduction annuelle <strong>des</strong> richesses ... Ce n'est<br />
pas par le plus ou le moins d'argent qu'on doit juger de l'opulence <strong>des</strong> États; aussi estime-t-on qu'un<br />
pécule, égal au revenu de propriétaires <strong>des</strong> terres, est beaucoup plus que suffisant pour une nation<br />
agricole où la circulation se fait régulièrement et où le commerce s'exerce avec confiance et en pleine<br />
liberté." (Analyse du Tableau économique, Ausgabe Oncken, S. 324/325.)
<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 6. Kapitel<br />
5. Kapitel | Inhalt | 7. Kapitel<br />
<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - Gesammelte Werke. Herausgegeben vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Band<br />
5. <strong>Berlin</strong>/DDR. 1975. "<strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>", S. 79-91.<br />
1. Korrektur.<br />
Erstellt am 20.10.1998<br />
Sechstes Kapitel<br />
<strong>Die</strong> erweiterte Reproduktion<br />
Das Mangelhafte <strong>des</strong> Schemas der einfachen Reproduktion liegt auf der Hand: Es legt die Gesetze<br />
einer Reproduktionsform dar, die unter kapitalistischen Produktionsverhältnissen nur als gelegentliche<br />
Ausnahme stattfinden kann. <strong>Die</strong> Regel der kapitalistischen Wirtschaftsweise noch mehr als jeder anderen<br />
ist nicht einfache, sondern erweiterte Reproduktion.(1) Trotzdem hat das Schema seine volle<br />
wissenschaftliche Bedeutung. <strong>Die</strong>s in zwiefacher Hinsicht. Praktisch fällt auch bei erweiterter<br />
Reproduktion stets der allergrößte Teil <strong>des</strong> Gesamtprodukts unter die Gesichtspunkte der einfachen<br />
Reproduktion. Letztere bildet die breite Basis, auf der jeweilig die Ausdehnung der Produktion über die<br />
bisherigen Schranken hinaus stattfindet. Theoretisch bildet ebenso die Analyse der einfachen<br />
Reproduktion den unumgänglichen Ausgangspunkt jeder exakten wissenschaftlichen Darstellung der<br />
erweiterten Reproduktion. Das Schema der einfachen Reproduktion <strong>des</strong> gesellschaftlichen<br />
Gesamtkapitals führt somit von selbst über sich hinaus: zum Problem der erweiterten Reproduktion <strong>des</strong><br />
Gesamtkapitals.<br />
Wir kennen schon die historische Eigentümlichkeit der erweiterten Reproduktion auf kapitalistischer<br />
Basis: Sie muß sich darstellen als Kapitalakkumulation, dies ihre spezifische Form und Bedingung<br />
zugleich. Das heißt, die gesellschaftliche Gesamtproduktion - die auf kapitalistischer Basis eine<br />
Produktion von Mehrwert ist - kann nur in dem Sinne und in dem Maße jeweilig erweitert werden, wie<br />
das bisherige tätige Kapital der Gesellschaft einen Zuwachs aus dem von ihm produzierten Mehrwert<br />
erhält. <strong>Die</strong> Verwendung eines Teils <strong>des</strong> Mehrwerts - und zwar eines wachsenden Teils - zu produktiven<br />
Zwecken statt zur persönlichen Konsumtion der Kapitalistenklasse oder zur Aufschatzung - dies ist die<br />
Basis der erweiterten Reproduktion unter kapitalistischen Produktionsverhältnissen.<br />
Element der erweiterten Reproduktion <strong>des</strong> gesellschaftlichen Gesamtkapitals ist - genau wie bei der<br />
früher vorausgesetzten einfachen - die Reproduktion <strong>des</strong> <strong>Ein</strong>zelkapitals. Geht doch die<br />
Gesamtproduktion - ob sie als einfache oder als erweiterte betrachtet wird - tatsächlich nur unter der<br />
Form von zahllosen selbständigen Reproduktionsbewegungen privater <strong>Ein</strong>zelkapitale vor sich. <strong>Die</strong> erste<br />
erschöpfende Analyse der <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Ein</strong>zelkapitals ist gegeben im Band I <strong>des</strong> Marxschen<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 6. Kapitel<br />
"<strong>Kapitals</strong>", siebenter Abschnitt, Kapitel 22 und 23. Hier behandelt Marx die Teilung <strong>des</strong> Mehrwerts in<br />
Kapital und <strong>Ein</strong>kommen, die Umstände, die unabhängig von der Teilung <strong>des</strong> Mehrwerts in Kapital und<br />
Revenue die <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong> bestimmen, wie Ausbeutungsgrad der Arbeitskraft und<br />
Produktivität der Arbeit, ferner das Wachstum <strong>des</strong> fixen <strong>Kapitals</strong> im Verhältnis zum zirkulierenden als<br />
Moment der <strong>Akkumulation</strong>, endlich die fortschreitende Bildung der industriellen Reservearmee<br />
zugleich als Folge und Voraussetzung <strong>des</strong> <strong>Akkumulation</strong>sprozesses. Unterwegs setzt sich Marx hier mit<br />
zwei <strong>Ein</strong>fällen der bürgerlichen Ökonomie in bezug auf die <strong>Akkumulation</strong> auseinander: mit der mehr<br />
vulgärökonomischen "Abstinenztheorie", welche die Teilung <strong>des</strong> Mehrwerts in Kapital und <strong>Ein</strong>kommen<br />
und somit die <strong>Akkumulation</strong> selbst für eine ethische Heldentat der Kapitalisten ausgibt, und mit dem<br />
Irrtum der klassischen Ökonomie, wonach der ganze kapitalisierte Teil <strong>des</strong> Mehrwertes ausschließlich<br />
dazu verwendet wird, "von produktiven Arbeitern verzehrt zu werden", d.h. in Löhnen für<br />
neuanzustellende Arbeiter draufzugehen. <strong>Die</strong>se irrige Annahme, die völlig außer acht läßt, daß jede<br />
Produktionserweiterung nicht bloß in der Vergrößerung der Zahl der beschäftigten Arbeiter, sondern<br />
auch in der Vermehrung der sachlichen Produktionsmittel (Baulichkeiten, Instrumente, zum min<strong>des</strong>ten<br />
und auf jeden Fall Rohstoffe) zum Ausdruck kommen muß, fußt offenbar auf dem bereits besprochenen<br />
falschen "Dogma" von Ad. Smith. Aus dem Mißverständnis, wonach der Preis aller Waren sich unter<br />
völliger Auslassung <strong>des</strong> konstanten <strong>Kapitals</strong> - in lauter Löhne und Mehrwert restlos auflöst, ergab sich<br />
auch die Annahme, zur Erweiterung der Produktion genüge es, mehr Kapital in Löhnen auszugeben.<br />
Merkwürdigerweise übernimmt auch Ricardo, der das Irrtümliche der Smithschen Lehre wenigstens<br />
gelegentlich eingesehen hat, ihre irrtümliche Schlußfolgerung mit vielem Nachdruck, indem er sagt:<br />
"Man muß verstehen, daß alle Produkte eines Lan<strong>des</strong> konsumiert werden; aber es macht den denkbar<br />
größten Unterschied, ob sie konsumiert werden durch solche, die einen anderen Wert reproduzieren, oder<br />
durch solche, die ihn nicht reproduzieren. Wenn wir sagen, daß <strong>Ein</strong>kommen erspart und zu Kapital<br />
geschlagen wird, so meinen wir, daß der Teil <strong>des</strong> <strong>Ein</strong>kommens, von dem es heißt, er sei zum Kapital<br />
geschlagen, durch produktive statt durch unproduktive Arbeiter verzehrt wird." Nach dieser seltsamen<br />
Vorstellung, die alle hergestellten Produkte von den Menschen verzehren läßt, also für unverzehrbare<br />
Produktionsmittel: Werkzeuge und Maschinen, Rohstoffe und Baulichkeiten, im gesellschaftlichen<br />
Gesamtprodukt gar keinen Platz übrig hat, geht auch die erweiterte Reproduktion in der merkwürdigen<br />
Weise vonstatten, daß statt eines Teils feinerer Lebensmittel für die Kapitalistenklasse im Betrage <strong>des</strong><br />
kapitalisierten Teils <strong>des</strong> Mehrwerts einfache Lebensmittel für neue Arbeiter produziert werden. <strong>Ein</strong>er<br />
andere Verschiebung als innerhalb der Lebensmittelproduktion kennt die klassische Theorie der<br />
erweiterten Reproduktion nicht. Daß Marx mit diesem elementaren Schnitzer Smith-Ricardos spielend<br />
fertig wurde, ver- steht sich nach dem Bisherigen von selbst. Genauso wie bei der einfachen<br />
Reproduktion neben der Herstellung der erforderlichen Menge Lebensmittel für Arbeiter und<br />
Kapitalisten die regelmäßige Erneuerung <strong>des</strong> konstanten <strong>Kapitals</strong> - der sachlichen Produktionsmittel -<br />
stattfinden muß, ebenso muß bei der Erweiterung der Produktion ein Teil <strong>des</strong> neuen, zuschüssigen<br />
<strong>Kapitals</strong> zur Vergrößerung <strong>des</strong> konstanten Kapitalteils, d.h. zur Vermehrung der sachlichen<br />
Produktionsmittel, verwendet werden. Hier kommt noch ein anderes von Marx entdecktes Gesetz in<br />
Betracht. Der von der klassischen Ökonomie ständig vergessene konstante Kapitalteil wächst im<br />
Verhältnis zum variablen, in Löhnen verausgabten Teil beständig. <strong>Die</strong>s nur der kapitalistische Ausdruck<br />
der allgemeinen Wirkungen der zunehmenden Produktivität der Arbeit. Mit dem technischen Fortschritt<br />
vermag die lebendige Arbeit in immer kürzerer Zeit immer größere Massen Produktionsmittel in<br />
Bewegung zu setzen und zu Produkten zu verarbeiten. Kapitalistisch bedeutet dies eine fortschreitende<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 6. Kapitel<br />
Abnahme der Ausgaben für lebendige Arbeit, für Löhne, im Verhältnis zu Ausgaben für tote<br />
Produktionsmittel. <strong>Die</strong> erweiterte Reproduktion muß also nicht bloß entgegen der Smith-Ricardoschen<br />
Annahme jeweilig mit der Teilung <strong>des</strong> kapitalisierten Teils <strong>des</strong> Mehrwerts in konstantes und variables<br />
Kapital beginnen, sondern diese Teilung muß mit dem technischen Fortschritt der Produktion eine relativ<br />
immer größere Portion für den konstanten und eine relativ immer kleinere für den variablen Kapitalteil<br />
zuweisen. <strong>Die</strong>ser fortwährende qualitative Wechsel in der Zusammensetzung <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong> bildet die<br />
spezifische Erscheinungsform der <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, d.h. der erweiterten Reproduktion auf<br />
kapitalistischer Basis.(2)<br />
<strong>Die</strong> andere Seite dieser beständigen Verschiebung im Verhältnis <strong>des</strong> konstanten zum variablen<br />
Kapitalteil ist das, was Marx die Bildung der relativen, d.h. für die mittleren Verwertungsbedürfnisse <strong>des</strong><br />
<strong>Kapitals</strong> überschüssigen, daher überflüssigen oder Zuschuß-Arbeiterbevölkerung nennt. <strong>Die</strong> Produktion<br />
dieser stets vorrätigen Reserve nichtbeschäftigter Industriearbeiter (hier im weiteren Sinne, mit <strong>Ein</strong>schluß<br />
der Proletarier, die unter dem Kommando <strong>des</strong> Handelskapitals stehen), die ihrerseits die notwendige<br />
Voraussetzung der plötzlichen Ausdehnungen der Produktion in den Zeiten der Hochkonjunktur bildet,<br />
ist in die spezifischen Bedingungen der <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong> eingeschlossen.(3)<br />
Folgende vier Momente der erweiterten Reproduktion haben wir also aus der <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong><br />
<strong>Ein</strong>zelkapitals abzuleiten:<br />
1. Umfang der erweiterten Reproduktion ist in gewissen Grenzen unabhängig von dem Wachstum <strong>des</strong><br />
<strong>Kapitals</strong> und kann über dasselbe hinausgehen. <strong>Die</strong> Methoden, die hierzu führen, sind: Erhöhung der<br />
Ausbeutung der Arbeitskraft und der Naturkräfte, Erhöhung der Produktivität der Arbeit (in letzterer<br />
eingeschlossen die Erhöhung der Wirksamkeit <strong>des</strong> fixen Kapitalteils).<br />
2. Ausgangspunkt jeder wirklichen <strong>Akkumulation</strong> ist Teilung <strong>des</strong> zu kapitalisierenden Teils <strong>des</strong><br />
Mehrwerts in konstantes und variables Kapital.<br />
3. <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> als gesellschaftlicher Prozeß wird begleitet von einer ständigen Verschiebung im<br />
Verhältnis <strong>des</strong> konstanten <strong>Kapitals</strong> zum variablen, wobei der in toten Produktionsmitteln ausgelegte<br />
Kapitalteil im Verhältnis zu dem in Löhnen ausgelegten ständig wächst.<br />
4. <strong>Die</strong> andere Begleiterscheinung und Bedingung <strong>des</strong> <strong>Akkumulation</strong>sprozesses ist Bildung der<br />
industriellen Reservearmee.<br />
<strong>Die</strong>se schon der Reproduktionsbewegung <strong>des</strong> <strong>Ein</strong>zelkapitals abgewonnenen Momente sind ein enormer<br />
Schritt über die Analyse der bürgerlichen Ökonomie hinaus. Jetzt galt es aber, von der Bewegung <strong>des</strong><br />
<strong>Ein</strong>zel- kapitals ausgehend, die <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> Gesamtkapitals darzustellen. Nach dem Schema<br />
der einfachen Reproduktion mußten nun auch für die erweiterte Reproduktion sowohl die<br />
Wertstandpunkte einer Mehrwertproduktion wie die sachlichen Gesichtspunkte <strong>des</strong> Arbeitsprozesses<br />
(Produktion von Produktionsmitteln und Produktion von Konsummitteln) unter dem Gesichtswinkel der<br />
<strong>Akkumulation</strong> miteinander in exakte Verhältnisse gebracht werden.<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 6. Kapitel<br />
Der entscheidende Unterschied der erweiterten Reproduktion von der einfachen besteht darin, daß bei<br />
dieser der ganze Mehrwert von der Kapitalistenklasse nebst Anhang konsumiert wird, während bei jener<br />
ein Teil <strong>des</strong> Mehrwerts der persönlichen Konsumtion seiner Besitzer entzogen wird, jedoch nicht um<br />
aufgeschatzt, sondern um zum tätigen Kapital geschlagen, kapitalisiert zu werden. Damit jedoch letzteres<br />
auch wirklich stattfinden kann, ist erforderlich, daß das neue, zuschüssige Kapital auch die sachlichen<br />
Vorbedingungen seiner Betätigung vorfindet. Hier kommt also die konkrete Zusammensetzung <strong>des</strong><br />
gesellschaftlichen Gesamtprodukts in Betracht. Marx sagt schon im ersten Band <strong>des</strong> "<strong>Kapitals</strong>" bei der<br />
Betrachtung der <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Ein</strong>zelkapitals:<br />
"Zunächst muß die Jahresproduktion alle die Gegenstände (Gebrauchswerte) liefern, aus denen die im<br />
Laufe <strong>des</strong> Jahres verbrauchten sachlichen Bestandteile <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong> zu ersetzen sind. Nach Abzug dieser<br />
bleibt das Netto- oder Mehrprodukt. worin der Mehrwert steckt. Und woraus besteht dies Mehrprodukt?<br />
Vielleicht in Dingen, bestimmt zur Befriedigung der Bedürfnisse und Gelüste der Kapitalistenklasse, die<br />
also in ihren Konsumtionsfonds eingehen? Wäre das alles, so würde der Mehrwert verjubelt bis auf die<br />
Hefen, und es fände bloß einfache Reproduktion statt.<br />
Um zu akkumulieren, muß man einen Teil <strong>des</strong> Mehrprodukts in Kapital verwandeln. Aber, ohne Wunder<br />
zu tun, kann man nur solche Dinge in Kapital verwandeln, die im Arbeitsprozeß verwendbar sind, d.h.<br />
Produktionsmittel, und <strong>des</strong> ferneren Dinge, von denen der Arbeiter sich erhalten kann, d.h. Lebensmittel.<br />
Folglich muß ein Teil der jährlichen Mehrarbeit verwandt worden sein zur Herstellung zusätzlicher<br />
Produktions- und Lebensmittel, im Überschuß über das Quantum, das zum Ersatz <strong>des</strong> vorgeschossenen<br />
<strong>Kapitals</strong> erforderlich war. Mit einem Wort: der Mehrwert ist nur <strong>des</strong>halb in Kapital verwandelbar, weil<br />
das Mehrprodukt, <strong>des</strong>sen Wert er ist, bereits die sachlichen Bestandteile eines neuen <strong>Kapitals</strong> enthält."(4)<br />
Freilich genügen auch zuschüssige Produktionsmittel und zuschüssige Lebensmittel für die<br />
Arbeiter nicht, es sind noch zuschüssige Arbeitskräfte erforderlich, um die erweiterte Reproduktion in<br />
Fluß zu bringen. <strong>Die</strong>se Bedingung bietet aber nach Marx keine besondere Schwierigkeit. "Dafür hat der<br />
Mechanismus der kapitalistischen Produktion ebenfalls schon gesorgt, indem er die Arbeiterklasse<br />
reproduziert als vom Arbeitslohn abhängige Klasse, deren gewöhnlicher Lohn hinreicht, nicht nur ihre<br />
Erhaltung zu sichern, sondern auch ihre Vermehrung. <strong>Die</strong>se ihm durch die Arbeiterklasse auf<br />
verschiednen Altersstufen jährlich gelieferten zuschüssigen Arbeitskräfte braucht das Kapital nur noch<br />
den in der Jahresproduktion schon enthaltnen zuschüssigen Produktionsmitteln einzuverleiben, und die<br />
Verwandlung <strong>des</strong> Mehrwerts in Kapital ist fertig."(5)<br />
Hier haben wir die erste Lösung, die Marx dem <strong>Akkumulation</strong>sproblem <strong>des</strong> Gesamtkapitals gibt. Ohne<br />
sich weiter im Band I <strong>des</strong> "<strong>Kapitals</strong>" mit dieser Seite der Frage näher zu befassen, kehrt Marx zu dem<br />
Problem erst am Schluß <strong>des</strong> zweiten Ban<strong>des</strong> seines Hauptwerks zurück: Das letzte, 21. Kapitel ist der<br />
<strong>Akkumulation</strong> und erweiterten Reproduktion <strong>des</strong> Gesamtkapitals gewidmet.<br />
Sehen wir uns jetzt näher die schematische Darstellung der <strong>Akkumulation</strong> bei Marx an. Nach dem<br />
Beispiel <strong>des</strong> uns bereits bekannten Schemas der einfachen Reproduktion konstruiert Marx ein Schema<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 6. Kapitel<br />
der erweiterten Reproduktion. <strong>Ein</strong> Vergleich beider läßt ihren Unterschied am deutlichsten heraustreten.<br />
Nehmen wir an, das jährliche Gesamtprodukt der Gesellschaft stelle eine Wertgröße von 9.000 dar<br />
(worunter Millionen Arbeitsstunden oder, kapitalistisch in Geld ausgedrückt, beliebiger Geldbetrag<br />
verstanden werden kann). <strong>Die</strong>ses Gesamtprodukt sei folgendermaßen verteilt:<br />
I. 4.000 c + 1.000 v + 1.000 m = 6.000<br />
} Summa 9.000<br />
II. 2.000 c + 500 v + 500 m = 3.000<br />
<strong>Die</strong> erste Abteilung stellt Produktionsmittel, die zweite Lebensmittel dar. <strong>Ein</strong> Blick auf die<br />
Zahlenverhältnisse zeigt, daß hier nur einfache Reproduktion stattfinden kann. <strong>Die</strong> in der ersten<br />
Abteilung hergestellten Produktionsmittel gleichen der Summe der von den beiden Abteilungen<br />
tatsächlich verbrauchten Produktionsmittel, deren bloße Erneuerung auch nur die Wiederholung der<br />
Produktion in dem früheren Umfang gestattet. Andererseits gleicht das ganze Produkt der<br />
Lebensmittelabteilung der Summe der Löhne sowie der Mehrwerte in beiden Abteilungen; das<br />
zeigt, daß die vorhandenen Lebensmittel auch nur die Beschäftigung der früheren Anzahl von<br />
Arbeitskräften gestatten, daß zugleich aber auch der ganze Mehrwert in Lebensmitteln, d.h. in<br />
persönlichen Konsumtion der Kapitalistenklasse, draufgeht.<br />
Nun nehmen wir aber dasselbe Gesamtprodukt von 9.000 in folgender Zusammensetzung:<br />
I. 4.000 c + 1.000 v + 1.000 m = 6.000<br />
} Summa 9.000<br />
II. 1.500 c + 750 v + 750 m = 3.000<br />
Hier springt zweierlei Mißverhältnis in die Augen. <strong>Die</strong> angefertigte Menge von Produktionsmitteln<br />
(6.000) übersteigt in ihrem Wert die in der Gesellschaft tatsächlich verbrauchten (4.000 c + 1.500 c) um<br />
500. Zugleich stellt die Menge der hergestellten Lebensmittel (3.000) im Vergleich mit der Summe der<br />
gezahlten Löhne, d.h. den Bedürfnissen der Arbeiter (1.000 v + 750 v), sowie der Summe <strong>des</strong> erzielten<br />
Mehrwerts (1000 m + 750 m) ein Defizit von 500 dar. Daraus folgt, daß - da die Verringerung der<br />
Anzahl der beschäftigten Arbeitet ausgeschlossen ist - die Konsumtion der Kapitalistenklasse geringer<br />
sein muß als der von ihr eingeheimste Mehrwert. Damit sind die beiden Vorbedingungen eingehalten, die<br />
zur erweiterten Reproduktion auf kapitalistischer Basis erforderlich sind: <strong>Ein</strong> Teil <strong>des</strong> angeeigneten<br />
Mehrwerts wird nicht verzehrt, sondern zu produktiven Zwecken verwendet, zugleich werden in<br />
vermehrter Menge Produktionsmittel hergestellt, damit der kapitalisierte Mehrwert auch tatsächlich zur<br />
Erweiterung der Produktion verwendet werden kann.<br />
Haben wir bei dem Schema der einfachen Reproduktion gefunden, daß ihre gesellschaftlichen<br />
Grundbedingungen in dem folgenden exakten Verhältnis eingeschlossen sind: die Summe der<br />
hergestellten Produktionsmittel (Produkt der Abteilung I) muß in ihrem Wert dem konstanten Kapital<br />
beider Abteilungen gleich sein, die Summe der hergestellten Lebensmittel aber (Produkt der Abteilung<br />
II) der Summe der variablen Kapitale wie <strong>des</strong> Mehrwerts in beiden Abteilungen, so müssen wir für die<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 6. Kapitel<br />
erweiterte Reproduktion ein umgekehrtes exaktes Doppelverhältnis folgern. <strong>Die</strong> allgemeine<br />
Voraussetzung der erweiterten Reproduktion ist: Das Produkt der Abteilung I ist, dem Werte nach,<br />
größer als das konstante Kapital der beiden Abteilungen zusammen, das Produkt der Abteilung II ist,<br />
gleichfalls dem Werte nach, geringer als die Summe der variablen Kapitale und <strong>des</strong> Mehrwerts in beiden<br />
Abteilungen.<br />
Damit haben wir jedoch die Analyse der erweiterten Reproduktion noch lange nicht erschöpft, wir<br />
stehen vielmehr kaum erst an ihrer Schwelle.<br />
<strong>Die</strong> abgeleiteten Verhältnisse <strong>des</strong> Schemas müssen jetzt nämlich in ihrer weiteren Betätigung, im Fluß<br />
der Zirkulation und Fortgang der Reproduktion verfolgt werden. Ist die einfache Reproduktion einem<br />
und demselben immer von neuem durchlaufenen Kreise zu vergleichen, so gleicht die erweiterte<br />
Reproduktion nach dem Ausdruck Sismondis einer Spirale, die immer höher geht. Wir haben also<br />
zunächst die Windungen dieser Spirale näher zu untersuchen. <strong>Die</strong> erste allgemeine Frage ist dabei die:<br />
Wie vollzieht sich nun bei den uns jetzt bekannten Voraussetzungen die tatsächliche <strong>Akkumulation</strong> in<br />
beiden Abteilungen, so daß alle Kapitalisten einen Teil ihres Mehrwerts kapitalisieren und zugleich die<br />
notwendigen sachlichen Vorbedingungen der erweiterten Reproduktion vorfinden?<br />
Marx erläutert die Frage an der Hand der folgenden schematischen Darstellung.<br />
Nehmen wir an, daß die Hälfte <strong>des</strong> Mehrwerts von I akkumuliert wird. <strong>Die</strong> Kapitalisten verwenden also<br />
500 zu ihrer Konsumtion, 500 aber schlagen sie zum Kapital. <strong>Die</strong>ses zuschüssige Kapital von 500 muß,<br />
wie wir nun wissen, um sich zu betätigen, in konstantes und variables verteilt werden. Nehmen wir an,<br />
daß das Verhältnis beider trotz der Erweiterung der Produktion dasselbe bleibt wie bei dem<br />
Originalkapital, d.h. 4 : 1. Dann werden die Kapitalisten der Abteilung I ihr zuschüssiges Kapital von<br />
500 so verteilen, daß sie für 400 neue Produktionsmittel und für 100 neue Arbeitskräfte ankaufen. <strong>Die</strong><br />
Beschäftigung neuer Produktionsmittel für 400 bietet keine Schwierigkeiten, wir wissen, daß die<br />
Abteilung I für 500 überschüssige Produktionsmittel bereits hergestellt hat. Davon wurden 4/5 also<br />
verwendet innerhalb der Abteilung I, um die Erweiterung der Produktion zu bewerkstelligen. Aber die<br />
entsprechende Vergrößerung <strong>des</strong> variablen <strong>Kapitals</strong> um 100 in Geld genügt nicht, die neuen,<br />
zuschüssigen Arbeitskräfte müssen auch die entsprechenden Lebensmittel vorfinden, und diese können<br />
nur der Abteilung II entnommen werden. Jetzt verschiebt sich also die Zirkulation zwischen den beiden<br />
großen Abteilungen. Früher, bei der einfachen Reproduktion, entnahm die Abteilung I für 1.000<br />
Lebensmittel von II für die eigenen Arbeiter, jetzt muß sie darüber hinaus um 100 mehr Lebensmittel für<br />
Arbeiter entnehmen. <strong>Die</strong> Abteilung I wird auf diese Weise die erweiterte Reproduktion folgendermaßen<br />
beginnen: 4.400 c + 1.100 v.<br />
Ihrerseits kommt die Abteilung II durch den Verkauf der zuschüssigen Lebensmittel von 100 in die Lage,<br />
um denselben Betrag mehr als bis jetzt von der Abteilung I Produktionsmittel zu erwerben. In der<br />
Tat sind von dem Gesamtüberschuß <strong>des</strong> Produkts in der Abteilung I gerade 100 noch übriggeblieben.<br />
<strong>Die</strong>se erwirbt nun die Abteilung II, um auch ihrerseits eine Erweiterung der Produktion vorzunehmen.<br />
Aber auch hier kann mit mehr Produktionsmitteln allein nicht viel ausgerichtet werden, um sie in<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 6. Kapitel<br />
Bewegung zu setzen, sind zuschüssige Arbeitskräfte nötig. Nehmen wir auch hier an, daß die bisherige<br />
Zusammensetzung <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong> beibehalten wird, also das Verhältnis <strong>des</strong> konstanten zum variablen<br />
Kapital 2:1 ist, dann bedarf es zur Betätigung der zuschüssigen Produktionsmittel von 100 neuer<br />
Arbeitskräfte für 50. Für diese neuen Arbeitskräfte bedarf es aber auch im Betrage ihrer Löhne neuer<br />
Lebensmittel, welche die Abteilung II ja selbst liefert. Von dem Gesamtprodukt der Abteilung II müssen<br />
demnach außer den zuschüssigen Lebensmitteln von 100 für die neuen Arbeiter der Abteilung I noch<br />
Lebensmittel für 50 für die eigenen Arbeiter der Abteilung II mehr als bisher verwendet werden. <strong>Die</strong><br />
zweite Abteilung beginnt also die erweiterte Reproduktion mit folgenden Verhältnissen: 1.600 c + 800 v.<br />
Jetzt ist das Gesamtprodukt der Abteilung I (6.000) in der Zirkulation glatt draufgegangen: 5.500 waren<br />
nötig zur bloßen Erneuerung der alten verbrauchten Produktionsmittel in beiden Abteilungen, 400<br />
wurden zur Erweiterung der Produktion der Abteilung I, 100 zum gleichen Zweck in der Abteilung II<br />
gebraucht. Was das Gesamtprodukt der Abteilung II (3.000) betrifft, so sind davon 1.900 für den<br />
gewachsenen Stab der Arbeitskräfte in beiden Abteilungen verwendet. <strong>Die</strong> übrigen 1.100 an<br />
Lebensmitteln dienen dem persönlichen Konsum der Kapitalisten, dem Verzehr ihres Mehrwertes, und<br />
zwar: 500 in der Abteilung I, 600 für die Kapitalisten der Abteilung II, die ja von ihrem Mehrwert 750<br />
nur 150 kapitalisiert haben (100 für Produktionsmittel und 50 für Arbeiterlöhne).<br />
Jetzt kann die erweiterte Reproduktion vonstatten gehen. Behalten wir den Ausbeutungsgrad = 100<br />
Prozent, wie beim Originalkapital, dann wird sich in der nächsten Periode ergeben:<br />
I. 4.400 c + 1.100 v + 1.100 m = 6.600<br />
} Summa 9.800<br />
II. 1.600 c + 800 v + 800 m = 3.200<br />
Das Gesamtprodukt der Gesellschaft ist gewachsen von 9.000 auf 9.800, der Mehrwert in der ersten<br />
Abteilung von 1.000 auf 1.100, in der zweiten Abteilung von 750 auf 800, der Zweck der kapitalistischen<br />
Erweiterung der Produktion: die gesteigerte Mehrwerterzeugung, ist erreicht. Zugleich ergibt die<br />
sachliche Zusammensetzung <strong>des</strong> gesellschaftlichen Gesamtpro- dukts wieder einen Überschuß der<br />
Produktionsmittel (6.600) über die tatsächlich verbrauchten (4.400 + 1.600) um 600 sowie ein Defizit der<br />
Lebensmittel (3.200) im Vergleich mit den bisher gezahlten Löhnen (1.100 v + 800 v) und erzieltem<br />
Mehrwert (1.100 m + 800 m). Damit ist bereits wieder eine sachliche Grundlage wie eine Notwendigkeit<br />
gegeben, einen Teil <strong>des</strong> Mehrwerts nicht zur Konsumtion der Kapitalistenklasse, sondern zur erneuten<br />
Erweiterung der Produktion zu verwenden.<br />
<strong>Die</strong> zweite Erweiterung der Produktion und gesteigerte Mehrwerterzeugung ergibt sich so von selbst mit<br />
ihren mathematisch exakten Verhältnissen aus der ersten. <strong>Die</strong> einmal begonnene <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong><br />
<strong>Kapitals</strong> fuhrt mechanisch immer weiter über sich selbst hinaus. Der Kreis hat sich in eine Spirale<br />
verwandelt, die sich immer höher windet wie unter dem Zwang eines mathematisch meßbaren<br />
Naturgesetzes. Nehmen wir in folgenden Jahren immer dieselbe Kapitalisierung <strong>des</strong> halben Mehrwertes<br />
bei der Abteilung I an, wobei wir die Zusammensetzung <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong> und den Ausbeutungsgrad<br />
beibehalten, so ergibt sich die folgende Progression in der Reproduktion <strong>des</strong> Gesamtkapitals:<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 6. Kapitel<br />
Zweites Jahr<br />
Drittes Jahr<br />
Viertes Jahr<br />
Fünftes Jahr<br />
I. 4.840 c + 1.210 v + 1.210 m = 7.260<br />
} Summa 10.780<br />
II. 1.760 c + 880 v + 880 m = 3.520<br />
I. 5.324c + 1.331 v + 1.331 m = 7.986<br />
} Summa 11.858<br />
II. 1.936 c + 968 v + 968 m = 3.872<br />
I. 5.856 c + 1.464 v + 1.464 m = 8.784<br />
} Summa 13.033<br />
II. 2.129 c + 1.065 v + 1.065 m = 4.249<br />
I. 6.442 c + 1.610 v + 1.610 m = 9.662<br />
} Summa 14.348<br />
II. 2.342 c + 1.172 v + 1.172 m = 4.686<br />
So wäre nach fünf Jahren der <strong>Akkumulation</strong> das gesellschaftliche Gesamtprodukt von 9.000 auf 14.348<br />
gewachsen, das gesellschaftliche Gesamtkapital von 5.400 c + 1.750 v = 7.150 auf 8.784 c + 2.782 v =<br />
11.566 und der Mehrwert von 1.000 m + 500 m = 1.500 auf 1.464 m + 1.065 m = 2.529, wobei der<br />
persönlich verzehrte Mehrwert von 1.500 vor Beginn der <strong>Akkumulation</strong> auf 732 + 958 (im letzten Jahre)<br />
= 1.690 gestiegen ist.(6) <strong>Die</strong> Kapitalistenklasse hat also mehr kapitalisiert, mehr "Enthaltsamkeit"<br />
geübt und doch zugleich flotter leben können. <strong>Die</strong> Gesellschaft ist reicher geworden, in sachlicher<br />
Beziehung reicher an Produktionsmitteln, reicher an Lebensmitteln, und zugleich in kapitalistischem<br />
Sinne: Sie produziert immer größeren Mehrwert. Das Gesamtprodukt geht in der gesellschaftlichen<br />
Zirkulation glatt auf, es dient teils zur Erweiterung der Reproduktion, teils zu Konsumtionszwecken. <strong>Die</strong><br />
<strong>Akkumulation</strong>sbedürfnisse der Kapitalisten decken sich zugleich mit der sachlichen Zusammensetzung<br />
<strong>des</strong> gesellschaftlichen Gesamtprodukts; es ist, wie Marx im ersten Band <strong>des</strong> "<strong>Kapitals</strong>" gesagt hat: Der<br />
gewachsene Mehrwert kann eben <strong>des</strong>halb zum Kapital geschlagen werden, weil das gesellschaftliche<br />
Mehrprodukt von vornherein in der sachlichen Gestalt von Produktionsmitteln zur Welt kommt, in einer<br />
Gestalt, die eben keinen anderen Gebrauch zuläßt als die Verwendung im Produktionsprozeß. Zugleich<br />
vollzieht sich die Erweiterung der Reproduktion unter strenger <strong>Ein</strong>haltung der Zirkulationsgesetze: <strong>Die</strong><br />
gegenseitige Versorgung der beiden Abteilungen der Produktion mit zuschüssigen Produktionsmitteln<br />
und Lebensmitteln vollzieht sich als Austausch von Äquivalenten, als Warenaustausch, wobei die<br />
<strong>Akkumulation</strong> in der einen Abteilung gerade die <strong>Akkumulation</strong> der anderen ermöglicht und bedingt. Das<br />
komplizierte Problem der <strong>Akkumulation</strong> ist so in eine schematische Progression von erstaunlicher<br />
<strong>Ein</strong>fachheit verwandelt. Man kann die oben begonnene Kette von Gleichungen ins unendliche fortführen.<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 6. Kapitel<br />
Man braucht nur die folgenden einfachen Regeln zu beobachten: Der Vergrößerung <strong>des</strong> konstanten<br />
<strong>Kapitals</strong> in der ersten Abteilung muß stets eine bestimmte Vergrößerung ihres variablen <strong>Kapitals</strong><br />
entsprechen, mit dieser letzteren ist aber von vornherein gegeben, wie stark die Vergrößerung <strong>des</strong><br />
konstanten <strong>Kapitals</strong> in der zweiten Abteilung sein kann; dieser wiederum muß eine entsprechende<br />
Vergrößerung <strong>des</strong> variablen <strong>Kapitals</strong> beigesetzt werden. Endlich mit der Größe <strong>des</strong> gewachsenen<br />
variablen <strong>Kapitals</strong> in beiden Abteilungen ist stets gegeben, wieviel von der Gesamtsumme der<br />
Lebensmittel für die persönliche Konsumtion der Kapitalistenklasse übrigbleibt. Es wird sich auch<br />
finden, daß diese für den Privatverzehr der Kapitalisten verbleibende Menge an Lebensmitteln sich an<br />
Wert mit dem nichtkapitalisierten Teil <strong>des</strong> Mehrwerts in beiden Abteilungen aufs genaueste deckt.<br />
<strong>Die</strong> Fortsetzung der schematisch en Entwicklung der <strong>Akkumulation</strong> unter den angegebenen leichten paar<br />
Regeln findet, wie gesagt, keine Schranken. Hier ist es aber an der Zeit aufzupassen, ob wir nicht<br />
<strong>des</strong>halb zu so erstaunlich glatten Resultaten gelangen, weil wir immer bloß gewisse mathematische<br />
Übungen mit Addition und Subtraktion machen, die keine Überraschungen bieten können, und ob die<br />
<strong>Akkumulation</strong> nicht <strong>des</strong>halb so ins unendliche störungslos verläuft, weil das Papier sich geduldig mit<br />
mathematischen Gleichungen beschreiben läßt. Mit anderen Worten, es ist an der Zeit, sich nach den<br />
konkreten gesellschaftlichen Bedingungen der <strong>Akkumulation</strong> umzusehen.<br />
Fußnoten von <strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong><br />
(1) "<strong>Die</strong> Voraussetzung der einfachen Reproduktion, daß I (v + m) = II c sei, ist nicht nur unverträglich<br />
mit der kapitalistischen Produktion, was übrigens nicht ausschließt, daß im industriellen Zyklus von 10-<br />
11 Jahren ein Jahr oft geringer Gesamtreproduktion hat als das vorhergehende, also nicht einmal einfache<br />
Reproduktion stattfindet im Verhältnis zum vorhergehenden Jahr. Sondern auch bei dem natürlichen<br />
jährlichen Wachstum der Bevölkerung könnte einfache Reproduktion nur insofern stattfinden, als von<br />
den 1.500, die den Gesamtmehrwert repräsentieren, eine entsprechend größre Zahl unproduktiver<br />
<strong>Die</strong>nstleute mitzehrten. <strong>Akkumulation</strong> von Kapital, also wirkliche kapitalistische Produktion wäre<br />
dagegen hierbei unmöglich." (Das Kapital, Bd. II, S. 497.) [Karl Marx: Das Kapital. Zweiter Band. In<br />
Karl Marx/Friedrich Engel: Werke, Bd. 24, S. 515.]
<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 6. Kapitel<br />
Gesamtkapitals, sondern durch den seines variablen Bestandteils bestimmt ist, fällt sie also progressiv<br />
mir dem Wachstum <strong>des</strong> Gesamtkapitals, statt, wie vorhin unterstellt, verhältnismäßig mit ihm zu<br />
wachsen. Sie fällt relativ zur Größe <strong>des</strong> Gesamtkapitals und in beschleunigter Progression mit dem<br />
Wachstum dieser Größe. Mit dem Wachstum <strong>des</strong> Gesamtkapitals wächst zwar auch sein variabler<br />
Bestandteil oder die ihm einverleibte Arbeitskraft, aber in beständig abnehmender Proportion. <strong>Die</strong><br />
Zwischenpausen, worin die <strong>Akkumulation</strong> als bloße Erweiterung der Produktion auf gegebner<br />
technischer Grundlage wirkt, verkürzen sich. Nicht nur wird eine in wachsender Progression<br />
beschleunigte <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> Gesamtkapitals erheischt, um eine zusätzliche Arbeiterzahl von<br />
gegebner Größe zu absorbieren oder selbst, wegen der beständigen Metamorphose <strong>des</strong> alten <strong>Kapitals</strong>, die<br />
bereits funktionierende zu beschäftigen. Ihrerseits schlägt diese wachsende <strong>Akkumulation</strong> und<br />
Zentralisation selbst wieder in eine Quelle neuer Wechsel der Zusammensetzung <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong> oder<br />
abermalig beschleunigter Abnahme seines variablen Bestandteils, verglichen mit dem konstanten." (Das<br />
Kapital, Bd. I, S. 593.) [Karl Marx: Das Kapital, Erster Band. In: Karl Marx/Friedrich Engels: Werke,<br />
Bd. 23. S. 657/658.]
<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 7. Kapitel<br />
6. Kapitel | Inhalt | 8. Kapitel<br />
<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - Gesammelte Werke. Herausgegeben vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Band<br />
5. <strong>Berlin</strong>/DDR. 1975. "<strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>", S. 91-107.<br />
1. Korrektur.<br />
Erstellt am 20.10.1998<br />
Siebentes Kapitel<br />
Analyse <strong>des</strong> Marxschen Schemas der erweiterten<br />
Reproduktion<br />
<strong>Die</strong> erste Erweiterung der Produktion sah folgendermaßen aus:<br />
I. 4.400 c + 1.100 v + 1.100 m = 6.600<br />
} Summa 9.800<br />
II. 1.600 c + 800 v + 800 m = 3.200<br />
Hier kommt schon die gegenseitige Abhängigkeit der <strong>Akkumulation</strong> in beiden Abteilungen deutlich zum<br />
Ausdruck. Aber diese Abhängigkeit ist eigentümlicher Natur. <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> geht hier von der<br />
Abteilung I aus, die Abteilung II folgt nur der Bewegung, und zwar wird der Umfang der <strong>Akkumulation</strong><br />
lediglich von der Abteilung I bestimmt. Marx bringt hier die <strong>Akkumulation</strong> fertig, indem er in I den<br />
halben Mehrwert kapitalisieren läßt, in II aber gerade nur soviel wie nötig ist, um die Produktion und<br />
<strong>Akkumulation</strong> I zu sichern. Dabei läßt er die Kapitalisten der Abteilung II 600 m verzehren, während die<br />
Kapitalisten der I. Abteilung, die sich einen doppelt so großen Wert und viel größeren Mehrwert<br />
aneignen. nur 500 m verzehren. Im folgenden Jahr läßt er die Kapitalisten I wieder die Hälfte ihres<br />
Mehrwerts kapitalisieren und diesmal "zwingt" er die Kapitalisten II, mehr als im Vorjahre und<br />
willkürlich soviel zu kapitalisieren, wie I braucht, wobei für die Konsumtion der Kapitalisten II diesmal<br />
560 m bleiben - weniger als im Vorjahre, was jedenfalls ein ziemlich seltsames Ergebnis der<br />
<strong>Akkumulation</strong> ist. Marx schildert den Vorgang folgendermaßen:<br />
"Es werde nun sub I derselben Proportion fortakkumuliert: also 550 m als Revenue verausgabt, 550 m<br />
akkumuliert. Zunächst werden dann 1.100 I v ersetzt durch 1.100 II c, ferner sind noch 550 I m zu<br />
realisieren in einem gleichen Betrag von Waren II: also zusammen 1.650 I (v + m). Aber das zu<br />
ersetzende konstante Kapital von II ist nur = 1.600, die übrigen 50 müssen also (!) ergänzt werden aus<br />
800 II m. Wenn wir hier zunächst vom Geld absehn, so haben wir als Resultat dieser Transaktion:<br />
I. 4.400 c + 550 m (welche zu kapitalisieren sind); daneben in Konsumtionsfonds der Kapitalisten und<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 7. Kapitel<br />
Arbeiter 1.650 (v + m), realisiert in Waren II c.<br />
II. 1.650 c (nämlich 50 zugefügt nach Obigem aus II m) + 800 v + 750 m (Konsumtionsfonds der<br />
Kapitalisten).<br />
Wenn aber das alte Verhältnis v zu c in II bleibt, so müssen für 50 c weitre 25 v ausgelegt werden; diese<br />
sind zu nehmen von den 750 in; wir erhalten also:<br />
II. 1.650 c + 825 v + 725 m.<br />
Sub I ist zu kapitalisieren 550 in; wenn das frühere Verhältnis bleibt, so bilden davon 440 konstantes<br />
Kapital und 110 variables Kapital. <strong>Die</strong>se 110 sind eventuell (!) zu schöpfen aus 725 II in, d.h.<br />
Konsumtionsmittel zum Wert von 110 werden von den Arbeitern I verzehrt statt von Kapitalisten II,<br />
diese letztren also gezwungen (!), diese 110 in, die sie nicht verzehren können, zu kapitalisieren. <strong>Die</strong>s<br />
läßt von den 725 II m übrig 615 II m. Wenn aber so II diese 110 in zusätzliches konstantes Kapital<br />
verwandelt, so braucht es ein ferneres zusätzliches variables Kapital von 55, dies muß wieder von seinem<br />
Mehrwert gestellt werden; abgezogen von 615 II m läßt es übrig 560 für Konsumtion der Kapitalisten II,<br />
und wir erhalten nun, nach Vollziehung aller aktuellen und potentiellen Übertragungen, an Kapitalwert:<br />
I. (4.400 c + 440 c) + (1.100 v + 110 v) = 4.840 c + 1.210 v = 6050<br />
II. (1.600 c + 50 c + 110 c) + (800 v + 25 v + 55 v) = 1.760 c + 880 v = 2.640<br />
8.690." (1)<br />
Wir haben das ausführliche Zitat gebracht, weil es drastisch zeigt, wie Marx hier die <strong>Akkumulation</strong> in I<br />
auf Kosten der Abteilung II durchsetzt. Ebenso unsanft verfährt er mit den Kapitalisten der<br />
Lebensmittelabteilung in den folgenden Jahren. Im dritten Jahr läßt er sie nach derselben Regel 264 m<br />
akkumulieren und 616 verzehren, diesmal mehr als in den beiden vorhergehenden Jahren. Im vierten Jahr<br />
läßt er sie 290 m kapitalisieren und 678 verzehren, im fünften akkumulieren sie 320 m und verzehren 745<br />
m. Dabei sagt Marx gar: "Soll die Sache normal abgehn, so muß die <strong>Akkumulation</strong> in II sich rascher<br />
vollziehn als in I, weil der Teil von I (v + m), der in Waren II c umzusetzen ist, sonst rascher<br />
wächst als II c, gegen das allein er sich umsetzen kann."(2) <strong>Die</strong> angeführten Zahlen zeigen aber nicht<br />
bloß keine raschere, sondern eher eine schwankende <strong>Akkumulation</strong> in der II. Abteilung, wobei als Regel<br />
folgen<strong>des</strong> dient: Marx führt die <strong>Akkumulation</strong> immer weiter, indem er die Abteilung I auf breiterer Basis<br />
produzieren läßt; die <strong>Akkumulation</strong> in der II. Abteilung erscheint nur als Folge und Bedingung der<br />
anderen: erstens, um die überschüssigen Produktionsmittel aufzunehmen, zweitens, um das erforderliche<br />
Mehr an Konsummitteln für die zuschüssigen Arbeitskräfte zu liefern. <strong>Die</strong> Initiative der Bewegung liegt<br />
die ganze Zeit über auf seiten der I. Abteilung, die II. ist passives Anhängsel. So dürfen je<strong>des</strong>mal die<br />
Kapitalisten II nur soviel akkumulieren und müssen soviel verzehren, wie es für die <strong>Akkumulation</strong> in I<br />
erforderlich ist. Während die Abteilung I je<strong>des</strong>mal den halben Mehrwert kapitalisiert und den halben<br />
verzehrt, was sowohl eine regelmäßige Erweiterung der Produktion wie der persönlichen Konsumtion der<br />
Kapitalistenklasse ergibt, geht die Doppelbewegung in der Abteilung II in folgender sprunghafter Weise<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 7. Kapitel<br />
vor sich.<br />
Im 4. Jahr wird kapitalisiert 150, verzehrt 600<br />
Im 2. Jahr wird kapitalisiert 240, verzehrt 560<br />
Im 3. Jahr wird kapitalisiert 254, verzehrt 626<br />
Im 4. Jahr wird kapitalisiert 290, verzehrt 678<br />
Im 5. Jahr wird kapitalisiert 320, verzehrt 745<br />
Es besteht gar keine ersichtliche Regel in dieser <strong>Akkumulation</strong> und Konsumtion, beide dienen bloß den<br />
Bedürfnissen der <strong>Akkumulation</strong> in I. Daß die absoluten Zahlen <strong>des</strong> Schemas in jeder Gleichung<br />
willkürlich sind, versteht sich von selbst und verringert nicht ihren wissenschaftlichen Wert. Worauf es<br />
ankommt, sind die Größenverhältnisse, die exakte Beziehungen ausdrücken sollen. <strong>Die</strong> von klarer<br />
Gesetzmäßigkeit diktierten <strong>Akkumulation</strong>sverhältnisse in Abteilung I scheinen nun aber durch eine völlig<br />
willkürliche Konstruktion der Verhältnisse in Abteilung II erkauft zu sein, und dieser Umstand ist<br />
geeignet, zur Nachprüfung der inneren Zusammenhänge der Analyse zu veranlassen.<br />
Man könnte jedoch annehmen, daß hier nur ein nicht besonders glücklich gewähltes Beispiel vorliegt.<br />
Marx selbst begnügt sich mit dem angeführten Schema nicht, sondern gibt gleich darauf ein zweites<br />
Beispiel zur Erläuterung der <strong>Akkumulation</strong>sbewegung. Nun sind die Zahlen der Gleichung<br />
folgendermaßen geordnet:<br />
I. 5.000 c + 1.000 v + 1.000 m = 7.000<br />
} = 9.000.(3)<br />
II. 1.430 c + 285 v + 285 m = 2.000<br />
Hier sehen wir, daß im Unterschied von dem früheren Beispiel in beiden Abteilungen die gleiche<br />
Zusammensetzung <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong> besteht, nämlich das Verhältnis von konstant zu variabel gleich 5:1. Es<br />
setzt dies voraus: schon bedeutende Entwickelung der kapitalistischen Produktion und dementsprechend<br />
der Produktivkraft der gesellschaftlichen Arbeit; bedeutende, schon vorhergegangene Erweiterung der<br />
Produktionsleiter; endlich Entwickelung aller der Umstände, die eine relative Übervölkerung in der<br />
Arbeiterklasse produzieren. Wir machen also nicht mehr wie im ersten Beispiel den anfänglichen ersten<br />
Übergang von der einfachen zur erweiterten Reproduktion, der ja auch nur einen abstrakten,<br />
theoretischen Wert hat, sondern fassen die <strong>Akkumulation</strong>sbewegung mitten im Fluß, auf einer bereits<br />
hohen Entwickelungsstufe. An sich sind diese Annahmen völlig zulässig und ändern auch nichts an den<br />
Regeln, die uns bei der Entwickelung der einzelnen Windungen der Reproduktionsspirale leiten müssen.<br />
Auch hier wieder nimmt Marx zum Ausgangspunkt die Kapitalisierung <strong>des</strong> halben Mehrwerts der<br />
Abteilung I:<br />
"Gesetzt jetzt, die Kapitalistenklasse I konsumiere den halben Mehrwert = 500 und akkumuliere die<br />
andre Hälfte. Dann wären (1.000 v + 500 m) I = 1.500 umzusetzen in 1.500 II c. Da hier II c nur = 1.430,<br />
so ist vom Mehrwert 70 zuzusetzen; dies von 285 II in abgezogen, läßt 215 II m. Wir erhalten also:<br />
I. 5.000 c + 500 m (zu kapitalisieren) + 1.500 (v + m) in Konsumtionsfonds der Kapitalisten und<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 7. Kapitel<br />
Arbeiter.<br />
II. 1.430 c + 70 m (zu kapitalisieren) + 285 v + 215 m.<br />
Da hier 70 II m direkt annexiert werden an II c, so ist erheischt, um dies zuschüssige konstante Kapital in<br />
Bewegung zu setzen, ein variables Kapital von 70/5 = 14; diese 14 gehn also weiter ab von 215 II m;<br />
bleibt 201 II m, und wir haben<br />
II. (1.430 c + 70 c) + (285 v + 14 v) + 201 m."<br />
Nach diesen ersten Anordnungen kann die Kapitalisierung vonstatten gehen. Sie vollzieht sich<br />
folgendermaßen:<br />
In I teilen sich die 500 m, die kapitalisiert werden, in 5/6 = 417 c + 1/6 = 83 v. <strong>Die</strong> 83 v entziehen<br />
einen gleichen Betrag von II m, der Elemente <strong>des</strong> konstanten <strong>Kapitals</strong> kauft, also zu II c geschlagen wird.<br />
<strong>Ein</strong>e Vermehrung von II c um 83 bedingt eine Vermehrung von II v um 1/5 von 83 = 17. Wir haben also<br />
nach dem Umsatz:<br />
I. (5.000 c + 417 m) + ( 1.000 v + 83 m) v = 5.417 c + 1.083 v = 6.500<br />
II. (1.500 c + 83 m) + ( 299 v + 17 m) v = 1.583 c + 316 v = 1.899<br />
Summa 8.399.<br />
Das Kapital in I ist gewachsen von 6.000 auf 6.500, also um 1/12, in II von 1.715 auf 1.899, also um nicht<br />
ganz 1/9.<br />
<strong>Die</strong> Reproduktion auf dieser Grundlage im nächsten Jahr ergibt am Jahresschluß:<br />
I. 5.417 c + 1.083 v + 1.083 m = 7.583<br />
} Summa 9.798<br />
II. 1.583 c + 316 v + 316 m = 2.215<br />
Wenn in derselben Proportion weiter akkumuliert wird, so erhalten wir am Schluß <strong>des</strong> zweiten Jahres:<br />
I. 5.869 c + 1.173 v + 1.173 m = 8.215<br />
} Summa 10.614<br />
II. 1.715 c + 342 v + 342 m = 2.399<br />
Und am Schluß <strong>des</strong> dritten Jahres:<br />
I. 6.358 c + 1.271 v + 1.271 m = 8.900<br />
} Summa 11.500<br />
II. 1.858 c + 371 v + 371 m = 2.600<br />
file:///C|/DOKUME~1/peter1/LOKALE~1/Temp/Rar$DR64.312/lu/lu05/lu05_091.htm (4 of 14) [19.07.2004 21:08:08]
<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 7. Kapitel<br />
In drei Jahren hat sich das gesellschaftliche Gesamtkapital von 6.000 I + 1.715 II = 7.715 auf 7.629 I +<br />
2.229 II = 9.858, das Gesamtprodukt von 9.000 auf 11.500 vermehrt.<br />
Hier ging die <strong>Akkumulation</strong>, im Unterschied vom ersten Beispiel, gleichmäßig in beiden Abteilungen vor<br />
sich, in I wie in II wurde vom zweiten Jahr ab die Hälfte <strong>des</strong> Mehrwerts kapitalisiert und die Hälfte<br />
verzehrt. Das Willkürliche <strong>des</strong> ersten Beispiels scheint also nur an schlecht gewählten Zahlenreihen zu<br />
liegen. Doch haben wir nachzuprüfen, ob diesmal der glatte Fortgang der <strong>Akkumulation</strong> etwas mehr als<br />
mathematische Operationen mit geschickt gewählten Zahlen darstellt.<br />
Was als allgemeine Regel der <strong>Akkumulation</strong> gleichmäßig im ersten wie im zweiten Beispiel in die Augen<br />
springt, ist immer wieder folgen<strong>des</strong>: Damit die <strong>Akkumulation</strong> überhaupt vonstatten gehen kann, muß die<br />
II. Abteilung je<strong>des</strong>mal soviel an Erweiterung <strong>des</strong> konstanten <strong>Kapitals</strong> vornehmen, wie die<br />
Abteilung I erstens an Vergrößerung <strong>des</strong> konsumierten Teils <strong>des</strong> Mehrwerts, zweitens an Vergrößerung<br />
<strong>des</strong> variablen <strong>Kapitals</strong> vornimmt. Am Beispiel <strong>des</strong> ersten Jahres illustriert, muß nämlich erst ein Zuschuß<br />
zum konstanten Kapital in II um 70 stattfinden. Weshalb? Weil dieses Kapital bisher 1.430 darstellt.<br />
Wollen aber die Kapitalisten I die Hälfte ihres Mehrwerts (1.000) akkumulieren und die Hälfte verzehren,<br />
so brauchen sie nun Lebensmittel für sich wie für ihre Arbeiter im Betrage von 1.500. <strong>Die</strong>se können sie<br />
von der Abteilung II nur im Austausch gegen das eigene Produkt - die Produktionsmittel - kriegen. Da<br />
aber die Abteilung II ihren eigenen Bedarf an Produktionsmitteln nur im Betrage <strong>des</strong> eigenen konstanten<br />
<strong>Kapitals</strong> (1.430) deckte, so kann der Austausch nur in dem Falle zustande kommen, wenn die Abteilung<br />
II sich entschließt, ihr konstantes Kapital um 70 zu vergrößern, d.h. die eigene Produktion zu erweitern.<br />
was ja nicht anders bewerkstelligt werden kann als durch Kapitalisierung eines entsprechenden Teils <strong>des</strong><br />
Mehrwerts. Beträgt dieser in der Abteilung II 285 in, so müssen davon 70 zum konstanten Kapital<br />
geschlagen werden. Hier wird der erste Schritt in der Erweiterung der Produktion bei II als Bedingung<br />
und Folge einer Erweiterung der Konsumtion der Kapitalisten I bestimmt. Gehen wir weiter. Bis jetzt ist<br />
die Kapitalistenklasse I erst befähigt, die Hälfte ihres Mehrwerts (500) in persönlichem Konsum zu<br />
verzehren. Um die andere Hälfte kapitalisieren zu können, muß sie den Betrag von 500 min<strong>des</strong>tens<br />
entsprechend der bisherigen Zusammensetzung verteilen, also 417 zu konstantem, 83 zu variablem<br />
Kapital schlagen. <strong>Die</strong> erstere Operation bietet keine Schwierigkeiten. <strong>Die</strong> Kapitalisten I besitzen in ihrem<br />
eigenen Produkt einen Überschuß von 500, der in Produktionsmitteln besteht, <strong>des</strong>sen Naturalgestalt also<br />
ihn befähigt, direkt in den Produktionsprozeß aufgenommen zu werden; so bildet sich eine Erweiterung<br />
<strong>des</strong> konstanten <strong>Kapitals</strong> der Abteilung I aus dem entsprechenden Betrag <strong>des</strong> eigenen Produkts dieser<br />
Abteilung. Um aber die entsprechenden 85 als variables Kapital auch betätigen zu können, sind im<br />
gleichen Betrage Lebensmittel für die neuanzustellenden Arbeiter nötig, Hier kommt zum zweitenmal die<br />
Abhängigkeit der <strong>Akkumulation</strong> in I von der Abteilung II zum Vorschein: I muß von II um 83 mehr<br />
Lebensmittel als bisher für ihre Arbeiter entnehmen. Da dies wiederum nur auf dem Wege <strong>des</strong><br />
Warenaustausches geschieht, so kann dieses Bedürfnis der Abteilung I nur unter der Bedingung<br />
befriedigt werden. daß die Abteilung II ihrerseits sich bereit erklärt, Produkte von I, d.h.<br />
Produktionsmittel, für 83 anzunehmen. Da sie mit Produktionsmitteln nichts anderes anfangen kann, als<br />
sie im Produktionsprozeß zu verwenden, so ergibt sich für die Abteilung II die Möglichkeit und<br />
zugleich Notwendigkeit, ihr konstantes Kapital wiederum zu erweitern, und zwar um 83, wodurch vom<br />
Mehrwert dieser Abteilung wiederum 83 dem persönlichen Konsum entzogen und zur Kapitalisierung<br />
verwendet werden. Der zweite Schritt in der Erweiterung der Produktion von II ist bedingt durch die<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 7. Kapitel<br />
Erweiterung <strong>des</strong> variablen <strong>Kapitals</strong> bei I. Jetzt sind bei I alle sachlichen Bedingungen der <strong>Akkumulation</strong><br />
vorhanden, und die erweiterte Reproduktion kann vonstatten gehen. Bei II hingegen hat vorerst nur eine<br />
zweimalige Erweiterung <strong>des</strong> konstanten <strong>Kapitals</strong> stattgefunden. Aus ihr ergibt sich, daß, wenn die<br />
neuerworbenen Produktionsmittel auch wirklich benutzt werden sollen, eine entsprechende Vergrößerung<br />
der Zahl der Arbeitskräfte erforderlich ist. Unter Beibehaltung <strong>des</strong> bisherigen Verhältnisses ist für das<br />
neue konstante Kapital von 153 ein neues variables von 31 notwendig. Damit ist gesagt, daß ein<br />
ebensolcher Betrag wiederum vom Mehrwert kapitalisiert werden muß. Der persönliche<br />
Konsumtionsfonds der Kapitalisten II ergibt sich alsdann als der Restbetrag <strong>des</strong> Mehrworts (285 m) nach<br />
Abzug der zweimaligen Vergrößerung <strong>des</strong> konstanten <strong>Kapitals</strong> (70 + 83) und der entsprechenden<br />
Vergrößerung <strong>des</strong> variablen (31), insgesamt 184, in der Höhe von 101. Nach ähnlichen Manipulationen<br />
ergibt sich im zweiten Jahr der <strong>Akkumulation</strong> bei der Abteilung II eine Verteilung <strong>des</strong> Mehrwerts in 158<br />
zur Kapitalisierung und 158 für den Konsum der Kapitalisten, im dritten Jahr 172 und 170.<br />
Wir haben den Vorgang <strong>des</strong>halb so genau betrachtet und Schritt für Schritt verfolgt, weil dabei mit<br />
Deutlichkeit hervorgeht, daß die <strong>Akkumulation</strong> in der Abteilung II vollkommen abhängig und beherrscht<br />
ist von der <strong>Akkumulation</strong> in I. Zwar kommt diese Abhängigkeit nicht mehr in den willkürlichen<br />
Verschiebungen bei der <strong>Ein</strong>teilung <strong>des</strong> Mehrwerts in II zum Ausdruck, wie das beim ersten Beispiel <strong>des</strong><br />
Marxschen Schemas der Fall war, aber die Tatsache selbst bleibt bestehen, auch wenn der Mehrwert sich<br />
jetzt in beiden Abteilungen jeweilig hübsch in zwei Hälften - für Kapitalisierungszwecke und für<br />
persönliche Konsumtion - aufteilt. Trotz dieser ziffernmäßigen Gleichstellung der Kapitalistenklasse in<br />
beiden Abteilungen ist es klar ersichtlich, daß die ganze <strong>Akkumulation</strong>sbewegung von I eingeleitet und<br />
aktiv betätigt, von II passiv mitgemacht wird. <strong>Die</strong>se Abhängigkeit findet auch den Ausdruck in der<br />
folgenden exakten Regel: <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> kann nur in beiden Abteilungen zugleich, und zwar nur<br />
unter der Bedingung stattfinden, daß die Abteilung der Lebensmittel jeweilig genau um soviel ihr<br />
konstantes Kapital erweitert, wie die Kapitalisten der Produktionsmittelabteilung ihr variables Kapital<br />
und ihren per- sönlichen Konsumtionsfonds erweitern. <strong>Die</strong>se Proportion (Zuwachs II c = Zuwachs I<br />
v + Zuwachs I mk) ist die mathematische Grundlage <strong>des</strong> <strong>Akkumulation</strong>sschemas von Marx, in welchen<br />
Zahlenproportionen wir es auch exemplifizieren mögen.<br />
Wir haben nun nachzuprüfen, ob diese strenge Regel der kapitalistischen <strong>Akkumulation</strong> den tatsächlichen<br />
Verhältnissen entspricht.<br />
Kehren wir zunächst zur einfachen Reproduktion zurück. Das Marxsche Schema lautete, wie erinnerlich:<br />
I. 4.000 c + 1.000 v + 1.000 m = 6.000 Produktionsmittel.<br />
II. 2.000 c + 500 v + 500 m = 3.000 Konsummittel.<br />
Summa 9.000 Gesamtproduktion.<br />
Auch hier haben wir bestimmte Proportionen festgestellt, auf denen die einfache Reproduktion beruht.<br />
<strong>Die</strong>se Proportionen waren:<br />
1. Das Produkt der Abteilung I gleicht (an Wert) der Summe der beiden konstanten Kapitale in I und II.<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 7. Kapitel<br />
2. Was sich selbst aus 1 ergibt: Das konstante Kapital der Abteilung II gleicht der Summe <strong>des</strong> variablen<br />
<strong>Kapitals</strong> und <strong>des</strong> Mehrwerts in der Abteilung I.<br />
3. Was schon aus 1 und 2 folgt: Das Produkt der Abteilung II gleicht der Summe der variablen Kapitale<br />
und der Mehrwerte in beiden Abteilungen.<br />
<strong>Die</strong>se Verhältnisse <strong>des</strong> Schemas entsprechen den Bedingungen der kapitalistischen Warenproduktion<br />
(reduziert allerdings auf die einfache Reproduktion). So z.B. ist die Proportion 2 bedingt durch die<br />
Warenproduktion, d.h. durch den Umstand, daß die Unternehmer jeder Abteilung die Produkte der<br />
anderen Abteilung nur im Austausch gegen Äquivalente bekommen können. Das variable Kapital und der<br />
Mehrwert der Abteilung I drücken zusammen den Bedarf dieser Abteilung an Lebensmitteln aus. <strong>Die</strong>se<br />
müssen aus dem Produkt der Abteilung II gedeckt werden, doch sind sie nur im Austausch gegen die<br />
gleiche Wertmenge <strong>des</strong> Produkts I, d.h. Produktionsmittel, erhältlich. Da die Abteilung II mit diesem<br />
Äquivalent seiner Naturalgestalt wegen nichts anderes anfangen kann, als es im Produktionsprozeß als<br />
konstantes Kapital zu verwenden, so ist damit die Größe <strong>des</strong> konstanten <strong>Kapitals</strong> der Abteilung II<br />
gegeben. Wäre hier eine Disproportion vorhanden, wäre z.B. das konstante Kapital in II (als Wertgröße)<br />
größer als (v + m) I, so könnte es nicht ganz in Produktionsmittel verwandelt werden, denn die Abteilung<br />
I hätte einen zu geringen Bedarf nach Lebensmitteln. Wäre das konstante Kapital II kleiner als (v +<br />
m) I, dann könnten die Arbeitskräfte dieser Abteilung nicht im früheren Umfang beschäftigt werden oder<br />
die Kapitalisten nicht ihren ganzen Mehrwert verzehren. In allen Fällen waren die Voraussetzungen der<br />
einfachen Reproduktion verletzt.<br />
<strong>Die</strong>se Proportionen sind jedoch nicht bloße mathematische Übungen und auch nicht bloß durch die<br />
Warenform der Produktion bedingt. Um uns davon zu überzeugen, haben wir ein einfaches Mittel. Stellen<br />
wir uns für einen Augenblick statt der kapitalistischen die sozialistische Produktionsweise, also eine<br />
planmäßig geregelte Wirtschaft vor, in der gesellschaftliche Arbeitsteilung an Stelle <strong>des</strong> Austausches<br />
getreten ist. In dieser Gesellschaft gäbe es gleichfalls eine <strong>Ein</strong>teilung der Arbeit in Produktion von<br />
Produktionsmitteln und in Produktion von Lebensmitteln. Stellen wir uns ferner vor, daß die technische<br />
Höhe der Arbeit es bedingt, daß zwei Drittel gesellschaftlicher Arbeit auf Herstellung von<br />
Produktionsmitteln, ein Drittel auf Verstellung von Lebensmitteln verwendet werden. Nehmen wir an,<br />
daß unter diesen Bedingungen zur Erhaltung <strong>des</strong> ganzen arbeitenden Teils der Gesellschaft jährlich 1.500<br />
Arbeitseinheiten (Tage, Monate oder Jahre) genügen würden, und zwar nach Annahme: 1.000 davon in<br />
der Abteilung der Produktionsmittel, 500 in Lebensmitteln, wobei je<strong>des</strong> Jahr Produktionsmittel aus<br />
früherer Arbeitsperiode vernutzt werden, die selbst das Produkt von 3.000 Arbeitseinheiten darstellen.<br />
<strong>Die</strong>ses Arbeitspensum genügt jedoch nicht für die Gesellschaft, denn die Erhaltung aller nichtarbeitenden<br />
(im materiellen, produktiven Sinne) Mitglieder der Gesellschaft - Kinder, Greise, Kranke, öffentliche<br />
Beamte, Künstler und Wissenschaftler - erfordert einen bedeutenden Zuschuß an Arbeit. Außerdem<br />
braucht jede Kulturgesellschaft zur Sicherung vor Notfällen elementarer Natur einen gewissen<br />
Assekuranzfonds. Nehmen wir an, daß die Erhaltung aller Nichtarbeitenden samt Assekuranzfonds genau<br />
noch einmal soviel Arbeit erfordert wie die eigene Erhaltung der Arbeitenden, also auch noch einmal<br />
soviel Produktionsmittel. Dann bekämen wir nach früher angenommenen Zahlen das folgende Schema<br />
einer geregelten Produktion<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 7. Kapitel<br />
I. 4.000 c + 1.000 v + 1.000 m = 6.000 Produktionsmittel.<br />
II. 2.000 c + 500 v + 500 m = 3.000 Konsummittel.<br />
wobei c die verbrauchten sachlichen Produktionsmittel, ausgedrückt in gesellschaftlicher Arbeitszeit,<br />
bedeutet, v die zur eigenen Erhaltung der Arbeitenden, m die zur Erhaltung der Nichtarbeitenden nebst<br />
Assekuranzfonds gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit ausdrückt.<br />
Prüfen wir jetzt die Proportionen <strong>des</strong> Schemas nach, so erhalten wir folgen<strong>des</strong>: Warenproduktion,<br />
also auch Austausch, existiert hier nicht, wohl aber gesellschaftliche Arbeitsteilung. <strong>Die</strong> Produkte von I<br />
werden in erforderlichem Quantum den Arbeitenden in II zugewiesen, die Produkte von II werden allen<br />
Arbeitenden und Nichtarbeitenden (in beiden Abteilungen) sowie dem Assekuranzfonds zugewiesen -<br />
nicht weil hier Äquivalentaustausch vorgeht, sondern weil die gesellschaftliche Organisation planmäßig<br />
den Gesamtprozeß leitet, weil die bestehenden Bedürfnisse gedeckt werden müssen, weil die Produktion<br />
eben keinen anderen Zweck als die Deckung der gesellschaftlichen Bedürfnisse kennt.<br />
Trotzdem behalten die Größenproportionen volle Gültigkeit. Das Produkt in I muß I c + II c gleichen; das<br />
bedeutet einfach, daß in der I. Abteilung alle von der Gesellschaft in ihrem jährlichen Arbeitsprozeß<br />
vernutzten Produktionsmittel jährlich erneuert werden müssen. Das Produkt II muß der Summe (v + m) I<br />
+ (v + m) II gleichen; das bedeutet, daß an Lebensmitteln von der Gesellschaft je<strong>des</strong> Jahr soviel<br />
hergestellt werden, wie es den Bedürfnissen aller ihrer arbeitenden und nichtarbeitenden Mitglieder<br />
entspricht, nebst Rücklagen für Versicherungsfonds.<br />
<strong>Die</strong> Proportionen <strong>des</strong> Schemas erscheinen ebenso natürlich und notwendig in einer planmäßig geregelten<br />
wie in der kapitalistischen, auf Warenaustausch und Anarchie gegründeten Wirtschaftsweise. Damit ist<br />
die objektive gesellschaftliche Gültigkeit <strong>des</strong> Schemas erwiesen - ob es gleichwohl gerade als einfache<br />
Reproduktion sowohl in der kapitalistischen wie in der geregelten Gesellschaft nur theoretisch gedacht, in<br />
der Praxis nur ausnahmsweise vorkommen kann.<br />
Versuchen wir jetzt in derselben Weise das Schema der erweiterten Reproduktion nachzuprüfen.<br />
Stellen wir uns eine sozialistische Gesellschaft vor, und legen wir der Nachprüfung das Schema <strong>des</strong><br />
zweiten Marxschen Beispiels zugrunde. Vom Standpunkt der geregelten Gesellschaft muß die Sache<br />
natürlich nicht von der Abteilung I, sondern von der Abteilung II angefaßt werden. Denken wir uns, daß<br />
die Gesellschaft rapid wächst, woraus sich ein wachsender Bedarf nach Lebensmitteln für Arbeitende und<br />
Nichtarbeitende ergibt. <strong>Die</strong>ser Bedarf steigt so rasch, daß - die Fortschritte der Produktivität der Arbeit<br />
vorläufig beiseite gelassen - eine stets wachsende Menge Arbeit zur Herstellung von Lebensmitteln<br />
notwendig wird. <strong>Die</strong> erforderliche Menge Lebensmittel, ausgedrückt in der in ihnen steckenden<br />
gesellschaftlichen Arbeit, steige von Jahr zu Jahr, sagen wir, im Verhältnis 2.000 - 2.215 - 2.399 - 2.600<br />
usw. Um diese wachsende Menge Lebensmittel her- zustellen, sei technisch eine wachsende<br />
Menge von Produktionsmitteln erforderlich, die, in gesellschaftlicher Arbeitszeit gemessen, im folgenden<br />
Verhältnis von Jahr zu Jahr wachse: 7.000 - 7.583 - 8.215 - 8.900 usw. Ferner sei, nach Annahme, zu<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 7. Kapitel<br />
dieser Erweiterung der Produktion eine jährliche Arbeitsleistung von 2.570 - 2798 - 3030 - 3284 (die<br />
Zahlen entsprechen den respektiven Summen von (v + m) I + (v + m) II) erforderlich. Und endlich sei die<br />
Verteilung der jährlich geleisteten Arbeit derart, daß die Hälfte davon je<strong>des</strong>mal zur Erhaltung der<br />
Arbeitenden selbst, ein Viertel zur Erhaltung der Nichtarbeitenden, ein letztes Viertel zur Erweiterung der<br />
Produktion <strong>des</strong> nächsten Jahres verwendet werden. Wir erhalten dann für die sozialistische Gesellschaft<br />
die Proportionen <strong>des</strong> zweiten marxschen Schemas der erweiterten Reproduktion. In der Tat ist eine<br />
Erweiterung der Produktion in jeder Gesellschaft, so auch in der geregelten, nur dann möglich, 1. wenn<br />
die Gesellschaft über eine wachsende Anzahl Arbeitskräfte verfügt, 2. wenn die unmittelbare Erhaltung<br />
der Gesellschaft in jeder Arbeitsperiode nicht ihre ganze Arbeitszeit in Anspruch nimmt, so daß ein Teil<br />
der Zeit der Sorge für die Zukunft und ihre wachsenden Anforderungen gewidmet werden kann, 3. wenn<br />
von Jahr zu Jahr eine genügend zunehmende Menge von Produktionsmitteln angefertigt wird, ohne die<br />
eine fortschreitende Erweiterung der Produktion nicht bewerkstelligt werden kann.<br />
Von diesen allgemeinen Gesichtspunkten behält also das Marxsche Schema der erweiterten Reproduktion<br />
- mutatis inutandis - seine objektive Gültigkeit auch für die geregelte Gesellschaft.<br />
Prüfen wir jetzt die Gültigkeit <strong>des</strong> Schemas für die kapitalistische Wirtschaft. Hier haben wir vor allein<br />
zu fragen: Was ist der Ausgangspunkt für die <strong>Akkumulation</strong>? Von diesem Standpunkte haben wir die<br />
gegenseitige Abhängigkeit <strong>des</strong> <strong>Akkumulation</strong>sprozesses in beiden Abteilungen der Produktion zu<br />
verfolgen. Zweifellos ist auch kapitalistisch die Abteilung II insofern auf I angewiesen, als ihre<br />
<strong>Akkumulation</strong> an eine entsprechende Menge verfügbarer zuschüssiger Produktionsmittel gebunden ist.<br />
Umgekehrt ist die <strong>Akkumulation</strong> in der Abteilung I an eine entsprechende zuschüssige Menge von<br />
Lebensmitteln für zuschüssige Arbeitskräfte gebunden. Daraus folgt nun aber durchaus nicht, daß es<br />
genügt, beide Bedingungen einzuhalten, damit die <strong>Akkumulation</strong> in beiden Abteilungen auch tatsächlich<br />
vonstatten geht und von Jahr zu Jahr sich ganz automatisch vollzieht, wie das nach dem Marxschen<br />
Schema den Anschein hat. <strong>Die</strong> angeführten Bedingungen der <strong>Akkumulation</strong> sind eben nur Bedingungen,<br />
ohne die die <strong>Akkumulation</strong> nicht stattfinden kann. Auch der Wille zur <strong>Akkumulation</strong> mag in I wie<br />
in II vorhanden sein. Allein der Wille und die technischen Vorbedingungen der <strong>Akkumulation</strong> genügen in<br />
einer kapitalistischen Warenwirtschaft nicht. Damit tatsächlich akkumuliert, d.h. die Produktion erweitert<br />
wird, dazu ist noch eine andere Bedingung notwendig: eine Erweiterung der zahlungsfähigen Nachfrage<br />
nach Waren. Wo rührt nun die ständig wachsende Nachfrage her, die der fortschreitenden Erweiterung<br />
der Produktion im Marxschen Schema zugrunde liegt?<br />
Soviel ist zunächst klar: Sie kann unmöglich von den Kapitalisten I und II selbst, d.h. von ihrem<br />
persönlichen Konsum herrühren. Im Gegenteil, die <strong>Akkumulation</strong> besteht gerade darin, daß sie einen -<br />
und zwar min<strong>des</strong>tens absolut wachsenden - Teil <strong>des</strong> Mehrwerts nicht selbst konsumieren, sondern dafür<br />
Güter schaffen, die von anderen verwendet werden. <strong>Die</strong> persönliche Konsumtion der Kapitalisten wächst<br />
zwar mit der <strong>Akkumulation</strong>, sie mag selbst dem verzehrten Wert nach wachsen. Immerhin ist es nur ein<br />
Teil <strong>des</strong> Mehrwerts, der für die Konsumtion der Kapitalisten verwendet wird. Grundlage der<br />
<strong>Akkumulation</strong> ist gerade die Nichtkonsumtion <strong>des</strong> Mehrwerts durch die Kapitalisten. Für wen produziert<br />
dieser andere, akkumulierte Teil <strong>des</strong> Mehrwerts? Nach dem Marxschen Schema geht die Bewegung von<br />
der Abteilung I aus, von der Produktion der Produktionsmittel. Wer braucht diese vermehrten<br />
Produktionsmittel? Das Schema antwortet: <strong>Die</strong> Abteilung II braucht sie, um mehr Lebensmittel herstellen<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 7. Kapitel<br />
zu können. Wer braucht aber die vermehrten Lebensmittel? Das Schema antwortet: eben die Abteilung I,<br />
weil sie jetzt mehr Arbeiter beschäftigt. Wir drehen uns offenbar im Kreise. Lediglich <strong>des</strong>halb mehr<br />
Konsummittel herstellen, um mehr Arbeiter erhalten zu können, und lediglich <strong>des</strong>halb mehr<br />
Produktionsmittel herstellen, um jenes Mehr an Arbeitern zu beschäftigen, ist vom kapitalistischen<br />
Standpunkt eine Absurdität. Für den einzelnen Kapitalisten ist freilich der Arbeiter ein ebenso guter<br />
Konsument, d.h. Abnehmer seiner Ware - falls er sie zahlen kann - wie ein Kapitalist oder sonst jemand.<br />
Im Preise der Ware, die er dem Arbeiter verkauft, realisiert jeder einzelne Kapitalist seinen Mehrwert<br />
genauso wie im Preise jeder Ware, die er einem anderen beliebigen Abnehmer verkauft. Nicht so vom<br />
Standpunkte der Kapitalistenklasse im ganzen. <strong>Die</strong>se gibt der Arbeiterklasse im ganzen nur eine<br />
Anweisung auf einen genau bestimmten Teil <strong>des</strong> gesellschaftlichen Gesamtprodukts im Betrage <strong>des</strong><br />
variablen <strong>Kapitals</strong>. Wenn also die Arbeiter Lebensmittel kaufen, so erstatten sie der Kapitalistenklasse<br />
nur die von ihr erhaltene Lohnsumme, die Anweisung, bis zur Höhe <strong>des</strong> variablen <strong>Kapitals</strong> zurück.<br />
Mehr können sie nicht um einen Deut zurückgeben, eher etwas weniger, nämlich, wenn sie<br />
"sparen" können, um selbständig, um zu kleinen Unternehmern zu werden, was jedoch eine Ausnahme<br />
ist. <strong>Ein</strong>en Teil <strong>des</strong> Mehrwerts verzehrt die Kapitalistenklasse selbst in Gestalt von Lebensmitteln und<br />
behält in ihrer Tasche das dafür gegenseitig ausgetauschte Geld. Wer aber nimmt ihr die Produkte ab, in<br />
denen der andere, kapitalisierte Teil <strong>des</strong> Mehrwerts verkörpert ist? Das Schema antwortet: zum Teil die<br />
Kapitalisten selbst, indem sie neue Produktionsmittel herstellen behufs Erweiterung der Produktion, zum<br />
Teil neue Arbeiter, die zur Anwendung jener neuen Produktionsmittel nötig sind. Aber um neue Arbeiter<br />
mit neuen Produktionsmitteln arbeiten zu lassen, muß man - kapitalistisch - vorher einen Zweck für die<br />
Erweiterung der Produktion haben, eine neue Nachfrage nach Produkten, die anzufertigen sind.<br />
<strong>Die</strong> Antwort kann vielleicht lauten: Der natürliche Zuwachs der Bevölkerung schafft diese wachsende<br />
Nachfrage. Tatsächlich sind wir bei unserer hypothetischen Untersuchung der erweiterten Reproduktion<br />
in einer sozialistischen Gesellschaft von dem Wachstum der Bevölkerung und ihrer Bedürfnisse<br />
ausgegangen. Aber hier war das Bedürfnis der Gesellschaft die ausreichende Grundlage, wie es der<br />
einzige Zweck der Produktion ist. In der kapitalistischen Gesellschaft sieht das Problem anders aus. Um<br />
welche Bevölkerung handelt es sich, wenn wir von ihrem Zuwachs reden? Wir kennen hier - im<br />
marxschen Schema - nur zwei Bevölkerungsklassen: Kapitalisten und Arbeiter. Der Zuwachs der<br />
Kapitalistenklasse ist ohnehin in der wachsenden absoluten Größe <strong>des</strong> verzehrten Teils <strong>des</strong> Mehrwertes<br />
inbegriffen. Jedenfalls kann er nicht den Mehrwert restlos verzehren, denn dann würden wir zur<br />
einfachen Reproduktion zurückkehren. Es bleiben die Arbeiter. Auch die Arbeiterklasse vermehrt sich<br />
durch natürlichen Zuwachs. Aber dieser Zuwachs geht die kapitalistische Wirtschaft als Ausgangspunkt<br />
wachsender Bedürfnisse an sich nichts an.<br />
<strong>Die</strong> Produktion von Lebensmitteln zur Deckung von I v und II v ist nicht Selbstzweck, wie in einer<br />
Gesellschaft, wo die Arbeitenden und die Befriedigung ihrer Bedürfnisse die Grundlage <strong>des</strong><br />
Wirtschaftssystems bilden. Nicht <strong>des</strong>halb werden in der Abteilung II (kapitalistisch) soviel Lebensmittel<br />
produziert, weil die Arbeiterklasse von I und II ernährt werden müsse. Umgekehrt. Es können jeweilig<br />
soviel Arbeiter in I und II sich ernähren, weil ihre Arbeitskraft unter den gegebenen Absatzbedingungen<br />
verwertet werden kann. Das heißt, nicht eine gegebene Anzahl Arbeiter und ihr Bedarf sind<br />
Ausgangspunkt für die kapitalistische Produktion, sondern diese Größen selbst sind ständig<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 7. Kapitel<br />
schwankende "abhängige Variable" der kapitalistischen Profitaussichten. Es fragt sich also, ob der<br />
natürliche Zuwachs der Arbeiterbevölkerung auch einen neuen Zuwachs der zahlungsfähigen Nachfrage<br />
über das variable Kapital hinaus bedeutet. Das kann nicht der Fall sein. In unserem Schema ist die einzige<br />
Quelle der Geldmittel für die Arbeiterklasse das variable Kapital. Das variable Kapital begreift also im<br />
voraus den Zuwachs der Arbeiterschaft mit ein. <strong>Ein</strong>s von beiden: Entweder sind die Löhne so bemessen,<br />
daß sie auch den Nachwuchs der Arbeiter ernähren, dann kann der Nachwuchs nicht noch einmal als<br />
Grundlage der erweiterten Konsumtion in Rechnung gezogen werden. Oder das ist nicht der Fall, dann<br />
müssen jugendliche Arbeiter, der Nachwuchs, selbst Arbeit liefern, um Lohn und Lebensmittel zu<br />
bekommen. Dann ist der arbeitende Nachwuchs eben in der Zahl der beschäftigten Arbeiter bereits<br />
einbegriffen. Der natürliche Zuwachs der Bevölkerung kann uns also den <strong>Akkumulation</strong>sprozeß im<br />
Marxschen Schema nicht erklären.<br />
Doch halt! <strong>Die</strong> Gesellschaft besteht - auch unter der Herrschaft <strong>des</strong> Kapitalismus - nicht bloß aus<br />
Kapitalisten und Lohnarbeitern. Außer diesen beiden Klassen gibt es noch eine große Masse der<br />
Bevölkerung: Grundbesitzer, Angestellte, liberale Berufe: Ärzte, Rechtsanwälte, Künstler,<br />
Wissenschaftler, es besteht noch die Kirche mit ihren <strong>Die</strong>nern, der Geistlichkeit, und endlich der Staat<br />
mit seinen Beamten und dem Militär. Alle diese Bevölkerungsschichten sind weder den Kapitalisten noch<br />
den Lohnarbeitern im kategorischen Sinne beizuzählen. Sie müssen aber von der Gesellschaft ernährt und<br />
erhalten werden. Es werden also wohl diese außer den Kapitalisten und Arbeitern bestehenden Schichten<br />
sein, deren Nachfrage die Erweiterung der Produktion erforderlich macht. Doch ist dieser Ausweg bei<br />
näherem Zusehen nur ein scheinbarer. <strong>Die</strong> Grundbesitzer sind als Verzehrer der Rente, d.h. eines Teils<br />
<strong>des</strong> kapitalistischen Mehrwerts, augenscheinlich der Kapitalistenklasse zuzuzählen, ihre Konsumtion ist<br />
hier, wo wir den Mehrwert in seiner ungeteilten, primären Form betrachten, in der Konsumtion der<br />
Kapitalistenklasse bereits berücksichtigt. <strong>Die</strong> liberalen Berufe bekommen ihre Geldmittel, d.h. ihre<br />
Anweisungen auf einen Teil <strong>des</strong> gesellschaftlichen Produkts, meist direkt oder indirekt aus der Hand der<br />
Kapitalistenklasse, die sie mit Splittern ihres Mehrwerts abfindet. Soweit sind sie als Verzehrer <strong>des</strong><br />
Mehrwerts mit ihrer Konsumtion der Kapitalistenklasse beizuzählen. Dasselbe gilt von der Geistlichkeit,<br />
nur daß diese zum Teil ihre Mittel auch von den Arbeitenden, also aus den Arbeiterlöhnen bezieht.<br />
Endlich der Staat mit seinen Beamten und dem Militär wird aus den Steuern erhalten, diese aber<br />
liegen entweder auf dem Mehrwert oder auf Arbeiterlöhnen. Überhaupt kennen wir hier - in den Grenzen<br />
<strong>des</strong> Marxschen Schemas - nur zwei Quellen <strong>des</strong> <strong>Ein</strong>kommens in der Gesellschaft: Arbeiterlöhne oder<br />
Mehrwert. So können alle die außer den Kapitalisten und den Arbeitern angeführten<br />
Bevölkerungsschichten nur als Mitverzehrer dieser beiden <strong>Ein</strong>kommensarten gelten. Marx selbst lehnt<br />
den Hinweis auf diese "dritten Personen" als Abnehmer als eine Ausflucht ab: "Alle nicht direkt in der<br />
Reproduktion, mit oder ohne Arbeit, figurierenden Gesellschaftsglieder können ihren Anteil am<br />
jährlichen Warenprodukt - also ihre Konsumtionsmittel - in erster Hand nur beziehn aus den Händen der<br />
Klassen, denen das Produkt in erster Hand zufällt - produktiven Arbeitern, industriellen Kapitalisten und<br />
Grundbesitzern. Insofern sind ihre Revenuen materialiter abgeleitet von Arbeitslohn (der produktiven<br />
Arbeiter), Profit und Bodenrente und erscheinen daher jenen Originalrevenuen gegenüber als abgeleitete.<br />
Andrerseits jedoch beziehn die Empfänger dieser in diesem Sinn abgeleiteten Revenuen dieselben<br />
vermittelst ihrer gesellschaftlichen Funktion als König, Pfaff, Professor, Hure, Kriegsknecht etc., und sie<br />
können also diese ihre Funktionen als die Originalquellen ihrer Revenue betrachten."(4) Gegenüber<br />
Verweisen auf die Verzehrer von Zins und Grundrente als Abnehmer sagt Marx: "Ist aber der Teil <strong>des</strong><br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 7. Kapitel<br />
Mehrwerts der Waren, den der industrielle Kapitalist als Grundrente oder Zins an andre Miteigentümer<br />
<strong>des</strong> Mehrwerts abzutreten hat, auf die Dauer nicht realisierbar durch den Verkauf der Waren selbst, so hat<br />
es auch mit der Zahlung von Rente oder Zins ein Ende, und können daher Grundeigentümer oder<br />
Zinsbezieher durch deren Verausgabung nicht als dei ex machina dienen zu beliebiger Versilberung<br />
bestimmter Teile der jährlichen Reproduktion. Ebenso verhält es sich mit den Ausgaben sämtlicher sog.<br />
unproduktiver Arbeiter, Staatsbeamte, Ärzte, Advokaten etc., und was sonst in der Form <strong>des</strong> 'großen<br />
Publikums' den politischen Ökonomen '<strong>Die</strong>nste' leistet, um von ihnen Unerklärtes zu erklären."(5)<br />
Da auf diese Weise innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft schlechterdings keine ersichtlichen<br />
Abnehmer für die Waren zu entdecken sind, in denen der akkumulierte Teil <strong>des</strong> Mehrwertes steckt, so<br />
bleibt nur noch eins übrig: der auswärtige Handel. Mehrere <strong>Ein</strong>wände entstehen jedoch gegen diese<br />
Methode, den auswärtigen Handel als eine bequeme Ablade- stätte für Produkte zu betrachten, mit<br />
denen man sonst im Reproduktionsprozeß nichts anzufangen weiß. Der Hinweis auf auswärtigen Handel<br />
kommt nur auf die Ausflucht hinaus, die Schwierigkeit, der man in der Analyse begegnet ist, aus einem<br />
Lande in ein anderes zu verlegen, ohne sie aber zu lösen. <strong>Die</strong> Analyse <strong>des</strong> Reproduktionsprozesses<br />
bezieht sich überhaupt nicht auf ein einzelnes kapitalistisches Land, sondern auf den kapitalistischen<br />
Weltmarkt, für den alle Länder Inland sind. Marx hebt dies schon im ersten Bande <strong>des</strong> "<strong>Kapitals</strong>" bei der<br />
Behandlung der <strong>Akkumulation</strong> ausdrücklich hervor: "Es wird hier abstrahiert vom Ausfuhrhandel,<br />
vermittelst <strong>des</strong>sen eine Nation Luxusartikel in Produktions- oder Lebensmittel umsetzen kann und<br />
umgekehrt. Um den Gegenstand der Untersuchung in seiner Reinheit, frei von störenden<br />
Nebenumständen aufzufassen, müssen wir hier die gesamte Handelswelt als eine Nation ansehn und<br />
voraussetzen, daß die kapitalistische Produktion sich überall fortgesetzt und sich aller Industriezweige<br />
bemächtigt hat."(6)<br />
<strong>Die</strong> Analyse bietet dieselbe Schwierigkeit, wenn wir die Sache noch von einer anderen Seite betrachten.<br />
In dem Marxschen Schema der <strong>Akkumulation</strong> ist vorausgesetzt, daß der zu kapitalisierende Teil <strong>des</strong><br />
gesellschaftlichen Mehrwertes von vornherein in der Naturalgestalt zur Welt kommt, die seine<br />
Verwendung zur <strong>Akkumulation</strong> bedingt und gestattet: "Mit einem Wort: der Mehrwert ist nur <strong>des</strong>halb in<br />
Kapital verwandelbar, weil das Mehrprodukt, <strong>des</strong>sen Wert er ist, bereits die sachlichen Bestandteile eines<br />
neuen <strong>Kapitals</strong> enthält."(7) In den Ziffern <strong>des</strong> Schemas ausgedrückt:<br />
I. 5.000 c + 1.000 v + 1.000 m = 7.000 Produktionsmittel.<br />
II. 1.430 c + 285 v + 285 m = 2.000 Konsummittel.<br />
Hier kann der Mehrwert im Betrage von 570 m kapitalisiert werden, denn er besteht von vornherein in<br />
Produktionsmitteln; dieser Menge Produktionsmittel entspricht aber eine überschüssige Menge von<br />
Lebensmitteln im Betrage von 114 m, zusammen also können 684 m kapitalisiert werden. Aber der hier<br />
angenommene Vorgang der einfachen Übertragung der entsprechenden Produktionsmittel in das<br />
konstante Kapital, der Lebensmittel in das variable Kapital widerspricht den Grundlagen der<br />
kapitalistischen Warenproduktion. Der Mehrwert kann, in welcher Naturalgestalt er auch stecken mag,<br />
nicht direkt zur <strong>Akkumulation</strong> in die Produktionsstätte übertragen, sondern er muß erst realisiert, in Geld<br />
aus- getauscht werden.(8) Der Mehrwert <strong>des</strong> I im Belaufe von 500 könnte kapitalisiert werden, er<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 7. Kapitel<br />
muß aber zu diesem Zwecke erst überhaupt realisiert werden, er muß seine Naturalgestalt erst abstreifen<br />
und seine reine Wertgestalt annehmen, ehe er wieder zum produktiven Kapital geschlagen wird. Das<br />
bezieht sich auf jeden <strong>Ein</strong>zelkapitalisten, trifft aber auch auf den gesellschaftlichen Gesamtkapitalisten<br />
zu, denn die Realisierung <strong>des</strong> Mehrwertes in reiner Wertgestalt ist eine der Grundbedingungen der<br />
kapitalistischen Produktion, und bei gesellschaftlicher Betrachtung der Reproduktion "muß man nicht in<br />
die von Proudhon der bürgerlichen Ökonomie nachgemachte Manier verfallen und die Sache so<br />
betrachten, als wenn eine Gesellschaft kapitalistischer Produktionsweise, en bloc, als Totalität betrachtet,<br />
diesen ihren spezifischen, historisch ökonomischen Charakter verlöre. Umgekehrt. Man hat es dann mit<br />
dem Gesamtkapitalisten zu tun."(9) Der Mehrwert muß also unbedingt die Geldform passieren, er muß<br />
die Form <strong>des</strong> Mehrprodukts erst abstoßen, ehe er sie wieder zum Zwecke der <strong>Akkumulation</strong> annimmt.<br />
Was und wer sind aber die Abnehmer <strong>des</strong> Mehrprodukts von I und II? Um nur den Mehrwert von I und II<br />
zu realisieren, muß nach dem Vorhergehenden schon ein Absatz außerhalb I und II vorhanden sein. So<br />
wäre aber der Mehrwert erst in Geld verwandelt. Damit dieser realisierte Mehrwert auch noch zur<br />
Erweiterung der Produktion, zur <strong>Akkumulation</strong> verwendet werden kann, dazu ist eine Aussicht auf noch<br />
größeren künftigen Absatz erforderlich, der gleichfalls außerhalb I und II selbst liegt. <strong>Die</strong>ser Absatz für<br />
das Mehrprodukt muß also in jedem Jahre um die akkumulierte Rate <strong>des</strong> Mehrwertes wachsen. Oder<br />
umgekehrt: <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> kann nur in dem Maße stattfinden, als Absatz außerhalb I und II wächst.<br />
Fußnoten von <strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong><br />
(1) Das Kapital, Bd. II, S. 488. [Karl Marx: Das Kapital, Zweiter Band. In: Karl Marx/Friedrich Engels:<br />
Werke, Bd. 24, S. 507.]
<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 7. Kapitel<br />
607.]
<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 8. Kapitel<br />
7. Kapitel | Inhalt | 9. Kapitel<br />
<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - Gesammelte Werke. Herausgegeben vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Band<br />
5. <strong>Berlin</strong>/DDR. 1975. "<strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>", S. 107-122.<br />
1. Korrektur.<br />
Erstellt am 20.10.1998<br />
Achtes Kapitel<br />
<strong>Die</strong> Versuche der Lösung der Schwierigkeit bei Marx<br />
Wir finden daß das völlige Absehen von der Geldzirkulation im Schema der erweiterten<br />
Reproduktion, das uns den <strong>Akkumulation</strong>sprozeß so glatt und einfach erscheinen ließ, zu großen<br />
Unzuträglichkeiten führt. Bei der Analyse der einfachen Reproduktion war dieses Verfahren vollkommen<br />
gerechtfertigt. Dort, wo die Produktion ausschließlich für die Konsumtion stattfand und auf sie berechnet<br />
war, diente das Geld nur als verschwindender Vermittler der Verteilung <strong>des</strong> gesellschaftlichen Produkts<br />
unter die verschiedenen Konsumentengruppen und der Erneuerung <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>. Hier bei der<br />
<strong>Akkumulation</strong> spielt die Geldform eine wesentliche Funktion: Sie dient nicht mehr bloß als Vermittler in<br />
der Warenzirkulation, sondern als Erscheinungsform <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, als Moment in der Kapitalzirkulation.<br />
<strong>Die</strong> Verwandlung <strong>des</strong> Mehrwertes in Geldgestalt ist die wesentliche ökonomische Voraussetzung der<br />
kapitalistischen <strong>Akkumulation</strong>, wenn auch kein wesentliches Moment der wirklichen Reproduktion.<br />
Zwischen der Produktion und der Reproduktion liegen also hier zwei Metamorphosen <strong>des</strong> Mehrprodukts:<br />
die Abstoßung der Gebrauchsform und dann die Annahme der den Zwecken der <strong>Akkumulation</strong><br />
entsprechenden Naturalform. Es kommt nicht darauf an, daß es sich etwa um Jahresabschnitte handelt,<br />
die zwischen den einzelnen Produktionsperioden lägen. Es seien unseretwegen Monate, oder die<br />
Metamorphosen einzelner Portionen <strong>des</strong> Mehrwertes in I und II mögen sich zeitlich in ihrer Reihenfolge<br />
kreuzen. Was diese Jahresfolgen in Wirklichkeit bedeuten, sind nicht Zeitabschnitte, sondern<br />
Reihenfolge ökonomischer Verwandlungen. <strong>Die</strong>se Reihenfolge muß aber eingehalten werden, ob sie<br />
kürzere oder längere Zeit beansprucht, soll der kapitalistische Charakter der <strong>Akkumulation</strong> eingehalten<br />
werden.<br />
Wir kommen damit wieder auf die Frage: Wer realisiert den akkumulierten Mehrwert?<br />
Marx fühlt selbst die Lücke in seinem äußerlich lückenlosen Schema der <strong>Akkumulation</strong> und faßt das<br />
Problem mehrfach von verschiedenen Seiten an. Hören wir zu:<br />
"Es wurde in Buch I gezeigt, wie die <strong>Akkumulation</strong> für den einzelnen Kapitalisten verläuft. Durch die<br />
Versilberung <strong>des</strong> Warenkapitals wird auch das Mehrprodukt versilbert, in dem sich der Mehrwert<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 8. Kapitel<br />
darstellt. <strong>Die</strong>sen so in Geld verwandelten Mehrwert rückverwandelt der Kapitalist in zuschüssige<br />
Naturalelemente seines produktiven <strong>Kapitals</strong>. Im nächsten Kreislauf der Produktion liefert das<br />
vergrößerte Kapital ein vergrößertes Produkt. Was aber beim individuellen Kapital, muß auch erscheinen<br />
in der jährlichen Gesamtreproduktion, ganz wie wir gesehn bei Betrachtung der einfachen Reproduktion,<br />
daß der sukzessive Niederschlag - beim individuellen Kapital - seiner verbrauchten fixen Bestandteile in<br />
Geld, das aufgeschatzt wird, sich auch in der jährlichen gesellschaftlichen Reproduktion<br />
ausdrückt."(1) [Hervorhebung - R. L.]<br />
Weiter untersucht Marx den Mechanismus der <strong>Akkumulation</strong> gerade von diesem Standpunkt. d.h. unter<br />
dem Gesichtswinkel, daß der Mehrwert, bevor er akkumuliert wird, die Geldform passieren muß:<br />
"Wenn Kapitalist A z.B. während eines Jahrs oder einer größren Anzahl von Jahren die sukzessive von<br />
ihm produzierten Mengen von Warenprodukt verkauft, so verwandelt er auch damit den Teil <strong>des</strong><br />
Warenprodukts, der Träger <strong>des</strong> Mehrwerts ist - das Mehrprodukt -, also den von ihm in Warenform<br />
produzierten Mehrwert selbst sukzessive in Geld, speichert dies nach und nach auf und bildet sich so<br />
potentielles neues Geldkapital; potentiell wegen seiner Fähigkeit und Bestimmung, in Elemente von<br />
produktivem Kapital umgesetzt zu werden. Tatsächlich aber vollzieht er nur einfache Schatzbildung, die<br />
kein Element der wirklichen Reproduktion ist. Seine Tätigkeit besteht dabei zunächst nur im sukzessiven<br />
Entziehn von zirkulierendem Geld aus der Zirkulation, wobei natürlich nicht ausgeschlossen ist, daß das<br />
zirkulierende Geld, das er so unter Schloß und Riegel sperrt, eben selbst noch - vor seinem <strong>Ein</strong>tritt in die<br />
Zirkulation - Teil eines andern Schatzes war ...<br />
Geld wird der Zirkulation entzogen und als Schatz aufgespeichert durch Verkauf der Ware ohne<br />
nachfolgenden Kauf. Wird diese Operation also als allgemein vorsichgehend aufgefaßt, so scheint nicht<br />
abzusehn, wo die Käufer herkommen sollen, da in diesem Prozeß - und er muß allgemein aufgefaßt<br />
werden, indem je<strong>des</strong> individuelle Kapital sich in <strong>Akkumulation</strong>sprozedur befinden kann - jeder<br />
verkaufen will, um aufzuschatzen, keiner kaufen.<br />
Stellte man sich den Zirkulationsprozeß zwischen den verschiednen Teilen der jährlichen Reproduktion<br />
als in gerader Linie verlaufend vor - was falsch, da er mit wenigen Ausnahmen allzumal aus<br />
gegeneinander rückläufigen Bewegungen besteht -, so müßte man mit dem Gold- (resp. Silber-)<br />
Produzenten beginnen, der kauft, ohne zu verkaufen, und voraussetzen, daß alle andren an ihn verkaufen.<br />
Dann ginge das gesamte jährliche gesellschaftliche Mehrprodukt (der Träger <strong>des</strong> gesamten Mehrwerts)<br />
an ihn über, und sämtliche andre Kapitalisten verteilen pro rata unter sich sein von Natur in Geld<br />
existieren<strong>des</strong> Mehrprodukt, die Naturalvergoldung seines Mehrwerts; denn der Teil <strong>des</strong> Produkts <strong>des</strong><br />
Goldproduzenten, der sein fungieren<strong>des</strong> Kapital zu ersetzen hat, ist schon gebunden und darüber <br />
verfügt. Der in Gold produzierte Mehrwert <strong>des</strong> Goldproduzenten wäre dann der einzige Fonds, aus dem<br />
alle übrigen Kapitalisten die Materie für Vergoldung ihres jährlichen Mehrprodukts ziehn. Er müßte also<br />
der Wertgröße nach gleich sein dem ganzen gesellschaftlichen jährlichen Mehrwert, der erst in die Form<br />
von Schatz sich verpuppen muß. So abgeschmackt diese Voraussetzungen, so hülfen sie zu weiter nichts,<br />
als die Möglichkeit einer allgemeinen gleichzeitigen Schatzbildung zu erklären, womit die Reproduktion<br />
selbst, außer auf Seite der Goldproduzenten, um keinen Schritt weiter wäre.<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 8. Kapitel<br />
Bevor wir diese scheinbare Schwierigkeit lösen, ist zu unterscheiden" usw.(2) [Hervorhebung - R. L.]<br />
Hier nennt Marx die Schwierigkeit in der Realisierung <strong>des</strong> Mehrwertes eine scheinbare. <strong>Die</strong> ganze<br />
weitere Untersuchung bis zu Ende <strong>des</strong> zweiten Ban<strong>des</strong> <strong>des</strong> "<strong>Kapitals</strong>" dient aber der Überwindung dieser<br />
Schwierigkeit. Zuerst versucht Marx die Frage zu lösen durch den Hinweis auf die Schatzbildung, die<br />
sich bei der kapitalistischen Produktion unvermeidlich ergibt aus dem Auseinanderfallen in dem<br />
Zirkulationsprozeß verschiedener konstanter Kapitale. Da sich verschiedene individuelle Kapitalanlagen<br />
in verschiedenem Alter befinden, ein Teil der Anlagen aber immer erst nach einer längeren Periode<br />
erneuert wird, so sehen wir, daß zu jedem Zeitpunkt irgendwelche <strong>Ein</strong>zelkapitalisten bereits ihre Anlagen<br />
erneuern, während andere dafür nur aus dem Verkauf ihrer Waren Rücklagen machen, bis diese die<br />
nötige Höhe zur Erneuerung <strong>des</strong> fixen <strong>Kapitals</strong> erreicht haben. So geht auf kapitalistischer Basis die<br />
Schatzbildung stets parallel mit dem gesellschaftlichen Reproduktionsprozeß als Äußerung und<br />
Bedingung <strong>des</strong> eigenartigen Umschlags <strong>des</strong> fixen <strong>Kapitals</strong>. "A verkaufe z.B. 600 (= 400 c + 100 v + 100<br />
m) an B (der mehr als einen Käufer repräsentieren mag). Er hat für 600 Waren verkauft, gegen 600 in<br />
Geld, wovon 100 Mehrwert darstellen. die er der Zirkulation entzieht, sie aufschatzt als Geld; aber diese<br />
100 Geld sind nur die Geldform <strong>des</strong> Mehrprodukts, das der Träger eines Werts von 100 war. (Um das<br />
Problem rein aufzufassen, nimmt Marx hier an, der gesamte Mehrwert werde kapitalisiert, sieht also von<br />
dem zur persönlichen Konsumtion <strong>des</strong> Kapitalisten verwendeten Teil <strong>des</strong> Mehrwertes ganz ab; zugleich<br />
gehören hier sowohl die A', A'', A''' wie die B', B'', B''' der Abteilung I an. - R. L.) <strong>Die</strong> Schatzbildung ist<br />
überhaupt keine Produktion, also von vornherein auch kein Inkrement der Produktion. <strong>Die</strong> Aktion <strong>des</strong><br />
Kapitalisten dabei be- steht nur darin, daß er das durch Verkauf <strong>des</strong> Mehrprodukts von 100<br />
ergatterte Geld der Zirkulation entzieht, festhält und mit Beschlag belegt. <strong>Die</strong>se Operation findet nicht<br />
nur statt auf seiten <strong>des</strong> A, sondern auf zahlreichen Punkten der Zirkulationsperipherie von andren A', A'',<br />
A''' ...<br />
A vollbringt diese Schatzbildung aber nur, sofern er - mit Bezug auf sein Mehrprodukt - nur als<br />
Verkäufer, nicht hintennach als Käufer auftritt. Seine sukzessive Produktion von Mehrprodukt - dem<br />
Träger seines zu vergoldenden Mehrwerts - ist also die Voraussetzung seiner Schatzbildung. Im<br />
gegebnen Fall, wo die Zirkulation nur innerhalb Kategorie I betrachtet wird, ist die Naturalform <strong>des</strong><br />
Mehrprodukts, wie die <strong>des</strong> Gesamtprodukts, von dem es einen Teil bildet, Naturalform eines Elements<br />
<strong>des</strong> konstanten <strong>Kapitals</strong> I, d.h. gehört in die Kategorie der Produktionsmittel von Produktionsmitteln.<br />
Was daraus wird, d.h. zu welcher Funktion es dient, in der Hand der Käufer B, B', B'' etc., werden wir<br />
gleich sehn.<br />
Was aber hier zunächst festzuhalten, ist dies: Obgleich A Geld für seinen Mehrwert der Zirkulation<br />
entzieht und es aufschatzt, wirft er andrerseits Ware in sie hinein, ohne ihr andre Ware dafür zu entziehn,<br />
wodurch B, B' B'' etc. ihrerseits befähigt werden, Geld hineinzuwerfen und dafür nur Ware ihr zu<br />
entziehn. Im gegebnen Fall geht diese Ware, ihrer Naturalform wie ihrer Bestimmung nach, als fixes<br />
oder flüssiges Element in das konstante Kapital von B, B' etc. ein."(3)<br />
Der ganze hier geschilderte Vorgang ist uns nicht neu. Marx hat ihn bereits eingehend bei der einfachen<br />
Reproduktion dargestellt, denn er ist unerläßlich zur Erklärung, wie das konstante Kapital der<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 8. Kapitel<br />
Gesellschaft unter den Bedingungen der kapitalistischen Reproduktion erneuert wird. Es ist <strong>des</strong>halb<br />
vorerst gar nicht ersichtlich, wie uns dieser Vorgang über die besondere Schwierigkeit hinweghelfen soll,<br />
die uns bei der Analyse der erweiterten Reproduktion aufgestoßen ist. <strong>Die</strong> Schwierigkeit war ja die<br />
folgende: Für Zwecke der <strong>Akkumulation</strong> wird ein Teil <strong>des</strong> Mehrwertes nicht von den Kapitalisten<br />
verzehrt, sondern zum Kapital geschlagen behufs Erweiterung der Produktion. Es fragt sich nun: Wo sind<br />
die Käufer für dieses zuschüssige Produkt, das die Kapitalisten selbst nicht verzehren und das die<br />
Arbeiter noch weniger verzehren können, da ihre Konsumtion durch den Betrag <strong>des</strong> jeweiligen variablen<br />
<strong>Kapitals</strong> total gedeckt ist? Wo ist die Nachfrage für den akkumulierten Mehrwert, oder, wie Marx<br />
formuliert: Wo kommt das Geld her, um den akkumulierten Mehr- wert zu bezahlen? Wenn wir<br />
als Antwort darauf auf den Vorgang der Schatzbildung verwiesen werden, der sich aus der stufenweisen<br />
und zeitlich auseinanderfallenden Erneuerung <strong>des</strong> konstanten <strong>Kapitals</strong> bei den einzelnen Kapitalisten<br />
ergibt, so ist der Zusammenhang dieser Dinge miteinander nicht einzusehen. Kaufen die B, B', B'' usw.<br />
Produktionsmittel von ihren Kollegen A, A', A'' zum Zwecke der Erneuerung ihres tatsächlich<br />
verbrauchten konstanten <strong>Kapitals</strong>, dann befinden wir uns in den Grenzen der einfachen Reproduktion,<br />
und die Sache hat mit unserer Schwierigkeit gar nichts zu tun. Wird aber unterstellt, daß der Ankauf der<br />
Produktionsmittel durch B, B', B'' usw. der Erweiterung ihres konstanten <strong>Kapitals</strong> für Zwecke der<br />
<strong>Akkumulation</strong> dient, so knüpfen sich daran sofort mehrere Fragen. Vor allem: Woher haben denn B, B',<br />
B'' das Geld, um zuschüssiges Mehrprodukt den A, A', A'' usw. abzukaufen? Sie können doch ihrerseits<br />
auch nur durch Verkauf <strong>des</strong> eigenen Mehrprodukts zu Geld gekommen sein. Bevor sie neue<br />
Produktionsmittel zur Erweiterung ihrer Unternehmungen anschaffen, d.h. als Käufer <strong>des</strong> zu<br />
akkumulierenden Mehrprodukts auftreten, müssen sie ihr eigenes Mehrprodukt erst losgeworden, d.h. als<br />
Verkäufer aufgetreten sein. An wen haben nun die B, B', B'' usw. ihr Mehrprodukt verkauft? Man sieht,<br />
die Schwierigkeit ist nur von den A, A', A'' auf die B, B', B'' abgewälzt, nicht aber beseitigt worden.<br />
<strong>Ein</strong>en Moment lang scheint es während der Analyse, als sei die Schwierigkeit doch gelöst. Nach einer<br />
kleinen Abschweifung nimmt Marx den Faden der Untersuchung folgendermaßen auf:<br />
"Im hier betrachteten Fall besteht dies Mehrprodukt von vornherein aus Produktionsmitteln von<br />
Produktionsmitteln. Erst in der Hand von B, B', B'' etc. (I) fungiert dies Mehrprodukt als zuschüssiges<br />
konstantes Kapital; aber es ist dies virtualiter schon, bevor es verkauft wird, schon in der Hand der<br />
Schatzbildner A, A', A'' (I). Wenn wir bloß den Wertumfang der Reproduktion seitens I betrachten, so<br />
befinden wir uns noch innerhalb der Grenzen der einfachen Reproduktion, denn kein zusätzliches Kapital<br />
ist in Bewegung gesetzt worden, um dies virtualiter zuschüssige konstante Kapital (das Mehrprodukt) zu<br />
schaffen, auch keine größre Mehrarbeit als die auf Grundlage der einfachen Reproduktion verausgabte.<br />
Der Unterschied liegt hier nur in der Form der angewandten Mehrarbeit, der konkreten Natur ihrer<br />
besondren nützlichen Weise. Sie ist verausgabt worden in Produktionsmitteln für I c statt für II c, in<br />
Produktionsmitteln für Produktionsmittel statt in Produktionsmitteln für Konsumtionsmittel. Bei der<br />
einfachen Reproduktion wurde vorausgesetzt, daß der ganze Mehrwert I verausgabt wird als<br />
Revenue, also in Waren II; er bestand also nur aus solchen Produktionsmitteln, die das konstante Kapital<br />
II c in seiner Naturalform wieder zu ersetzen haben. Damit also der Übergang von der einfachen zur<br />
erweiterten Reproduktion vor sich gehe, muß die Produktion in Abteilung I im Stand sein, weniger<br />
Elemente <strong>des</strong> konstanten <strong>Kapitals</strong> für II, aber um ebensoviel mehr für I herzustellen ...<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 8. Kapitel<br />
Es folgt also, daß - bloß dem Wertumfang nach betrachtet - innerhalb der einfachen Reproduktion das<br />
materielle Substrat der erweiterten Reproduktion produziert wird. Es ist einfach direkt in Produktion von<br />
Produktionsmitteln, in Schöpfung von virtuellem zuschüssigem Kapital I verausgabte Mehrarbeit der<br />
Arbeiterklasse I. <strong>Die</strong> Bildung von virtuellem zusätzlichem Geldkapital seitens A, A', A'' (I) - durch<br />
sukzessiven Verkauf ihres Mehrprodukts, das ohne alle kapitalistische Geldausgabe gebildet - ist also<br />
hier die bloße Geldform von zuschüssig produzierten Produktionsmitteln I."(4)<br />
Hier scheint sich die Schwierigkeit unter unseren Händen in Dunst aufgelöst zu haben. <strong>Die</strong><br />
<strong>Akkumulation</strong> erfordert gar keine neuen Geldquellen: Früher verzehrten die Kapitalisten ihren Mehrwert<br />
selbst, mußten also einen entsprechenden Geldvorrat in den Händen haben, denn wir wissen schon aus<br />
der Analyse der einfachen Reproduktion, daß die Kapitalistenklasse selbst das Geld in die Zirkulation<br />
werfen muß, das zur Realisierung ihres Mehrwerts erforderlich ist. Nun kauft die Kapitalistenklasse für<br />
einen Teil dieses Geldvorrats (nämlich B, B', B'' usw.) statt Konsumtionsmittel zum gleichen<br />
Wertbetrage neue, zuschüssige Produktionsmittel, um ihre Produktion zu erweitern. Dadurch sammelt<br />
sich Geld im gleichen Betrage in den Händen <strong>des</strong> anderen Teils der Kapitalisten (nämlich der A, A', A''<br />
usw.). "<strong>Die</strong>se Schatzbildung ... unterstellt in keiner Weise zusätzlichen Edelmetallreichtum, sondern nur<br />
veränderte Funktion von bisher umlaufendem Geld. Eben fungierte es als Zirkulationsmittel, jetzt<br />
fungiert es als Schatz, als sich bilden<strong>des</strong>, virtuell neues Geldkapital."<br />
So wären wir aus der Schwierigkeit heraus. Allein, es ist unschwer herauszufinden, welcher Umstand uns<br />
hier die Lösung leicht gemacht hat: Marx faßt hier die <strong>Akkumulation</strong> bei ihrer ersten Regung, in statu<br />
nascendi, wo sie gerade aus der einfachen Reproduktion als Knospe her- vorsprießt. Dem<br />
Wertumfang nach ist die Produktion hier noch nicht erweitert, nur ihr Arrangement und ihre sachlichen<br />
Elemente sind anders geordnet. Und da ist es kein Wunder, daß dann auch die Geldquellen als<br />
ausreichend erscheinen. <strong>Die</strong> Lösung, die wir gefunden, hält aber auch nur einen Moment lang an: nur für<br />
den Übergang von der einfachen zur erweiterten Reproduktion, d.h. gerade für einen nur theoretisch<br />
gedachten, für die Wirklichkeit gar nicht in Betracht kommenden Fall. Ist aber die <strong>Akkumulation</strong> schon<br />
längst eingebürgert und wirft jede Produktionsperiode eine größere Wertmasse auf den Markt als die<br />
frühere, dann fragt es sich: Wo sind die Käufer für diese zuschüssigen Werte? <strong>Die</strong> Lösung, die wir<br />
gefunden, läßt uns da vollkommen im Stich. Außerdem ist sie auch selbst nur scheinbar. Bei näherem<br />
Zusehen schlägt sie uns gerade in demselben Augenblick, wo sie uns anscheinend aus der Patsche<br />
geholfen hat. Wenn wir nämlich die <strong>Akkumulation</strong> gerade in dem Moment fassen, wo sie auf dem<br />
Sprung ist, aus dem Schoße der einfachen Reproduktion hervorzugehen, so ist ihre erste Voraussetzung<br />
eine Verminderung in der Konsumtion der Kapitalistenklasse. Im selben Moment, wo wir die<br />
Möglichkeit finden, mit den früheren Zirkulationsmitteln eine Erweiterung der Produktion vorzunehmen,<br />
verlieren wir im gleichen Maße alte Konsumenten. Für wen soll denn da die Erweiterung der Produktion<br />
vorgenommen werden, d.h., wer kauft morgen von den B, B', B'' (I) die vergrößerte Produktenmenge, die<br />
sie dadurch hergestellt haben, daß sie sich das Geld "vom Munde absparten", um damit den A, A', A'' (I)<br />
neue Produktionsmittel abzukaufen?<br />
Man sieht, die Lösung, nicht die Schwierigkeit, war hier eine scheinbare, und Marx kehrt selbst im<br />
nächsten Augenblick zu der Frage zurück, wo denn die B, B', B'' das Geld hernehmen, um den A, A', A''<br />
ihr Mehrprodukt abzukaufen:<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 8. Kapitel<br />
"Soweit die Produkte, die B, B', B'' etc. (I) produzieren, selbst wieder in natura in ihren Prozeß eingehn,<br />
versteht es sich von selbst, daß pro tanto ein Teil ihres eignen Mehrprodukts direkt (ohne<br />
Zirkulationsvermittlung) übertragen wird in ihr produktives Kapital und hier eingeht als zuschüssiges<br />
Element <strong>des</strong> konstanten <strong>Kapitals</strong>. Pro tanto sind sie aber auch keine Vergolder <strong>des</strong> Mehrprodukts von A,<br />
A' etc. (I). Hiervon abgesehn, wo kommt das Geld her? Wir wissen, daß sie ihren Schatz gebildet wie A,<br />
A' etc., durch Verkauf ihrer respektiven Mehrprodukte, und nun ans Ziel gelangt sind, wo ihr als Schatz<br />
aufgehäuftes, nur virtuelles Geldkapital nun effektiv als zusätzliches Geldkapital fungieren soll. Aber<br />
damit drehn wir uns nur im Zirkel. <strong>Die</strong> Frage ist immer noch, wo das Geld herkomme, das die B's<br />
(I) früher der Zirkulation entzogen und aufgehäuft?"(5)<br />
<strong>Die</strong> Antwort, die Marx sogleich gibt, scheint wieder von überraschender <strong>Ein</strong>fachheit zu sein. "Wir<br />
wissen jedoch schon aus der Betrachtung der einfachen Reproduktion, daß sich eine gewisse Geldmasse<br />
in den Händen der Kapitalisten I und II befinden muß, um ihr Mehrprodukt umzusetzen. Dort kehrte das<br />
Geld, das nur zur Verausgabung als Revenue in Konsumtionsmitteln diente, zu den Kapitalisten zurück,<br />
im Maß, wie sie es vorgeschossen zum Umsatz ihrer respektiven Waren; hier erscheint dasselbe Geld<br />
wieder, aber mit veränderter Funktion. <strong>Die</strong> A's und die B's (I) liefern sich abwechselnd das Geld zur<br />
Verwandlung von Mehrprodukt in zusätzliches virtuelles Geldkapital und werfen abwechselnd das<br />
neugebildete Geldkapital als Kaufmittel in die Zirkulation zurück."(6)<br />
Hier sind wir wieder in die einfache Reproduktion zurückgefallen. Es stimmt vollkommen, daß die<br />
Kapitalisten A und die Kapitalisten B stets einen Geldschatz allmählich anhäufen, um von Zeit zu Zeit<br />
ihr konstantes (fixes) Kapital zu erneuern, und so einander zur Realisierung ihres Produkts gegenseitig<br />
verhelfen. Aber dieser sich ansammelnde Schatz fällt nicht vom Himmel. Er ist nur der allmählich<br />
herabrieselnde Niederschlag <strong>des</strong> stufenweise auf die Produkte übertragenen Wertes <strong>des</strong> fixen <strong>Kapitals</strong>,<br />
der mit dem Verkauf der Produkte stückweise realisiert wird. Auf diese Weise kann der angesammelte<br />
Schatz immer nur ausreichen zur Erneuerung <strong>des</strong> alten <strong>Kapitals</strong>, er kann unmöglich darüber hinaus zum<br />
Ankauf eines zuschüssigen konstanten <strong>Kapitals</strong> dienen. Damit wären wir immer noch nicht über die<br />
Schranken der einfachen Reproduktion hinaus. Oder aber es kommt als neue, zuschüssige Geldquelle ein<br />
Teil der Zirkulationsmittel hinzu, die bisher Kapitalisten zu ihrer persönlichen Konsumtion dienten und<br />
die nun kapitalisiert werden sollen. Damit kommen wir aber wieder auf den nur theoretisch denkbaren<br />
kurzen Ausnahmemoment: den Übergang von der einfachen Reproduktion zur erweiterten. Weiter als bis<br />
zu diesem Sprung kommt die <strong>Akkumulation</strong> nicht vom Fleck, wir drehen uns in der Tat nur im Zirkel.<br />
<strong>Die</strong> kapitalistische Schatzbildung kann uns also aus der Schwierigkeit nicht heraushelfen. Und das war<br />
vorauszusehen, denn die Fragestellung selbst ist hier eine schiefe. Es handelt sich bei dem Problem der<br />
<strong>Akkumulation</strong> nicht darum: Wo kommt das Geld her?, sondern darum: Wo kommt die Nachfrage<br />
für das zuschüssige Produkt her, das aus dem kapitalisierten Mehrwert entspringt? Es ist nicht eine<br />
technische Frage der Geldzirkulation, sondern eine ökonomische Frage der Reproduktion <strong>des</strong><br />
gesellschaftlichen Gesamtkapitals. Denn sogar, wenn wir von der Frage absehen, mit der sich Marx bis<br />
jetzt allein befaßt hat: Wo hatten die B, B' usw. (I) Geld her, um zuschüssige Produktionsmittel von den<br />
A, A' usw. (I) zu kaufen?, so ersteht nach der vollzogenen <strong>Akkumulation</strong> die viel wichtigere Frage: An<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 8. Kapitel<br />
wen wollen denn die B, B' usw. (I) ihr gewachsenes Mehrprodukt jetzt verkaufen? Marx läßt sie<br />
schließlich ihre Produkte aneinander verkaufen!<br />
"Es können die verschiednen B, B', B'' etc. (I), deren virtuelles neues Geldkapital als aktives in Operation<br />
tritt, wechselseitig ihre Produkte (Teile ihres Mehrprodukts) voneinander zu kaufen und aneinander zu<br />
verkaufen haben. Pro tanto fließt das der Zirkulation <strong>des</strong> Mehrprodukts vorgeschoßne Geld - bei<br />
normalem Verlauf - an die verschiednen B's zurück, in derselben Proportion, worin sie solches zur<br />
Zirkulation ihrer respektiven Waren vorgeschossen haben."(7)<br />
"Pro tanto" ist das keine Lösung der Frage, denn schließlich haben die B, B', B'' usw. (I) wohl nicht<br />
<strong>des</strong>halb auf einen Teil der Konsumtion verzichtet und ihre Produktion erweitert, um nachher ihr<br />
vermehrtes Produkt - nämlich Produktionsmittel - einander abzukaufen. Übrigens ist dies auch nur in<br />
sehr beschränktem Maße möglich. Nach der Marxschen Annahme besteht nämlich eine gewisse<br />
Arbeitsteilung innerhalb I, wobei die A, A', A'' usw. (I) Produktionsmittel von Produktionsmitteln<br />
herstellen, die B, B', B" usw. (I) hingegen Produktionsmittel von Konsumtionsmitteln herstellen. Wenn<br />
also das Produkt der A, A' usw. innerhalb der Abteilung I verbleiben konnte, so ist das Produkt der B, B',<br />
B'' usw. von vornherein seiner Naturalgestalt wegen für die Abteilung II (Herstellung von Lebensmitteln)<br />
bestimmt. <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> bei den B, B' usw. führt uns also bereits zur Zirkulation zwischen I und II.<br />
Damit bestätigt der Gang der Marxschen Analyse selbst, daß, wenn innerhalb der Abteilung I<br />
<strong>Akkumulation</strong> stattfinden soll, schließlich - direkt oder indirekt - eine vergrößerte Nachfrage nach<br />
Produktionsmitteln in der Abteilung der Lebensmittel vorhanden sein muß. Hier also, bei den<br />
Kapitalisten II, haben wir die Abnehmer für das zuschüssige Produkt der Abteilung I zu suchen.<br />
In der Tat richtet sich der zweite Versuch von Marx, das Problem zu lösen, auf die Nachfrage der<br />
Kapitalisten II. Ihre Nachfrage nach zuschüs- sigen Produktionsmitteln kann nur den Sinn haben,<br />
daß sie ihr konstantes Kapital II c vergrößern. Hier springt aber die ganze Schwierigkeit deutlich in die<br />
Augen:<br />
"Gesetzt aber, A (I) vergolde sein Mehrprodukt durch Verkauf an einen B aus Abteilung II. <strong>Die</strong>s kann<br />
nur dadurch geschehn, daß, nachdem A (I) an B (II) Produktionsmittel verkauft, er nicht hinterher<br />
Konsumtionsmittel kauft; also nur durch einseitigen Verkauf seinerseits. Sofern nun II c aus Form von<br />
Warenkapital in die Naturalform von produktivem, konstantem Kapital nur umsetzbar dadurch, daß nicht<br />
nur I v, sondern auch wenigstens ein Teil von I m sich umsetzt gegen einen Teil von II c, welches II c in<br />
Form von Konsumtionsmitteln existiert; nun aber A sein I m dadurch vergoldet, daß dieser Umsatz nicht<br />
vollzogen wird, unser A vielmehr das im Verkauf seines I m von II gelöste Geld der Zirkulation entzieht,<br />
statt es in Kauf von Konsumtionsmitteln II c umzusetzen - so findet zwar auf Seite <strong>des</strong> A (I) Bildung von<br />
zusätzlichem virtuellem Geldkapital statt; aber auf der andren Seite liegt ein dem Wertumfang nach<br />
gleicher Teil <strong>des</strong> konstanten <strong>Kapitals</strong> von B (II) fest in der Form von Warenkapital, ohne sich in die<br />
Naturalform von produktivem, konstantem Kapital umsetzen zu können. In andern Worten: <strong>Ein</strong> Teil der<br />
Waren <strong>des</strong> B (II), und zwar prima facie ein Teil, ohne <strong>des</strong>sen Verkauf er sein konstantes Kapital nicht<br />
ganz in produktive Form rückverwandeln kann, ist unverkäuflich geworden; mit Bezug auf ihn findet<br />
daher Überproduktion statt, welche ebenfalls mit Bezug auf ihn die Reproduktion - selbst auf<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 8. Kapitel<br />
gleichbleibender Stufenleiter hemmt."(8)<br />
Der Versuch der <strong>Akkumulation</strong> auf seiten der Abteilung I durch Verkauf <strong>des</strong> zuschüssigen Mehrprodukts<br />
an die Abteilung II hat hier ein ganz unerwartetes Ergebnis gezeitigt: ein Defizit auf seiten der<br />
Kapitalisten II, die nicht einmal die einfache Reproduktion wieder aufnehmen können. An diesem<br />
Knotenpunkt angelangt, vertieft sich Marx ganz eingehend in die Analyse, um der Sache auf den Sprung<br />
zu kommen:<br />
"Betrachten wir nun die <strong>Akkumulation</strong> in Abteilung II etwas näher.<br />
<strong>Die</strong> erste Schwierigkeit mit Bezug auf II c, d.h. seine Rückverwandlung aus einem Bestandteil <strong>des</strong><br />
Warenkapitals II in die Naturalform von konstantem Kapital II, betrifft die einfache Reproduktion.<br />
Nehmen wir das frühere Schema:<br />
(1.000 v + 1.000 m) I setzen sich um gegen<br />
2.000 II c.<br />
Wird nun z.B. die Hälfte <strong>des</strong> Mehrprodukts I, also 1.000/2 m oder 500 I m wieder selbst als<br />
konstantes Kapital der Abteilung I einverleibt, so kann dieser in I rückbehaltne Teil <strong>des</strong> Mehrprodukts<br />
keinen Teil von II c ersetzen. Statt in Konsumtionsmittel umgesetzt zu werden ..., soll es als zusätzliches<br />
Produktionsmittel in I selbst dienen. Es kann diese Funktion nicht gleichzeitig in I und II verrichten. Der<br />
Kapitalist kann den Wert seines Mehrprodukts nicht in Konsumtionsmitteln verausgaben und gleichzeitig<br />
das Mehrprodukt selbst produktiv konsumieren, d.h. seinem produktiven Kapital einverleiben. Statt<br />
2.000 I (v + m) sind also nur 1.500, nämlich (1.000 v + 500 m) I umsetzbar in 2.000 II c; es sind also 500<br />
II c aus ihrer Warenform nicht rückverwandelbar in produktives (konstantes) Kapital II."(9)<br />
Bis jetzt haben wir uns noch klarer von dem Bestehen der Schwierigkeit überzeugt, keinen Schritt aber<br />
zu ihrer Lösung vorwärts getan. Übrigens rächt sich hier an der Analyse, daß Marx zur Aufklärung <strong>des</strong><br />
Problems der <strong>Akkumulation</strong> immer wieder als Grundlage die Fiktion eines anfänglichen Übergangs von<br />
der einfachen zur erweiterten Reproduktion, also die Geburtsstunde der <strong>Akkumulation</strong> gebraucht, statt<br />
die <strong>Akkumulation</strong> mitten in ihrem Fluß zu packen. <strong>Die</strong>se Fiktion nun, die uns, solange wir die<br />
<strong>Akkumulation</strong> nur innerhalb der Abteilung I betrachteten, wenigstens für einen Augenblick eine<br />
scheinbare Lösung bot - die Kapitalisten I hatten plötzlich, da sie auf einen Teil ihrer gestrigen<br />
Privatkonsumtion verzichteten, einen neuen Geldschatz in der Hand, mit dem sie die Kapitalisierung<br />
beginnen konnten -, selbe Fiktion vergrößert jetzt, wo wir uns an die Abteilung II wenden, nur noch mehr<br />
die Schwierigkeit. Denn hier äußert sich die "Entsagung" auf seiten der Kapitalisten I in einem<br />
schmerzlichen Verlust von Konsumenten, auf deren Nachfrage die Produktion berechnet war. <strong>Die</strong><br />
Kapitalisten der Abteilung II, mit denen wir das Experiment anstellen wollten, ob sie nicht die lange<br />
gesuchten Abnehmer für das zuschüssige Produkt der <strong>Akkumulation</strong> in Abteilung I darstellen, können<br />
uns um so weniger aus der Schwierigkeit heraushelfen, als sie selbst in der Klemme sitzen und vorerst<br />
noch nicht wissen, wo sie mit ihrem eigenen unverkauften Produkt hin sollen. Man sieht, zu welchen<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 8. Kapitel<br />
Unzuträglichkeiten der Versuch führt, die <strong>Akkumulation</strong> bei den einen Kapitalisten auf Kosten anderer<br />
Kapitalisten vollziehen zu lassen.<br />
Marx führt dann einen Versuch an, die Schwierigkeit zu umgehen, um ihn alsbald selbst als eine<br />
Ausflucht abzuweisen. Man könnte nämlich den aus der <strong>Akkumulation</strong> in I sich ergebenden<br />
unverkäuflichen Überschuß in II als einen notwendigen Warenvorrat der Gesellschaft für das nächste<br />
Jahr betrachten. Darauf erwidert Marx mit seiner gewohnten Gründlichkeit: "1. solche Vorratbildung und<br />
ihre Notwendigkeit gilt für alle Kapitalisten, sowohl I wie II. Als bloße Warenverkäufer betrachtet,<br />
unterscheiden sie sich nur dadurch, daß sie Waren verschiedner Sorten verkaufen. Der Vorrat in Waren II<br />
unterstellt einen frühern Vorrat in Waren I. Vernachlässigen wir diesen Vorrat auf der einen Seite, so<br />
müssen wir es auch auf der andern. Ziehn wir ihn aber auf beiden Seiten in Betracht, so wird am Problem<br />
nichts geändert. - 2. Wie dies Jahr auf Seite II mit einem Warenvorrat für nächstes abschließt, so hat es<br />
begonnen mit einem Warenvorrat auf derselben Seite, überliefert vom vorigen Jahr. Bei Analyse der<br />
jährlichen Reproduktion - auf ihren abstraktesten Ausdruck reduziert - müssen wir ihn also beidemal<br />
streichen. Indem wir diesem Jahr seine ganze Produktion lassen, also auch das, was es als Warenvorrat<br />
an nächstes Jahr abgibt, nehmen wir ihm aber auch andrerseits den Warenvorrat, den es vom vorigen Jahr<br />
bekommen, und haben damit in der Tat das Gesamtprodukt eines Durchschnittsjahrs als Gegenstand der<br />
Analyse vor uns. - 3. Der einfache Umstand, daß die Schwierigkeit, die umgangen werden soll, uns nicht<br />
aufstieß bei Betrachtung der einfachen Reproduktion, beweist, daß es sich um ein spezifisches Phänomen<br />
handelt, das nur der verschiednen Gruppierung (mit Bezug auf Reproduktion) der Elemente I geschuldet<br />
ist, einer veränderten Gruppierung, ohne welche überhaupt keine Reproduktion auf erweiterter<br />
Stufenleiter stattfinden könnte."(10)<br />
<strong>Die</strong> letztere Bemerkung richtet sich aber gegen die bisherigen Versuche von Marx selbst, die spezifische<br />
Schwierigkeit der <strong>Akkumulation</strong> durch Momente auflösen zu wollen, die schon der einfachen<br />
Reproduktion gehören, nämlich jene mit dem allmählichen Umschlag <strong>des</strong> fixen <strong>Kapitals</strong> verbundene<br />
Schatzbildung in den Händen der Kapitalisten, die uns früher, innerhalb der Abteilung I, die<br />
<strong>Akkumulation</strong> erklären sollte.<br />
Marx geht weiter zur schematischen Darstellung der erweiterten Reproduktion über, stößt aber im<br />
nächsten Augenblick, bei der Analyse seines Schemas, wieder auf dieselbe Schwierigkeit unter einer<br />
etwas anderen Form. Er unterstellt, daß die Kapitalisten der Abteilung I 500 m akkumulieren, die der<br />
Abteilung II aber ihrerseits 140 m in konstantes Kapital verwandeln müssen, um jenen die <strong>Akkumulation</strong><br />
zu ermöglichen, und fragt:<br />
"II muß 140 I m also mit barem Geld kaufen, ohne daß dies Geld zu ihm zurückflösse durch<br />
nachfolgenden Verkauf seiner Ware an I. Und zwar ist dies ein beständig, bei jeder jährlichen<br />
Neuproduktion, soweit sie Reproduktion auf erweiterter Stufenleiter, sich wiederholender Prozeß. Wo<br />
springt dafür die Geldquelle in II?"(11)<br />
Marx versucht im weiteren Verlauf diese Quelle von verschiedenen Seiten ausfindig zu machen.<br />
Zunächst betrachtet er näher die Ausgabe der Kapitalisten II für variables Kapital. <strong>Die</strong>ses ist freilich in<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 8. Kapitel<br />
Geldform vorhanden. Es kann aber auch unmöglich seinem Zweck, dem Ankauf der Arbeitskraft,<br />
entzogen werden, um etwa zum Ankauf jener zuschüssigen Produktionsmittel zu dienen. "<strong>Die</strong>se<br />
beständig sich wiederholende Entfernung (<strong>des</strong> variablen <strong>Kapitals</strong> - R. L.) vom und Rückkehr zum<br />
Ausgangspunkt - der Tusche <strong>des</strong> Kapitalisten - vermehrt das in diesem Kreislauf sich herumtreibende<br />
Geld in keiner Weise. <strong>Die</strong>s ist also keine Quelle von Geldakkumulation." Marx zieht sodann selbst alle<br />
denkbaren Ausflüchte in Erwägung, um sie als solche abzulehnen. "Aber halt! ist hier nicht ein<br />
Profitchen zu machen?" ruft er, und untersucht, ob die Kapitalisten nicht durch Herabdrückung der<br />
Löhne ihrer Arbeiter unter die normale Durchschnittshöhe zur Ersparnis <strong>des</strong> variablen <strong>Kapitals</strong> und so zu<br />
einer neuen Geldquelle für Zwecke der <strong>Akkumulation</strong> gelangen können. <strong>Die</strong>sen <strong>Ein</strong>fall schiebt er<br />
natürlich mit einer Handbewegung auf die Seite: "Es darf aber nicht vergessen werden, daß der wirklich<br />
gezahlte normale Arbeitslohn (der ceteris paribus die Größe <strong>des</strong> variablen <strong>Kapitals</strong> bestimmt) keineswegs<br />
aus Güte der Kapitalisten gezahlt wird, sondern unter gegebnen Verhältnissen gezahlt werden muß.<br />
Damit ist diese Erklärungsweise beseitigt."(12) Selbst auf versteckte Methoden der "Ersparnisse" beim<br />
variablen Kapital - Trucksystem, Fälschungen usw. - geht er ein, um zum Schluß zu bemerken: "Es ist<br />
dies dieselbe Operation wie sub 1, nur verkleidet und auf einem Umweg exekutiert. Sie ist also hier<br />
ebensosehr zurückzuweisen wie jene."(13) Auf diese Weise sind alle Versuche, aus dem variablen<br />
Kapital eine neue Geldquelle für Zwecke der <strong>Akkumulation</strong> herauszuschlagen, resultatlos: "Mit 376 II v<br />
ist also zu dem erwähnten Zweck nichts anzustellen."<br />
Marx wendet sich dann an den Geldvorrat der Kapitalisten II, den sie zur Zirkulation ihrer<br />
eigenen Konsumtion in der Tasche haben, um nachzusehen, ob sich hier nicht ein Geldquantum für<br />
Zwecke der Kapitalisierung erübrigen ließe. Er nennt aber diesen Versuch selbst "noch bedenklicher" als<br />
den früheren: "Hier stehn sich nur Kapitalisten derselben Klasse gegenüber, die die von ihnen<br />
produzierten Konsumtionsmittel wechselseitig aneinander verkaufen und voneinander kaufen. Das zu<br />
diesem Umsatz nötige Geld fungiert nur als Zirkulationsmittel und muß bei normalem Verlauf zu den<br />
Beteiligten zurückfließen, in dem Maß, wie sie es der Zirkulation vorgeschossen haben, um stets von<br />
neuem dieselbe Bahn zu durchlaufen." Dann folgt noch ein Versuch, der natürlich in die Kategorie jener<br />
"Ausflüchte" gehört, die Marx rücksichtslos zurückweist: die Bildung von Geldkapital in den Händen der<br />
einen Kapitalisten II durch Beschwindelung der anderen Kapitalisten derselben Abteilung zu erklären,<br />
nämlich beim gegenseitigen Verkauf von Konsummitteln. Es erübrigt sich, auf diesen Versuch<br />
einzugeben.<br />
Darauf noch ein ernstgemeinter Versuch:<br />
"Oder aber, ein in notwendigen Lebensmitteln sich darstellender Teil von II m wird direkt in neues<br />
variables Kapital innerhalb Abteilung II verwandelt."(14)<br />
Wie uns dieser Versuch aus der Schwierigkeit heraushelfen, d.h. die <strong>Akkumulation</strong> in Fluß bringen soll,<br />
ist nicht ganz klar. Denn 1. hilft uns die Bildung von zusätzlichem variablem Kapital in der Abteilung II<br />
noch nicht weiter, da wir ja noch nicht das zuschüssige konstante Kapital II zustande gebracht haben und<br />
gerade dabei waren, es erst zu ermöglichen; 2. handelte es sich diesmal bei der Untersuchung um die<br />
Aufdeckung einer Geldquelle in II zum Ankauf zuschüssiger Produktionsmittel von I nicht darum, das<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 8. Kapitel<br />
eigene überschüssige Produkt von II irgendwie in der eigenen Produktion unterzubringen; 3. soll der<br />
Versuch bedeuten, daß die betreffenden Lebensmittel "direkt", d.h. ohne Vermittelung <strong>des</strong> Gel<strong>des</strong>, in der<br />
Produktion von II wieder als variables Kapital verwendet werden können, wodurch die entsprechende<br />
Geldmenge aus dem variablen Kapital frei würde für <strong>Akkumulation</strong>szwecke, so müßten wir den Versuch<br />
ablehnen. <strong>Die</strong> kapitalistische Produktion schließt unter normalen Bedingungen die direkte Entlohnung<br />
der Arbeiter in Lebensmitteln aus; die Geldform <strong>des</strong> variablen <strong>Kapitals</strong>, die selbständige<br />
Transaktion zwischen dem Arbeiter als Warenkäufer und den Produzenten der Konsummittel ist eine der<br />
wesentlichsten Grundlagen der kapitalistischen Wirtschaft. Marx betont selbst in einem anderen<br />
Zusammenhang: "Wir wissen: das wirkliche variable Kapital besteht aus Arbeitskraft, also auch das<br />
zusätzliche. Es ist nicht der Kapitalist I, der etwa von II notwendige Lebensmittel auf Vorrat kauft oder<br />
aufhäuft für die von ihm zu verwendende zusätzliche Arbeitskraft, wie es der Sklavenhalter tun mußte.<br />
Es sind die Arbeiter selbst, die mit II handeln."(15) Das Gesagte trifft auf die Kapitalisten II genauso zu<br />
wie auf die Kapitalisten I. Damit ist der obige Versuch von Marx erschöpft.<br />
Zum Schluß verweist er uns auf den letzten Teil <strong>des</strong> "<strong>Kapitals</strong>", 21. Kapitel im Band II, den Engels sub<br />
IV. als "Nachträgliches" gesetzt hat. Hier finden wir die kürze Erklärung:<br />
"<strong>Die</strong> ursprüngliche Geldquelle für II ist v + m der Goldproduktion I, ausgetauscht gegen einen Teil von<br />
II c; nur soweit der Goldproduzent Mehrwert aufhäuft oder in Produktionsmittel I verwandelt, also seine<br />
Produktion ausdehnt, geht sein v + m nicht in II ein; andrerseits, soweit <strong>Akkumulation</strong> von Geld, seitens<br />
<strong>des</strong> Goldproduzenten selbst, schließlich zur erweiterten Reproduktion führt, geht ein nicht als Revenue<br />
ausgegebner Teil <strong>des</strong> Mehrwerts der Goldproduktion für zuschüssiges variables Kapital <strong>des</strong><br />
Goldproduzenten in II ein, fördert hier neue Schatzbildung oder gibt neue Mittel von I zu kaufen, ohne<br />
direkt wieder an es zu verkaufen."(16)<br />
So sind wir, nachdem alle möglichen Versuche zur Erklärung der <strong>Akkumulation</strong> fehlgeschlagen sind,<br />
nachdem wir von Pontius zu Pilatus, von A I zu B I, von B I zu B II herumgeschickt worden sind,<br />
schließlich bei demselben Goldproduzenten angelangt, <strong>des</strong>sen Heranziehung Marx gleich zu Beginn<br />
seiner Analyse als "abgeschmackt" bezeichnet hatte. Damit endet die Analyse <strong>des</strong><br />
Reproduktionsprozesses und der zweite Band <strong>des</strong> "<strong>Kapitals</strong>", ohne uns die lange gesuchte Lösung der<br />
Schwierigkeit gebracht zu haben.<br />
Fußnoten von <strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong><br />
(1) Das Kapital, Bd. II, S. 465. [Karl Marx: Das Kapital, Zweiter Band. In: Karl Marx/Friedrich Engels:<br />
Werke, Bd. 24, S. 485.]
<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 8. Kapitel<br />
(3) Das Kapital, Bd. II, S. 469. [Karl Marx: Das Kapital, Zweiter Band. In: Karl Marx/Friedrich Engels:<br />
Werke, Bd. 24, S. 488-489.]
<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 9. Kapitel<br />
8. Kapitel | Inhalt | 10. Kapitel<br />
<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - Gesammelte Werke. Herausgegeben vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Band<br />
5. <strong>Berlin</strong>/DDR. 1975. "<strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>", S. 123-137.<br />
1. Korrektur.<br />
Erstellt am 20.10.1998<br />
Neuntes Kapitel<br />
<strong>Die</strong> Schwierigkeit unter dem Gesichtswinkel <strong>des</strong><br />
Zirkulationsprozesses<br />
<strong>Die</strong> Analyse litt u.E. darunter, daß Marx das Problem unter der schiefen Form der Frage nach<br />
"Geldquellen" zu beantworten suchte. Es handelt sich aber in Wirklichkeit um tatsächliche Nachfrage, um<br />
Verwendung für Waren, nicht um Geldquellen zu ihrer Bezahlung. In bezug auf Geld als Medium der<br />
Zirkulation müssen wir hier, bei der Betrachtung <strong>des</strong> Reproduktionsprozesses im ganzen, annehmen, daß<br />
die kapitalistische Gesellschaft stets die zu ihrem Zirkulationsprozeß erforderliche Geldmenge zur<br />
Verfügung hat oder sich dafür Surrogate zu beschaffen weiß. Was zu erklären ist, sind die großen<br />
gesellschaftlichen Austauschakte, die durch reale ökonomische Bedürfnisse hervorgerufen werden. Daß<br />
der kapitalistische Mehrwert, bevor er akkumuliert werden kann, unbedingt die Geldform passieren muß,<br />
darf nicht außer acht gelassen werden. Dennoch suchen wir aber die ökonomische Nachfrage nach dem<br />
Mehrprodukt ausfindig zu machen, ohne uns weiter um die Herkunft <strong>des</strong> Gel<strong>des</strong> zu kümmern. Denn, wie<br />
Marx selbst an einer anderen Stelle sagt: "Das Geld auf der einen Seite ruft dann die erweiterte<br />
Reproduktion auf der andern ins Leben, weil deren Möglichkeit ohne das Geld da ist, denn Geld an sich<br />
selbst ist kein Element der wirklichen Reproduktion."(1)<br />
Daß die Frage nach der "Geldquelle" zur <strong>Akkumulation</strong> eine ganz sterile Formulierung <strong>des</strong> Problems der<br />
<strong>Akkumulation</strong> ist, zeigt sich bei Marx selbst in einem anderen Zusammenhang.<br />
<strong>Die</strong>selbe Schwierigkeit beschäftigte ihn nämlich schon einmal im zweiten Bande <strong>des</strong> "<strong>Kapitals</strong>" bei der<br />
Untersuchung <strong>des</strong> Zirkulationsprozesses. Schon bei der Betrachtung der einfachen Reproduktion stellt er<br />
bei der Zirkulation <strong>des</strong> Mehrwerts die Frage:<br />
"Aber das Warenkapital, vor seiner Rückverwandlung in produktives Kapital und vor der Verausgabung<br />
<strong>des</strong> in ihm steckenden Mehrwerts, muß versilbert werden. Wo kommt das Geld dazu her? <strong>Die</strong>se Frage<br />
erscheint auf den ersten Blick schwierig, und weder Tooke noch ein andrer hat sie bisher beantwortet."(2)<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 9. Kapitel<br />
Und er geht mit aller Rücksichtslosigkeit der Sache auf den Grund:<br />
"Das in der Form von Geldkapital vorgeschoßne zirkulierende Kapital von 500 Pfd.St., welches<br />
immer seine Umschlagsperiode, sei das zirkulierende Gesamtkapital der Gesellschaft, d.h. der<br />
Kapitalistenklasse. Der Mehrwert sei 100 Pfd.St. Wie kann nun die ganze Kapitalistenklasse beständig<br />
600 Pfd.St. aus der Zirkulation herausziehn, wenn sie beständig nur 500 Pfd.St. hineinwirft?"<br />
Wir sind hier wohlgemerkt bei der einfachen Reproduktion, wo der gesamte Mehrwert von der<br />
Kapitalistenklasse zu persönlicher Konsumtion verwendet wird. <strong>Die</strong> Frage müßte also von vornherein<br />
präziser so gefaßt werden: Wie können die Kapitalisten, nachdem sie für konstantes und variables Kapital<br />
im ganzen 500 Pfund Sterling in Geld in Umlauf setzen, ihrer Konsummittel im Betrage <strong>des</strong> Mehrwerts =<br />
100 Pfund Sterling habhaft werden? Es ist dann sofort klar, daß jene 500 Pfund Sterling, die als Kapital<br />
ständig zum Ankauf von Produktionsmitteln und zur Entlohnung der Arbeiter dienen, nicht zugleich zur<br />
Deckung der persönlichen Konsumtion der Kapitalisten dienen können. Wo kommt also das zuschüssige<br />
Geld von 100 Pfund Sterling her, das die Kapitalisten zur Realisierung ihres eigenen Mehrwerts<br />
brauchen? Marx lehnt sofort alle theoretischen Ausflüchte ab, die etwa zur Beantwortung der Frage<br />
versucht werden könnten.<br />
"Man muß nun die Schwierigkeit nicht durch plausible Ausflüchte zu umgehn suchen.<br />
Zum Beispiel: Was das konstante zirkulierende Kapital betrifft, so ist klar, daß nicht alle es gleichzeitig<br />
auslegen. Während Kapitalist A seine Ware verkauft, also für ihn vorgeschoßnes Kapital Geldform<br />
annimmt, nimmt für den Käufer B umgekehrt sein in Geldform vorhandnes Kapital die Form seiner<br />
Produktionsmittel an, die gerade A produziert. Durch denselben Akt, wodurch A seinem produzierten<br />
Warenkapital die Geldform wiedergibt, gibt B dem seinigen die produktive Form wieder, verwandelt es<br />
aus Geldform in Produktionsmittel und Arbeitskraft; dieselbe Geldsumme fungiert in dem doppelseitigen<br />
Prozeß wie in jedem einfachen Kauf W - G. Andrerseits, wenn A das Geld wieder in Produktionsmittel<br />
verwandelt, kauft er von C, und dieser zahlt damit B etc. So wäre dann der Hergang erklärt. Aber:<br />
Alle in bezug auf das Quantum <strong>des</strong> zirkulierenden Gel<strong>des</strong> bei der Warenzirkulation (Buch I, Kap. III)<br />
aufgestellten Gesetze werden in keiner Art durch den kapitalistischen Charakter <strong>des</strong> Produktionsprozesses<br />
geändert.<br />
Wenn also gesagt wird, das in Geldform vorzuschießende zirkulierende Kapital der Gesellschaft<br />
beträgt 500 Pfd.St., so ist dabei schon in Berechnung gebracht, daß dies einerseits die Summe ist, die<br />
gleichzeitig vorgeschossen war, daß aber andrerseits diese Summe mehr produktives Kapital in<br />
Bewegung setzt als 500 Pfd.St., weil sie abwechselnd als Geldfonds verschiedner produktiver Kapitale<br />
dient. <strong>Die</strong>se Erklärungsweise setzt also schon das Geld als vorhanden voraus, <strong>des</strong>sen Dasein sie erklären<br />
soll. -<br />
Es könnte ferner gesagt werden: Kapitalist A produziert Artikel, die Kapitalist B individuell, unproduktiv<br />
konsumiert. Das Geld von B versilbert also das Warenkapital von A, und so dient dieselbe Geldsumme<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 9. Kapitel<br />
zur Versilbrung <strong>des</strong> Mehrwerts von B und <strong>des</strong> zirkulierenden konstanten <strong>Kapitals</strong> von A. Hier ist aber die<br />
Lösung der Frage, die beantwortet werden soll, noch direkter unterstellt. Nämlich, wo kriegt B dies Geld<br />
zur Bestreitung seiner Revenue her? Wie hat er selbst diesen Mehrwertteil seines Produkts versilbert? -<br />
Ferner könnte gesagt werden, der Teil <strong>des</strong> zirkulierenden variablen <strong>Kapitals</strong>, den A seinen Arbeitern<br />
beständig vorschießt, strömt ihm beständig aus der Zirkulation zurück; und nur ein abwechselnder Teil<br />
davon liegt beständig bei ihm selbst zur Zahlung <strong>des</strong> Arbeitslohns fest. Zwischen der Ausgabe und dem<br />
Rückstrom verfließt jedoch eine gewisse Zeit, während deren das in Arbeitslohn ausgezahlte Geld unter<br />
andrem auch zur Versilberung von Mehrwert dienen kann. - Aber wir wissen erstens, daß, je größer diese<br />
Zeit, um so größer auch die Masse <strong>des</strong> Geldvorrats sein muß, die der Kapitalist A beständig in petto<br />
halten muß. Zweitens gibt der Arbeiter das Geld aus, kauft Waren damit, versilbert daher den in diesen<br />
Waren steckenden Mehrwert pro tanto. Also dient dasselbe Geld, das in der Form <strong>des</strong> variablen <strong>Kapitals</strong><br />
vorgeschossen wird, pro tanto auch dazu, Mehrwert zu versilbern. Ohne hier noch tiefer auf diese Frage<br />
einzugehn, hier nur so viel: daß die Konsumtion der ganzen Kapitalistenklasse und der von ihr<br />
abhängigen unproduktiven Personen gleichzeitig Schritt hält mit der für die Arbeiterklasse; also<br />
gleichzeitig mit dem von den Arbeitern in Zirkulation geworfnen Geld, von den Kapitalisten Geld in die<br />
Zirkulation geworfen werden muß, um ihren Mehrwert als Revenue zu verausgaben; also für denselben<br />
der Zirkulation Geld entzogen sein muß. <strong>Die</strong> eben gegebne Erklärung würde nur das so nötige Quantum<br />
verringern, nicht beseitigen. -<br />
Endlich könnte gesagt werden: Es wird doch beständig ein großes Quantum Geld in Zirkulation geworfen<br />
bei der ersten Anlage <strong>des</strong> fixen <strong>Kapitals</strong>, das der Zirkulation nur allmählich, stückweis, im Lauf von<br />
Jahren, von dem wieder entzogen wird, der es hineinwarf. Kann diese Summe nicht hinreichen,<br />
um den Mehrwert zu versilbern? - Hierauf ist zu antworten, daß vielleicht in der Summe von 500 Pfd.St.<br />
(die auch Schatzbildung für nötige Reservefonds einschließt) schon die Anwendung dieser Summe als<br />
fixes Kapital, wenn nicht durch den, der sie hineinwarf, so doch durch jemand anders, einbegriffen ist.<br />
Außerdem ist bei der Summe, die für Beschaffung der als fixes Kapital dienenden Produkte ausgegeben<br />
wird, schon unterstellt, daß auch der in diesen Waren steckende Mehrwert gezahlt ist, und es fragt sich<br />
eben, wo dies Geld herkommt."<br />
Auf diesen letzten Punkt müssen wir nebenbei besondere Aufmerksamkeit lenken. Denn hier lehnt es<br />
Marx ab, die Schatzbildung für die periodische Erneuerung <strong>des</strong> fixen <strong>Kapitals</strong> zur Erklärung der<br />
Realisierung <strong>des</strong> Mehrwerts selbst bei einfacher Reproduktion heranzuziehen. Später, wo es sich um die<br />
viel schwierigere Realisierung <strong>des</strong> Mehrwertes bei der <strong>Akkumulation</strong> handelt, greift er, wie wir gesehen,<br />
versuchsweise mehrfach auf dieselbe von ihm als "plausible Ausflucht" abgetane Erklärung zurück.<br />
Dann folgt die Lösung, die etwas unerwartet klingt:<br />
"<strong>Die</strong> allgemeine Antwort ist bereits gegeben: Wenn eine Warenmasse von x × 1.000 Pfd.St. zu<br />
zirkulieren, so ändert es absolut nichts am Quantum der zu dieser Zirkulation nötigen Geldsumme, ob der<br />
Wert dieser Warenmasse Mehrwert enthält oder nicht, ob die Warenmasse kapitalistisch produziert ist<br />
oder nicht. Das Problem selbst existiert also nicht. Bei sonst gegebnen Bedingungen,<br />
Umlaufsgeschwindigkeit <strong>des</strong> Gel<strong>des</strong> etc., ist eine bestimmte Geldsumme erheischt, um den Warenwert<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 9. Kapitel<br />
von x × 1.000 Pfd.St. zu zirkulieren, ganz unabhängig von dem Umstand, wie viel oder wie wenig von<br />
diesem Wert den unmittelbaren Produzenten dieser Waren zufällt. Soweit hier ein Problem existiert, fällt<br />
es zusammen mit dem allgemeinen Problem: woher die zur Zirkulation der Waren in einem Lande nötige<br />
Geldsumme kommt."(3)<br />
<strong>Die</strong> Antwort ist vollkommen richtig. <strong>Die</strong> Frage: Woher kommt das Geld zur Zirkulation <strong>des</strong> Mehrwerts?<br />
ist mit beantwortet bei der allgemeinen Frage: Wo kommt das Geld her, um eine gewisse Warenmasse im<br />
Lande in Zirkulation zu setzen? <strong>Die</strong> <strong>Ein</strong>teilung der Wertmasse dieser Waren in konstantes Kapital,<br />
variables Kapital und Mehrwert existiert gar nicht vom Standpunkte der Geldzirkulation als solcher und<br />
hat von diesem Standpunkt keinen Sinn. Also nur unter dem Gesichtswinkel der Geldzirkulation oder der<br />
einfachen Warenzirkulation "existiert das Pro- blem nicht". Das Problem existiert aber wohl vom<br />
Standpunkte der gesellschaftlichen Reproduktion im ganzen, nur darf es nicht so schief formuliert<br />
werden, daß uns die Antwort in die einfache Warenzirkulation zurückbringt, wo das Problem nicht<br />
existiert. <strong>Die</strong> Frage lautet also nicht: Wo kommt das Geld her, um den Mehrwert zu realisieren?, sondern<br />
sie muß lauten: Wo sind die Konsumenten für den Mehrwert? Daß das Geld in der Hand dieser<br />
Konsumenten sich befinden und von ihnen in die Zirkulation geworfen werden muß, versteht sich dann<br />
von selbst. Marx selbst kehrt denn auch zu dem Problem, obwohl er es soeben für nicht existierend erklärt<br />
hat, immer wieder zurück:<br />
"Nun aber existieren nur zwei Ausgangspunkte: der Kapitalist und der Arbeiter. Alle dritten<br />
Personenrubriken müssen entweder für <strong>Die</strong>nstleistungen Geld von diesen beiden Klassen erhalten, oder<br />
soweit sie es ohne Gegenleistung erhalten, sind sie Mitbesitzer <strong>des</strong> Mehrwerts in der Form von Rente,<br />
Zins etc. Daß der Mehrwert nicht ganz in der Tasche es industriellen Kapitalisten bleibt, sondern von ihm<br />
mit andern Personen geteilt werden muß, hat mit der vorliegenden Frage nichts zu tun. Es ragt sich, wie<br />
er seinen Mehrwert versilbert, nicht wie das dafür gelöste Silber sich später verteilt. Es ist also für unsern<br />
Fall der Kapitalist noch als einziger Besitzer <strong>des</strong> Mehrwerts zu betrachten. Was aber den Arbeiter betrifft,<br />
so ist bereits gesagt, daß er nur sekundärer Ausgangspunkt, der Kapitalist aber der primäre<br />
Ausgangspunkt <strong>des</strong> vom Arbeiter in die Zirkulation geworfnen Gel<strong>des</strong> ist. Das zuerst als variables<br />
Kapital vorgeschoßne Geld vollzieht bereits seinen zweiten Umlauf, wenn der Arbeiter es zur Zahlung<br />
von Lebensmitteln ausgibt.<br />
<strong>Die</strong> Kapitalistenklasse bleibt also der einzige Ausgangspunkt der Geldzirkulation. Wenn sie zur Zahlung<br />
von Produktionsmitteln 400 Pfd.St., zur Zahlung der Arbeitskraft 100 Pfd.St. braucht, so wirft sie 500<br />
Pfd.St. in Zirkulation. Aber der in dem Produkt steckende Mehrwert, bei Mehrwertsrate von 100%, ist<br />
gleich einem Wert von 100 Pfd.St. Wie kann sie 600 Pfd.St. aus der Zirkulation beständig herausziehn,<br />
wenn sie beständig nur 500 Pfd.St. hineinwirft? Aus nichts wird nichts. <strong>Die</strong> Gesamtklasse der<br />
Kapitalisten kann nichts aus der Zirkulation herausziehn, was nicht vorher hineingeworfen war."<br />
Weiter weist Marx noch eine Ausflucht zurück, die zur Erklärung <strong>des</strong> Problems etwa versucht werden<br />
könnte, nämlich die Heranziehung der Geschwindigkeit im Umlauf <strong>des</strong> Gel<strong>des</strong>, die es erlaubt, mit<br />
weniger Geld eine größere Wertmasse in Zirkulation zu bringen. <strong>Die</strong> Ausflucht führt natürlich zu<br />
nichts, denn die Umlaufsgeschwindigkeit <strong>des</strong> Gel<strong>des</strong> ist bereits mit in Berechnung gezogen, wenn man<br />
annimmt, daß zur Zirkulation der Warenmasse soundso viel Pfund Sterling erforderlich sind. Darauf<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 9. Kapitel<br />
kommt endlich die Auflösung <strong>des</strong> Problems:<br />
"In der Tat, so paradox es auf den ersten Blick scheint, die Kapitalistenklasse selbst wirft das Geld in die<br />
Zirkulation, das zur Realisierung <strong>des</strong> in den Waren steckenden Mehrwerts dient. Aber notabene: sie wirft<br />
es hinein nicht als vorgeschoßnes Geld, also nicht als Kapital. Sie verausgabt es als Kaufmittel für ihre<br />
individuelle Konsumtion. Es ist also nicht von ihr vorgeschossen, obgleich sie der Ausgangspunkt seiner<br />
Zirkulation ist."(4)<br />
<strong>Die</strong>se deutliche und erschöpfende Lösung beweist am besten, daß das Problem kein scheinbares war. Sie<br />
beruht auch nicht darauf, daß wir eine neue "Geldquelle" entdeckt haben, um den Mehrwert zu<br />
realisieren, sondern daß wir die Konsumenten dieses Mehrwerts gefunden haben. Wir stehen noch hier<br />
nach Marxscher Voraussetzung auf dem Boden der einfachen Reproduktion. Das bedeutet, daß die<br />
Kapitalistenklasse ihren ganzen Mehrwert zur persönlichen Konsumtion verwendet. Da die Kapitalisten<br />
Konsumenten <strong>des</strong> Mehrwerts sind, so ist es nicht sowohl paradox als vielmehr selbstverständlich, daß sie<br />
das Geld in der Tasche haben müssen, um sich die Naturalgestalt <strong>des</strong> Mehrwerts, die<br />
Konsumgegenstände, anzueignen. Der Zirkulationsakt <strong>des</strong> Austausches ergibt sich als eine Notwendigkeit<br />
aus der Tatsache, daß die <strong>Ein</strong>zelkapitalisten nicht ihren individuellen Mehrwert - resp. das individuelle<br />
Mehrprodukt, wie der Sklavenhalter - direkt verzehren können. Seine sachliche Naturalgestalt schließt<br />
vielmehr in der Regel diesen Verbrauch aus. Der Gesamtmehrwert aller Kapitalisten befindet sich aber -<br />
unter der Voraussetzung der einfachen Reproduktion - im gesellschaftlichen Gesamtprodukt in einer<br />
entsprechenden Menge von Konsummitteln für die Kapitalistenklasse ausgedrückt, wie der<br />
Gesamtsumme der variablen Kapitale eine wertgleiche Menge von Lebensmitteln für die Arbeiterklasse<br />
entspricht und wie dem konstanten Kapital aller <strong>Ein</strong>zelkapitalisten zusammen eine wertgleiche Menge<br />
von sachlichen Produktionsmitteln entspricht. Um den individuellen ungenießbaren Mehrwert gegen die<br />
entsprechende Menge Lebensmittel einzutauschen, ist ein doppelter Akt der Warenzirkulation nötig: der<br />
Verkauf <strong>des</strong> eigenen Mehrprodukts und der <strong>Ein</strong>kauf der Lebensmittel aus dem gesellschaftlichen<br />
Mehrprodukt. Da diese zwei Akte ausschließlich innerhalb der Kapitalistenklasse vor sich gehen,<br />
unter einzelnen Kapitalisten stattfinden, so geht auch das vermittelnde Geldmedium hierbei nur aus einer<br />
Hand der Kapitalisten in die andere und bleibt immer in der Tasche der Kapitalistenklasse hängen. Da die<br />
einfache Reproduktion stets dieselben Mengen Werte zum Ausrausch bringt, so dient zur Zirkulation <strong>des</strong><br />
Mehrwert je<strong>des</strong> Jahr dieselbe Geldmenge, und man könnte höchstens, bei ausnahmsweiser Gründlichkeit,<br />
etwa die Frage stellen: Wo kam diese zur Vermittelung der eigenen Konsumtion der Kapitalisten<br />
dienende Geldmenge einst in die Taschen der Kapitalisten her? Aber diese Frage löst sich in die andere<br />
allgemeinere Frage auf: Wo kam überhaupt das erste Geldkapital einst in die Hände der Kapitalisten her,<br />
jenes Geldkapital, von dem sie neben der Verwendung für produktive Anlagen einen gewissen Teil stets<br />
in der Tasche behalten mußten für die Zwecke der persönlichen Konsumtion.? <strong>Die</strong> so gestellte Frage<br />
schlägt aber in das Kapitel der sogenannten "primitiven <strong>Akkumulation</strong>", d.h. der geschichtlichen Genesis<br />
<strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, und fällt aus dem Rahmen der Analyse sowohl <strong>des</strong> Zirkulations- wie <strong>des</strong><br />
Reproduktionsprozesses.<br />
So ist die Sache klar und unzweideutig - wohlgemerkt: solange wir auf dem Boden der einfachen<br />
Reproduktion stehen. Hier wird das Problem der Realisierung <strong>des</strong> Mehrwertes durch die Voraussetzungen<br />
selbst gelöst, es ist eigentlich schon antizipiert im Begriff der einfachen Reproduktion. <strong>Die</strong>se beruht eben<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 9. Kapitel<br />
darauf, daß der ganze Mehrwert von der Kapitalistenklasse konsumiert wird, und damit ist gesagt, daß er<br />
von ihr auch gekauft, d.h. von den <strong>Ein</strong>zelkapitalisten einander abgekauft werden muß.<br />
"In diesem Fall", sagt Marx selbst, "war angenommen, daß die Geldsumme, die der Kapitalist bis zum<br />
ersten Rückfluß seines <strong>Kapitals</strong> zur Bestreitung seiner individuellen Konsumtion in Zirkulation wirft,<br />
exakt gleich ist dem von ihm produzierten und daher zu versilbernden Mehrwert. <strong>Die</strong>s ist offenbar, mit<br />
Bezug auf den einzelnen Kapitalisten, eine willkürliche Annahme. Aber sie muß richtig sein für die<br />
gesamte Kapitalistenklasse, bei Unterstellung einfacher Reproduktion. Sie drückt nur dasselbe aus, was<br />
diese Unterstellung besagt, nämlich daß der ganze Mehrwert, aber auch nur dieser, also kein Bruchteil <strong>des</strong><br />
ursprünglichen <strong>Kapitals</strong>tocks, unproduktiv verzehrt wird."(5)<br />
Aber die einfache Reproduktion auf kapitalistischer Basis ist in der theoretischen Ökonomie eine<br />
imaginäre Größe, eine wissenschaftlich so berechtigte und unentbehrliche imaginäre Größe wie in<br />
der Mathe- matik. jedoch das Problem der Realisierung <strong>des</strong> Mehrwertes ist damit für die<br />
Wirklichkeit, d.h. für die erweiterte Reproduktion oder <strong>Akkumulation</strong>, durchaus nicht gelöst. Und das<br />
bestätigt Marx selbst zum zweitenmal, sobald er seine Analyse fortsetzt.<br />
Wo kommt das Geld zur Realisierung <strong>des</strong> Mehrwerts her unter Voraussetzung der <strong>Akkumulation</strong>, d.h. <strong>des</strong><br />
Nichtverzehrs, der Kapitalisierung eines Teils <strong>des</strong> Mehrwerts? <strong>Die</strong> erste Antwort, die Marx gibt, lautet:<br />
"Was zunächst das zuschüssige Geldkapital betrifft, erheischt zur Funktion <strong>des</strong> wachsenden produktiven<br />
<strong>Kapitals</strong>, so wird es geliefert durch den Teil <strong>des</strong> realisierten Mehrwerts, der als Geldkapital, statt als<br />
Geldform der Revenue, von den Kapitalisten in Zirkulation geworfen wird. Das Geld ist bereits in der<br />
Hand der Kapitalisten. Bloß seine Anwendung ist verschieden."<br />
<strong>Die</strong>se Erklärung ist uns schon bekannt aus der Untersuchung <strong>des</strong> Reproduktionsprozesses und ebenso ihre<br />
Unzulänglichkeit. <strong>Die</strong> Antwort stützt sich nämlich ausschließlich auf den Moment <strong>des</strong> ersten Übergangs<br />
von einfacher Reproduktion zur <strong>Akkumulation</strong>: Eben erst, gestern, verzehrten die Kapitalisten ihren<br />
ganzen Mehrwert, hatten also auch die entsprechende Geldmenge zu <strong>des</strong>sen Zirkulation in der Tasche.<br />
Heute entschließen sie sich, einen Teil <strong>des</strong> Mehrwerts zu "sparen" und produktiv anzulegen, statt ihn zu<br />
verjubeln. Sie brauchen dazu - vorausgesetzt, daß sachliche Produktionsmittel statt Luxus produziert<br />
worden sind - nur einen Teil ihres persönlichen Geldfonds anders zu verwenden. Aber der Übergang von<br />
einfacher zur erweiterten Produktion ist ebenso theoretische Fiktion wie die einfache Reproduktion <strong>des</strong><br />
<strong>Kapitals</strong> selbst. Marx geht denn auch sogleich weiter:<br />
"Nun wird aber infolge <strong>des</strong> zuschüssigen produktiven <strong>Kapitals</strong>, als sein Produkt, eine zuschüssige<br />
Warenmasse in Zirkulation geworfen. Mit dieser zuschüssigen Warenmasse wurde zugleich ein Teil <strong>des</strong><br />
zu ihrer Realisation nötigen zuschüssigen Gel<strong>des</strong> in Zirkulation geworfen, soweit nämlich der Wert dieser<br />
Warenmasse gleich ist dem Wert <strong>des</strong> in ihrer Produktion verzehrten produktiven <strong>Kapitals</strong>. <strong>Die</strong>se<br />
zuschüssige Geldmasse ist gerade als zuschüssiges Geldkapital vorgeschossen worden und fließt daher<br />
zum Kapitalisten zurück durch den Umschlag seines <strong>Kapitals</strong>. Hier tritt wieder dieselbe Frage auf wie<br />
oben. Wo kommt das zuschüssige Geld her, um den jetzt in Warenform vorhandnen zuschüssigen<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 9. Kapitel<br />
Mehrwert zu realisieren?"<br />
Nun aber, wo das Problem in aller Schärfe wieder gestellt ist, bekommen wir statt einer Lösung<br />
die folgende unerwartete Antwort:<br />
"<strong>Die</strong> allgemeine Antwort ist wieder dieselbe. <strong>Die</strong> Preissumme der zirkulierenden Warenmasse ist<br />
vermehrt, nicht, weil die Preise einer gegebnen Warenmasse gestiegen, sondern, weil die Masse der jetzt<br />
zirkulierenden Waren größer ist als die der früher zirkulierenden Waren, ohne daß dies durch einen Fall<br />
der Preise ausgeglichen wäre. Das zur Zirkulation dieser größern Warenmasse von größtem Wert<br />
erforderte zuschüssige Geld muß beschafft werden entweder durch erhöhte Ökonomisierung der<br />
zirkulierenden Geldmasse - sei es durch Ausgleichung der Zahlungen etc., sei es durch Mittel, welche den<br />
Umlauf derselben Geldstücke beschleunigen - oder aber durch Verwandlung von Geld aus der<br />
Schatzform in die zirkulierende Form."(6)<br />
<strong>Die</strong>se Lösung geht auf die folgende Erklärung hinaus: <strong>Die</strong> kapitalistische Reproduktion wirft unter den<br />
Bedingungen einer im Fluß befindlichen und wachsenden <strong>Akkumulation</strong> eine immer größere Masse<br />
Warenwert auf den Markt. Um diese im Wert wachsende Warenmasse in Zirkulation zu bringen, ist eine<br />
immer größere Geldmenge notwendig. <strong>Die</strong>se wachsende Geldmenge muß eben - beschafft werden. Das<br />
ist alles unzweifelhaft richtig und einleuchtend, aber das Problem, um das es sich handelte, ist damit nicht<br />
gelöst, sondern verschwunden.<br />
<strong>Ein</strong>s von beiden. Entweder betrachtet man das gesellschaftliche Gesamtprodukt (der kapitalistischen<br />
Wirtschaft) einfach als eine Warenmasse von bestimmtem Wert, als einen "Warenbrei", und sieht, bei<br />
Bedingungen der <strong>Akkumulation</strong>, nur ein Anwachsen dieses unterschiedslosen Warenbreis und <strong>des</strong>sen<br />
Wertmasse. Dann wird nur zu konstatieren sein, daß zur Zirkulation dieser Wertmasse eine entsprechende<br />
Geldmenge notwendig ist, daß diese Geldmenge wachsen muß, wenn die Wertmasse wächst - falls die<br />
Beschleunigung <strong>des</strong> Verkehrs und seine Ökonomisierung den Wertzuwachs nicht aufwiegen. Und etwa<br />
auf eine letzte Frage, woher denn schließlich alles Geld komme, kann man mit Marx die Antwort geben:<br />
aus den Goldgruben. Das ist auch ein Standpunkt, nämlich der Standpunkt der einfachen<br />
Warenzirkulation. Aber dann braucht man nicht Begriffe wie konstantes und variables Kapital und<br />
Mehrwert hineinzubringen, die nicht zur einfachen Warenzirkulation, sondern zur Kapitalzirkulation und<br />
zur gesellschaftlichen Reproduktion gehören, und man braucht dann nicht die Frage zu stellen: Wo<br />
kommt das Geld her, um den gesellschaftlichen Mehrwert, und zwar 1. sub einfacher<br />
Reproduktion, 2. sub erweiterter Reproduktion zu realisieren? Solche Fragen haben vom Standpunkte der<br />
einfachen Waren- und Geldzirkulation gar keinen Sinn und Inhalt. Hat man aber einmal diese Fragen<br />
gestellt und die Untersuchung auf das Geleise der Kapitalzirkulation und der gesellschaftlichen<br />
Reproduktion eingestellt, dann darf man nicht die Antwort im Bereiche der einfachen Warenzirkulation<br />
suchen, um - da hier das Problem nicht existiert und nicht beantwortet werden kann - hinterher zu<br />
erklären: das Problem sei schon längst beantwortet, es existiere überhaupt nicht.<br />
<strong>Die</strong> Fragestellung selbst ist also bei Marx die ganze Zeit schief gewesen. Es hat keinen ersichtlichen<br />
Zweck zu fragen: Wo kommt das Geld her, um den Mehrwert zu realisieren? Sondern die Frage muß<br />
lauten: Wo kommt die Nachfrage her, wo ist das zahlungsfähige Bedürfnis für den Mehrwert? War die<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 9. Kapitel<br />
Frage von Anfang an so gestellt, so hätte es nicht so langwieriger Umwege bedurft, um ihre Lösbarkeit<br />
respektive Unlösbarkeit klar hervortreten zu lassen. Unter der Annahme der einfachen Reproduktion ist<br />
die Sache einfach genug: Da der ganze Mehrwert von den Kapitalisten verzehrt wird, so sind sie eben<br />
selbst die Abnehmer, die Nachfrage für den gesellschaftlichen Mehrwert in seinem ganzen Umfang,<br />
müssen also auch das zur Zirkulation <strong>des</strong> Mehrwerts nötige Kleingeld in der Tasche haben. Aber gerade<br />
aus derselben Tatsache ergibt sich mit Evidenz, daß unter der Bedingung der <strong>Akkumulation</strong>, d.h. der<br />
Kapitalisierung eines Teils <strong>des</strong> Mehrwerts, die Kapitalistenklasse selbst unmöglich ihren ganzen<br />
Mehrwert abkaufen, realisieren kann. Es stimmt schon, daß genug Geld beschafft werden muß, um den<br />
kapitalisierten Mehrwert zu realisieren - wenn er überhaupt realisiert werden soll. Aber dieses Geld kann<br />
unmöglich aus der Tasche der Kapitalisten selbst kommen. Sie sind vielmehr gerade durch Annahme der<br />
<strong>Akkumulation</strong> Nichtabnehmer ihres Mehrwerts, auch wenn sie - abstrakt genommen - hierfür Geld genug<br />
in der Tasche hätten. Wer kann aber sonst die Nachfrage nach den Waren darstellen, in denen der<br />
kapitalisierte Mehrwert steckt?<br />
"Außer dieser Klasse (der Kapitalisten - R. L.) gibt es nach unsrer Unterstellung - allgemeine und<br />
ausschließliche Herrschaft der kapitalistischen Produktion - überhaupt keine andre Klasse als die<br />
Arbeiterklasse. Alles, was die Arbeiterklasse kauft, ist gleich der Summe ihres Arbeitslohns gleich der<br />
Summe <strong>des</strong> von der gesamten Kapitalistenklasse vorgeschoßnen variablen <strong>Kapitals</strong>."<br />
<strong>Die</strong> Arbeiter können also den kapitalisierten Mehrwert noch weniger realisieren als die<br />
Kapitalistenklasse. Aber irgend jemand muß ihn doch abkaufen, sollen die Kapitalisten das<br />
vorgeschossene akkumulierte Kapital immer wieder in die Hände kriegen. Und doch ist außer<br />
Kapitalisten und Arbeitern kein Abnehmer denkbar. "Wie soll da also die gesamte Kapitalistenklasse<br />
Geld akkumulieren?"(7) <strong>Die</strong> Realisierung <strong>des</strong> Mehrwerts außerhalb der beiden einzig existierenden<br />
Klassen der Gesellschaft scheint ebenso notwendig wie unmöglich. <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong> ist in<br />
einen fehlerhaften Zirkel geraten. Im zweiten Bande <strong>des</strong> "<strong>Kapitals</strong>" finden wir jedenfalls keine Lösung<br />
<strong>des</strong> Problems.<br />
Wenn man nun fragen wollte, weshalb die Lösung dieses wichtigen Problems der kapitalistischen<br />
<strong>Akkumulation</strong> in dem Marxschen "Kapital" nicht zu finden ist, so muß vor allem der Umstand in Betracht<br />
gezogen werden, daß der zweite Band <strong>des</strong> "<strong>Kapitals</strong>" kein abgeschlossenes Werk, sondern Manuskript<br />
war, das mitten im Wort abgebrochen wurde.<br />
Schon die äußere Form namentlich der letzten Kapitel dieses Ban<strong>des</strong> zeigt, daß es mehr Aufzeichnungen<br />
zur Selbstverständigung <strong>des</strong> Denkers sind als fertige Ergebnisse, bestimmt zur Aufklärung <strong>des</strong> Lesers.<br />
<strong>Die</strong>se Tatsache bestätigt uns zur Genüge der berufenste Zeuge - nämlich der Herausgeber <strong>des</strong> zweiten<br />
Ban<strong>des</strong>, Friedrich Engels. In seinem Vorwort zum zweiten Band berichtet er über den Stand der von<br />
Marx hinterlassenen Vorarbeiten und Manuskripte, die als Grundlage für diesen Band dienen sollten, in<br />
folgender eingehender Weise:<br />
"<strong>Die</strong> bloße Aufzählung <strong>des</strong> von Marx hinterlaßnen handschriftlichen Materials zu Buch II beweist, mit<br />
welcher Gewissenhaftigkeit ohnegleichen, mit welcher strengen Selbstkritik er seine großen<br />
ökonomischen Entdeckungen bis zur äußersten Vollendung auszuarbeiten strebte, ehe er sie<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 9. Kapitel<br />
veröffentlichte; eine Selbstkritik, die ihn nur selten dazu kommen ließ, die Darstellung nach Inhalt und<br />
Form seinem stets durch neue Studien sich erweiternden Gesichtskreis anzupassen. <strong>Die</strong>s Material besteht<br />
nun aus folgendem.<br />
Zuerst ein Manuskript 'Zur Kritik der politischen Oekonomie', 1.472 Quartseiten in 23 Heften,<br />
geschrieben August 1861 bis Juni 1863. Es ist die Fortsetzung <strong>des</strong> 1859 in <strong>Berlin</strong> erschienenen ersten<br />
Hefts <strong>des</strong>selben Titels ... So wertvoll dies Manuskript, so wenig war es für die gegenwärtige Ausgabe <strong>des</strong><br />
Buch II zu benutzen.<br />
Das dem Datum nach jetzt folgende Manuskript ist das von Buch III ...<br />
Aus der nächsten Periode - nach Erscheinen <strong>des</strong> Buch I - liegt vor für Buch II eine Sammlung von<br />
vier Manuskripten in Folio, von Marx selbst I-IV numeriert. Davon ist Manuskript I (150 Seiten),<br />
vermutlich von 1865 oder 1867 datierend, die erste selbständige, aber mehr oder weniger fragmentarische<br />
Bearbeitung von Buch II in seiner gegenwärtigen <strong>Ein</strong>teilung. Auch hiervon war nichts benutzbar.<br />
Manuskript III besteht teils aus einer Zusammenstellung von Zitaten und Hinweisen auf Marx'<br />
Auszugshefte - meist auf den ersten Abschnitt <strong>des</strong> Buch II bezüglich -, teils aus Bearbeitungen einzelner<br />
Punkte, namentlich der Kritik der A. Smithschen Sätze über fixes und zirkulieren<strong>des</strong> Kapital und über die<br />
Quelle <strong>des</strong> Profits; ferner eine Darstellung <strong>des</strong> Verhältnisses der Mehrwertsrate zur Profitrate, die in Buch<br />
III gehört. <strong>Die</strong> Hinweise lieferten wenig neue Ausbeute, die Ausarbeitungen waren sowohl für Buch II<br />
wie Buch III durch spätere Redaktionen überholt, mußten also auch meist beiseitegelegt werden. -<br />
Manuskript IV ist eine druckfertige Bearbeitung <strong>des</strong> ersten und der ersten Kapitel <strong>des</strong> zweiten Abschnitts<br />
von Buch II und ist da, wo es an die Reihe kommt, auch benutzt worden. Obwohl sich herausstellte, daß<br />
es früher abgefaßt ist als Manuskript II, so konnte es doch, weil vollendeter in der Form, für den<br />
betreffenden Teil <strong>des</strong> Buchs mit Vorteil benutzt werden; es genügte, aus Manuskript II einige Zusätze zu<br />
machen. - <strong>Die</strong>s letztre Manuskript ist die einzige einigermaßen fertig vorliegende Bearbeitung <strong>des</strong> Buch II<br />
und datiert von 1870. <strong>Die</strong> gleich zu erwähnenden Notizen für die schließliche Redaktion sagen<br />
ausdrücklich: '<strong>Die</strong> zweite Bearbeitung muß zugrunde gelegt werden.'<br />
Nach 1870 trat wieder eine Pause ein, bedingt hauptsächlich durch Krankheitszustände. Wie gewöhnlich<br />
füllte Marx diese Zeit durch Studien aus; Agronomie, amerikanische und namentlich russische ländliche<br />
Verhältnisse, Geldmarkt und Bankwesen, endlich Naturwissenschaften: Geologie und Physiologie, und<br />
namentlich selbständige mathematische Arbeiten bilden den Inhalt der zahlreichen Auszugshefte aus<br />
dieser Zeit. Anfang 1877 fühlte er sich soweit hergestellt, daß er wieder an seine eigentliche Arbeit gehn<br />
konnte. Von Ende März 1877 datieren Hinweise und Notizen aus obigen vier Manuskripten als<br />
Grundlage einer Neubearbeitung von Buch II, deren Anfang in Manuskript V (56 Seiten Folio) vorliegt.<br />
Es umfaßt die ersten vier Kapitel und ist noch wenig ausgearbeitet; wesentliche Punkte werden in Noten<br />
unter dem Text behandelt; der Stoff ist mehr gesammelt als gesichtet, aber es ist die letzte vollständige<br />
Darstellung dieses wichtigsten Teils <strong>des</strong> ersten Abschnitts. - <strong>Ein</strong> erster Versuch, hieraus ein druckfertiges<br />
Manuskript zu machen, liegt vor in Manuskript VI (nach Oktober 1877 und vor Juli 1878); nur 17<br />
Quartseiten, den größten Teil <strong>des</strong> ersten Kapitels umfassend, ein zweiter - der letzte - in Manuskript VII,<br />
'2. Juli 1878', nur 7 Folioseiten.<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 9. Kapitel<br />
Um diese Zeit scheint Marx sich darüber klar geworden zu sein, daß ohne eine vollständige Revolution<br />
seines Gesundheitszustan<strong>des</strong> er nie dahin kommen werde, eine ihm selbst genügende Bearbeitung <strong>des</strong><br />
zweiten und dritten Buchs zu vollenden. In der Tat tragen die Manuskripte V bis VIII die Spuren<br />
gewaltsamen Ankämpfens gegen niederdrückende Krankheitszustände nur zu oft an sich. Das<br />
schwierigste Stück <strong>des</strong> ersten Abschnitts war in Manuskript V neu bearbeitet; der Rest <strong>des</strong> ersten und der<br />
ganze zweite Abschnitt (mit Ausnahme <strong>des</strong> siebzehnten Kapitels) boten keine bedeutenden theoretischen<br />
Schwierigkeiten; der dritte Abschnitt dagegen, die Reproduktion und Zirkulation <strong>des</strong> gesellschaftlichen<br />
<strong>Kapitals</strong>, schien ihm einer Umarbeitung dringend bedürftig. In Manuskript II war nämlich die<br />
Reproduktion behandelt zuerst ohne Berücksichtigung der sie vermittelnden Geldzirkulation und sodann<br />
nochmals mit Rücksicht auf diese. <strong>Die</strong>s sollte beseitigt und der ganze Abschnitt überhaupt so<br />
umgearbeitet werden, daß er dem erweiterten Gesichtskreis <strong>des</strong> Verfassers entsprach. So entstand<br />
Manuskript VIII, ein Heft von nur 70 Quartseiten; was Marx aber auf diesen Raum zusammenzudrängen<br />
verstand, beweist die Vergleichung von Abschnitt III im Druck, nach Abzug der aus Manuskript II<br />
eingeschobenen Stücke.<br />
Auch dies Manuskript ist nur eine vorläufige Behandlung <strong>des</strong> Gegenstands, bei der es vor allem darauf<br />
ankam, die gewonnenen neuen Gesichtspunkte gegenüber Manuskript II festzustellen und zu entwickeln,<br />
unter Vernachlässigung der Punkte, über die nichts Neues zu sagen war. Auch ein wesentliches Stück von<br />
Kapitel XVII <strong>des</strong> zweiten Abschnitts, das ohnehin einigermaßen in den dritten Abschnitt übergreift, wird<br />
wieder hineingezogen und erweitert. <strong>Die</strong> logische Folge wird öfters unterbrochen, die Behandlung ist<br />
stellenweise lückenhaft und namentlich am Schluß ganz fragmentarisch. Aber was Marx sagen wollte, ist<br />
in dieser oder jener Weise darin gesagt.<br />
Das ist das Material zu Buch II, woraus, nach einer Äußerung von Marx zu seiner Tochter Eleanor kurz<br />
vor seinem Tode, ich 'etwas machen' sollte."<br />
Man muß dies "etwas" bewundern. das Engels aus einem so beschaffenen Material zu machen verstanden<br />
hat. Aus seinem genauen Bericht geht aber für die uns interessierende Frage mit aller Deutlichkeit<br />
hervor, daß von den drei Abschnitten, die den Band II bilden, für die ersten zwei: über den Kreislauf <strong>des</strong><br />
Geld- und Warenkapitals sowie die Zirkulationskosten und über den Umschlag <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, das von<br />
Marx hinterlassene Manuskript am ehesten druckreif war. Hingegen stellte der dritte Abschnitt, der die<br />
Reproduktion <strong>des</strong> Gesamtkapitals behandelt, nur eine Sammlung von Fragmenten dar, die Marx selbst<br />
einer Umarbeitung "dringend bedürftig" schienen. Von diesem Abschnitt ist aber das letzte<br />
einundzwanzigste Kapitel, auf das es gerade ankommt: die <strong>Akkumulation</strong> und erweiterte Reproduktion,<br />
am unfertigsten vom ganzen Buch geblieben. Es umfaßt alles in allem bloß 35 Druckseiten und bricht<br />
mitten in der Analyse ab.<br />
Außer diesem äußeren Umstand war u.E. noch ein anderes Moment von großem <strong>Ein</strong>fluß. <strong>Die</strong><br />
Untersuchung <strong>des</strong> gesellschaftlichen Reproduktionsprozesses nimmt bei Marx. wie wir gesehen, ihren<br />
Ausgangspunkt von der Ad. Smithschen Analyse, die u.a. an dem falschen Satz von der<br />
Preiszusammensetzung aller Waren aus v + m gescheitert ist. <strong>Die</strong> Auseinandersetzung mit diesem Dogma<br />
beherrscht nun die ganze Analyse <strong>des</strong> Reproduktionsprozesses bei Marx. Der Beweisführung, daß das<br />
gesellschaftliche Gesamtprodukt nicht bloß der Konsumtion im Betrage der verschiedenen<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 9. Kapitel<br />
<strong>Ein</strong>kommensquellen, sondern auch der Erneuerung <strong>des</strong> konstanten <strong>Kapitals</strong> dienen muß, widmet Marx<br />
seine ganze Aufmerksamkeit. Da aber für diese Beweisführung die theoretisch reinste Form nicht bei der<br />
erweiterten, sondern bei der einfachen Reproduktion gegeben ist, so betrachtet Marx vorwiegend die<br />
Reproduktion unter einem der <strong>Akkumulation</strong> gerade entgegengesetzten Gesichtswinkel: unter der<br />
Annahme, daß der ganze Mehrwert von den Kapitalisten verzehrt wird. Wie sehr die Polemik gegen<br />
Smith die Marxsche Analyse beherrschte, dafür zeugt, daß er zu dieser Polemik im Verlaufe seiner<br />
ganzen Arbeit unzählige Male von verschiedensten Seiten zurückkehrt. So sind ihr gewidmet gleich im<br />
ersten Band 7. Abschnitt, 22. Kapitel, S. 551-554, im zweiten Band S. 335-370, S. 383, S. 409-412, S.451-<br />
453. Im Band III/2 nimmt Marx das Problem der Gesamtreproduktion wieder auf, stürzt sich aber dabei<br />
wieder sofort in das von Smith aufgegebene Rätsel und widmet ihm das ganze 49. Kapitel (S. 367-388)<br />
und eigentlich auch noch das ganze 50. Kapitel (S. 388 bis 413). Endlich in den "Theorien über den<br />
Mehrwert" finden wir wieder ausführliche Polemiken gegen das Smithsche Dogma in Band I, S.164-253,<br />
Band II/2, S. 92, 95 126, 233-262. Wiederholt betont und unterstreicht Marx selbst, daß er gerade in dem<br />
Problem <strong>des</strong> Ersatzes <strong>des</strong> konstanten <strong>Kapitals</strong> aus dem gesellschaftlichen Gesamtprodukt die<br />
schwierigste und wichtigste Frage der Reproduktion erblickte.(8) So wurde das andere Problem, das der<br />
<strong>Akkumulation</strong>, nämlich die Realisierung <strong>des</strong> Mehrwerts zu Zwecken der Kapitalisierung, in den<br />
Hintergrund gedrängt und ist schließlich von Marx kaum angeschnitten worden.<br />
Bei der großen Bedeutung dieses Problems für die kapitalistische Wirtschaft ist es kein Wunder, daß es<br />
die bürgerliche Ökonomie immer und immer wieder beschäftigte. <strong>Die</strong> Versuche, mit der Lebensfrage der<br />
kapitalistischen Wirtschaft, nämlich mit der Frage, ob die Kapitalakkumulation praktisch möglich sei,<br />
fertig zu werden, tauchen im Verlaufe der Geschichte der Ökonomie immer wieder auf. Zu diesen<br />
geschichtlichen Versuchen vor wie nach Marx, die Frage zu lösen, wollen wir uns jetzt wenden.<br />
Fußnoten von <strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong><br />
(1) Das Kapital, Bd. II, S. 466. [Karl Marx: Das Kapital, Zweiter Band. In: Karl Marx/Friedrich Engels:<br />
Werke, Bd. 24, S. 486.]
<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 9. Kapitel<br />
(6) Das Kapital, Bd. II, S. 318. [Karl Marx: Das Kapital, Zweiter Band. In: Karl Marx/Friedrich Engels:<br />
Werke, Bd. 24, S. 346.]
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9. Kapitel | Inhalt | 11. Kapitel<br />
<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - Gesammelte Werke. Herausgegeben vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Band<br />
5. <strong>Berlin</strong>/DDR. 1975. "<strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>", S. 9-24<br />
1. Korrektur.<br />
Erstellt am 20.10.1998<br />
Zweiter Abschnitt<br />
Geschichtliche Darstellung <strong>des</strong> Problems<br />
Erster Waffengang<br />
Kontoverse zwischen Sismondi - Malthus<br />
und Say - Ricardo - MacCulloch<br />
Zehntes Kapitel<br />
<strong>Die</strong> Sismondische Theorie der Reproduktion<br />
<strong>Die</strong> ersten starken Zweifel an der Gottähnlichkeit der kapitalistischen Ordnung stiegen in der<br />
bürgerlichen Nationalökonomie unter dem unmittelbaren <strong>Ein</strong>druck der ersten Krisen in England im Jahre<br />
1815 und 1818/19 auf. Noch waren die Umstände, die zu diesen Krisen geführt hatten, eigentlich<br />
äußerer, scheinbar zufälliger Natur. Zum Teil war dies die Napoleonische Kontinentalsperre, die England<br />
künstlich von seinen europäischen Absatzmärkten für eine Zeitlang abgeschnitten und inzwischen in<br />
kurzer Zeit eine bedeutende Entwicklung der eigenen Industrie auf einigen Gebieten in den kontinentalen<br />
Staaten begünstigt hatte; zum Teil war es die materielle Erschöpfung <strong>des</strong> Kontinents durch die lange<br />
Kriegsperiode, was nach der Aufhebung der Kontinentalsperre den erwarteten Absatz für englische<br />
Produkte verringerte. <strong>Die</strong>se ersten Krisen genügten jedoch, um den Zeitgenossen die Kehrseite der<br />
Medaille der besten aller Gesellschaftsformen in ihrer ganzen Grauenhaftigkeit vor die Augen zu führen.<br />
Überfüllte Märkte, Magazine voll Waren, die keine Abnehmer fanden, zahlreiche Bankrotte, andererseits<br />
ein schreien<strong>des</strong> Elend der Arbeitermassen - alles das stieg zum erstenmal vor den Augen der Theoretiker<br />
auf, die in allen Tonarten die harmonischen Schönheiten <strong>des</strong> bürgerlichen laissez faire gepriesen und<br />
verkündet hatten. Alle zeitgenössischen Handelsnachrichten, Zeitschriften, Erzählungen der Reisen-<br />
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den berichteten über Verluste der englischen Warenhändler. In Italien, Deutschland, Rußland, in<br />
Brasilien schlugen die Engländer ihre Warenvorräte einem Verlust von 1/4 bis 3/4 los. 1818 beklagte man<br />
sich am Kap der Guten Hoffnung, daß alle Läden mit europäischen Waren angefüllt waren, die man zu<br />
niedrigeren Preisen als in Europa anbot, ohne sie loswerden zu können. Aus Kalkutta ertönten ähnliche<br />
Klagen. Ganze Warenladungen kamen aus Neuholland nach England zurück. In den<br />
Vereinigten Staaten gab es nach dem Reisebericht eines Zeitgenossen "von einem Ende dieses<br />
ungeheuren und so wohlhabenden Festlan<strong>des</strong> bis zum anderen keine Stadt, keinen Marktflecken, in dem<br />
die Menge der zum Verkaufe ausliegenden Waren die Mittel der Käufer nicht bedeutend überstiege,<br />
obgleich die Verkäufer sich bemühten, durch sehr lange Kredite und zahlreiche Arten von<br />
Zahlungserleichterungen, durch Abzahlungen und Annahme von Waren an Zahlungs Statt die Kunden<br />
anzulocken".<br />
Gleichzeitig ertönte in England der Verzweiflungsschrei der Arbeiter. In der "Edinburgh Review" vom<br />
Mai 1820 ist die Adresse der Strumpfwirker von Nottingham angeführt, die folgende Worte enthält: "Bei<br />
einer vierzehn- bis sechzehnstündigen täglichen Arbeit verdienen wir nur vier bis sieben Schilling die<br />
Woche, von welchem Verdienst wir unsere Frauen und Kinder ernähren müssen. Wir stellen ferner fest,<br />
daß, trotzdem wir Brot und Wasser oder Kartoffeln mit Salz an Stelle der gesünderen Nahrung haben<br />
setzen müssen, welche ehemals stets reichlich auf den englischen Tischen zu sehen war, wir nach der<br />
ermüdenden Arbeit eines ganzen Tages häufig gezwungen gewesen sind, unsere Kinder hungrig zu Bett<br />
zu schicken um ihr Schreien nach Brot nicht zu hören. Wir erklären auf das feierlichste, daß wir während<br />
der letzten achtzehn Monate kaum je das Gefühl der Sättigung gehabt haben."(1)<br />
Fast gleichzeitig erhoben dann ihre Stimme zu einer wuchtigen Anklage gegen die kapitalistische<br />
Gesellschaft Owen in England und Sismondi in Frankreich. Während Owen jedoch, als praktischer<br />
Engländer und als Bürger <strong>des</strong> ersten Industriestaates, sich zum Wortführer einer großzügigen sozialen<br />
Reform machte, verlief sich der schweizerische Kleinbürger in breite Anklagen gegen die<br />
Unvollkommenheiten der bestehenden Gesellschaftsordnung und gegen die klassische Ökonomie. Doch<br />
dadurch gerade hat Sismondi der bürgerlichen Ökonomie viel härtere Nüsse zu knacken gegeben als<br />
Owen, <strong>des</strong>sen fruchtbare praktische Wirksamkeit sich direkt an das Proletariat wendete.<br />
Daß es England und namentlich die erste englische Krise war, wovon Sismondi zu seiner sozialen Kritik<br />
Anstoß erhielt, schildert er uns selbst ausführlich in der Vorrede zur 2. Auflage seiner "Nouveaux<br />
principes d'économie politique ou de la richesse dans ses rapports avec la population". (<strong>Die</strong> erste Auflage<br />
ist 1819, die zweite acht Jahre später erschienen.)<br />
"In England war es, wo ich diese Aufgabe gelöst habe. England hat die berühmtesten Volkswirte<br />
hervorgebracht. Ihre Lehren werden dort heute noch mit einer verdoppelten Wärme vorgetragen ... Der<br />
allgemeine Wettbewerb oder der Wunsch, immer mehr zu produzieren und zu immer billigerem Preise,<br />
ist seit langer Zeit das in England maßgebende System. Ich habe dieses System als gefährlich<br />
angegriffen, dies System, das Englands Industrie die ungeheuerlichsten Fortschritte hat machen lassen,<br />
aber das in seinem Verlauf die Arbeiter in ein erschrecken<strong>des</strong> Elend gestürzt hat. Neben diese Zuckungen<br />
<strong>des</strong> Reichtums habe ich geglaubt mich stellen zu sollen, um meine Ausführungen noch einmal zu<br />
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überlegen und sie mit den Tatsachen zu vergleichen.<br />
Das Studium Englands hat mich in meinen 'neuen Grundsätzen' befestigt. In diesem überraschenden<br />
Lande, das eine große Erfahrung zur Belehrung der übrigen Welt in sich zu bergen scheint, habe ich die<br />
Produktion zunehmen und die Genüsse abnehmen sehen. <strong>Die</strong> Masse der Bevölkerung scheint dort ebenso<br />
wie die Philosophen zu vergessen, daß das Anwachsen der Reichtümer nicht der Zweck der politischen<br />
Ökonomie ist, sondern das Mittel, <strong>des</strong>sen sie sich bedient, um das Glück aller zu fördern. Ich habe dieses<br />
Glück in allen Klassen gesucht, es aber nirgends finden können. Tatsächlich ist die hohe englische<br />
Aristokratie bei einem Grad <strong>des</strong> Reichtums und <strong>des</strong> Luxus angelangt, der alles übersteigt, was man bei<br />
allen übrigen Völkern zu sehen bekommt. In<strong>des</strong>sen erfreut sie sich selbst nicht der Fülle, die sie auf<br />
Kosten der anderen Klassen erworben zu haben scheint; es mangelt ihr die Sicherheit: Entbehrung macht<br />
sich in jeder Familie noch mehr bemerkbar als der Überfluß ... Unter dieser betitelten und nicht<br />
betitelten Aristokratie nimmt der Handel eine hervorragende Stellung ein, seine Unternehmungen<br />
umfassen die ganze Welt, seine Angestellten bieten dem Polareise und der Hitze <strong>des</strong> Äquators Trotz,<br />
während jeder der Chefs, die sich auf der Börse versammeln, über Millionen gebietet. Zu gleicher Zeit<br />
stellen in allen Straßen Londons sowie in denen der anderen großen Städte Englands die Läden Waren<br />
zur Schau, die dem Verbrauch <strong>des</strong> Weltalls genügen würden. Bringt aber der Reichtum dem englischen<br />
Händler die Art von Glück, die er zu gewähren imstande ist? Nein, in keinem Lande sind die Bankrotte<br />
so häufig. Nirgends werden diese ungeheuren Vermögen, von denen je<strong>des</strong> für eine öffentliche Anleihe<br />
zur Erhaltung eines Reiches oder einer Republik ausreichen würde, mit solcher Schnelligkeit in alle<br />
Winde zerstreut. Alle beklagen sich, daß die Geschäfte nicht ausreichend, daß sie schwierig und wenig<br />
einträglich sind. Vor wenigen Jahren haben zwei schreckliche Krisen einen Teil der Bankiers zugrunde<br />
gerichtet, und die Verheerung hat sich auf alle englischen Manufakturen erstreckt. Zu gleicher Zeit hat<br />
eine andere Krise die Pächter zugrunde gerichtet und hat ihre Rückwirkung den Kleinhandel fühlen<br />
lassen. Andererseits ist dieser Handel trotz seiner ungeheuren Ausdehnung nicht imstande, jungen Leuten<br />
einen Platz zu bieten; alle Stellen sind besetzt, und in den oberen Schichten der Gesellschaft wie in den<br />
niederen bietet der größre Teil vergebens seine Arbeit an, ohne einen Lohn erhalten zu können.<br />
Hat dieser nationale Wohlstand, <strong>des</strong>sen materielle Fortschritte alle Augen blenden, hat dieser endlich<br />
zum Vorteil der Armen gedient? Nichts weniger als das. In England hat das Volk ebensowenig<br />
Behaglichkeit in der Gegenwart wie die Sicherung für die Zukunft. Keine Bauern gibt es mehr auf dem<br />
Lande; man hat sie gezwungen, Taglöhnern Platz zu machen; fast keine Handwerker mehr in den Städten<br />
oder unabhängige Kleinindustrielle, sondern nur Fabrikarbeiter. Der Industrielle (soll heißen<br />
Lohnarbeiter - R. L.), um ein Wort anzuwenden, das dieses System selbst aufgebracht hat, weiß nicht<br />
mehr, was es heißt, einen Beruf zu haben, er erhält einfach Lohn, und da dieser Lohn ihm nicht<br />
gleichmäßig zu allen Zeiten genügen kann ist er fast in jedem Jahr gezwungen, von der Börse der Armen<br />
ein Almosen zu erbitten.<br />
<strong>Die</strong>se reiche Nation hat es für vorteilhafter befunden, alles Gold und Silber, das sie besaß, zu verkaufen,<br />
zu Anweisungen überzugehen und ihren ganzen Umlauf mittels Papier zu bewirken. Sie hat sich so<br />
freiwillig <strong>des</strong> bedeutendsten Vorteils <strong>des</strong> Zahlmittels beraubt, der Beständigkeit <strong>des</strong> Preises; die<br />
Inhaber von Anweisungen auf Provinzialbanken laufen täglich Gefahr, durch häufige und gewissermaßen<br />
epidemisch auftretende Bankrotte der Bankiers zugrunde gerichtet zu werden, und der ganze Staat ist in<br />
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allen seinen Vermögensbeziehungen den größten Zuckungen ausgesetzt, wenn ein feindlicher <strong>Ein</strong>fall<br />
oder eine Revolution den Kredit der Nationalbank erschüttert. <strong>Die</strong> englische Nation hat es für sparsamer<br />
befunden, auf die Bodenbestellungsarten zu verzichten, die viel Handarbeit erfordern, und hat die Hälfte<br />
der Landbebauer, die seine Felder bewohnten, verabschiedet ebenso wie die Handwerker in den Städten;<br />
die Weber machen Platz den 'power looms' (Dampfwebstuhl) und erliegen heute dem Hunger; sie hat es<br />
für sparsamer befunden, alle Arbeiter auf den niedrigsten Lohn zu setzen, mit dem sie leben können, so<br />
daß die Arbeiter, die nur noch Proletarier sind, keine Furcht hegen, sich in ein noch tieferes Elend zu<br />
stützen, wenn sie immer zahlreichere Familien aufziehen; sie hat es für sparsamer befunden, die Irländer<br />
nur mit Kartoffeln zu nähren und ihnen nur Lumpen zur Kleidung zu geben, und so bringt je<strong>des</strong> Schiff<br />
täglich Legionen Irländer, die zu billigerem Preise arbeiten als die Engländer und diese aus allen<br />
Gewerben vertreiben. Was sind also die Früchte dieses ungeheuren angehäuften Reichtums? Haben sie<br />
eine andere Wirkung gehabt, als die Sorgen, die Entbehrungen, die Gefahr eines vollständigen<br />
Untergangs allen Klassen mitzuteilen? Hat England, als es die Menschen über den Dingen vergaß, nicht<br />
den Zweck den Mitteln geopfert?"(2)<br />
Man muß gestehen, daß dieser der kapitalistischen Gesellschaft vor bald hundert Jahren vorgehaltene<br />
Spiegel an Deutlichkeit wie an Vollständigkeit nichts zu wünschen übrigläßt. Sismondi legt den Finger in<br />
alle wunden Stellen der bürgerlichen Ökonomie: Ruin <strong>des</strong> Kleingewerbes, Entvölkerung <strong>des</strong> platten<br />
Lan<strong>des</strong>, Proletarisierung der Mittelschichten, Verelendung der Arbeiter, Verdrängung der Arbeiter durch<br />
Maschinerie, Arbeitslosigkeit, Gefahren <strong>des</strong> Kreditsystems, soziale Kontraste, Unsicherheit der Existenz,<br />
Krisen, Anarchie. Seine herbe und eindringliche Skepsis fiel namentlich wie ein schriller Mißton in den<br />
satten Optimismus der vulgärökonomischen Harmonieduselei, die sich bereits in England wie in<br />
Frankreich in den Personen dort MacCullochs, hier J. B. Says breitmachte und die ganze offizielle<br />
Wissenschaft beherrschte. Man kann sich leicht vorstellen. welchen tiefen und peinlichen <strong>Ein</strong>druck<br />
Äußerungen machen mußten wie die folgenden:<br />
"Der Luxus ist nur möglich, wenn man ihn mit der Arbeit eines anderen kauft, angestrengte<br />
Arbeit ohne Erholung ist nur möglich, wenn man sich nicht leichtfertigen Tand, sondern<br />
Lebensbedürfnisse verschaffen will." (Bd. I, S.60.)<br />
"Obgleich die Erfindung der Maschinen, die die Kräfte <strong>des</strong> Menschen vervielfacht, eine Wohltat für die<br />
Menschen ist, verwandelt die ungerechte Verteilung ihrer Wohltaten sie in Geißeln der Armen." (Bd. I,<br />
S. XXI.)<br />
"Der Profit <strong>des</strong> Unternehmers ist nichts als ein Raub an dem Arbeiter, er gewinnt nicht, weil sein<br />
Unternehmen viel mehr einbringt, als es kostet, sondern weil er nicht bezahlt, was es kostet, weil er dem<br />
Arbeiter einen genügenden Entgelt für seine Arbeit nicht gewährt. <strong>Ein</strong>e solche Industrie ist ein<br />
gesellschaftliches Übel, sie stößt diejenigen, welche arbeiten, in das äußerste Elend, während sie nur den<br />
gewöhnlichen Kapitalprofit dem Leiter zu gewähren vorgibt." (Bd. I, S. 71.)<br />
"Von denen, die sich in das Nationaleinkommen teilen, erwerben die einen je<strong>des</strong> Jahr ein neues Recht<br />
auf dasselbe durch eine neue Arbeit, die anderen haben von alters her ein dauern<strong>des</strong> Recht durch eine<br />
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frühere Arbeit erworben, welche die jährliche Arbeit lohnender gemacht hat." (Bd. I, S.86.)<br />
"Nichts kann verhindern, daß jede neue Erfindung in der angewandten Mechanik nicht die arbeitende<br />
Bevölkerung vermindert. <strong>Die</strong>ser Gefahr ist sie stets ausgesetzt, und die bürgerliche Gesellschaft kennt<br />
kein Mittel dagegen." (Bd. II, S. 258.)<br />
"Ohne Zweifel wird eine Zeit kommen, in der unsere Enkel uns als nicht minder barbarisch ansehen<br />
werden, weil wir die arbeitenden Klassen ohne Garantie gelassen haben, wie sie und wir selbst die<br />
Nationen als barbarisch ansehen, die diese selben Klassen als Sklaven behandelt haben." (Bd. II, S. 337.)<br />
Sismondi geht also in seiner Kritik aufs Ganze; er lehnt jede Schönfärberei und jede Ausflucht ab, die<br />
etwa die von ihm aufgezeigten Schattenseiten der kapitalistischen Bereicherung bloß als temporäre<br />
Schäden einer Übergangsperiode zu entschuldigen suchte, und er schließt seine Untersuchung mit der<br />
folgenden Bemerkung gegen Say: "Seit sieben Jahren habe ich diese Krankheit <strong>des</strong> sozialen Körpers<br />
dargelegt, sieben Jahre hat sie nicht aufgehört zuzunehmen. Ich kann in einem so fortgesetzten Leiden<br />
nicht nur Unbequemlichkeiten sehen, die stets die Übergänge begleiten, und ich glaube dadurch, daß ich<br />
auf den Ursprung <strong>des</strong> <strong>Ein</strong>kommens zurückgegangen bin, gezeigt zu haben, daß die Übel, unter denen wir<br />
leiden, die notwendige Folge der Fehler unserer Organisation sind, die keineswegs nahe daran<br />
sind aufzuhören."(3)<br />
<strong>Die</strong> Quelle aller Übel sieht Sismondi nämlich in dem Mißverhältnis zwischen der kapitalistischen<br />
Produktion und der durch sie bedingten <strong>Ein</strong>kommensverteilung, und hier greift er in das uns<br />
interessierende Problem der <strong>Akkumulation</strong> ein.<br />
Das Leitmotiv seiner Kritik gegenüber der klassischen Ökonomie ist dies: <strong>Die</strong> kapitalistische Produktion<br />
wird ermuntert zur schrankenlosen Erweiterung ohne jede Rücksicht auf die Konsumtion, diese aber ist<br />
bemessen durch das <strong>Ein</strong>kommen. "Alle neueren Volkswirte", sagt er, "haben tatsächlich anerkannt, daß<br />
das öffentliche Vermögen, insofern es nur die Zusammensetzung <strong>des</strong> Privatvermögens ist, durch<br />
dieselben Vorgänge wie das je<strong>des</strong> Privatmannes entsteht, sich vermehrt, verteilt wird, zugrunde geht.<br />
Alle wußten gar wohl, daß bei einem Privatvermögen der Teil, der ganz besonders beachtet werden muß,<br />
das <strong>Ein</strong>kommen ist, daß nach dem <strong>Ein</strong>kommen der Verbrauch oder die Ausgabe sich richten muß, wenn<br />
man nicht das Kapital zerstören will. Da aber in dem öffentlichen Vermögen aus dem Kapital <strong>des</strong> einen<br />
das <strong>Ein</strong>kommen <strong>des</strong> anderen wird, waren sie in Verlegenheit zu entscheiden, was Kapital ist und was<br />
<strong>Ein</strong>kommen, und haben es <strong>des</strong>halb für das einfachste gehalten, das letztere vollständig bei ihren<br />
Berechnungen beiseite zu lassen. Durch die Unterlassung der Bestimmung einer so wesentlichen Menge<br />
sind Say und Ricardo zu dem Glauben gelangt, daß der Verbrauch eine unbegrenzte Macht sei oder<br />
wenigstens daß seine Grenzen lediglich durch die Produktion bestimmt werden, während er doch<br />
tatsächlich durch das <strong>Ein</strong>kommen begrenzt wird. Sie haben gemeint, daß jeder produzierte Reichtum<br />
stets Verbraucher finde, und sie haben die Produzenten zu dieser Überfüllung der Märkte ermutigt, die<br />
heute das Elend der gesitteten Welt ausmacht, anstatt daß sie die Produzenten hätten darauf hinweisen<br />
sollen, daß sie nur auf Verbraucher rechnen können, die ein <strong>Ein</strong>kommen haben."(4)<br />
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file:///C|/DOKUME~1/peter1/LOKALE~1/Temp/Rar$DR73.500/lu/lu05/lu05_138.htm<br />
Sismondi legt seiner Auffassung also eine Lehre vom <strong>Ein</strong>kommen zugrunde. Was ist <strong>Ein</strong>kommen und<br />
was Kapital? - dieser Unterscheidung wendet er die größte Aufmerksamkeit zu und nennt sie "die<br />
abstrakteste und schwierigste Frage der Volkswirtschaft". Das IV. Kapitel im Buch II ist dieser Frage<br />
gewidmet. Sismondi beginnt die Untersuchung wie üblich mit einer Robinsonade. Für den<br />
"<strong>Ein</strong>zelmenschen" war die Unterscheidung zwischen Kapital und <strong>Ein</strong>kommen "noch eine dunkle", erst in<br />
der Gesell- schaft wurde sie "grundstürzend". Aber auch in der Gesellschaft wird diese<br />
Unterscheidung sehr schwierig, nämlich durch die uns bereits bekannte Fabel der bürgerlichen<br />
Ökonomie, wonach "das, was für den einen Kapital, für den anderen <strong>Ein</strong>kommen wird" und umgekehrt.<br />
Sismondi übernimmt diesen Wirrwarr, den Smith angerichtet und Say zum Dogma und zum legitimen<br />
Rechtfertigungsgrund der Gedankenfaulheit und Oberflächlichkeit erhoben hatte, getreulich: "<strong>Die</strong> Natur<br />
<strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong> und <strong>des</strong> <strong>Ein</strong>kommens vermengen sich in unserem Geiste fortwährend; wir sehen das, was<br />
für den einen <strong>Ein</strong>kommen ist, zum Kapital für den anderen werden und denselben Gegenstand, während<br />
er aus einer Hand in die andere geht, nach und nach die verschiedensten Bezeichnungen annehmen,<br />
während sein Wert, der sich von dem verzehrten Gegenstande ablöst, eine übersinnliche Menge scheint,<br />
welche der eine verausgabt und der andere austauscht, welche bei dem einen mit dem Gegenstand selbst<br />
untergeht und sich bei dem anderen wieder erneut und so lange andauert wie der Umlauf." Nach dieser<br />
vielversprechenden <strong>Ein</strong>leitung stürzt er sich in das schwierige Problem und erklärt: Aller Reichtum ist<br />
das Produkt der Arbeit. Das <strong>Ein</strong>kommen ist ein Teil <strong>des</strong> Reichtums, folglich muß es denselben Ursprung<br />
haben. Es sei in<strong>des</strong>sen "üblich", drei Arten <strong>des</strong> <strong>Ein</strong>kommens anzuerkennen, welche man Rente, Gewinn<br />
und Lohn nennt und die drei verschiedenen Quellen entstammen: "... der Erde, dem angesammelten<br />
Kapital und der Arbeit." Was den ersten Satz betrifft, so ist er natürlich schief; unter Reichtum versteht<br />
man im gesellschaftlichen Sinne die Summe nützlicher Gegenstände, Gebrauchswerte, diese sind aber<br />
nicht bloß Produkte der Arbeit, sondern auch der Natur, die dazu Stoff liefert und die menschliche Arbeit<br />
durch ihre Kräfte unterstützt. Das <strong>Ein</strong>kommen hingegen bedeutet einen Wertbegriff, den Umfang der<br />
Verfügung <strong>des</strong> oder der einzelnen über einen Teil <strong>des</strong> Reichtums oder <strong>des</strong> gesellschaftlichen<br />
Gesamtprodukts. Da Sismondi das gesellschaftliche <strong>Ein</strong>kommen für einen Teil <strong>des</strong> gesellschaftlichen<br />
Reichtums erklärt, könnte man annehmen, er verstehe unter <strong>Ein</strong>kommen der Gesellschaft ihren<br />
tatsächlichen jährlichen Konsumtionsfonds. Der übrige nicht konsumierte Teil <strong>des</strong> Reichtums wäre<br />
alsdann das gesellschaftliche Kapital, und wir näherten uns so wenigstens in schwachen Umrissen der<br />
gesuchten Unterscheidung von Kapital und <strong>Ein</strong>kommen au gesellschaftlicher Basis. Allein schon im<br />
nächsten Augenblick akzeptiert Sismondi die "übliche" Unterscheidung von drei <strong>Ein</strong>kommensarten,<br />
deren eine nur aus dem "angesammelten Kapital" stammt, während bei den anderen neben das Kapital<br />
noch "die Erde" und "die Arbeit" treten. Der Kapitalbegriff verschwimmt dabei sofort wieder ins<br />
Nebelhafte. Doch folgen wir Sismondi weiter. Er bemüht sich, die drei Arten <strong>des</strong> <strong>Ein</strong>kommens, die eine<br />
antagonistische Gesellschaftsbasis verraten, in ihrer Entstehung zu erklären. Ganz richtig nimmt er zum<br />
Ausgangspunkt eine gewisse Höhe der Produktivität der Arbeit: "Dank den Fortschritten <strong>des</strong><br />
Gewerbefleißes und der Wissenschaft, welche dem Menschen alle Naturkräfte unterworfen haben, kann<br />
jeder Arbeiter jeden Tag mehr und mehr herstellen, als er zur Verzehrung bedarf." Nachdem er aber so<br />
richtig die Produktivität der Arbeit als die unumgängliche Voraussetzung und die geschichtliche<br />
Grundlage der Ausbeutung hervorgehoben hat, gibt er für die tatsächliche Entstehung der Ausbeutung<br />
eine typische Erklärung im Sinne der bürgerlichen Ökonomie: "Aber zu der gleichen Zeit, in der seine<br />
(<strong>des</strong> Arbeiters) Arbeit Reichtum schafft, würde der Reichtum, wenn er ihn genießen sollte, ihn wenig<br />
geschickt zur Arbeit machen; so bleibt der Reichtum fast nie in der Hand <strong>des</strong>jenigen, welcher seine<br />
file:///C|/DOKUME~1/peter1/LOKALE~1/Temp/Rar$DR73.500/lu/lu05/lu05_138.htm (6 of 14) [19.07.2004 21:09:38]
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Hände zu seinem Lebensunterhalt zu gebrauchen genötigt ist." Nachdem er so die Ausbeutung und den<br />
Klassengegensatz ganz in Übereinstimmung mit den Ricardianern und Malthusianern zum<br />
unentbehrlichen Stachel der Produktion gemacht hat, kommt er auf den wirklichen Grund der<br />
Ausbeutung: die Trennung der Arbeitskraft von den Produktionsmitteln..<br />
"Im allgemeinen hat der Arbeiter das Eigentum an dem Grund und Boden nicht festhalten können; der<br />
Boden hat in<strong>des</strong>sen eine Produktivkraft, welche die menschliche Arbeit sich begnügt hat nach den<br />
Bedürfnissen <strong>des</strong> Menschen zu regeln. Derjenige, der den Boden besitzt, auf dem die Arbeit sich<br />
vollzieht, behält sich als Belohnung für die Vorteile, welche dieser Produktivkraft verdankt werden,<br />
einen Teil in den Früchten der Arbeit vor, an deren Erzeugung sein Grund und Boden mitgewirkt hat."<br />
<strong>Die</strong>s ist die Rente. Weiter:<br />
"Der Arbeiter hat in dem jetzigen Zustande der Zivilisation das Eigentum an einem genügenden Vorrat<br />
von Gegenständen der Verzehrung sich nicht bewahren können, deren er während der Ausführung seiner<br />
Arbeit bis zu dem Zeitpunkte, zu welchem er einen Käufer für sie findet, bedarf. Er besitzt nicht mehr die<br />
Rohstoffe, welche oft von weit her bezogen werden müssen und welche er zur Ausführung seiner Arbeit<br />
bedarf. Noch weniger besitzt er die kostbaren Maschinen, welche seine Arbeit erleichtert und unendlich<br />
produktiver gemacht haben. Der Reiche, welcher diese Nahrungsmittel, diese Rohstoffe, diese<br />
Maschinen besitzt, kann sich selbst der Arbeit enthalten, da er ja in gewissem Sinne Herr der Arbeit<br />
<strong>des</strong>sen ist, dem er die Mittel zur Arbeit liefert. Als Entgelt für die Vorteile, welche er dem<br />
Arbeiter zur Verfügung gestellt hat, nimmt er für sich vorweg den größten Teil der Früchte der Arbeit."<br />
<strong>Die</strong>s ist der Kapitalgewinn. Das, was von dem Reichtum nach der zweimaligen Abschöpfung durch den<br />
Grundbesitzer und den Kapitalisten übrigbleibt, ist Arbeitslohn, <strong>Ein</strong>kommen <strong>des</strong> Arbeiters. Und<br />
Sismondi fügt hinzu: "Er verzehrt es, ohne daß es sich erneuert." Sismondi stellt hier beim Lohn - ebenso<br />
wie bei der Rente - das Sich-nicht-wieder-Erneuern als das Merkmal <strong>des</strong> <strong>Ein</strong>kommens - im Unterschied<br />
vom Kapital auf. <strong>Die</strong>s ist jedoch nur in bezug auf die Rente und den konsumierten Teil <strong>des</strong><br />
Kapitalgewinns richtig; der als Lohn verzehrte Teil <strong>des</strong> gesellschaftlichen Produkts hingegen erneuert<br />
sich wohl: in der Arbeitskraft <strong>des</strong> Lohnarbeiters - für ihn selbst als die Ware, die er stets von neuem auf<br />
den Markt bringen kann, um von ihrem Verkauf zu leben, und für die Gesellschaft als die sachliche<br />
Gestalt <strong>des</strong> variablen <strong>Kapitals</strong>, die bei der jährlichen Gesamtreproduktion stets wiedererscheinen muß,<br />
wenn die Reproduktion nicht ein Defizit erleiden soll.<br />
Doch so weit, so gut. Wir haben bis jetzt nur zwei Tatsachen erfahren: <strong>Die</strong> Produktivität der Arbeit<br />
erlaubt die Ausbeutung der Arbeitenden durch Nichtarbeitende. die Trennung der Arbeitenden von den<br />
Produktionsmitteln macht die Ausbeutung der Arbeitenden zur tatsächlichen Grundlage der Teilung <strong>des</strong><br />
<strong>Ein</strong>kommens. Was jedoch <strong>Ein</strong>kommen, was Kapital ist, wissen wir noch immer nicht, und Sismondi geht<br />
daran, es aufzuklären. Wie es Leute gibt, die nur tanzen können, wenn sie von der Ofenecke aus<br />
anfangen, so muß Sismondi immer wieder von seinem Robinson den Anlauf nehmen. "In den Augen <strong>des</strong><br />
<strong>Ein</strong>zelmenschen ... war aller Reichtum nichts anderes als ein Vorrat, aufgesammelt für den Augenblick<br />
<strong>des</strong> Bedürfnisses. In<strong>des</strong>sen unterschied auch er schon zwei Dinge bei dieser Aufbewahrung; einen Teil,<br />
welchen er aufbewahrte, um ihn später für seinen unmittelbaren oder nahezu unmittelbaren Gebrauch zu<br />
verwenden, und einen anderen, den er bestimmt hatte zur Verwendung für eine neue Produktion. So<br />
sollte ein Teil seines Getrei<strong>des</strong> ihn bis zur künftigen Ernte ernähren, ein anderer Teil, welchen er zur<br />
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Aussaat bestimmt hatte, sollte im folgenden Jahre Frucht tragen. <strong>Die</strong> Bildung der Gesellschaft und die<br />
<strong>Ein</strong>führung <strong>des</strong> Tausches gestattete fast bis ins unendliche die Vermehrung dieser Aussaat, dieses<br />
fruchtbringenden Teils <strong>des</strong> angesammelten Reichtums: <strong>Die</strong>s heißt man Kapital."<br />
<strong>Die</strong>s heißt man nur Galimathias. Nach Analogie der Aussaat identifiziert hier Sismondi<br />
Produktionsmittel mit Kapital, was in zweifacher Hinsicht falsch ist. Erstens sind die Produktionsmittel<br />
nicht an sich, son- dern nur unter ganz bestimmten historischen Verhältnissen Kapital, zweitens<br />
ist der Begriff <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong> mit Produktionsmitteln nicht erschöpft. In der kapitalistischen Gesellschaft -<br />
alles andere, was Sismondi außer acht gelassen, vorausgesetzt - sind Produktionsmittel nur ein Teil <strong>des</strong><br />
<strong>Kapitals</strong>, nämlich konstantes Kapital.<br />
Was Sismondi hier aus dem Konzept gebracht hat, ist offenbar der Versuch, den Begriff <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong> mit<br />
sachlichen Gesichtspunkten der gesellschaftlichen Reproduktion in Zusammenhang zu bringen. Solange<br />
er oben den <strong>Ein</strong>zelkapitalisten im Auge hatte, zählte er als Bestandteile <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong> neben<br />
Produktionsmitteln auch die Lebensmittel <strong>des</strong> Arbeiters auf - was wiederum vom sachlichen Standpunkte<br />
der Reproduktion <strong>des</strong> <strong>Ein</strong>zelkapitals schief ist. Sobald er dann den Versuch macht, die sachlichen<br />
Grundlagen der gesellschaftlichen Reproduktion ins Auge zu fassen und den Anlauf zur richtigen<br />
Unterscheidung zwischen Konsummitteln und Produktionsmitteln macht, zerrinnt ihm der Begriff <strong>des</strong><br />
<strong>Kapitals</strong> unter den Händen.<br />
Sismondi fühlt aber selbst, daß mit Produktionsmitteln allein weder Produktion noch Ausbeutung<br />
vonstatten gehen kann, ja, er hat das richtige Empfinden, daß der Schwerpunkt <strong>des</strong><br />
Ausbeutungsverhältnisses gerade im Austausch mit der lebendigen Arbeitskraft liegt. Und nachdem er<br />
soeben das Kapital ganz auf konstantes Kapital reduziert hatte, reduziert er es im nächsten Augenblick<br />
ganz auf variables:<br />
"Der Landbebauer, der alles Getreide zurückgelegt hatte, <strong>des</strong>sen er bis zur nächsten Ernte zu bedürfen<br />
glaubte, sah ein, daß es für ihn vorteilhafter wäre, den Überschuß seines Getrei<strong>des</strong> dazu zu benutzen, um<br />
andere Menschen, die für ihn die Erde bearbeiteten und neues Getreide entstehen ließen, zu ernähren;<br />
ferner die, welche seinen Flachs spinnen und seine Wolle weben" usw. "Bei dieser Tätigkeit tauschte der<br />
Landbebauer einen Teil seines <strong>Ein</strong>kommens gegen Kapital ein (so in der entsetzlichen Übersetzung <strong>des</strong><br />
Herrn Prager; in Wirklichkeit muß es heißen: verwandelte einen Teil seines <strong>Ein</strong>kommens in Kapital - R.<br />
L.), und so ist in der Tat der Vorgang, wie neues Kapital sich bildet.(5) Das Korn, was er geerntet hatte<br />
über das hinaus, <strong>des</strong>sen er bei seiner eigenen Arbeit zur Ernährung bedurfte, und über das hinaus, was er<br />
aussäen mußte, um seinen Betrieb auf der alten Höhe zu erhalten, bildete einen Reichtum, welchen er<br />
fortgeben, verschwenden, im Müßiggang verbrauchen konnte, ohne da- durch ärmer zu werden,<br />
es war ein <strong>Ein</strong>kommen, aber wenn er es nutzte zur Erhaltung von Neues schaffenden Arbeitern oder es<br />
eintauschte gegen Arbeit oder gegen die Früchte von Arbeit seiner Handarbeiter, seiner Weber, seiner<br />
Bergleute, wurde es zu einem dauernden Werte, der sich vermehrte und nicht untergehen konnte: Es<br />
wurde zum Kapital."<br />
Hier läuft viel Krauses mit Richtigem kunterbunt durcheinander. Zur Erhaltung der Produktion auf alter<br />
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Höhe, d.h. zur einfachen Reproduktion, scheint noch konstantes Kapital nötig zu sein, wenn dieses<br />
konstante Kapital seltsamerweise auch nur auf zirkulieren<strong>des</strong> (Aussaat) reduziert, die Reproduktion <strong>des</strong><br />
fixen hingegen ganz vernachlässigt ist. Zur Erweiterung jedoch der Reproduktion, zur <strong>Akkumulation</strong>, ist<br />
auch das zirkulierende Kapital scheinbar überflüssig: Der ganze kapitalisierte Teil <strong>des</strong> Mehrwerts wird in<br />
Löhne für neue Arbeiter verwandelt, die offenbar in der Luft arbeiten, ohne jegliche Produktionsmittel.<br />
<strong>Die</strong>selbe Ansicht formuliert Sismondi noch deutlicher an einer anderen Stelle: "Der Reiche sorgt also für<br />
das Wohl <strong>des</strong> Armen, wenn er an seinem <strong>Ein</strong>kommen Ersparnisse macht und sie seinem Kapital<br />
hinzufügt, denn indem er selbst die Teilung der jährlichen Produktion vornimmt, bewahrt er alles das,<br />
was er <strong>Ein</strong>kommen nennt. auf, um es selbst zu verbrauchen, dagegen überläßt er alles das, was er Kapital<br />
nennt, dem Armen als <strong>Ein</strong>kommen." (l.c., Bd. I, S. 84.) Zugleich aber hebt Sismondi das Geheimnis der<br />
Plusmacherei und den Geburtsakt <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong> treffend hervor: Mehrwert entsteht aus dem Austausch<br />
von Kapital gegen Arbeit, aus dem variablen Kapital, Kapital entsteht aus der <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong><br />
Mehrwertes.<br />
Bei alledem sind wir jedoch in der Unterscheidung von Kapital und <strong>Ein</strong>kommen nicht viel<br />
vorwärtsgekommen. Sismondi macht jetzt den Versuch, die verschiedenen Elemente der Produktion und<br />
<strong>des</strong> <strong>Ein</strong>kommens in entsprechenden Portionen <strong>des</strong> gesellschaftlichen Gesamtprodukts darzustellen: "Der<br />
Unternehmer ebenso wie der Landbebauer verwendet nicht seinen ganzen produktiven Reichtum auf die<br />
Aussaat; einen Teil verwendet er auf Gebäude, auf Maschinen, auf Werkzeuge, welche die Arbeit<br />
leichter und fruchttragender machen; ebenso wie ein Teil <strong>des</strong> Reichtums <strong>des</strong> Landbebauers den<br />
dauernden Arbeiten zufließt, welche den Boden fruchtbarer machen. So sehen wir die verschiedenen<br />
Arten <strong>des</strong> Reichtums entstehen und sich nach und nach trennen. <strong>Ein</strong> Teil <strong>des</strong> Reichtums, den die<br />
Gesellschaft aufgehäuft hat, wird von jedem seiner Inhaber dazu verwandt, die Arbeit lohnender zu<br />
machen dadurch, daß er nach und nach aufgezehrt wird, ferner dazu, den blinden Naturkräften die Arbeit<br />
<strong>des</strong> Menschen zu übertragen; dies nennt man das feststehende Kapi- tal und versteht darunter den<br />
Neubruch, die Kanäle zur Bewässerung, die Fabriken und die Maschinen jeder Art. <strong>Ein</strong> anderer Teil <strong>des</strong><br />
Reichtums ist dazu bestimmt, verzehrt zu werden, um sich in dem Werk, welches er geschaffen hat, zu<br />
erneuern, ohne Aufhören seine Gestalt zu wechseln, dabei aber seinen Wert zu bewahren; dieser Teil,<br />
den man das umlaufende Kapital nennt, begreift in sich die Aussaat, die zur Verarbeitung bestimmten<br />
Rohstoffe und die Löhne. <strong>Ein</strong> dritter Teil <strong>des</strong> Reichtums endlich löst sich von diesem zweiten ab: der<br />
Wert, um den das fertige Werk die darauf gemachten Vorschüsse übersteigt. <strong>Die</strong>ser Wert, welchen man<br />
das <strong>Ein</strong>kommen von dem Kapital genannt hat, ist dazu bestimmt, ohne Wiedererzeugung verzehrt zu<br />
werden."<br />
Nachdem so mit Mühe die <strong>Ein</strong>teilung <strong>des</strong> gesellschaftlichen Gesamtprodukts nach den<br />
inkommensurablen Kategorien: fixes Kapital, zirkulieren<strong>des</strong> Kapital und Mehrwert, versucht worden ist,<br />
zeigt sich im nächsten Moment, daß Sismondi, wenn er vom fixen Kapital spricht, eigentlich konstantes,<br />
und wenn er vom zirkulierenden spricht, variables meint, denn "alles, was geschaffen ist", ist zur<br />
menschlichen Konsumtion bestimmt, aber das fixe Kapital wird nur "indirekt" verzehrt, das zirkulierende<br />
Kapital hingegen "dient dem Fonds, welcher zur Ernährung <strong>des</strong> Arbeiters bestimmt ist in Form <strong>des</strong><br />
Lohnes". Wir wären so einigermaßen wieder der <strong>Ein</strong>teilung <strong>des</strong> Gesamtprodukts in konstantes Kapital<br />
(Produktionsmittel), variables Kapital (Lebensmittel der Arbeiter) und Mehrwert (Lebensmittel der<br />
Kapitalisten) nähergerückt. Immerhin aber läßt sich bis jetzt den Aufklärungen Sismondis über diesen<br />
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von ihm selbst als grundlegend bezeichneten Gegenstand keine besondere Klarheit nachrühmen, und<br />
man merkt in diesem Wirrwarr jedenfalls keinen Fortschritt über die Smithschen "Gedankenböcke"<br />
hinaus.<br />
Sismondi fühlt das selbst und versucht mit einem Seufzer, daß "diese Bewegung <strong>des</strong> Reichtums<br />
vollständig abstrakt sei und eine so gespannte Aufmerksamkeit zu seinem Verständnis verlange", nun das<br />
Problem "in der einfachsten aller Behandlungen" klarzulegen. Wir begeben uns also wieder in die<br />
Ofenecke, d.h. zu Robinson, nur daß Robinson jetzt Pater familias und Pionier der Kolonialpolitik ist.<br />
"<strong>Ein</strong> einsamer Farmer in einer entfernten Kolonie am Saum der Wüste hat in einem Jahre hundert Sack<br />
Getreide geerntet: Kein Markt ist in der Nahe, wohin er sie bringen kann; auf alle Fälle muß dieses<br />
Getreide binnen Jahresfrist verzehrt werden, wenn es Wert für den Farmer haben soll; aber dieser kann<br />
mit seiner ganzen Familie nicht mehr als dreißig Sack verzehren; dies wird sein Aufwand sein, der<br />
Tausch seines <strong>Ein</strong>kom- mens, diese dreißig Sack erzeugen sich für niemand wieder. Er wird dann<br />
Arbeiter heranziehen, er wird sie Wälder ausroden, Sümpfe in seiner Nachbarschaft trockenlegen und<br />
einen Teil der Wüste unter Kultur legen lassen. <strong>Die</strong>se Arbeiter werden weitere dreißig Sack Getreide<br />
aufessen; für sie wird dies ein Aufwand sein, sie sind imstande, diesen Aufwand zu machen als Preis<br />
ihres <strong>Ein</strong>kommens, will sagen ihrer Arbeit; für den Farmer wird es ein Tausch sein, er wird diese dreißig<br />
Sack in fixes Kapital verwandelt haben. (Hier verwandelt Sismondi variables Kapital gar in fixes! Er will<br />
sagen: Für diese dreißig Sack, die sie als Lohn kriegten, stellen die Arbeiter Produktionsmittel her, die<br />
der Farmer zur Erweiterung seines fixen <strong>Kapitals</strong> wird verwenden können - R. L.) Es bleiben ihm nun<br />
noch vierzig Sack; diese wird er in diesem Jahre aussäen anstatt der zwanzig, die er im vorigen Jahre<br />
gesät hat, dies wird sein Umlaufkapital sein, welches er verdoppelt hat. So sind die hundert Sack verzehrt<br />
worden, aber von diesen hundert sind siebzig für ihn sicher angelegt worden, welche erheblich vermehrt<br />
wiedererscheinen, die einen in der nächsten Ernte, die anderen in den darauffolgenden Ernten. <strong>Die</strong><br />
Vereinzelung <strong>des</strong> Farmers, den wir als Beispiel gewählt haben, läßt uns die Schranken einer solchen<br />
Tätigkeit noch besser erkennen. Wenn er in diesem Jahre nur sechzig Sack von den hundert, die er<br />
geerntet, hat verzehren können, wer wird im folgenden Jahre die zweihundert Sack essen, welche durch<br />
die Vermehrung seiner Aussaat gewonnen worden sind? Man wird sagen: seine Familie, welche sich<br />
vermehrt hat. Gewiß, aber die menschlichen Generationen vermehren sich nicht so schnell wie die<br />
Unterhaltsmittel. Wenn unser Farmer genug Arme hätte, um je<strong>des</strong> Jahr die eben erwähnte Tätigkeit zu<br />
verdoppeln, würde sich seine Getreideernte je<strong>des</strong> Jahr verdoppeln, während sich seine Familie höchstens<br />
alle fünfundzwanzig Jahre verdoppeln könnte."<br />
Trotz der Kindlichkeit <strong>des</strong> Beispiels kommt zum Schluß die entscheidende Frage zum Vorschein: Wo ist<br />
der Absatz für den kapitalisierten Mehrwert? <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong> kann die Produktion der<br />
Gesellschaft ins ungemessene steigern. Wie ist es aber mit der Konsumtion der Gesellschaft? <strong>Die</strong>se ist<br />
durch das <strong>Ein</strong>kommen verschiedener Art bestimmt. Der wichtige Gegenstand wird von Sismondi im V.<br />
Kapitel <strong>des</strong> zweiten Buches dargelegt: "Teilung <strong>des</strong> Nationaleinkommens unter die verschiedenen<br />
Klassen der Bürger."<br />
Hier macht Sismondi einen neuen Versuch, das Gesamtprodukt der Gesellschaft in Teilen darzustellen:<br />
"Unter diesem Gesichtspunkt besteht das Nationaleinkommen aus zwei Teilen: Der eine begreift die<br />
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jährliche Pro- duktion, dies ist der Nutzen, welcher aus dem Reichtum entsteht; der zweite ist die<br />
Fähigkeit zu arbeiten, die sich aus dem Leben selbst ergibt. Unter dem Namen Reichtum verstehen wir<br />
jetzt ebenso das Grundeigentum wie das Kapital, und unter dem Namen Nutzen begreifen wir ebenso das<br />
Nettoeinkommen, welches den Eigentümern gegeben wird, wie den Gewinn <strong>des</strong> Kapitalisten." Also<br />
sämtliche Produktionsmittel werden als "Reichtum" aus dem "Nationaleinkommen" ausgeschieden;<br />
[welch] letzteres aber in Mehrwert und in Arbeitskraft oder richtiger deren Äquivalent - variables Kapital<br />
- zerfällt. Wir hätten hier also, wenn auch nicht deutlich genug herausgehoben, die <strong>Ein</strong>teilung in<br />
konstantes Kapital, variables Kapital und Mehrwert. Im nächsten Augenblick stellt sich aber heraus, daß<br />
Sismondi unter "Nationaleinkommen" das jährliche gesellschaftliche Gesamtprodukt versteht: "Ebenso<br />
besteht die jährliche Produktion oder das Ergebnis aller Jahresarbeiten aus zwei Teilen; der eine ist der<br />
Nutzen, der sich aus dem Reichtum ergibt, der andere ist die Fähigkeit zu arbeiten, den wir dem Teil <strong>des</strong><br />
Reichtums gleichsetzen, gegen welchen er in Tausch gegeben wird, oder den Unterhaltsmitteln der<br />
Arbeiter." Hier wird das Gesamtprodukt der Gesellschaft dem Werte nach in zwei Teile, variables<br />
Kapital und Mehrwert. aufgelöst, das konstante Kapital verschwindet, und wir sind angelangt bei dem<br />
Smithschen Dogma, wonach der Preis aller Waren sich in v + m auflöst (oder aus v + m zusammensetzt)<br />
oder, mit anderen Worten, das Gesamtprodukt nur aus Konsummitteln (für Arbeiter und Kapitalisten)<br />
besteht.<br />
Von hier aus tritt Sismondi an die Frage der Realisierung <strong>des</strong> Gesamtprodukts heran. Da einerseits die<br />
Summe der <strong>Ein</strong>kommen in der Gesellschaft aus Löhnen und Profiten vom Kapital sowie aus Grundrente<br />
besteht, also v + m darstellt, andererseits das Gesamtprodukt der Gesellschaft sich gleichfalls dem Werte<br />
nach in v + m auflöst, so "halten sich das Nationaleinkommen und die jährliche Produktion gegenseitig<br />
die Waage" und müssen einander (an Wert) gleich sein: "<strong>Die</strong> ganze jährliche Produktion wird jährlich<br />
verzehrt, aber da dies zum Teil durch Arbeiter geschieht, welche ihre Arbeit dagegen in Tausch geben,<br />
verwandeln sie sie in (variables) Kapital und erzeugen sie aufs neue; der andere Teil wird von den<br />
Kapitalisten, welche dagegen ihr <strong>Ein</strong>kommen eintauschen, verbraucht." "<strong>Die</strong> Gesamtheit <strong>des</strong> jährlichen<br />
<strong>Ein</strong>kommens ist dazu bestimmt, gegen die Gesamtheit der jährlichen Produktion eingetauscht zu<br />
werden." Daraus konstruiert Sismondi endlich im VI. Kapitel <strong>des</strong> zweiten Buches: "Wechselseitige<br />
Bestimmung der Produktion durch die Konsumtion und der Ausgaben durch das <strong>Ein</strong>kommen", das<br />
folgende exakte Gesetz der Re- produktion: "Das <strong>Ein</strong>kommen <strong>des</strong> vergangenen Jahres muß die<br />
Produktion dieses Jahres bezahlen." Wie soll nun unter solchen Voraussetzungen die kapitalistische<br />
<strong>Akkumulation</strong> stattfinden? Wenn das Gesamtprodukt von den Arbeitern und den Kapitalisten restlos<br />
verzehrt werden muß, so kommen wir offenbar aus der einfachen Reproduktion nicht heraus, und daß<br />
Problem der <strong>Akkumulation</strong> wird unlösbar. In der Tat läuft die Sismondische Theorie darauf hinaus, die<br />
<strong>Akkumulation</strong> für unmöglich zu erklären. Denn wer soll das überschüssige Produkt im Falle der<br />
Erweiterung der Reproduktion kaufen, da die gesamte gesellschaftliche Nachfrage durch die Lohnsumme<br />
der Arbeiter und durch den persönlichen Konsum der Kapitalisten dargestellt ist? Sismondi formuliert<br />
auch die objektive Unmöglichkeit der <strong>Akkumulation</strong> in folgendem Satz: "Nach allem diesem muß man<br />
sagen, daß es niemals möglich ist, die Gesamtheit der Erzeugung <strong>des</strong> Jahres (bei erweiterter<br />
Reproduktion - R. L.) gegen die Gesamtheit <strong>des</strong> vorhergehenden Jahres auszutauschen. Wenn die<br />
Erzeugung stufenweise fortschreitend wächst, muß der Austausch je<strong>des</strong> Jahres einen kleinen Verlust<br />
verursachen, welcher zu gleicher Zeit eine Vergütung der zukünftigen Lage darstellt." Mit anderen<br />
Worten, die <strong>Akkumulation</strong> muß je<strong>des</strong> Jahr bei der Realisierung <strong>des</strong> Gesamtprodukts einen unabsetzbaren<br />
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Überschuß in die Welt setzen. Sismondi schreckt aber vor der letzten Konsequenz zurück und rettet sich<br />
sofort "auf die mittlere Linie" durch eine wenig verständliche Ausflucht: "Wenn dieser Verlust gering ist<br />
und gut verteilt wird, so erträgt ihn jeder, ohne sich über sein <strong>Ein</strong>kommen zu beklagen. Hierin gerade<br />
besteht die Wirtschaftlichkeit <strong>des</strong> Volkes, und die Reihe dieser kleinen Opfer vermehrt das Kapital und<br />
das Nationalvermögen." Wird hingegen die <strong>Akkumulation</strong> rücksichtslos betrieben, dann wächst sich der<br />
unabsetzbare Überschuß zur öffentlichen Kalamität aus, und wir haben die Krise. So bildet die<br />
kleinbürgerliche Ausflucht der Dämpfung der <strong>Akkumulation</strong> die Lösung Sismondis. <strong>Die</strong> Polemik gegen<br />
die klassische Schule, die die unumschränkte Entfaltung der Produktivkräfte und Erweiterung der<br />
Produktion befürwortete, ist ein ständiger Kehrreim Sismondis, und der Warnung vor den fatalen Folgen<br />
<strong>des</strong> unumschränkten Dranges zur <strong>Akkumulation</strong> ist sein ganzes Werk gewidmet.<br />
<strong>Die</strong> Darlegung Sismondis hat seine Unfähigkeit bewiesen, den Prozeß der Reproduktion als Ganzes zu<br />
begreifen. Von seinem mißlungenen Versuch abgesehen, die Kategorien Kapital und <strong>Ein</strong>kommen<br />
gesellschaftlich auseinanderzuhalten, leidet seine Reproduktionstheorie an dem fundamentalen Irrtum,<br />
den er von Ad. Smith übernommen, nämlich an der Vorstellung, daß das jährliche Gesamtprodukt in<br />
persönlicher Konsum- tion restlos auf gehe, ohne für die Erneuerung <strong>des</strong> konstanten <strong>Kapitals</strong> der<br />
Gesellschaft einen Wertteil übrigzulassen, <strong>des</strong>gleichen, daß die <strong>Akkumulation</strong> nur in der Verwandlung<br />
<strong>des</strong> kapitalisierten Mehrwerts in zuschüssiges variables Kapital bestehe. Wenn jedoch spätere Kritiker<br />
Sismondis, wie z.B. der russische Marxist Iljin (6), mit dem Hinweis auf diesen fundamentalen Schnitzer<br />
in der Wertanalyse <strong>des</strong> Gesamtprodukts die ganze <strong>Akkumulation</strong>stheorie Sismondis als hinfällig, als<br />
"Unsinn" mit einem überlegenen Lächeln abtun zu können glaubten, so bewiesen sie dadurch nur, daß sie<br />
ihrerseits das eigentliche Problem gar nicht bemerkten, um das es sich bei Sismondi handelte. Daß durch<br />
die Beachtung <strong>des</strong> Wertteils im Gesamtprodukt, der dem konstanten Kapital entspricht, das Problem der<br />
<strong>Akkumulation</strong> noch bei weitem nicht gelöst ist, bewies am besten später die eigene Analyse von Marx,<br />
der als erster jenen groben Schnitzer Ad. Smith' aufgedeckt hatte. Noch drastischer bewies dies aber ein<br />
Umstand in den Schicksalen der Sismondischen Theorie selbst. Durch seine Auffassung ist Sismondi in<br />
die schärfste Kontroverse mit den Vertretern und Verflachern der klassischen Schule geraten: mit<br />
Ricardo, Say und MacCulloch. <strong>Die</strong> beiden Seiten vertraten hier zwei entgegengesetzte Standpunkte:<br />
Sismondi die Unmöglichkeit der <strong>Akkumulation</strong>, Ricardo, Say und MacCulloch hingegen deren<br />
schrankenlose Möglichkeit. Nun standen aber in bezug auf jenen Smithschen Schnitzer beide Seiten<br />
genau auf demselben Boden: Wie Sismondi, so sahen auch seine Widersacher von dem konstanten<br />
Kapital bei der Reproduktion ab, und niemand hat die Smithsche Konfusion in bezug auf die Auflösung<br />
<strong>des</strong> Gesamtprodukts in v + m in so pretentiöser Weise zu einem unerschütterlichen Dogma gestempelt<br />
wie gerade Say.<br />
<strong>Die</strong>ser erheiternde Umstand sollte eigentlich genügen, um zu beweisen, daß wir das Problem der<br />
<strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong> noch lange nicht zu lösen imstande sind, wenn wir bloß dank Marx wissen,<br />
daß das gesellschaftliche Gesamtprodukt außer Lebensmitteln zur Konsumtion der Arbeiter und<br />
Kapitalisten (v + m) noch Produktionsmittel (c) zur Erneuerung <strong>des</strong> Verbrauchten enthalten muß und daß<br />
dementsprechend die <strong>Akkumulation</strong> nicht bloß in der Vergrößerung <strong>des</strong> variablen, sondern auch in der<br />
Vergrößerung <strong>des</strong> konstanten <strong>Kapitals</strong> besteht. Wir werden später sehen, zu welchem neuen Irrtum in<br />
bezug auf die <strong>Akkumulation</strong> diese nachdrückliche Betonung <strong>des</strong> konstanten Kapitalteils im<br />
Reproduktionsprozeß geführt hat. Hier jedoch mag die Konstatierung der Tatsache genügen, daß<br />
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der Smithsche Irrtum in bezug auf die Reproduktion <strong>des</strong> Gesamtkapitals nicht etwa eine spezielle<br />
Schwäche in der Position Sismondis darstellte, sondern vielmehr den gemeinsamen Boden, auf dem die<br />
erste Kontroverse um das Problem der <strong>Akkumulation</strong> ausgefochten wurde. Daraus folgt nur, daß die<br />
bürgerliche Ökonomie sich an das verwickelte Problem der <strong>Akkumulation</strong> heranwagte, ohne mit dem<br />
elementaren Problem der einfachen Reproduktion fertig geworden zu sein, wie denn die<br />
wissenschaftliche Forschung nicht bloß auf diesem Gebiete in seltsamen Zickzacklinien schreitet und<br />
häufig gleichsam die obersten Stockwerke <strong>des</strong> Gebäu<strong>des</strong> in Angriff nimmt, bevor das Fundament noch<br />
zu Ende ausgeführt ist. Es zeugt jedenfalls dafür, eine wie harte Nuß Sismondi mit seiner Kritik der<br />
<strong>Akkumulation</strong> der bürgerlichen Ökonomie zum Knacken aufgegeben hat, wenn sie trotz all der<br />
durchsichtigen Schwächen und Unbeholfenheiten seiner Deduktion mit ihm doch nicht fertig zu werden<br />
vermochte.<br />
Fußnoten von <strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong><br />
(1) Der Auszug aus diesem interessanten Dokument befindet sich in einer Besprechung der Schrift:<br />
Observations on the Injurious Consequences of the Restrictions upon Foreign Commerce. By a Member<br />
of the late Parliament, London 1820. <strong>Die</strong>ser freihändlerische Aufsatz malt überhaupt die Lage der<br />
Arbeiter in England in den düstersten Farben. Er führt unter anderem folgende Tatsachen an: "The<br />
manufacturing classes in Great Britain - have been suddenly reduced from affluence and prosperity to the<br />
extreme of poverty and misery. In one of the debates in the late Session of Parliament, it was stated, that<br />
the wages of weavers of Glasgow and its vicinity, which, when higher, had averaged about 25 s. or 27 s.<br />
a week, had been reduced in 1816 to 10 s.; and in 1819 to the wretched pittance of 5 s. 6 d. or 6 s. They<br />
have not since been materially augmented." In Lancashire schwankten die Wochenlöhne der Weber nach<br />
demselben Zeugnis zwischen 6 und 12 Schilling bei 15stündiger Arbeitszeit, während "halbverhungerte<br />
Kinder" für 2 oder 3 Shilling die Woche 12 bis 16 Stunden täglich arbeiteten. das Elend in Yorkshire war<br />
womöglich noch größer. In bezug auf die Adresse der Nottinghamer Strumpfwirker sagt der Verfasser,<br />
daß er die Verhältnisse selbst untersucht hätte und zu dem Schlusse gelangt wäre, daß die Erklärungen<br />
der Arbeiter nicht im geringsten übertrieben waren. (The Edinburgh Review, Mai 1820, S. 331 ff.)
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der ökonomischen Romantik. In: Werke, Bd. 2, S. 121-264.]
file:///C|/DOKUME~1/peter1/LOKALE~1/Temp/Rar$DR77.718/lu/lu05/lu05_155.htm<br />
10. Kapitel | Inhalt | 12. Kapitel<br />
<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - Gesammelte Werke. Herausgegeben vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Band<br />
5. <strong>Berlin</strong>/DDR. 1975. "<strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>", S. 155-166.<br />
1. Korrektur.<br />
Erstellt am 20.10.1998<br />
Elftes Kapitel<br />
MacCulloch gegen Sismondi<br />
<strong>Die</strong> Sismondischen Kassandrarufe gegen die rücksichtslose Ausbreitung der <strong>Kapitals</strong>herrschaft in<br />
Europa riefen gegen ihn von drei Seiten eine scharfe Opposition auf den Plan: in England die Schule<br />
Ricardos, in Frankreich den Verflacher Smith', J. B. Say, und die St-Simonisten. Während die<br />
Gedankengänge Owens in England, der den Nachdruck auf die Schattenseiten <strong>des</strong> Industriesystems und<br />
namentlich die Krise legte, sich vielfach mit denen Sismondis begegnen, fühlte sich die Schule <strong>des</strong><br />
anderen großen Utopisten, St-Simons, die den Nachdruck auf den weltumspannenden Gedanken der<br />
großindustriellen Expansion, auf die schrankenlose Entfaltung der Produktivkräfte der menschlichen<br />
Arbeit legte, durch den Angstruf Sismondis lebhaft beunruhigt. Uns interessiert hier aber die vom<br />
theoretischen Standpunkt fruchtbarere Kontroverse zwischen Sismondi und den Ricardianern. Im Namen<br />
letzterer richtete zuerst MacCulloch im Oktober 1819, also gleich nach Erscheinen der "Nouveaux<br />
principes", in der "Edinburgh Review" eine anonyme Polemik gegen Sismondi, die, wie man sagte, von<br />
Ricardo selbst gebilligt wurde.(1) Auf diese Polemik replizierte Sismondi 1820 in Rossis<br />
"Annales de jurisprudence" unter dem Titel: "Untersuchung der Frage: Wächst in der Gesellschaft<br />
zugleich mit der Fähigkeit zu produzieren, auch die Fähigkeit zu verbrauchen?"(2)<br />
Sismondi konstatiert selbst in seiner Antwort, daß es die Schatten der Handelskrise sind, in deren<br />
Zeichen seine damalige Polemik stand: "<strong>Die</strong>se Wahrheit, die wir beide suchen (Sismondi wußte<br />
übrigens, als er antwortete, nicht, wer der Anonymus der "Edinburgh Review" war - R. L.), ist in den<br />
gegenwärtigen Zeitläufen von der höchsten Wichtigkeit. Sie kann als grundlegend für die politische<br />
Ökonomie gelten. <strong>Ein</strong> allgemeiner Niedergang macht sich im Handel geltend, in den Manufakturen und<br />
sogar, wenigstens in einigen Ländern, in der Landwirtschaft. Das Leiden ist ein so langwieriges, ein so<br />
außerordentliches, das Unglück ist in so zahlreiche Familien eingekehrt, Unruhe und Entmutigung in<br />
alle, daß die Grundlagen der wirtschaftlichen Ordnung gefährdet erscheinen ... Man hat zwei<br />
Erklärungen, die einander entgegengesetzt sind, für diesen staatlichen Niedergang gegeben, der eine so<br />
große Gärung hervorgerufen hat. Ihr habt zuviel gearbeitet, sagen die einen; ihr habt zuwenig gearbeitet,<br />
sagen die anderen. Das Gleichgewicht, sagen die ersteren, wird sich erst dann wiederherstellen, Friede<br />
und Wohlstand werden erst dann wiederkehren, wenn ihr den ganzen Überschuß der Waren verbraucht<br />
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habt, der unverkauft den Markt bedrückt, und wenn ihr in Zukunft eure Produktion nach der Nachfrage<br />
der Käufer richtet; das Gleichgewicht wird sich nur einstellen, sagen die anderen, wenn ihr eure<br />
Anstrengungen, aufzuhäufen und zu reproduzieren, verdoppelt. Ihr täuscht euch, wenn ihr glaubt, daß<br />
unsere Märkte überfüllt sind, nur die Hälfte unserer Magazine ist gefüllt, füllen wir auch die andere<br />
Hälfte: <strong>Die</strong>se neuen Reichtümer werden sich, die einen gegen die anderen, eintauschen und neues Leben<br />
dem Handel einflößen." Hier hat Sismondi mit ausgezeichneter Klarheit den wirklichen Brennpunkt der<br />
Kontroverse herausgehoben und formuliert.<br />
In der Tat steht und fällt die ganze Position MacCullochs mit der Behauptung, der Austausch sei in<br />
Wirklichkeit Austausch von Waren gegen Waren. Jede Ware stelle also nicht nur ein Angebot, sondern<br />
ihrerseits eine Nachfrage dar. Das Zwiegespräch gestaltete sich darauf in folgender Weise: MacCulloch:<br />
"Nachfrage und Angebot sind Ausdrücke, die nur korrelativ und wandelbar sind. Das Angebot einer Art<br />
von Gut bestimmt die Nachfrage nach einem anderen. So entsteht eine Nachfrage nach einer gegebenen<br />
Menge landwirtschaftlicher Produkte, wenn eine Menge Industrieprodukte, deren Herstellung ebensoviel<br />
gekostet hat, dagegen in Tausch angeboten wird, und es entsteht andererseits eine tatsächliche Nachfrage<br />
nach dieser Menge Industrieprodukte, wenn eine Menge landwirtschaftlicher Produkte, die dieselben<br />
Ausgaben verursacht haben, als Gegenwert angeboten wird."(3) <strong>Die</strong> Finte <strong>des</strong> Ricardianers liegt auf der<br />
Hand: Er beliebt von der Geldzirkulation abzusehen und so zu tun, als ob Waren unmittelbar mit Waren<br />
gekauft und bezahlt wären.<br />
Aus den Bedingungen hochentwickelter kapitalistischer Produktion sind wir plötzlich versetzt in die<br />
Zeiten <strong>des</strong> primitiven Tauschhandels, wie er noch heute im Innern Afrikas gedeihen mag. Der entfernt<br />
richtige Kern der Mystifikation besteht darin, daß in der einfachen Warenzirkulation das Geld lediglich<br />
die Rolle <strong>des</strong> Vermittlers spielt. Aber gerade die Dazwischenkunft dieses Vermittlers, die in der<br />
Zirkulation W - G - W (Ware - Geld - Ware) die beiden Akte, den Verkauf und den Kauf, getrennt und<br />
zeitlich und örtlich voneinander unabhängig gemacht hat, bringt es mit sich, daß jeder Verkauf durchaus<br />
nicht gleich vom Kauf gefolgt zu werden braucht, und zweitens, daß Kauf und Verkauf durchaus nicht an<br />
dieselben Personen gebunden sind, ja nur in seltenen Ausnahmefällen zwischen denselben "Personae<br />
dramatis" sich abspielen werden. <strong>Die</strong>se widersinnige Unterstellung macht aber gerade MacCulloch,<br />
indem er einerseits Industrie, andererseits Landwirtschaft als Käufer und Verkäufer zugleich einander<br />
entgegenstellt. <strong>Die</strong> Allgemeinheit der Kategorien, die auch noch in ihrer Totalität als Austauschende<br />
aufgeführt werden, maskiert hier die wirkliche Zersplitterung dieser gesellschaftlichen<br />
Arbeitsteilung, die zu zahllosen privaten Austauschakten führt, bei denen das Zusammenfallen der Käufe<br />
mit Verkäufen der gegenseitigen Waren zu den seltensten Ausnahmefällen gehört. <strong>Die</strong> MacCullochsche<br />
simplistische Auffassung <strong>des</strong> Warenaustausches macht überhaupt die ökonomische Bedeutung und das<br />
historische Auftreten <strong>des</strong> Gel<strong>des</strong> ganz unbegreiflich, indem sie die Ware direkt zum Gelde macht, ihr<br />
unmittelbare Austauschbarkeit andichtet.<br />
Sismondis Antwort ist nun allerdings ziemlich unbeholfen. Er führt uns, um die Untauglichkeit der<br />
MacCullochschen Darstellung <strong>des</strong> Warenaustausches für die kapitalistische Produktion darzutun, auf die<br />
Leipziger Büchermesse:<br />
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"Zu der Büchermesse in Leipzig kommen alle Buchhändler aus ganz Deutschland, jeder mit vier oder<br />
fünf Werken, die er ausgestellt hat, von denen je<strong>des</strong> Werk in einer Auflage von 500 oder 600<br />
Exemplaren gedruckt ist. Jeder von ihnen tauscht sie gegen andere Bücher ein und bringt 2.400 Bände<br />
nach Hause, wie er 2.400 mit zur Messe gebracht hat. Er hatte aber vier verschiedene Werke hingebracht<br />
und bringt 200 verschiedene heim. Das ist die korrelative und wandelbare Nachfrage und Produktion <strong>des</strong><br />
Schülers Ricardo: <strong>Die</strong> eine kauft die andere, die eine bezahlt die andere, die eine ist die Folge der<br />
anderen, aber nach unserer Meinung, nach der Meinung <strong>des</strong> Buchhändlers und <strong>des</strong> Publikums, hat die<br />
Nachfrage und der Verbrauch noch nicht begonnen. Das schlechte Buch, wenn es auch in Leipzig<br />
getauscht worden ist, bleibt nichts<strong>des</strong>toweniger unverkauft (ein arger Irrtum von Sismondi dies! - R. L.),<br />
es wird nicht weniger die Regale <strong>des</strong> Buchhändlers füllen, sei es, daß niemand Bedarf nach ihm hat, sei<br />
es, daß der Bedarf bereits gedeckt ist. <strong>Die</strong> in Leipzig eingetauschten Bücher werden sich nur dann<br />
verkaufen, wenn die Buchhändler Privatleute finden, die sie nicht nur begehren, sondern die auch bereit<br />
sind, ein Opfer zu bringen, um sie aus dem Umlauf zu ziehen. <strong>Die</strong>se erst bilden eine wirkliche<br />
Nachfrage." Trotz seiner Naivität zeigt das Beispiel deutlich, daß Sismondi sich durch die Finte seines<br />
Widersachers nicht beirren läßt und weiß, worum es sich im Grunde genommen handelt.(4)<br />
MacCulloch macht nun weiter einen Versuch, die Betrachtung vom ab- strakten Warenaustausch<br />
zu konkreten sozialen Verhältnissen zu wenden: "Nehmen wir z.B. an, daß ein Landbebauer hundert<br />
Arbeitern Nahrung und Kleidung vorgeschossen hat und daß diese ihm Nahrungsmittel haben entstehen<br />
lassen, die für zweihundert Menschen ausreichend sind, während ein Fabrikant seinerseits hundert<br />
Arbeitern Nahrung und Kleidung vorgeschossen hat, für die ihm diese Kleidungsstücke für zweihundert<br />
Menschen angefertigt haben. Es wird dann dem Pächter nach Abzug der Nahrung und Kleidung für seine<br />
eigenen Arbeiter noch Nahrung für hundert andere zur Verfügung stehen, während der Fabrikant nach<br />
Ersatz der Kleidung seiner eigenen Arbeiter noch hundert Kleider für den Markt übrigbehält. In diesem<br />
Falle werden die beiden Artikel, der eine gegen den anderen, getauscht werden, die überschüssigen<br />
Nahrungsmittel bestimmen die Nachfrage nach den Kleidern, und die überschüssigen Kleider bestimmen<br />
die Nachfrage nach der Nahrung."<br />
Man weiß nicht, was man mehr an dieser Hypothese bewundern soll: die Abgeschmacktheit der<br />
Konstruktion, die alle wirklichen Verhältnisse auf den Kopf stellt, oder die Ungeniertheit, mit der gerade<br />
alles, was zu beweisen war, in den Prämissen bereits vorausgeschickt ist, um hinterher als "bewiesen" zu<br />
gelten. Jedenfalls erscheint die Leipziger Büchermesse dagegen als das Muster einer tiefen und<br />
realistischen Denkweise. Um zu beweisen, daß für jede Sorte Waren jederzeit eine unumschränkte<br />
Nachfrage geschaffen werden könne, nimmt MacCulloch als Beispiel zwei Produkte, die zu den<br />
dringendsten und elementarsten Bedürfnissen je<strong>des</strong> Menschen gehören: Nahrung und Kleidung. Um zu<br />
beweisen, daß die Waren in jeder beliebigen Menge ohne Rücksicht auf das Bedürfnis der Gesellschaft<br />
zum Austausch gebracht werden können, nimmt er ein Beispiel, wo zwei Produktenmengen von<br />
vornherein aufs Haar genau den Bedürfnissen angepaßt sind, wo also gesellschaftlich gar kein Überschuß<br />
vorhanden ist, nennt aber dabei die gesellschaftlich notwendige Menge einen "Überschuß" - nämlich<br />
gemessen an dem persönlichen Bedürfnis der Produzenten an ihrem eigenen Produkt - und weist so<br />
glänzend nach, daß jeder beliebige "Überschuß" an Waren durch einen entsprechenden "Überschuß" an<br />
anderen Waren zum Austausch gelangen kann. Um endlich zu beweisen, daß der Austausch zwischen<br />
verschiedenen privat produzierten Waren - trotzdem ihre Mengen, ihre Herstellungskosten, ihre<br />
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Wichtigkeit für die Gesellschaft naturgemäß verschiedene sein müssen - dennoch zuwege gebracht<br />
werden könne, nimmt er als Beispiel von vornherein zwei genau gleiche Mengen Waren von genau<br />
gleichen Herstellungskosten und genau gleicher allgemeiner Notwendigkeit für die Ge- sellschaft.<br />
Kurz, um zu beweisen, daß in der planlosen kapitalistischen Privatwirtschaft keine Krise möglich,<br />
konstruiert er eine streng planmäßig geregelte Produktion, in der überhaupt keine Überproduktion<br />
vorhanden ist.<br />
Der Hauptwitz <strong>des</strong> pfiffigen Mac liegt aber in anderem. Es handelt sich ja bei der Debatte um das<br />
Problem der <strong>Akkumulation</strong>. Was Sismondi plagte und womit er Ricardo und <strong>des</strong>sen Epigonen plagte,<br />
war folgen<strong>des</strong>: Wo findet man Abnehmer für den Überschuß an Waren, wenn ein Teil <strong>des</strong> Mehrwerts,<br />
statt von den Kapitalisten privat konsumiert zu werden, kapitalisiert, d.h. zur Erweiterung der Produktion<br />
über das <strong>Ein</strong>kommen der Gesellschaft hinaus verwendet wird? Was wird aus dem kapitalistischen<br />
Mehrwert, wer kauft die Waren, in denen er steckt? So fragte Sismondi. Und die Zierde der<br />
Ricardoschule, ihr offizieller Vertreter auf dem Katheder der Londoner Universität, die Autorität für<br />
derzeitige englische Minister der liberalen Partei wie für die Londoner City, der herrliche MacCulloch,<br />
antwortete darauf, indem er ein Beispiel konstruiert, wo überhaupt gar kein Mehrwert produziert wird!<br />
Seine "Kapitalisten" plagen sich ja nur um Christi willen mit der Landwirtschaft und der Fabrikation:<br />
Das ganze gesellschaftliche Produkt nebst "Überschuß" reicht nur für den Bedarf der Arbeiter, für die<br />
Löhne hin, während der "Pächter" und der "Fabrikant" hungrig und nackend die Produktion und den<br />
Austausch dirigieren.<br />
Sismondi ruft darauf mit berechtigter Ungeduld: "In dem Augenblick, in dem wir erforschen was aus<br />
dem Überschuß der Produktion über den Verbrauch der Arbeiter wird, darf man nicht von diesem<br />
Überschuß absehen, der den notwendigen Profit der Arbeit und den notwendigen Anteil <strong>des</strong> Arbeitgebers<br />
bildet."<br />
Der Vulgarus jedoch potenziert seine Abgeschmacktheit weiter ins Tausendfache, indem er den Leser<br />
annehmen läßt, "daß es tausend Pächter gibt", die ebenso genial verfahren wie jener einzelne, und<br />
ebenfalls "tausend Fabrikanten". Natürlich verläuft wieder der Austausch glatt nach Wunsch. Endlich<br />
läßt er "infolge einer geschickteren Verwendung der Arbeit und <strong>Ein</strong>führung von Maschinen" die<br />
Produktivität der Arbeit genau um das Doppelte zunehmen, und zwar in der Weise, daß "jeder der<br />
tausend Pächter, der seinen hundert Arbeitern die Nahrung und die Bekleidung vorschießt, gewöhnliche<br />
Nahrungsmittel für zweihundert Personen zurückerhält und außerdem Zucker, Tabak und Wein, die<br />
dieser Nahrung an Wert gleich sind", während jeder Fabrikant durch eine analoge Prozedur neben der<br />
bisherigen Menge Kleider für alle Arbeiter auch noch "Bänder, Spitzen und Batiste erhält, "die<br />
eine gleiche Summe zu produzieren kosten und die folglich einen tauschbaren Wert haben werden, der<br />
diesen zweihundert Bekleidungen gleich ist". Nachdem er so die geschichtliche Perspektive völlig<br />
umgekehrt und erst kapitalistisches Privateigentum mit Lohnarbeit, dann in einem späteren Stadium jene<br />
Höhe der Produktivität der Arbeit angenommen hat, die die Ausbeutung überhaupt ermöglicht, nimmt er<br />
nun an, diese Fortschritte der Produktivität der Arbeit vollzögen sich auf allen Gebieten in genau<br />
demselben Tempo, das Mehrprodukt je<strong>des</strong> Produktionszweiges enthielte genau denselben Wert, es<br />
verteile sich auf genau dieselbe Anzahl Personen, alsdann läßt er die verschiedenen Mehrprodukte sich<br />
gegeneinander austauschen - und siehe da! alles tauscht sich wieder glatt und restlos zur allgemeinen<br />
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Zufriedenheit aus. Dabei begeht Mac unter den vielen anderen auch noch die Abgeschmacktheit, seine "<br />
Kapitalisten", die bisher von der Luft lebten und im Adamskostüm ihren Beruf ausübten, nunmehr bloß<br />
von Zucker, Tabak und Wein sich ernähren und ihre Leiber bloß mit Bändern, Spitzen und Batisten<br />
schmücken zu lassen.<br />
Doch der Hauptwitz liegt wiederum in der Pirouette, mir der er dem eigentlichen Problem ausweicht.<br />
Was wird aus dem kapitalisierten Mehrwert, d.h. aus dem Mehrwert, der nicht zur eigenen Konsumtion<br />
der Kapitalisten, sondern zur Erweiterung der Produktion verwendet wird? Das war die Frage. Und<br />
MacCulloch antwortet darauf, einmal, indem er überhaupt von der Mehrwertproduktion absieht, und zum<br />
anderen Mal - indem er den ganzen Mehrwert zur Luxusproduktion verwendet. Wer ist nun Abnehmer<br />
für die neue Luxusproduktion? Nach dem Beispiel MacCullochs offenbar eben die Kapitalisten (seine<br />
Pächter und Fabrikanten), denn außer diesen gibt es in seinem Beispiel nur noch Arbeiter. Damit haben<br />
wir also die Konsumtion <strong>des</strong> ganzen Mehrwerts zu persönlichen Zwecken der Kapitalisten oder, mit<br />
anderen Worten, einfache Reproduktion. MacCulloch beantwortet also die Frage nach der<br />
Kapitalisierung <strong>des</strong> Mehrwerts entweder durch Absehen von jeglichem Mehrwert oder dadurch, daß er in<br />
demselben Moment, wo Mehrwert entsteht, einfache Reproduktion statt der <strong>Akkumulation</strong> annimmt. Den<br />
Schein, als ob er dennoch von erweiterter Reproduktion redete, gibt er sich dabei wiederum wie früher<br />
bei der angeblichen Behandlung <strong>des</strong> "Überschusses" - durch eine Finte, nämlich dadurch, daß er erst den<br />
unmöglichen Kasus einer kapitalistischen Produktion ohne Mehrwert konstruiert, um dann das<br />
Erscheinen <strong>des</strong> Mehrprodukts auf der Bildfläche dem Leser als eine Erweiterung der Produktion zu<br />
suggerieren:<br />
<strong>Die</strong>sen Windungen <strong>des</strong> schottischen Schlangenmenschen war Sismondi nun nicht ganz<br />
gewachsen. Er, der seinen Mac bis jetzt Schritt für Schritt an die Wand gedrückt und ihm "offenbare<br />
Abgeschmacktheit" nachgewiesen hat, verwirrt sich selbst in dem entscheidenden Punkte der<br />
Kontroverse. Er hätte seinem Widerpart auf die obige Tirade offenbar kühl erklären müssen:<br />
"Verehrtester! Alle Achtung vor Ihrer geistigen Biegsamkeit, aber Sie suchen ja der Sache wie ein Aal zu<br />
entschlüpfen. Ich frage die ganze Zeit: Wer wird Abnehmer der überschüssigen Produkte sein, wenn die<br />
Kapitalisten, statt ihren Mehrwert ganz zu verprassen, ihn zu Zwecken der <strong>Akkumulation</strong>, d.h. zur<br />
Erweiterung der Produktion, verwenden werden? Und Sie antworten mir darauf: Je nun, sie werden diese<br />
Erweiterung der Produktion in Luxusgegenständen vornehmen, und diese Luxusgegenstände werden sie<br />
natürlich selbst verzehren. Aber das ist ja ein Taschenspielerkunststück. Denn sofern die Kapitalisten den<br />
Mehrwert in Luxus für sich selbst verausgaben, verzehren sie ihn ja und akkumulieren nicht. Es handelt<br />
sich aber gerade darum, ob die <strong>Akkumulation</strong> möglich ist, nicht um persönlichen Luxus der Kapitalisten!<br />
Geben Sie also entweder darauf - wenn Sie können - eine klare Antwort, oder begeben Sie sich selbst<br />
dorthin, wo Ihr Wein und Tabak oder meinetwegen der Pfeffer wächst."<br />
Statt so dem Vulgarus den Daumen aufs Auge zu drücken, wird Sismondi plötzlich ethisch, pathetisch<br />
und sozial. Er ruft: "Wer wird die Nachfrage stellen, wer wird genießen, die ländlichen und die<br />
städtischen Herren oder ihre Arbeiter? In seiner (Macs) neuen Annahme haben wir einen Überschuß an<br />
Produkten, einen Gewinn an der Arbeit. Wem verbleibt er?" Und er antwortet selbst mit der folgenden<br />
Tirade:<br />
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"Wohl wissen wir - und die Geschichte <strong>des</strong> Handels lehrt es uns genugsam -, daß nicht der Arbeiter es<br />
ist, der von der Vervielfältigung der Produkte Nutzen hat, sein Lohn wird nicht vermehrt. Ricardo hat<br />
selbst einmal gesagt, daß es nicht sein dürfe, wenn man das Anwachsen <strong>des</strong> öffentlichen Reichtums nicht<br />
aufhören lassen wolle. <strong>Ein</strong>e grauenhafte Erfahrung lehrt uns im Gegenteil, daß der Arbeitslohn vielmehr<br />
fast stets im Verhältnis zu dieser Vermehrung vermindert wird. Worin besteht dann aber die Wirkung <strong>des</strong><br />
Anwachsens der Reichtümer für die öffentliche Wohlfahrt? Unser Verfasser hat tausend Pächter<br />
angenommen, die genießen, während hunderttausend Landarbeiter arbeiten, tausend Fabrikanten, die sich<br />
bereichern, während hunderttausend Handwerker unter ihrem Befehl stehen. Das etwaige Glück, das der<br />
Vermehrung der leichtfertigen Genüsse <strong>des</strong> Luxus entspringen kann, wird also nur einem Hun- <br />
dertstel der Nation zuteil. Würde dieses Hundertstel, das dazu berufen ist, den ganzen Überfluß <strong>des</strong><br />
Produkts der arbeitenden Klasse zu verbrauchen, auch dann hierzu imstande sein, wenn diese Produktion<br />
durch den Fortschritt der Maschinen und der Kapitalien ohne Aufhören anwächst? In der Annahme <strong>des</strong><br />
Verfassers muß der Pächter oder der Fabrikant je<strong>des</strong>mal, wenn das nationale Produkt sich verdoppelt,<br />
seinen Verbrauch verhundertfachen; wenn der nationale Reichtum dank der Erfindung so vieler<br />
Maschinen heute hundertmal so groß ist, als er zu der Zeit war, in der er nur die Produktionskosten<br />
deckte, muß heute jeder Herr Produkte verbrauchen, die zum Unterhalt von zehntausend Arbeitern<br />
ausreichen würden." Und hier glaubt Sismondi wieder den Ansatz zur Krisenbildung gepackt zu haben:<br />
"Nehmen wir einmal buchstäblich an, daß ein Reicher die Produkte verbrauchen kann, die zehntausend<br />
Arbeiter angefertigt haben, darunter die Bänder die Spitzen, die Seidenwaren, deren Ursprung uns der<br />
Verfasser aufgezeigt hat. Aber ein einzelner Mensch könnte nicht in gleichem Verhältnis die Erzeugnisse<br />
der Landwirtschaft verbrauchen: die Weine, den Zucker, die Gewürze, die Ricardo in Tausch entstehen<br />
läßt (Sismondi, der den Anonymus der "Edinburgh Review" erst später erkannte, hatte offenbar zuerst<br />
Ricardo im Verdacht, den Artikel geschrieben zu haben - R. L.), wären zuviel für die Tafel eines einzigen<br />
Menschen. Sie werden nicht verkauft werden, oder vielmehr das Verhältnis zwischen den<br />
landwirtschaftlichen und Fabrikerzeugnissen, das als Grundlage seines ganzen Systems erscheint, wird<br />
sich nicht mehr aufrechterhalten lassen."<br />
Wir sehen also, wie Sismondi auf die MacCullochsche Finte hereinfällt: Statt die Beantwortung der<br />
Frage nach der <strong>Akkumulation</strong> durch den Hinweis auf die Luxusproduktion abzulehnen, folgt er, ohne die<br />
Verschiebung <strong>des</strong> Fel<strong>des</strong> zu merken, seinem Widerpart auf dieses Gebiet und findet hier nur zweierlei<br />
auszusetzen. <strong>Ein</strong>mal macht er MacCulloch einen sittlichen Vorwurf daraus, daß er den Mehrwert den<br />
Kapitalisten statt der Masse der Arbeitenden zugute kommen läßt, und verirrt sich so in eine Polemik<br />
gegen die Verteilung der kapitalistischen Wirtschaftsweise. Zum anderen Mal findet er von diesem<br />
Seitenpfad unerwartet den Weg zum ursprünglichen Problem zurück, das er aber nunmehr so stellt: <strong>Die</strong><br />
Kapitalisten verbrauchen also selbst im Luxus den ganzen Mehrwert. Schön! Aber ist denn ein Mensch<br />
imstande, seinen Verbrauch so rasch und so grenzenlos zu erweitern, wie die Fortschritte der<br />
Produktivität der Arbeit das Mehrprodukt anwachsen lassen? Hier läßt Sismondi also selbst sein eigenes<br />
Problem im Stich, und statt die Schwierigkeit der kapitalistischen Akku- mulation in dem<br />
fehlenden Verbraucher außerhalb der Arbeiter und der Kapitalisten zu sehen, findet er nunmehr eine<br />
Schwierigkeit der einfachen Reproduktion in den physischen Schranken der Verbrauchsfähigkeit der<br />
Kapitalisten selbst. Da die Aufnahmefähigkeit der Kapitalisten für Luxus mit der Produktivität der<br />
Arbeit, also mit dem Wachstum <strong>des</strong> Mehrwerts, nicht Schritt halten könne, so müssen sich<br />
Überproduktion und Krise ergeben, Wir haben schon einmal bei Sismondi in seinen "Nouveaux<br />
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principes" diesen Gedankengang gefunden, und wir haben hier den Beweis, daß ihm selbst sein Problem<br />
nicht immer ganz klar war. Kein Wunder. Das Problem der <strong>Akkumulation</strong> mit ganzer Schärfe zu erfassen<br />
ist nur möglich, wenn man mit dem Problem der einfachen Reproduktion fertig geworden ist. Wie sehr es<br />
aber damit bei Sismondi noch haperte, haben wir bereits gesehen.<br />
Trotz alledem ist Sismondi in diesem ersten Fall, wo er mit den Epigonen der klassischen Schule die<br />
Waffen kreuzte, durchaus nicht der Schwächere gewesen. Im Gegenteil hat er schließlich seine Gegner<br />
zu Paaren getrieben. Wenn Sismondi die elementarsten Grundlagen der gesellschaftlichen Reproduktion<br />
verkannte und ganz im Sinne <strong>des</strong> Smithschen Dogmas das konstante Kapital vernachlässigte, so stand er<br />
darin jedenfalls seinem Gegner nicht nach: Für MacCulloch existiert das konstante Kapital gleichfalls<br />
nicht, seine Pächter und Fabrikanten "schießen vor" bloß Nahrung und Kleidung für ihre Arbeiter, und<br />
das Gesamtprodukt der Gesellschaft besteht nur aus Nahrung und Kleidung. Sind sich so die beiden in<br />
dem elementaren Schnitzer gleich, so überragt Sismondi seinen Mac unendlich durch den Sinn für<br />
Widersprüche der kapitalistischen Produktionsweise. Auf die Sismondische Skepsis in bezug auf die<br />
Realisierbarkeit <strong>des</strong> Mehrwertes ist der Ricardianer ihm schließlich die Antwort schuldig geblieben.<br />
Ebenso überlegen ist Sismondi, wenn er der satten Zufriedenheit <strong>des</strong> Harmonikers und Apologeten, für<br />
den es "keinen Überschuß der Produktion über die Nachfrage, keine <strong>Ein</strong>schnürung <strong>des</strong> Marktes, kein<br />
Leiden gibt", den Notschrei der Nottinghamer Proletarier ins Gesicht schleudert, wenn er nachweist, daß<br />
die <strong>Ein</strong>führung der Maschinen naturnotwendig "eine überflüssige Bevölkerung" schaffe, endlich und<br />
besonders, wenn er die allgemeine Tendenz <strong>des</strong> kapitalistischen Weltmarkts mit ihren Widersprüchen<br />
hervorhebt. MacCulloch bestreitet rundweg die Möglichkeit allgemeiner Überproduktionen und hat für<br />
jede partielle Überproduktion ein probates Mittel in der Tasche:<br />
"Man kann einwenden", sagt er, "daß man bei Annahme <strong>des</strong> Grundsatzes, daß die Nachfrage sich stets<br />
im Verhältnis zur Produktion ver- mehrt, die <strong>Ein</strong>schnürungen und Stockungen nicht erklären<br />
könne, die ein ungeordneter Handel erzeugt. Wir antworten sehr ruhig: <strong>Ein</strong>e <strong>Ein</strong>schnürung ist die Folge<br />
eines Anwachsens einer besonderen Klasse von Waren, denen ein verhältnismäßiges Anwachsen von<br />
Waren, die ihnen als Gegenwert dienen können, nicht gegenübersteht. Während unsere tausend Pächter<br />
und ebenso viele Fabrikanten ihre Produkte austauschen und sich gegenseitig einen Markt darbieten,<br />
können tausend neue Kapitalisten, die sich der Gesellschaft angliedern, von denen jeder hundert Arbeiter<br />
im Landbau beschäftigt, ohne Zweifel eine unmittelbare <strong>Ein</strong>schnürung <strong>des</strong> Marktes in<br />
landwirtschaftlichen Produkten herbeiführen, weil ein gleichzeitiges Anwachsen der Produktion von<br />
Manufakturwaren, die sie kaufen sollen, mangelt. Aber wenn die eine Hälfte dieser neuen Kapitalisten<br />
Fabrikanten werden, so werden sie Manufakturwaren schaffen, die zum Ankauf <strong>des</strong> Bruttoprodukts der<br />
anderen Hälfte genügend sind. Das Gleichgewicht ist wieder hergestellt, und fünfzehnhundert Pächter<br />
werden mit fünfzehnhundert Fabrikanten ihre entsprechenden Produkte mit genau derselben Leichtigkeit<br />
tauschen, mit der die tausend Pächter und die tausend Fabrikanten ehemals die ihrigen getauscht haben."<br />
Auf diese Possenreiterei, die "sehr ruhig" mit der Stange im Nebel herumfährt, antwortet Sismondi mir<br />
dem Hinweis auf die wirklichen Verschiebungen und Umwälzungen <strong>des</strong> Weltmarkts, die sich vor seinen<br />
Augen vollzogen:<br />
"Man hat wilde Länder unter Kultur gesetzt, und die politischen Umwälzungen, die Änderung in dem<br />
System der Finanzen, der Friede, haben in die Häfen der alten Landwirtschaft treibenden Länder auf<br />
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einmal Schiffsladungen eingehen lassen, die fast allen ihren Ernten gleichkommen. <strong>Die</strong> ungeheuren<br />
Provinzen, die Rußland neuerdings am Schwarzen Meere zivilisiert hat, Ägypten, das einen<br />
Regierungswechsel erlebt hat, die Berberei (5), der der Seeraub untersagt worden ist, haben plötzlich die<br />
Speicher O<strong>des</strong>sas, Alexandriens und Tunis in die Häfen Italiens geleert und haben ein solches Übermaß<br />
von Getreide mit sich geführt, daß die ganzen Küsten entlang die Tätigkeit <strong>des</strong> Pächters eine<br />
verlustbringende geworden ist. Das übrige Europa ist nicht vor einer ähnlichen Umwälzung sicher, die<br />
die ungeheure Ausdehnung <strong>des</strong> neuen Lan<strong>des</strong> verursacht hat, das an den Ufern <strong>des</strong> Mississippi auf<br />
einmal unter Kultur gesetzt worden ist und das alle seine Erzeugnisse ausführt. Selbst der <strong>Ein</strong>fluß<br />
Neuhollands kann eines Tages für die englische Industrie vernichtend sein, wenn nicht in Hinsicht auf<br />
die Lebensmittel, für die der Transport zu kostspielig ist, so doch hinsichtlich der Wolle und der anderen<br />
landwirtschaftlichen Erzeugnisse, deren Beförderung eine leichtere ist." Was war nun der Rat<br />
MacCullochs angesichts dieser Agrarkrise in Südeuropa? <strong>Die</strong> Hälfte der neuen Landwirte sollten<br />
Fabrikanten werden. Darauf sagt Sismondi: "<strong>Die</strong>sen Rat kann man ernsthaft nur den Tataren in der Krim<br />
oder den ägyptischen Fellachen geben" - und er fügt hinzu: "Noch ist der Augenblick nicht gekommen,<br />
um neue Fabriken in überseeischen Gegenden oder in Neuholland einzurichten." Man sieht, Sismondi<br />
erkannte mit klarem Blick, daß die Industrialisierung der überseeischen Gebiete nur eine Frage der Zeit<br />
war. Daß aber auch die Ausdehnung <strong>des</strong> Weltmarktes nicht eine Lösung der Schwierigkeit, sondern bloß<br />
ihre Reproduktion in höherer Potenz, noch gewaltigere Krisen bringen muß, auch <strong>des</strong>sen war sich<br />
Sismondi wohl bewußt. Er stellte im voraus als die Kehrseite der Expansionstendenz <strong>des</strong> Kapitalismus<br />
fest: eine noch größere Verschärfung der Konkurrenz, eine noch größere Anarchie der Produktion. Ja, er<br />
legt sogar den Finger auf die Grundursache der Krisen, indem er die Tendenz der kapitalistischen<br />
Produktion, über jede Marktschranke hinauszueilen, an einer Stelle scharf formuliert: "Man hat häufig<br />
angekündigt", sagt er zum Schluß seiner Replik gegen MacCulloch, "daß das Gleichgewicht sich wieder<br />
herstellen und die Arbeit wieder beginnen würde, aber eine einzige Nachfrage entwickelte je<strong>des</strong>mal eine<br />
Bewegung, die über die wirklichen Bedürfnisse <strong>des</strong> Handels weit hinausging, und dieser neuen Tätigkeit<br />
folgte bald eine noch peinvollere <strong>Ein</strong>schnürung."<br />
Solchen tiefen Griffen der Sismondischen Analyse in die wirklichen Widersprüche der Kapitalbewegung<br />
hat der Vulgarus auf dem Londoner Katheder mit seinem Harmoniegeschwätz und seinem Kontertanz<br />
zwischen den tausend bebänderten Pächtern und den tausend weinseligen Fabrikanten nichts zu erwidern<br />
gehabt.<br />
Fußnoten von <strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong><br />
(1) Der Artikel in der "Edinburgh Review" war eigentlich gegen Owen gerichtet. Auf 24 Druckseiten<br />
zieht er scharf gegen die vier Schriften zu Felde: A New View of Society, or Essay on the Pronciole<br />
Formation of the Human Character; Obsevations on the Effect of the Manufacturing System; Two<br />
Memorials on Behalf of the Working Classes, presented to the Governments of America and Europe;<br />
endlich Three Tracts, and an Account of Public Proceedings relative to the Employment of the Poor. Der<br />
Anonymus sucht Owen haarklein nachzuweisen, daß seine Reformideen nicht im geringsten auf die<br />
wirklichen Ursachen der Misere <strong>des</strong> englischen Proletariats zurückgreifen, denn diese wirklichen<br />
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Ursachen seien: der Übergang zur Bebauung unfruchtbarerer Ländereien (die Ricardosche<br />
Grundrententheorie!), die Kornzölle und die hohen Steuern, die den Pächter wie den Fabrikanten<br />
bedrücken. Also Freihandel und laissez faire - das ist Alpha und Omega! Bei ungehinderter<br />
<strong>Akkumulation</strong> wird jeder Zuwachs der Produktion für sich selbst einen Zuwachs der Nachfrage schaffen.<br />
Hier wird Owen unter Hinweisen auf Say und James Mill einer "völligen Ignoranz" geziehen: "In his<br />
reasonings, as well as in his plans, Mr. Owen shows himself profoundly ignorant of all the laws which<br />
regulate the production and distribution of wealth." Und von Owen kommt der Verfasser auch auf<br />
Sismondi, wobei er die Kontroverse selbst wie folgt formuliert: "He (Owen) conceives that when<br />
competition is unchecked by any artificial regulations, and industry permitted to flow in its natural<br />
channels, the use of machinery may increase the supply of the several articles of wealth beyond the<br />
demand for them, and by creating an excess of all commodities, throw the working classes out of<br />
employment. This is the position which we hold to be fundamentally erroneous; and as it is strongly<br />
insisted on by the celebrated Mr. de Sismondi in his 'Nouveaux principes d'économie politique', we must<br />
entreat the indulgence of our readers while we endeavour to point out its fallacy, and to demonstrate, that<br />
the power of consuming necessarily increases with every increase in the power of producing." (Edinburg<br />
Review, Oktober 1819, S. 470.)
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11. Kapitel | Inhalt | 13. Kapitel<br />
<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - Gesammelte Werke. Herausgegeben vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Band<br />
5. <strong>Berlin</strong>/DDR. 1975. "<strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>", S. 166-173.<br />
1. Korrektur.<br />
Erstellt am 20.10.1998<br />
Zwölftes Kapitel<br />
Ricardo gegen Sismondi<br />
Für Ricardo war offenbar mit MacCullochs Erwiderung auf Sismondis theoretische <strong>Ein</strong>wände die<br />
Sache nicht erledigt. Im Unterschied von dem geschäftstreibenden "schottischen Erzhumbug", wie ihn<br />
Marx nennt, suchte Ricardo nach Wahrheit und bewahrte sich die echte Bescheidenheit eines großen<br />
Denkers.(1) Daß Sismondis Polemik gegen ihn selbst wie gegen sei- nen "Schüler" auf Ricardo<br />
einen tiefen <strong>Ein</strong>druck gemacht hatte, beweist die Frontänderung Ricardos in der Frage über die Wirkung<br />
der Maschinen. Hier gerade gebührt Sismondi das Verdienst, zum erstenmal der klassischen<br />
Harmonielehre die andere Seite der Medaille vor die Augen geführt zu haben. Im Buch IV seiner<br />
"Nouveaux principes", im Kapitel VII: "Von der Teilung der Arbeit und von den Maschinen", wie im<br />
Buche VII, Kapitel VII, das den bezeichnenden Titel führt: "Maschinen schaffen eine überflüssige<br />
Bevölkerung", hatte Sismondi die von den Apologeten Ricardos breitgetretene Lehre angegriffen, als<br />
schufen die Maschinen immer ebensoviel oder noch mehr Arbeitsgelegenheit für die Lohnarbeiter, wie<br />
sie ihnen durch Verdrängung der lebendigen Arbeit wegnahmen. Gegen diese sogenannte<br />
Kompensationstheorie wandte sich Sismondi mit aller Schärfe. Seine "Nouveaux principes" waren 1819<br />
erschienen - zwei Jahre nach dem Hauptwerk Ricardos. In der dritten Ausgabe seiner "Principles" im<br />
Jahre 1821, also bereits nach der Polemik zwischen MacCulloch und Sismondi, schaltete Ricardo ein<br />
neues Kapitel (<strong>Ein</strong>unddreißigstes Hauptstück der Baumstarkschen Übersetzung, zweite Auflage, 1877)<br />
ein, wo er freimütig seinen Irrtum bekennt und ganz im Sinne Sismondis erklärt, "daß die Meinung der<br />
Arbeiterklasse, die Anwendung von Maschinen sei ihren Interessen häufig verderblich, nicht auf<br />
Vorurteil und Irrtum beruht, sondern mit den richtigen Grundgesetzen der Volks- und Staatswirtschaft<br />
übereinstimmt". Dabei sieht er sich genau wie Sismondi veranlaßt, sich gegen den Verdacht zu<br />
verwahren, als eifere er gegen den technischen Fortschritt, salviert sich aber - weniger rücksichtslos als<br />
Sismondi - durch die Ausflucht, daß das Übel nur allmählich auftrete: "Um das Grundgesetz zu<br />
beleuchten, habe ich angenommen, daß das verbesserte Maschinenwesen urplötzlich auf einmal entdeckt<br />
und in ganzer Ausdehnung angewendet worden sei. Aber in der Wirklichkeit treten diese Entdeckungen<br />
nach und nach auf und wirken mehr auf Anwendung <strong>des</strong> schon ersparten und angesammelten <strong>Kapitals</strong><br />
als auf Zurückziehung von Kapital aus bisheriger Anlage."<br />
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Doch auch das Problem der Krisen und der <strong>Akkumulation</strong> ließ Ricardo keine Ruhe. Im letzten Jahre<br />
seines Lebens, 1823, blieb er einige Tage in Genf, um mit Sismondi persönlich über diesen Gegenstand<br />
zu debattieren, und als Frucht jener Gespräche erschien im Mai 1824 in der "Revue ency- <br />
clopédique" der Aufsatz Sismondis " Sur la balance <strong>des</strong> consommations avec les productions".(2)<br />
Ricardo hatte in seinen "Principles" in der entscheidenden Frage gänzlich die Harmonielehre über das<br />
Verhältnis zwischen Produktion und Konsumtion von dem faden Say übernommen. Im Kapitel XXI sagt<br />
er: "Say hat genügend nachgewiesen, daß es kein noch so großes Kapital gibt, das nicht in einem Lande<br />
angewandt werden könnte, denn die Nachfrage findet nur in der Produktion ihre Grenzen. Niemand<br />
produziert außer in der Absicht, sein Produkt selbst zu konsumieren oder es zu verkaufen, und jeder<br />
verkauft nur in der Absicht, andere Güter zu kaufen, welche für ihn unmittelbar zur Konsumtion dienen<br />
oder aber dazu, in einer künftigen Produktion angewendet zu werden. Derjenige, der produziert, wird<br />
also notwendig entweder selbst Konsument seines Produktes oder Käufer und Konsument der Produkte<br />
anderer."<br />
Gegen diese Auffassung Ricardos polemisierte Sismondi heftig schon in seinen "Nouveaux principes",<br />
und die mündliche Debatte drehte sich ganz um die obige Frage. <strong>Die</strong> Tatsache der Krise, die eben erst in<br />
England und in anderen Ländern vorübergezogen war, konnte Ricardo nicht bestreiten. Es handelte sich<br />
bloß um ihre Erklärung. Bemerkenswert ist dabei die klare und präzise Stellung <strong>des</strong> Problems, auf die<br />
sich Sismondi mit Ricardo eingangs ihrer Debatte geeinigt harte: Sie eliminierten beide die Frage <strong>des</strong><br />
auswärtigen Handels. Sismondi begriff wohl die Bedeutung und die Notwendigkeit <strong>des</strong> auswärtigen<br />
Handels für die kapitalistische Produktion und ihr Ausdehnungsbedürfnis. Darin stand er der<br />
Ricardoschen Freihandelsschule in nichts nach. Ja, er überragte sie bedeutend durch die dialektische<br />
Auffassung dieser Expansionstendenz <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, er sprach offen heraus, daß die Industrie "genötigt<br />
wird, auf fremden Märkten ihre Absatzwege zu suchen, wo noch größere Umwälzungen sie<br />
bedrohen"(3), er prophezeite, wie wir gesehen, das Erstehen einer gefähr- lichen Konkurrenz für<br />
die europäische Industrie in den überseeischen Ländern, was um das Jahr 1820 immerhin eine ganz<br />
achtbare Leistung war, die den tiefen Blick Sismondis für die weltwirtschaftlichen Beziehungen <strong>des</strong><br />
<strong>Kapitals</strong> verriet. Bei alledem war Sismondi weit davon entfernt, das Problem der Realisierung <strong>des</strong><br />
Mehrwerts, das Problem der <strong>Akkumulation</strong> von dem auswärtigen Handel als der einzigen<br />
Rettungsmöglichkeit abhängig zu machen, wie ihm das spätere Kritiker einzureden suchten. Im<br />
Gegenteil, Sismondi sagt selbst ausdrücklich gleich im Buch II, Kapitel VI: "Um diesen Berechnungen<br />
mit größerer Leichtigkeit folgen zu können und zur Vereinfachung dieser Fragen haben wir bis jetzt<br />
vollständig von dem auswärtigen Handel abgesehen und angenommen, daß eine Nation ganz allein für<br />
sich dastehe; die menschliche Gesellschaft ist selbst diese einzeln dastehende Nation, und alles, was bei<br />
einer Nation ohne Handel wahr ist, ist ebenso wahr beim Menschengeschlecht." Mit anderen Worten:<br />
Sismondi stellte sein Problem genau unter denselben Voraussetzungen wie später Marx: indem er den<br />
ganzen Weltmarkt als eine ausschließlich kapitalistisch produzierende Gesellschaft betrachtete. Auf diese<br />
Voraussetzungen einigte er sich auch mit Ricardo: "Wir schieden beide", sagt er, "aus der Frage den Fall<br />
aus, in dem eine Nation mehr den Fremden verkaufte, als sie von ihnen kaufte und so für eine wachsende<br />
Produktion im Innern einen wachsenden Markt nach außen fand ... Wir haben nicht die Frage zu<br />
entscheiden, ob Wechselfälle eines Krieges oder der Politik einer Nation nicht neue Verbraucher<br />
verschaffen können: Man muß beweisen, daß sie sie sich selbst schafft, wenn sie ihre Produktion<br />
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vermehrt." Hier hat Sismondi das Problem der Realisierung <strong>des</strong> Mehrwerts mit aller Schärfe so<br />
formuliert, wie es uns in der ganzen späteren Zeit in der Nationalökonomie entgegentritt. Ricardo<br />
behauptet nämlich in der Tat - darin folgt er, wie wir gesehen und noch sehen werden, den Fußtapfen<br />
Says -, daß die Produktion sich selbst ihren Absatz schaffe.<br />
<strong>Die</strong> in der Kontroverse mit Sismondi von Ricardo formulierte These lautete:<br />
"Nehmen wir hundert Landbebauer an, die tausend Sack Getreide produzieren, und hundert<br />
Wollenfabrikanten, die tausend Ellen Stoff herstellen; sehen wir von allen anderen Produkten ab, die den<br />
Menschen nützlich sind, von allen Zwischengliedern zwischen ihnen, und nehmen wir an, daß sie nur<br />
allein auf der Welt sind, so tauschen sie ihre tausend Ellen gegen ihre tausend Sack; nehmen wir die<br />
Produktivkräfte der Arbeit infolge der Fortschritte der Industrie als um ein Zehntel vermehrt an, so<br />
tauschen dieselben Menschen elfhundert Ellen gegen elfhundert Sack, und jeder von ihnen wird<br />
besser bekleidet und besser ernährt werden; ein neuer Fortschritt erhöht den Tausch auf zwölfhundert<br />
Ellen gegen zwölfhundert Sack und so fort: Das Anwachsen der Produktion vermehrt stets die Genüsse<br />
der Produzenten."(4)<br />
Mit tiefer Beschämung muß man feststellen, daß die Deduktionen <strong>des</strong> großen Ricardo hier womöglich<br />
auf noch tieferem Niveau stehen als die <strong>des</strong> "schottischen Erzhumbugs" MacCulloch. Wir sind wieder<br />
eingeladen, als Zuschauer einem harmonischen und anmutigen Kontertanz zwischen "Ellen" und<br />
"Säcken" beizuwohnen, wobei just das, was bewiesen werden sollte: ihr Proportionalitätsverhältnis,<br />
einfach vorausgesetzt ist. Aber noch besser: Alle die Voraussetzungen <strong>des</strong> Problems, um die es sich<br />
handelte, sind dafür einfach weggelassen. Das Problem, der Gegenstand der Kontroverse - um es immer<br />
wieder festzuhalten - bestand darin: Wer ist Konsument und Abnehmer für den Überschuß an Produkten,<br />
der entsteht, wenn die Kapitalisten über den Verbrauch ihrer Arbeiter und ihren eigenen Verbrauch<br />
hinaus Waren herstellen, d.h., wenn sie einen Teil <strong>des</strong> Mehrwerts kapitalisieren und dazu verwenden, die<br />
Produktion zu erweitern, das Kapital zu vergrößern? Darauf antwortet Ricardo, indem er überhaupt auf<br />
Kapitalvergrößerung nicht mit einem Worte eingeht. Was er uns vormalt in den verschiedenen Etappen<br />
der Produktion, ist bloß stufenweise Erhöhung der Produktivität der Arbeit. Es werden nach seiner<br />
Annahme immer mit derselben Anzahl Arbeitskräfte erst tausend Sack Getreide und tausend Ellen<br />
Wollgewebe, dann elfhundert Sack und elfhundert Ellen, später zwölfhundert Sack und zwölfhundert<br />
Ellen produziert, und so mit Grazie fort. Ganz abgesehen von der langweiligen Vorstellung der<br />
soldatenmäßig gleichen Marschbewegung auf beiden Seiten und der Übereinstimmung selbst der Anzahl<br />
Gegenstände, die zum Austausch gelangen sollen, ist in dem ganzen Beispiel keine Rede von<br />
Kapitalerweiterung. Was wir hier immer vor Augen haben, ist nicht erweiterte Reproduktion, sondern<br />
einfache Reproduktion, bei der bloß die Masse Gebrauchswerte, nicht aber der Wert der<br />
gesellschaftlichen Gesamtprodukte anwächst. Da für den Austausch nicht die Menge Gebrauchswerte,<br />
sondern lediglich ihre Wertgröße in Betracht kommt, diese aber im Beispiele Ricardos immer die gleiche<br />
bleibt, so bewegt er sich eigentlich nicht vom Fleck, obwohl er sich den Anschein gibt, fortschreitende<br />
Erweiterung der Produktion zu analysieren. Endlich existieren bei Ricardo überhaupt die Kategorien der<br />
Reproduktion nicht, auf die es ankommt. MacCulloch läßt zuerst seine Kapitalisten ohne Mehrwert<br />
produzieren und von der Luft leben, aber er erkennt wenigstens die Existenz der Arbeiter und gibt<br />
ihren Verbrauch an. Bei Ricardo ist von Arbeitern nicht einmal die Rede, und die Unterscheidung von<br />
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variablem Kapital und Mehrwert existiert überhaupt nicht. Demgegenüber will es wenig verschlagen, daß<br />
Ricardo, genau wie sein Schüler, von dem konstanten Kapital völlig absieht: Er will das Problem der<br />
Realisierung <strong>des</strong> Mehrwertes und der Kapitalerweiterung lösen, ohne mehr vorauszusetzen, als daß es ein<br />
gewisses Quantum Waren gibt, die gegenseitig ausgetauscht werden.<br />
Sismondi gibt sich, ohne die gänzliche Verschiebung <strong>des</strong> Kampffel<strong>des</strong> zu merken, redliche Mühe, die<br />
Phantasien seines berühmten Gastes und Widerparts, bei <strong>des</strong>sen Voraussetzungen man, wie er sich<br />
beklagt, "von Zeit und Raum absehen müsse, wie die deutschen Metaphysiker pflegen", auf die flache<br />
Erde zu projizieren und in ihren unsichtbaren Widersprüchen zu zergliedern. Er pfropft die Ricardosche<br />
Hypothese auf "die Gesellschaft in ihrer wirklichen Organisation mit Arbeitern ohne Eigentum, deren<br />
Lohn durch den Wettbewerb festgesetzt wird und die ihr Herr, wenn er ihrer nicht mehr bedarf, entlassen<br />
kann", denn -, bemerkt Sismondi so treffend wie bescheiden - "gerade auf diese wirtschaftliche<br />
Organisation stützen sich unsere Entwürfe". Und er deckt die mannigfachen Schwierigkeiten und<br />
Konflikte auf, mit denen die Fortschritte der Produktivität der Arbeit unter kapitalistischen Bedingungen<br />
verknüpft sind. Er weist nach, daß die von Ricardo angenommenen Verschiebungen in der<br />
Arbeitstechnik gesellschaftlich zu der folgenden Alternative führen müssen: Entweder wird im<br />
Verhältnis zum Wachstum der Produktivität ein entsprechender Teil der Arbeiter entlassen, und dann<br />
erhalten wir auf der einen Seite einen Überschuß an Produkten, auf der anderen Seite Arbeitslosigkeit<br />
und Elend, also ein treues Bild der gegenwärtigen Gesellschaft, oder das überschüssige Produkt wird zur<br />
Erhaltung von Arbeitern in einem neuen Produktionszweige: der Luxusproduktion, verwendet. Hier<br />
angelangt, schwingt sich Sismondi zu einer entschiedenen Überlegenheit über Ricardo auf. Er erinnert<br />
sich plötzlich an die Existenz <strong>des</strong> konstanten <strong>Kapitals</strong>, und jetzt ist er es, der dem englischen Klassiker<br />
haarscharf auf den Leib rückt: "Um eine neue Manufaktur, eine Luxusmanufaktur zu begründen, bedarf<br />
es auch eines neuen <strong>Kapitals</strong>; Maschinen müssen gebaut, Rohstoffe bestellt werden, ein ferner Handel<br />
muß in Tätigkeit treten, denn die Reichen begnügen sich nicht gern mit den Genüssen, die in ihrer Nähe<br />
erzeugt werden. Wo finden wir nun dieses neue Kapital, das vielleicht viel erheblicher ist als dasjenige,<br />
was die Landwirtschaft verlangt? ... Unsere Luxusarbeiter sind noch lange nicht so weit, das Ge- <br />
treide unserer Landbebauer zu essen, die Kleider unserer Manufakturen zu tragen, sie sind noch nicht da,<br />
sie sind vielleicht noch nicht geboren, ihre Gewerbe sind noch nicht vorhanden, die Rohstoffe, die sie<br />
bearbeiten sollen, sind von Indien nicht angelangt, alle die, an die sie ihr Brot austeilen sollen, warten<br />
vergebens darauf." Sismondi berücksichtigt nun das konstante Kapital nicht bloß in der<br />
Luxusproduktion, sondern auch in der Landwirtschaft, und hält weiter Ricardo entgegen: "Man muß von<br />
der Zeit absehen, wenn man unterstellt, daß der Landbebauer, der durch eine Erfindung der Mechanik<br />
oder einer ländlichen Industrie die Produktivkraft seiner Arbeiter um ein Drittel vermehren kann, auch<br />
ein Kapital finden wird, das zur Vermehrung seiner Ausbeute um ein Drittel genügt, zur Vermehrung<br />
seiner Werkzeuge, seiner Ackergeräte, seines Viehstan<strong>des</strong>, seiner Speicher, und das Umlaufskapital,<br />
<strong>des</strong>sen er bedarf, um seine <strong>Ein</strong>künfte abzuwarten."<br />
Hier bricht Sismondi mit der Fabel der klassischen Schule, als ob bei der Kapitalerweiterung der ganze<br />
Kapitalzuschuß ausschließlich in Löhnen, in variablem Kapital, verausgabt wäre, und trennt sich darin<br />
deutlich von der Ricardoschen Lehre - was ihn nebenbei nicht hinderte, drei Jahre später in der zweiten<br />
Auflage seiner "Nouveaux principes" alle die Schnitzer, die sich auf jene Lehre stützen, unbesehen<br />
passieren zu lassen. Der glatten Harmonielehre Ricardos gegenüber hebt Sismondi also zwei<br />
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entscheidende Punkte hervor: einerseits die objektiven Schwierigkeiten <strong>des</strong> erweiterten<br />
Reproduktionsprozesses, der in der kapitalistischen Wirklichkeit durchaus nicht so hübsch glatt verläuft<br />
wie in der abstrusen Hypothese Ricardos, andererseits die Tatsache, daß jeder technische Fortschritt in<br />
der Produktivität der gesellschaftlichen Arbeit unter kapitalistischen Bedingungen sich stets auf Kosten<br />
der Arbeiterklasse durchsetzt und mit deren Leiden erkauft wird. Und noch in einem dritten wichtigen<br />
Punkte zeigt Sismondi seine Überlegenheit im Vergleiche mit Ricardo: gegenüber <strong>des</strong>sen roher<br />
Borniertheit, für die außer der bürgerlichen Ökonomie überhaupt keine Gesellschaftsformen existieren,<br />
vertritt Sismondi die breiten historischen Horizonte einer dialektischen Auffassung: "Unsere Augen", ruft<br />
er, "haben sich dermaßen an diese neue Organisation der Gesellschaft, an diesen allgemeinen<br />
Wettbewerb gewöhnt, der zur Feindschaft zwischen der reichen und der arbeitenden Klasse ausartet, daß<br />
wir uns keine andere Art <strong>des</strong> Daseins mehr denken können, trotzdem die Trümmer dieser Existenzen uns<br />
von allen Seiten umgeben. Man glaubt mich ad absurdum führen zu können, wenn man mir die Fehler<br />
der früheren Systeme entgegenhält. In der Tat sind zwei oder drei in der Organisation der unteren <br />
Klassen einander gefolgt, aber darf man, weil sie, nachdem sie zuerst einiges Gute geleistet, bald darauf<br />
aber schreckliche Qualen dem Menschengeschlecht verursacht haben, schließen, daß wir heute das<br />
richtige System haben, daß wir nicht den Grundfehler <strong>des</strong> Systems der Tagelöhner entdecken werden,<br />
wie wir den <strong>des</strong> Systems der Sklaverei, der Vasallität, der Zünfte entdeckt haben? Als diese drei Systeme<br />
in Kraft waren, konnte man sich auch nicht denken, was man an ihre Stelle setzen könnte; die<br />
Verbesserung der bestehenden Ordnung erschien ebenso unmöglich wie lächerlich. Ohne Zweifel wird<br />
eine Zeit kommen, in der unsere Enkel uns als nicht minder barbarisch ansehen werden, weil wir die<br />
arbeitenden Klassen ohne Garantie gelassen haben, wie sie und wir selbst die Nationen als barbarisch<br />
ansehen, die diese selben Klassen als Sklaven behandelt haben " Seinen tiefen Blick für geschichtliche<br />
Zusammenhänge hat Sismondi bewiesen durch den Ausspruch, worin er mit epigrammatischer Schärfe<br />
die Rolle <strong>des</strong> Proletariats in der modernen Gesellschaft von derjenigen <strong>des</strong> Proletariats der römischen<br />
Gesellschaft unterschied. Nicht minder tief zeigt er sich darin, wie er in seiner Polemik gegen Ricardo<br />
die ökonomischen Sondercharaktere <strong>des</strong> Sklavensystems und der Feudalwirtschaft zergliedert sowie<br />
deren relative geschichtliche Bedeutung, endlich indem er als die vorherrschende allgemeine Tendenz<br />
der bürgerlichen Ökonomie feststellt, "jede Art von Eigentum von jeder Art Arbeit vollständig zu<br />
trennen". Auch das zweite Treffen Sismondis mit der klassischen Schule schlug, wie das erste, nicht zum<br />
Ruhme seines Gegners aus.(5)<br />
Fußnoten von <strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong><br />
(1) Es ist bezeichnend, daß, als Ricardo 1819 ins Parlament gewählt worden war, er, der damals schon<br />
das größte Ansehen wegen seiner ökonomischen Schriften genoß, an einen Freund schrieb: "Sie werden<br />
wissen, daß ich im Hause der Gemeinen sitze. Ich fürchte, daß ich da nicht viel nützen werde. Ich habe es<br />
zweimal versucht zu sprechen, aber ich sprach mit größter Beklommenheit, und ich verzweifle daran, ob<br />
ich je die Angst überwinden werde, die mich befällt, wenn ich den Ton meiner Stimme höre."<br />
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Dergleichen "Beklommenheit" war dem Schwätzer Culloch völlig unbekannt.
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12. Kapitel | Inhalt | 14. Kapitel<br />
<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - Gesammelte Werke. Herausgegeben vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Band<br />
5. <strong>Berlin</strong>/DDR. 1975. "<strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>", S. 173-180.<br />
1. Korrektur.<br />
Erstellt am 20.10.1998<br />
Dreizehntes Kapitel<br />
Say gegen Sismondi<br />
Der Aufsatz Sismondis im Maiheft 1824 der "Revue encyclopédique" gegen Ricardo lockte<br />
endlich den damaligen "prince de la science économique", den angeblichen Vertreter, Erben und<br />
Popularisator der Smithsehen Schule auf dem Kontinent, J. B. Say, auf den Plan. Im Juli <strong>des</strong>selben Jahres<br />
replizierte Say in der "Revue encyclopédique", nachdem er bereits in seinen Briefen an Malthus<br />
gegen die Sismondische Auffassung polemisiert hatte, in einem Aufsatz unter dein Titel "Über das<br />
Gleichgewicht zwischen Konsumtion und Produktion", worauf Sismondi seinerseits eine kurze Duplik<br />
veröffentlicht hat. <strong>Die</strong> Reihenfolge der polemischen Turniere war also eigentlich umgekehrt wie die<br />
Reihenfolge der theoretischen Abhängigkeiten. Denn es war Say, der zuerst jene Lehre von dem<br />
gottgewollten Gleichgewicht zwischen Produktion und Konsumtion Ricardo mitgeteilt und durch diesen<br />
auf MacCulloch vererbt hatte. Say stellte in der Tat schon im Jahre 1803 in seinem "Traité d'économie<br />
politique" im Buch I, Kapitel XXII: "Von den Absatzmärkten", den folgenden lapidaren Satz auf: "...<br />
man zahlt Produkte mit Produkten. Wenn <strong>des</strong>halb eine Nation von einer Art Produkte zuviel hat, so<br />
besteht das Mittel, um sie abzusetzen, darin, Produkte anderer Art zu schaffen."(1) Hier haben wir die<br />
bekannteste Formulierung der Mystifikation, die von der Ricardoschule wie von der Vulgärökonomie als<br />
der Eckstein der Harmonielehre akzeptiert wurde.(2) Das Hauptwerk Sismondis war im Grunde<br />
genommen eine fortlaufende Polemik gegen diesen Satz. Nunmehr, in der "Revue encyclopédique", dreht<br />
Say den Spieß um und macht die folgende verblüffende Wendung: "Wenn man einwirft, daß jede<br />
menschliche Gesellschaft dank der menschlichen Intelligenz und dem Vorteil, den sie aus den Kräften,<br />
die ihr die Natur und die Künste darbieten, von allen Dingen, die sich zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse<br />
und zur Vermehrung ihrer Genüsse eignen, eine Menge produzieren kann, die größer ist, als diese<br />
Gesellschaft zu verbrauchen imstande ist, so möchte ich fragen, wie es kommt, daß wir keine Nation<br />
kennen, die vollständig versorgt ist, da selbst bei denen, die als blühend gelten, sieben Achtel der<br />
Bevölkerung einer Menge Produkte entbehren, die als notwendig betrachtet werden, ich will nicht<br />
sagen bei reichen Familien, aber doch in einem bescheidenen Haushalt? Ich bewohne augenblicklich ein<br />
Dorf, das in einem der reichsten Kantone Frankreichs liegt. Und doch gibt es dort auf zwanzig Häuser<br />
neunzehn, wo ich beim <strong>Ein</strong>treten nur eine grobe Nahrung bemerke und nichts, was zum Wohlbefinden<br />
der Familie gehört, nichts von den Dingen, die der Engländer 'komfortabel' nennt" usw.(3)<br />
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Man bewundere die Stirn <strong>des</strong> ausgezeichneten Say. Er war es, der behauptete, in der kapitalistischen<br />
Wirtschaft könne es keine Schwierigkeiten, keinen Überschuß, keine Krisen, keine Not geben, denn die<br />
Waren kaufen einander, und man brauche nur immer mehr zu produzieren, um alles in Wohlgefallen<br />
aufzulösen. In seiner Hand ist dieser Satz zum Dogma der vulgärökonomischen Harmonielehre<br />
geworden. Sismondi hatte dagegen scharfen Protest erhoben und die Haltlosigkeit dieser Ansicht<br />
dargetan; er hatte darauf hingewiesen, daß nicht jede beliebige Warenmenge absetzbar sei, sondern daß<br />
das jeweilige <strong>Ein</strong>kommen der Gesellschaft (v + m) die äußerste Grenze darstelle, bis zu der die<br />
Warenmenge realisiert werden könne. Da aber die Löhne der Arbeiter auf das nackte Existenzminimum<br />
herabgedrückt werden, die Verbrauchsfähigkeit der Kapitalistenklasse auch ihre natürlichen Grenzen<br />
habe, so führe die Ausdehnung der Produktion zu Marktstockungen, Krisen und einem noch größeren<br />
Elend für die Volksmassen. Nun kommt Say und repliziert mit virtuos gespielter Naivität: Ja, wenn Sie<br />
behaupten, daß von den Produkten überhaupt zuviel produziert werden könne, wie kommt es, daß es so<br />
viele Darbende, so viele Nackte und Hungrige in unserer Gesellschaft gibt? Erkläre mir, Graf Oerindur,<br />
diesen Zwiespalt der Natur. Say, in <strong>des</strong>sen eigener Position der Hauptkniff darin besteht, daß er von der<br />
Geldzirkulation absieht und mit einem unmittelbaren Warenaustausch operiert, unterstellt jetzt seinem<br />
Opponenten, daß dieser von einem Überfluß der Produkte nicht im Verhältnis zu den Kaufmitteln der<br />
Gesellschaft, sondern zu ihren wirklichen Bedürfnissen spräche! Dabei hatte Sismondi gerade über<br />
diesen Kardinalpunkt seiner Deduktionen wahrhaft keinen Zweifel übriggelassen. Sagt er doch<br />
ausdrücklich im Buch II, Kapitel VI seiner "Nouveaux principes": "Selbst dann, wenn die Gesellschaft<br />
eine sehr große Anzahl schlecht genährter, schlecht gekleideter, schlecht behauster Personen zählt,<br />
begehrt sie nur das, was sie kaufen kann, aber sie kann nur mit ihrem <strong>Ein</strong>kommen kaufen."<br />
Etwas weiter gibt Say dies selbst zu, macht aber gleichzeitig seinem Widerpart eine neue<br />
Unterstellung: "Nicht die Verbraucher sind es, die in einer Nation fehlen", sagt er, "sondern die Mittel, zu<br />
kaufen. Sismondi glaubt, daß diese Mittel erheblicher sein werden, wenn die Produkte seltener und<br />
demzufolge teurer sind und ihre Herstellung den Arbeitern einen größeren Lohn eintragen wird."(4) Hier<br />
versucht Say, die Theorie Sismondis, der die Grundlagen selbst der kapitalistischen Organisation, ihre<br />
Anarchie in der Produktion und ihren ganzen Verteilungsmodus angriff, in die eigene vulgäre<br />
Denkmethode oder richtiger Schwatzmethode zu verflachen: Er travestiert seine "Neuen Grundsätze" in<br />
ein Plädoyer für "Seltenheit" der Waren und teure Preise. Und er singt dem entgegen ein Loblied auf den<br />
Hochgang der kapitalistischen <strong>Akkumulation</strong>, er sagt, daß, wenn die Produktion lebhafter, die<br />
Arbeitskräfte zahlreicher, der Umfang der Produktion erweitert wird, "die Nationen besser und<br />
allgemeiner versorgt werden", wobei er die Zustände der industriell entwickeltsten Länder gegen die<br />
mittelalterlichen Miseren preist. Im Gegenteil seien die "Maximen" Sismondis für die bürgerliche<br />
Gesellschaft höchst gefährlich: "Weshalb fordert er die Untersuchung von Gesetzen, die den<br />
Unternehmer verpflichten würden, dem von ihm beschäftigten Arbeiter die Existenz zu garantieren?<br />
Dergleichen Untersuchung würde den Unternehmungsgeist paralysieren; schon die bloße Befürchtung,<br />
daß der Staat in private Verträge sich einmischen könnte, ist eine Geißel und gefährdet den Wohlstand<br />
einer Nation."(5) <strong>Die</strong>sem allgemeinen apologetischen Geschwätz Says gegenüber führt Sismondi noch<br />
einmal die Debatte auf ihren Grund zurück: "Sicherlich habe ich niemals geleugnet, daß Frankreich seit<br />
den Tagen Ludwigs XIV. seine Bevölkerung verdoppelt und seinen Verbrauch vervielfältigt hat, wie er<br />
es mir entgegenhält; ich habe nur behauptet, daß die Vervielfältigung der Produkte ein Gut ist, wenn sie<br />
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begehrt, bezahlt, gebraucht werden, daß sie dagegen ein Übel ist, wenn kein Begehren nach ihnen<br />
stattfindet und die ganze Hoffnung <strong>des</strong> Produzenten darauf beruht, den Produkten einer mit der seinigen<br />
in Wettbewerb stehenden Industrie die Verbraucher zu entziehen. Ich habe zu zeigen gesucht, daß der<br />
natürliche Lauf der Nationen in der fortschreitenden Ver- mehrung ihrer Glückseligkeit und<br />
infolge<strong>des</strong>sen der Vermehrung ihrer Nachfrage nach neuen Produkten und der Mittel, sie zu bezahlen,<br />
besteht. Aber die Folgen unserer <strong>Ein</strong>richtungen, unserer Gesetzgebung, die die arbeitende Klasse je<strong>des</strong><br />
Eigentums und jeder Garantie beraubt haben, haben zu gleicher Zeit zu einer ungeordneten Arbeit<br />
angespornt, die weder zu der Nachfrage noch zu der Kaufkraft im Verhältnis steht, die infolge<strong>des</strong>sen das<br />
Elend noch verschärft." Und er schließt die Debatte, indem er den satten Harmoniker einlädt, über die<br />
Zustände nachzudenken, "die die reichen Völker darbieten, bei denen das öffentliche Elend zugleich mit<br />
dem materiellen Reichtum unaufhörlich zunimmt und bei denen die Klasse, die alles produziert, täglich<br />
mehr in den Zustand versetzt wird, nichts genießen zu dürfen". In diese schrille Dissonanz der<br />
kapitalistischen Widersprüche klingt der erste Waffengang um das Problem der Kapitalakkumulation<br />
aus.<br />
Überblickt man den Verlauf und die Ergebnisse dieser ersten Kontroverse, so sind zwei Punkte<br />
festzustellen:<br />
1. Trotz aller Konfusion in der Analyse Sismondis kommt seine Überlegenheit gegenüber der<br />
Ricardoschule wie gegenüber dem angeblichen Chef der Smithschen Schule zum Ausdruck: Sismondi<br />
betrachtet die Dinge vom Standpunkte der Reproduktion, er sucht Wertbegriffe - Kapital und<br />
<strong>Ein</strong>kommen - und sachliche Momente - Produktionsmittel und Konsummittel - so gut es geht in ihren<br />
Wechselbeziehungen im gesellschaftlichen Gesamtprozeß zu erfassen. Darin steht er Ad. Smith am<br />
nächsten. Nur daß er die Widersprüche <strong>des</strong> Gesamtprozesses, die bei Smith als <strong>des</strong>sen subjektive<br />
theoretische Widersprüche erscheinen, bewußt als den Grundton seiner Analyse hervorhebt und das<br />
Problem der <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong> als den Knotenpunkt und die Hauptschwierigkeit formuliert.<br />
Darin bedeutet Sismondi einen unzweifelhaften Fortschritt über Smith hinaus. Ricardo hingegen mit<br />
seinen Epigonen sowie Say stecken in der ganzen Debatte lediglich in den Begriffen der einfachen<br />
Warenzirkulation, für sie existiert nur die Formel W - G - W (Ware - Geld - Ware), wobei sie sie noch in<br />
einen direkten Warenaustausch verfälschen und mit dieser dürren Weisheit sämtliche Probleme <strong>des</strong><br />
Reproduktions- und <strong>Akkumulation</strong>sprozesses erschöpft haben wollen. Das ist ein Rückschritt hinter<br />
Smith, und gegen diese Borniertheit ist Sismondi entschieden im Vorteil. Gerade als sozialer Kritiker<br />
zeigt er hier viel mehr Sinn für die Kategorien der bürgerlichen Ökonomie als ihre eingeschworenen<br />
Apologeten, genauso wie später Marx als Sozialist unendlich schärferes Verständnis für die Differentia<br />
specifica <strong>des</strong> kapitalistischen Wirtschafts- mechanismus bis ins einzelne erwiesen hat als die<br />
gesamte bürgerliche Nationalökonomie. Wenn Sismondi (im Buch VII, Kapitel VII) gegen Ricardo ruft:<br />
"Was, der Reichtum ist alles, die Menschen nichts?", so kommt darin nicht bloß die "ethische" Schwäche<br />
seiner kleinbürgerlichen Auffassung im Vergleich mit der streng klassischen Objektivität Ricardos zum<br />
Ausdruck, sondern auch der durch soziales Empfinden geschärfte Blick <strong>des</strong> Kritikers für lebendige<br />
gesellschaftliche Zusammenhänge der Ökonomie, also auch für deren Widersprüche und<br />
Schwierigkeiten, dem die steife Borniertheit der abstrakten Auffassung Rirardos und seiner Schule<br />
entgegensteht. <strong>Die</strong> Kontroverse hat nur unterstrichen, daß Ricardo wie die Epigonen Smith'<br />
gleichermaßen nicht imstande waren, das ihnen von Sismondi aufgegebene Rätsel der <strong>Akkumulation</strong><br />
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auch nur zu erfassen, geschweige zu lösen.<br />
2. <strong>Die</strong> Auflösung <strong>des</strong> Rätsels wurde aber auch schon dadurch unmöglich gemacht, weil die ganze<br />
Diskussion auf ein Nebengeleise geschoben und um das Problem der Krisen konzentriert wurde. Der<br />
Ausbruch der ersten Krise beherrschte naturgemäß die Diskussion, verhinderte aber ebenso naturgemäß<br />
auf beiden Seiten die <strong>Ein</strong>sicht in die Tatsache, daß Krisen überhaupt nicht das Problem der<br />
<strong>Akkumulation</strong>, sondern bloß deren spezifische äußere Form, bloß ein Moment in der zyklischen Figur<br />
der kapitalistischen Reproduktion darstellen. Daraus ergab sich, daß die Debatte schließlich in ein<br />
doppeltes Quiproquo auslaufen mußte: <strong>Die</strong> eine Seite deduzierte dabei direkt aus den Krisen die<br />
Unmöglichkeit der <strong>Akkumulation</strong>, die andere direkt aus dem Warenaustausch die Unmöglichkeit der<br />
Krisen. Der weitere Verlauf der kapitalistischen Entwicklung sollte beide Deduktionen gleichermaßen ad<br />
absurdum führen.<br />
Bei alledem bleibt Sismondis Kritik als erster theoretischer Alarmruf gegen die <strong>Kapitals</strong>herrschaft von<br />
hoher historischer Bedeutung: Er zeigt die Auflösung der klassischen Ökonomie an, die mit den von ihr<br />
selbst wachgerufenen Problemen nicht fertig werden konnte. Wenn Sismondi gegen die Konsequenzen<br />
der kapitalistischen Herrschaft einen Angstschrei ausstößt, so war er sicher nicht ein Reaktionär in dem<br />
Sinne, daß er etwa für vorkapitalistische Verhältnisse schwärmte, wenn er auch gelegentlich die<br />
patriarchalischen Produktionsformen in Landwirtschaft und Gewerbe mit Wohlgefallen gegen die<br />
<strong>Kapitals</strong>herrschaft in Vorteil setzt. Er verwahrt sich dagegen wiederholt und sehr energisch, so z.B. in<br />
seinem Aufsatz in der "Revue encyclopédique" gegen Ricardo: "Ich höre schon den <strong>Ein</strong>wand erheben,<br />
daß ich mich der Vervollkommnung <strong>des</strong> Landbaues, der Künste und aller Fortschritte <strong>des</strong> Menschen<br />
entgegenstelle, daß ich ohne Zweifel die Barbarei der Gesittung vorziehe, da der Pflug eine<br />
Maschine ist und das Grabscheit eine noch ältere, und daß nach meinem System der Mensch die Erde<br />
lediglich mit seinen Händen hätte bearbeiten sollen. Ich habe nichts Ähnliches gesagt, und ich muß mich<br />
ein für allemal gegen jede Folgerung verwahren, die man meinem System unterlegt und die ich nicht<br />
selbst gezogen habe. Ich bin weder von denen, die mich angreifen, noch von denen, die mich verteidigen,<br />
verstanden worden, und mir ist ebensooft über meine Verbündeten wie über meine Gegner die<br />
Schamröte ins Gesicht gestiegen ... Man beachte wohl, nicht gegen die Maschinen, nicht gegen die<br />
fortschreitende Gesittung oder gegen die Erfindungen richten sich meine <strong>Ein</strong>wendungen, sondern gegen<br />
die heutige Organisation der Gesellschaft, eine Organisation, die, während sie den Arbeitenden je<strong>des</strong><br />
anderen Eigentums beraubt als seiner Arme, ihm nicht die geringste Gewähr gibt gegen einen<br />
Wettbewerb, gegen den tollen Handel, der stets zu seinem Nachteil ausschlägt und <strong>des</strong>sen Opfer er<br />
naturgemäß werden muß." Der Ausgangspunkt in der Kritik Sismondis sind zweifellos die Interessen <strong>des</strong><br />
Proletariats, und er ist vollkommen im Recht, wenn er seine Grundtendenz so formuliert: "Ich wünsche<br />
nur nach Mitteln zu suchen, die Früchte der Arbeit denen zu sichern, die die Arbeit leisten, den Nutzen<br />
der Maschine dem zuzuwenden, der die Maschine in Tätigkeit setzt." Freilich, wenn er die soziale<br />
Organisation näher angeben soll, die er anstrebt, kneift er aus und bekennt seine Unfähigkeit: "Was wir<br />
tun sollen, ist eine Frage von unbegrenzter Schwierigkeit, die wir keineswegs die Absicht haben, heute<br />
zu behandeln. Wir wünschen die Nationalökonomen zu überzeugen, so vollständig, wie wir selbst davon<br />
überzeugt sind, daß ihre Wissenschaft bis jetzt eine falsche Bahn verfolgt hat. Wir haben aber nicht das<br />
nötige Zutrauen zu uns, um ihnen den wahren Weg zu zeigen; es hieße unserem Geiste eine zu große<br />
Anstrengung zumuten, die Gestaltung der Gesellschaft, wie sie sein soll, darzulegen. Wo wäre in<strong>des</strong>sen<br />
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ein Mensch stark genug, um sich eine Organisation zu denken, die noch nicht vorhanden ist, um in die<br />
Zukunft zu sehen, da es doch schon Mühe genug kostet, nur das Vorhandene zu sehen?" <strong>Die</strong>ses offene<br />
Bekenntnis der Unfähigkeit, über den Kapitalismus hinaus in die Zukunft zu blicken, gereichte Sismondi<br />
um das Jahr 1820 sicher nicht zur Schande - zu einer Zeit, wo die Herrschaft <strong>des</strong> großindustriellen<br />
<strong>Kapitals</strong> erst die geschichtliche Schwelle überschritten hatte und wo die Idee <strong>des</strong> Sozialismus nur erst in<br />
utopischer Gestalt möglich war. Da in<strong>des</strong> Sismondi auf diese Weise weder über den Kapitalismus hinaus<br />
noch hinter ihn zurückgehen konnte, so blieb für seine Kritik nur der kleinbürgerliche Mittelweg <br />
übrig. <strong>Die</strong> Skepsis in bezug auf die Möglichkeit der vollen Entfaltung <strong>des</strong> Kapitalismus und somit der<br />
Produktivkräfte führte Sismondi zu dem Ruf nach der Dämpfung der <strong>Akkumulation</strong>, nach der Mäßigung<br />
<strong>des</strong> Sturmschritts in der Expansion der <strong>Kapitals</strong>herrschaft. Und hier liegt die reaktionäre Seite seiner<br />
Kritik.(6)<br />
Fußnoten von <strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong><br />
(1) "L'argent ne remplit qu'un office passager dans ce double échange. Les échanges terminés, il se<br />
trouve qu'on a payé <strong>des</strong> produits avec <strong>des</strong> produits. En conséquence quand une nation a trop de produits<br />
dans un genre, le moyen de les écouler est d'en créer d'un autre genre." (J. B. Say: Traité d'économie<br />
politique, Bd. I, Paris 1803, S. 154.)
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garantie contre une concurrence dirigée à son préjudice. Quoi! parce que la société garantit à toute espèce<br />
d'entrepreneur la libre disposition de ses capitaux, c'est à dire de sa propriété elle dépouille l'homme qui<br />
travaille! Je le répète: rien de plus dangéreux que de vues qui conduisent à régler l'usage <strong>des</strong> propriétés."<br />
Denn "les bras et les facultés" - "sont aussi <strong>des</strong> propriétés"!
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In: Karl Marx/Friedrich Engels: Werke, Bd. 4, S. 97.] In "Zur Kritik der politischen Ökonomie" wird<br />
Sismondi zweimal kurz erwähnt; einmal wird er als der letzte Klassiker der bürgerlichen Ökonomie in<br />
Frankreich in Parallele mit Ricardo in England gestellt, an einer anderen Stelle wird hervorgehoben, daß<br />
Sismondi gegen Ricardo den spezifisch gesellschaftlichen Charakter der wertschaffenden Arbeit betonte.<br />
Im Kommunistischen Manifest endlich wird Sismondi als das Haupt <strong>des</strong> kleinbürgerlichen Sozialismus<br />
genannt.
<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 14. Kapitel<br />
13. Kapitel | Inhalt | 15. Kapitel<br />
<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - Gesammelte Werke. Herausgegeben vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Band<br />
5. <strong>Berlin</strong>/DDR. 1975. "<strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>", S. 181-185.<br />
1. Korrektur.<br />
Erstellt am 20.10.1998<br />
Vierzehntes Kapitel<br />
Malthus<br />
Gleichzeitig mit Sismondi führte Malthus einen partiellen Krieg gegen die Schule Ricardos.<br />
Sismondi beruft sich in der zweiten Auflage seines Werks wie in seinen Polemiken wiederholt auf<br />
Malthus als Kronzeugen. So formuliert er die Gemeinsamkeit seines Feldzugs mit Malthus in der "Revue<br />
encyciopédique":<br />
"Andererseits hat Malthus in England (gegen Ricardo und Say) behauptet, wie ich dies auf dem<br />
Festlande zu tun Versucht habe, daß die Konsumtion nicht die notwendige Folge der Produktion sei, daß<br />
die Bedürfnisse und die Wünsche <strong>des</strong> Menschen allerdings ohne Grenzen seien, daß aber diese<br />
Bedürfnisse und diese Wünsche durch den Verbrauch nur insoweit befriedigt werden könnten, als sie mit<br />
Tauschmitteln vereint sind. Wir haben behauptet, daß es nicht ausreicht, diese Tauschmittel zu<br />
beschaffen, um sie in die Hände derer übergehen zu lassen, die diese Wünsche oder Bedürfnisse haben,<br />
daß es sogar oft der Fall ist, daß die Tauschmittel in der Gesellschaft anwachsen, während die Nachfrage<br />
nach Arbeit oder der Lohn sich vermindert; daß dann die Wünsche und die Bedürfnisse eines Teils der<br />
Bevölkerung nicht befriedigt werden können und daß der Verbrauch ebenfalls abnimmt. Endlich haben<br />
wir behauptet, daß das unzweideutige Zeichen der Wohlfahrt der Gesellschaft nicht die wachsende<br />
Produktion von Reichtümern sei, sondern die wachsende Nachfrage nach Arbeit oder ein wachsen<strong>des</strong><br />
Angebot <strong>des</strong> Lohnes, der für die Arbeit eine Vergütung bietet. Ricardo und Say haben nicht geleugnet,<br />
daß die wachsende Nachfrage nach Arbeit ein Zeichen der Wohlfahrt sei, aber sie haben behauptet, daß<br />
die Nachfrage mit Sicherheit aus dem Anwachsen der Produktion entstehen müsse.<br />
Malthus und ich leugnen dies. Wir behaupten, daß diese beiden Vermehrungen die Folge von Ursachen<br />
sind, die vollständig voneinander unabhängig, ja zuweilen sogar Gegensätze sind. Nach unserer Meinung<br />
wird der Markt überfüllt, wenn eine Nachfrage nach Arbeit der Produktion nicht vorausgegangen und ihr<br />
nicht gefolgt ist: <strong>Ein</strong>e neue Produktion wird dann eine Ursache <strong>des</strong> Verfalls, nicht <strong>des</strong> Genusses."<br />
<strong>Die</strong>se Äußerungen erwecken den <strong>Ein</strong>druck, als ob zwischen Sismondi und Malthus, wenigstens in ihrer<br />
Opposition gegen Ricardo und seine Schule, eine weitgehende Übereinstimmung und<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 14. Kapitel<br />
Waffengemeinschaft bestanden hätte. Marx betrachtet die "Principles of Political Economy" von<br />
Malthus, die 1820 erschienen, direkt als ein Plagiat an den ein Jahr früher erschienenen<br />
"Nouveaux principes". In der uns interessierenden Frage besteht jedoch zwischen beiden vielfach ein<br />
direkter Gegensatz.<br />
Sismondi kritisiert die kapitalistische Produktion, er greift sie wuchtig an, er ist ihr Ankläger. Malthus ist<br />
ihr Apologet. Nicht etwa in dem Sinne daß er ihre Widersprüche leugnete, wie MacCulloch oder Say,<br />
sondern umgekehrt, daß er diese Widersprüche brutal zum Naturgesetz erhebt und absolut heiligspricht.<br />
Sismondis leitender Gesichtspunkt sind die Interessen der Arbeitenden, das Ziel, auf das er, wenn auch in<br />
allgemeiner und vager Form, hinsteuert, durchgreifende Reform der Verteilung zugunsten der Proletarier.<br />
Malthus ist der Ideologe der Interessen jener Schicht von Parasiten der kapitalistischen Ausbeutung, die<br />
sich von Grundrente und der Staatskrippe nähren, und das Ziel, das er befürwortet, ist die Zuwendung<br />
einer möglichst großen Portion Mehrwert an diese "unproduktiven Konsumenten". Sismondis<br />
allgemeiner Standpunkt ist vorwiegend ethisch, sozialreformerisch: Er "verbessert" die Klassiker, indem<br />
er ihnen gegenüber hervorhebt, "der einzige Zweck der <strong>Akkumulation</strong> sei die Konsumtion", er plädiert<br />
für Dämpfung der <strong>Akkumulation</strong>. Malthus spricht umgekehrt schroff aus, daß die <strong>Akkumulation</strong> der<br />
einzige Zweck der Produktion sei und befürwortet die schrankenlose <strong>Akkumulation</strong> auf seiten der<br />
Kapitalisten, die er durch die schrankenlose Konsumtion ihrer Parasiten ergänzen und sichern will.<br />
Endlich war Sismondis kritischer Ausgangspunkt die Analyse <strong>des</strong> Reproduktionsprozesses, das<br />
Verhältnis von Kapital und <strong>Ein</strong>kommen auf gesellschaftlichem Maßstab. Malthus geht in seiner<br />
Opposition gegen Ricardo von einer absurden Werttheorie und einer von ihr abgeleiteten vulgären<br />
Mehrwerttheorie aus, die den kapitalistischen Profit aus dem Preisaufschlag auf den Wert der Waren<br />
erklären will.(1)<br />
Malthus wendet sich mit einer ausführlichen Kritik gegen den Satz von der Identität zwischen Angebot<br />
und Nachfrage im sechsten Kapitel seines 1827 erschienenen "Definitions in Political Economy", das er<br />
James Mill widmet. Mill erklärte in seinen "Elements of Political Economy", S. 233: "Was ist damit<br />
notwendigerweise gemeint, wenn wir sagen, daß Angebot und Nachfrage einander angepaßt<br />
(accomodated to one another) sind? Es ist dies, daß Güter, die mit einer großen Menge Arbeit hergestellt<br />
worden sind, gegen Güter ausgetauscht werden, die mit einer gleichen Menge Arbeit hergestellt worden<br />
sind. Wird diese Annahme zugegeben, dann ist alles übrige klar. So, wenn ein Paar Schuhe mit<br />
der gleichen Menge Arbeit hergestellt werden wie ein Hut, wird, solange der Hut und die Schuhe<br />
gegeneinander ausgetauscht werden, Angebot und Nachfrage einander angepaßt sein. Sollte es<br />
vorkommen, daß die Schuhe im Werte fallen im Vergleich zum Hut, so würde dies beweisen, daß mehr<br />
Schuhe auf den Markt gebracht worden sind als Hüte. Schuhe wären dann in mehr als nötigem Überfluß<br />
vorhanden. Weshalb? Weil ein Produkt einer gewissen Menge Arbeit in Schuhen nicht mehr gegen ein<br />
anderes Produkt derselben Menge Arbeit ausgetauscht werden könnte. Aber aus demselben Grunde<br />
wären Hüte in unzureichender Menge vorhanden, weil eine gewisse Summe Arbeit, in Hüten dargestellt,<br />
jetzt gegen eine größere Summe Arbeit in Schuhen ausgetauscht wäre."<br />
Gegen diese faden Tautologien führt Malthus zweierlei ins Feld. Zunächst macht er Mill darauf<br />
aufmerksam, daß seine Konstruktion in der Luft hänge. Tatsächlich könne die Austauschproportion<br />
zwischen Hüten und Schuhen ganz unverändert bleiben, beide können aber trotzdem in einer zu großen<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 14. Kapitel<br />
Menge im Vergleich zur Nachtrage vorhanden sein. Und dies wird sich darin äußern, daß beide zu<br />
Preisen verkauft werden, die unter den Produktionskosten (mit einem angemessenen Profit) stehen.<br />
"Kann man aber in diesem Fall sagen", fragt er, "daß das Angebot von Hüten der Nachfrage nach Hüten<br />
oder das Angebot an Schuhen der Nachfrage nach Schuhen entspräche, wenn sowohl diese wie jene in<br />
solchem Überfluß vorhanden sind, daß sie sich nicht unter den Bedingungen austauschen können, die ihr<br />
fortlaufen<strong>des</strong> Angebot sichern?"(2)<br />
Malthus stellt also hier Mill die Möglichkeit einer allgemeinen Überproduktion entgegen: "Im Vergleich<br />
mit den Produktionskosten können alle Waren steigen oder fallen (im Angebot) zu gleicher Zeit."(3)<br />
Zweitens protestiert er gegen die ganze bei Mill wie Ricardo und deren Epigonen beliebte Manier, ihre<br />
Thesen auf direkten Produktenaustausch zuzuschneiden. "Der Hopfenpflanzer", sagt er, "der etwa<br />
hundert Sack Hopfen zu Markt bringt, denkt soviel an das Angebot von Hüten und Schuhen wie an<br />
Sonnenflecke. Woran denkt er alsdann? Und was will er in Austausch für seinen Hopfen kriegen? Mr.<br />
Mill scheint der Meinung zu sein, daß es die größte Ignoranz in der politischen Ökonomie verraten hieße,<br />
zu sagen, er wolle Geld. Dennoch habe ich keine Bedenken, auf die Gefahr hin, dieser großen Ignoranz<br />
geziehen zu werden, zu erklären, daß es gerade Geld ist, was er (der Pflanzer) braucht."<br />
Denn sowohl die Rente, die er dem Grundherrn, wie die Löhne, die er den Arbeitern zahlen muß,<br />
wie endlich der Ankauf seiner Rohstoffe und Werkzeuge, die er zur Fortführung seiner Pflanzungen<br />
braucht, können nur mit Geld gedeckt werden. Auf diesem Punkt besteht Malthus mit großer<br />
Ausführlichkeit; er findet es direkt "erstaunlich", daß Nationalökonomen von Ruf zu den gewagtesten<br />
und unmöglichsten Beispielen lieber Zuflucht nehmen als zu der Annahme <strong>des</strong> Geldaustausches."(4)<br />
Im übrigen begnügt sich Malthus damit, den Mechanismus zu schildern, wie ein zu großes Angebot<br />
durch die Senkung der Preise unter die Produktionskosten von selbst eine <strong>Ein</strong>schränkung der Produktion<br />
herbeiführe und umgekehrt. "Aber diese Tendenz, durch den natürlichen Lauf der Dinge die<br />
Überproduktion oder die Unterproduktion zu kurieren, ist kein Beweis, daß diese Übel nicht existieren."<br />
Man sieht, Malthus bewegt sich, trotz seines entgegengesetzten Standpunktes in der Frage der Krisen,<br />
genau in demselben Geleise wie Ricardo, Mill, Say und MacCulloch: Für ihn existiert gleichfalls nur der<br />
Warenaustausch. Der gesellschaftliche Reproduktionsprozeß mit seinen großen Kategorien und<br />
Zusammenhängen, der Sismondi ganz in Anspruch nahm, wird hier nicht im geringsten berücksichtigt.<br />
Bei so vielfachen Gegensätzen in der grundsätzlichen Auffassung bestand das Gemeinsame zwischen der<br />
Kritik Sismondis und derjenigen Malthus' lediglich im folgenden:<br />
1. Beide lehnen gegen die Ricardianer und Say den Satz von dem prästabilierten Gleichgewicht zwischen<br />
Konsumtion und Produktion ab.<br />
2. Beide behaupten die Möglichkeit nicht bloß partieller, sondern allgemeiner Krisen.<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 14. Kapitel<br />
Hier hört aber die Gemeinsamkeit auf. Wenn Sismondi die Ursache der Krisen in dem niedrigen Stand<br />
der Löhne und in der beschränkten Konsumtionsfähigkeit der Kapitalisten sucht, so verwandelt Malthus<br />
umgekehrt die niedrigen Löhne in ein Naturgesetz der Bevölkerungsbewegung, für die beschränkte<br />
Konsumtion der Kapitalisten findet er aber Ersatz in der Konsumtion der Parasiten <strong>des</strong> Mehrwerts, wie<br />
Landadel, Klerus, deren Aufnahmefähigkeit für Reichtum und Luxus keine Schranken hat: <strong>Die</strong> Kirche<br />
hat einen guten Magen.<br />
Und wenn beide, Malthus wie Sismondi, für das Heil der kapitalistischen <strong>Akkumulation</strong> und ihre<br />
Rettung aus der Klemme nach einer Kategorie von Konsumenten suchen, die kaufen ohne zu verkaufen,<br />
so sucht sie Sismondi zu dem Zwecke, um den Überschuß <strong>des</strong> gesellschaftlichen Produkts über die<br />
Konsumtion der Arbeiter und der Kapitalisten, also den kapitalisierten Teil <strong>des</strong> Mehrwerts, abzusetzen,<br />
Malthus - um den Profit überhaupt zu schaffen. Wie übrigens die Rentenempfänger und die Pfründner<br />
<strong>des</strong> Staates, die ja selbst erst ihre Kaufmittel hauptsächlich aus der Hand der Kapitalisten kriegen<br />
müssen, diesen letzteren durch das Abkaufen von Waren mit einem Preisaufschlag zur Aneignung <strong>des</strong><br />
Profits verhelfen können, bleibt natürlich ein Geheimnis von Malthus. Bei so weitgehenden Gegensätzen<br />
ist die Waffengemeinschaft zwischen Malthus und Sismondi ziemlich oberflächlicher Natur gewesen.<br />
Und wenn Malthus die Sismondischen "Nouveaux principes", wie Marx sagt, zum malthusianischen<br />
Zerrbild gemacht hat, so macht Sismondi die Kritiken von Malthus gegen Ricardo etwas stark<br />
sismondisch, indem er nur das Gemeinsame hervorhebt und ihn als Kronzeugen zitiert. Andererseits<br />
unterliegt er freilich gelegentlich dem Malthusschen <strong>Ein</strong>fluß, so, wenn er zum Teil <strong>des</strong>sen Theorie der<br />
staatlichen Verschwendung als eines Notbehelfs der <strong>Akkumulation</strong> übernimmt, die seinem eigenen<br />
Ausgangspunkt direkt zuwiderläuft.<br />
Im ganzen hat Malthus weder zum Problem der Reproduktion etwas Eigenes beigetragen noch es<br />
begriffen, er dreht sich in seiner Kontroverse mit den Ricardianern wie diese in ihrer Kontroverse mit<br />
Sismondi hauptsächlich in den Begriffen der einfachen Warenzirkulation. Im Streit zwischen ihm und<br />
der Schule Ricardos handelte es sich um die unproduktive Konsumtion der Parasiten <strong>des</strong> Mehrwerts, es<br />
war ein Zank um die Verteilung <strong>des</strong> Mehrwerts, nicht ein Streit um die gesellschaftlichen Grundlagen der<br />
kapitalistischen Reproduktion. <strong>Die</strong> Malthussche Konstruktion fällt zu Boden, sobald man ihn auf seine<br />
absurden Schnitzer in der Theorie <strong>des</strong> Profits festgenagelt hat. <strong>Die</strong> Sismondische Kritik behauptet sich,<br />
und sein Problem bleibt ungelöst auch bei der Annahme der Ricardoschen Werttheorie mit allen ihren<br />
Konsequenzen.<br />
Fußnoten von <strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong><br />
(1) Vgl. Marx: Theorien über den Mehrwert, Bd. III, S. 1-29, wo die Malthussche Wert- und<br />
Profittheorie eingebend analysiert ist. [Karl Marx: Theorien über den Mehrwert, Dritter Teil. In: Karl<br />
Marx/Friedrich Engels: Werke. Bd. 26.3, S. 7-38.]
<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 14. Kapitel<br />
(3) l.c., S. 64.
<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 15. Kapitel<br />
14. Kapitel | Inhalt | 16. Kapitel<br />
<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - Gesammelte Werke. Herausgegeben vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Band<br />
5. <strong>Berlin</strong>/DDR. 1975. "<strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>", S. 186-196<br />
1. Korrektur.<br />
Erstellt am 20.10.1998<br />
Zweiter Waffengang<br />
Kontoverse zwischen Rodbertus und v. Kirchmann<br />
Fünfzehntes Kapitel<br />
v. Kirchmanns Reproduktionstheorie<br />
Auch die zweite theoretische Polemik um das Problem der <strong>Akkumulation</strong> hat ihren Anstoß von<br />
aktuellen Ereignissen bekommen. Wenn Sismondi zu seiner Opposition gegen die klassische Schule<br />
durch die erste englische Krise und die von ihr ausgelösten Leiden der Arbeiterklasse angeregt war, so<br />
schöpft Rodbertus fast fünfundzwanzig Jahre später den Anstoß zu seiner Kritik der kapitalistischen<br />
Produktion von der inzwischen aufgekommenen revolutionären Arbeiterbewegung. <strong>Die</strong> Aufstände der<br />
Seidenweber in Lyon, die Chartistenbewegung in England gellten ihre Kritik auf die herrlichste aller<br />
Gesellschaftsformen in die Ohren der Bourgeoisie noch ganz anders als die unbestimmten Gespenster,<br />
die die erste Krise auf den Plan gerufen hatte. <strong>Die</strong> früheste sozialökonomische Schrift Rodbertus', die<br />
wahrscheinlich aus dem Ende der 30er Jahre stammt und die, für die "Augsburger Allgemeine Zeitung"<br />
geschrieben, von dem genannten Blatte aber nicht aufgenommen war, trägt den bezeichnenden Titel "<strong>Die</strong><br />
Forderungen der arbeitenden Classen" und beginnt mit den Worten: "Was wollen die arbeitenden<br />
Klassen? Werden die andern ihnen dies vorenthalten können? Wird das, was sie wollen, das Grab der<br />
modernen Kultur sein? - Daß einst mit großer Zudringlichkeit die Geschichte diese Fragen tun würde,<br />
wußte der Denkende längst, durch die Chartistenversammlungen und die Birminghamszenen hat es auch<br />
die Alltagswelt erfahren." Bald sollte in Frankreich in den 40er Jahren die lebhafteste Gärung der<br />
revolutionären Ideen in den verschiedensten geheimen Gesell- schaften und sozialistischen<br />
Schulen der Proudhonisten, Blanquisten, der Anhänger Cabets, Louis Blancs usw. - zum Ausdruck<br />
kommen und in der Februarrevolution, in der Proklamierung <strong>des</strong> "Rechts auf Arbeit", in den Junitagen,<br />
in einer ersten Generalschlacht zwischen den zwei Welten der kapitalistischen Gesellschaft eine<br />
epochemachende Explosion der in ihrem Schoße verborgenen Widersprüche herbeiführen. Was die<br />
andere sichtbare Form dieser Widersprüche, die Krisen, betrifft, so verfügt man zu den Zeiten der<br />
zweiten Kontroverse über ein unvergleichlich reicheres Beobachtungsmaterial als zu Beginn der 20er<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 15. Kapitel<br />
Jahre <strong>des</strong> Jahrhunderts. <strong>Die</strong> Debatte zwischen Rodbertus und v. Kirchmann fand statt unter den<br />
unmittelbaren <strong>Ein</strong>drücken der Krisen von 1837, 1839, 1847, ja der ersten Weltkrise 1857 (die<br />
interessante Schrift Rodbertus' "<strong>Die</strong> Handelskrisen und die Hypothekennoth der Grundbesitzer" stammt<br />
aus dem Jahre 1858). <strong>Die</strong> inneren Widersprüche der kapitalistischen Wirtschaft gaben also vor den<br />
Augen Rodbertus' noch ganz anders eine grelle Kritik auf die Harmonielehren der englischen Klassiker<br />
und ihrer Vulgarisatoren in England wie auf dem Kontinent ab als zu den Zeiten, da Sismondi seine<br />
Stimme erhob.<br />
Daß die Kritik von Rodbertus übrigens unter dem direkten <strong>Ein</strong>fluß der Sismondischen stand, bezeugt ein<br />
Zitat aus Sismondi in seiner ältesten Schrift. Mit der französischen zeitgenössischen Literatur der<br />
Opposition gegen die klassische Schule war Rodbertus also wohl vertraut, vielleicht weniger mit der viel<br />
zahlreicheren englischen, in welchem Umstand bekanntlich die Legende der deutschen Professorenwelt<br />
über die sogenannte "Priorität" Rodbertus' vor Marx in der "Begründung <strong>des</strong> Sozialismus" ihre einzige<br />
schwache Wurzel hat. So schreibt Professor <strong>Die</strong>hl in seiner Skizze über Rodbertus im "Handwörterbuch<br />
der Staatswissenschaften":<br />
"Rodbertus ist als der eigentliche Begründer <strong>des</strong> wissenschaftlichen Sozialismus in Deutschland zu<br />
bezeichnen, denn schon vor Marx und Lassalle hatte er in seinen Schriften aus den Jahren 1839 und 1842<br />
ein vollständiges sozialistisches System geliefert, eine Kritik <strong>des</strong> Smithianismus, eine neue theoretische<br />
Grundlage und soziale Reformvorschläge." <strong>Die</strong>s bieder, fromm und gottesfürchtig im Jahre 1901 (2.<br />
Auflage) - nach allem und trotz allem, was Engels, Kautsky und Mehring zur Zerstörung der<br />
professoralen Legende geschrieben hatten. Daß übrigens der monarchisch, national und preußisch<br />
gesinnte "Sozialist" Rodbertus, der Kommunist für die Zukunft nach 500 Jahren und für die Gegenwart<br />
Anhänger einer festen Ausbeutungsrate von 200 Prozent, gegenüber dem internationalen "Umstürzler"<br />
Marx in den Augen aller deutschen Gelehrten der Nationalökonomie ein für allemal die Palme der<br />
"Priorität" erringen mußte, versteht sich von selbst und kann durch die triftigsten Nachweise nicht<br />
erschüttert werden. Doch uns interessiert hier eine andere Seite der Rodbertusschen Analyse. Derselbe<br />
<strong>Die</strong>hl setzt seinen Panegyrikus folgendermaßen fort: "Doch nicht nur für den Sozialismus hat Rodbertus<br />
bahnbrechend gewirkt, sondern die gesamte nationalökonomische Wissenschaft verdankt ihm große<br />
Anregung und Förderung, die theoretische Nationalökonomie besonders durch die Kritik der klassischen<br />
Nationalökonomen, durch die neue Theorie der <strong>Ein</strong>kommensverteilung, durch die Unterscheidung der<br />
logischen und historischen Kategorien von Kapital usw." Mit diesen letzteren Großtaten Rodbertus"<br />
namentlich mit den "usw.", wollen wir uns hier befassen.<br />
<strong>Die</strong> Kontroverse zwischen Rodbertus und v. Kirchmann wurde angeregt durch die grundlegende Schrift<br />
<strong>des</strong> ersteren "Zur Erkenntniß unserer staatswirthschaftlichen Zustände" aus dem Jahre 1842. v.<br />
Kirchmann antwortete darauf in den "Demokratischen Blättern" in zwei Abhandlungen: "Über die<br />
Grundrente in socialer Beziehung" und "<strong>Die</strong> Tauschgesellschaft", worauf Rodbertus 1850 und 1851 mit<br />
den "Socialen Briefen" replizierte. Damit kam die Diskussion auf jenes theoretische Gebiet, auf dem<br />
dreißig Jahre früher die Polemik zwischen Malthus-Sismondi und Say-Ricardo-MacCulloch<br />
ausgefochten wurde. Rodbertus hatte bereits in seiner frühesten Schrift jenen Gedanken ausgesprochen,<br />
daß in der heutigen Gesellschaft bei der steigenden Produktivität der Arbeit der Arbeitslohn eine immer<br />
kleinere Quote <strong>des</strong> Nationalprodukts wird - ein Gedanke, den er als den seinigen "in Anspruch nahm",<br />
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den er aber auch seitdem und bis zu seinem Tode, also während dreier Jahrzehnte, immer nur zu<br />
wiederholen und zu variieren verstand. In dieser fallenden Lohnquote erblickt Rodbertus die gemeinsame<br />
Wurzel aller Übel der heutigen Wirtschaft, namentlich <strong>des</strong> Pauperismus und der Krisen, die er zusammen<br />
als "die soziale Frage der Gegenwart" bezeichnet.<br />
v. Kirchmann ist mit dieser Erklärung nicht einverstanden. Er führt den Pauperismus auf die Wirkungen<br />
der steigenden Grundrente zurück, die Krisen aber auf den Mangel an Absatzwegen. Von diesem<br />
behauptet er namentlich, daß "der größte Teil der sozialen Übel nicht in der mangelnden Produktion,<br />
sondern in dem mangelnden Absatze der Produkte liege; daß ein Land, je mehr es zu produzieren<br />
vermöge, je mehr es Mittel habe, alle Bedürfnisse zu befriedigen, <strong>des</strong>to mehr der Gefahr <strong>des</strong> Elends und<br />
Mangels ausgesetzt sei". Auch die Arbeiterfrage ist hier mit begriffen, denn "das berüchtigte Recht auf<br />
Arbeit löse sich am Ende auf in eine Frage der Absatzwege". "Man sieht", folgert v. Kirchmann, "daß die<br />
soziale Frage beinahe identisch ist mit der Frage nach den Absatzwegen. Selbst die Übel der<br />
vielgeschmähten Konkurrenz werden mit sicheren Absatzwegen verschwinden; es wird nur das Gute an<br />
ihr bleiben; es wird der Wetteifer bleiben, gute und billige Waren zu liefern, aber es wird der Kampf auf<br />
Tod und Leben verschwinden, der nur in den für alle ungenügenden Absatzwegen seinen Grund hat."(1)<br />
Der Unterschied zwischen dem Gesichtswinkel Rodbertus' und v. Kirchmanns springt in die Augen.<br />
Rodbertus sieht die Wurzel <strong>des</strong> Übels in einer fehlerhaften Verteilung <strong>des</strong> Nationalprodukts, v.<br />
Kirchmann in den Marktschranken der kapitalistischen Produktion. Bei allem Konfusen in den<br />
Ausführungen v. Kirchmanns, namentlich in seiner idyllischen Vorstellung von einer auf löblichen<br />
Wetteifer um die beste und billigste Ware reduzierten kapitalistischen Konkurrenz sowie in der<br />
Auflösung <strong>des</strong> "berüchtigten Rechts auf Arbeit" in die Frage der Absatzmärkte, zeigt er doch zum Teil<br />
mehr Verständnis für den wunden Punkt der kapitalistischen Produktion: ihre Marktschranken, als<br />
Rodbertus, der an der Frage der Verteilung haftet. Es ist also v. Kirchmann, der diesmal das<br />
Problem wieder aufnimmt, das früher von Sismondi auf die Tagesordnung gestellt war. Bei alledem ist v.<br />
Kirchmann mit der Beleuchtung und Lösung <strong>des</strong> Problems durch Sismondi keineswegs einverstanden, er<br />
steht eher auf seiten der Opponenten Sismondis. Er akzeptiert nicht nur die Ricardosche Theorie der<br />
Grundrente, nicht nur das Smithsche Dogma, "daß die Preise der Waren sich nur aus den zwei Teilen,<br />
aus dem Kapitalzins und dem Arbeitslohn, zusammensetzen" (v. Kirchmann verwandelt den Mehrwert in<br />
"Kapitalzins"), sondern auch den Say-Ricardoschen Satz, daß Produkte nur mit Produkten gekauft<br />
werden und die Produktion ihren eigenen Absatz bilde, so daß, wo auf der einen Seite zuviel produziert<br />
zu sein scheine, auf der anderen Seite nur zuwenig produziert sei. Man sieht, v. Kirchmann folgt den<br />
Spuren der Klassiker, aber allerdings ist das eine "deutsche Klassikerausgabe" - mit allerlei Wenn und<br />
Aber. So findet v. Kirchmann zunächst, daß das Saysche Gesetz <strong>des</strong> natürlichen Gleichgewichts<br />
zwischen Produktion und Nachfrage "die Wirklichkeit noch nicht erschöpfe", und er fügt hinzu: "Es<br />
liegen noch andere Gesetze in dem Verkehr verborgen, welche die reine Verwirklichung dieser Sätze<br />
verhindern und durch deren Auffindung allein die gegenwärtige Überfüllung der Märkte erklärt werden<br />
kann, durch deren Auffindung aber vielleicht auch der Weg entdeckt werden kann, diesem großen Übel<br />
aus dem Wege zu gehen. Wir glauben, daß drei Verhältnisse in dem gegenwärtigen Systeme der<br />
Gesellschaft es sind, welche diese Widersprüche zwischen jenem unzweifelhaften Gesetze Says und der<br />
Wirklichkeit herbeiführen." <strong>Die</strong>se Verhältnisse sind: die "zu ungleiche Verteilung der Produkte" - hier<br />
neigt sich v. Kirchmann, wie wir sehen, in gewissem Maße dem Standpunkt Sismondis zu -, die<br />
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Schwierigkeiten, welche die Natur der menschlichen Arbeit in der Rohproduktion bereitet, endlich die<br />
Mangelhaftigkeit <strong>des</strong> Handels als der vermittelnden Operation zwischen Produktion und Konsumtion.<br />
Ohne uns auf die beiden letzten "Hindernisse" <strong>des</strong> Sayschen Gesetzes näher einzulassen, betrachten wir<br />
die Argumentation v. Kirchmanns im Zusammenhang mit dem ersten Punkt:<br />
"Das erste Verhältnis", erklärt er, "kann kürzer dahin ausgedrückt werden, 'daß der Arbeitslohn zu<br />
niedrig steht', daß daraus eine Stockung <strong>des</strong> Absatzes entsteht. Für denjenigen, der weiß, daß die Preise<br />
der Waren sich nur aus den zwei Teilen, aus dem Kapitalzins und dem Arbeitslohn, zusammensetzen,<br />
kann dieser Satz auffallend erscheinen; ist der Arbeitslohn niedrig, so sind auch die Warenpreise niedrig,<br />
und sind jene hoch, so sind auch diese hoch. (Man sieht, v. Kirchmann akzeptiert das Smithsche<br />
Dogma auch noch in seiner verkehrtesten Fassung: nicht der Preis löst sich in Arbeitslohn + Mehrwert<br />
auf, sondern er setzt sich als einfache Summe aus ihnen zusammen - eine Fassung, in der Smith sich von<br />
seiner Arbeitswerttheorie am weitesten entfernt hatte. - R. L.) Lohn und Preis stehen so in geradem<br />
Verhältnis und gleichen sich einander aus. England hat nur <strong>des</strong>halb seine Getreidezölle und seine Zölle<br />
auf Fleisch und andere Lebensmittel aufgehoben, um die Arbeitslöhne sinken zu machen und so den<br />
Fabrikanten in den Stand zu setzen, durch noch billigere Ware auf den Weltmärkten jeden anderen<br />
Konkurrenten zu verdrängen. Es ist in<strong>des</strong> dies nur zum Teil richtig und berührt nicht das Verhältnis, in<br />
dem sich das Produkt zwischen Kapital und Arbeiter verteilt. In der zu ungleichen Verteilung zwischen<br />
diesen beiden liegt der erste und wichtigste Grund, weshalb Says Gesetz sich in der Wirklichkeit nicht<br />
vollzieht, weshalb trotz der Produktion in allen Zweigen doch alle Märkte an Überfüllung leiden." <strong>Die</strong>se<br />
seine Behauptung illustriert v. Kirchmann ausführlich an einem Beispiel. Nach dem Muster der<br />
klassischen Schule werden wir natürlich versetzt in eine imaginäre isolierte Gesellschaft, die ein<br />
widerstandsloses, wenn auch nicht dankbares Objekt für die nationalökonomischen Experimente<br />
darbietet.<br />
Man stelle sich einen Ort vor - suggeriert uns v. Kirchmann -, der ausgerechnet 903 <strong>Ein</strong>wohner umfaßt,<br />
und zwar 3 Unternehmer mit je 300 Arbeitern. Der Ort befriedige alle Bedürfnisse seiner <strong>Ein</strong>wohner<br />
durch eigene Produktion, und zwar in drei Unternehmungen, von denen die eine für Kleidung sorgt, die<br />
zweite für Nahrung, Licht, Feuerung und Rohstoffe, die dritte für Wohnung, Möbel und Werkzeuge. In<br />
jeder dieser drei Abteilungen liefere der Unternehmer "das Kapital samt Rohstoffen". <strong>Die</strong> Entlohnung<br />
der Arbeiter erfolgt in jedem dieser drei Geschäfte so, daß die Arbeiter die Hälfte <strong>des</strong> jährlichen Produkts<br />
als Lohn erhalten und der Unternehmer die andere Hälfte "als Zins seines <strong>Kapitals</strong> und als<br />
Unternehmergewinn". <strong>Die</strong> von jedem Geschäft gelieferte Menge Produkt reiche gerade hin, um alle<br />
Bedürfnisse sämtlicher 903 <strong>Ein</strong>wohner zu decken. So enthält dieser Ort "alle Bedingungen eines<br />
allgemeinen Wohlseins" für seine sämtlichen <strong>Ein</strong>wohner, alles macht sich demgemäß frisch und mutig<br />
an die Arbeit. Aber nach wenigen Tagen wandelt sich Freude und Wohlgefallen in allgemeinen Jammer<br />
und in Zähneklappern, es passiert nämlich auf der v. Kirchmannschen Insel der Glückseligen etwas, was<br />
man dort sowenig erwarten mochte wie den <strong>Ein</strong>sturz <strong>des</strong> Himmels: Es bricht eine regelrechte moderne<br />
Industrie- und Handelskrise aus! <strong>Die</strong> 900 Arbeitet haben nur die allernotdürftigste Kleidung, Nahrung<br />
und Wohnung, die drei Unternehmer aber haben ihre Magazine voll Kleider und Rohstoffe, sie<br />
haben Wohnungen leer stehen; sie klagen über Mangel an Absatz, während die Arbeiter umgekehrt über<br />
unzureichende Befriedigung ihrer Bedürfnisse klagen. Und woher illae lacrimae? Etwa weil, wie Say und<br />
Ricardo annahmen, von den einen Produkten zuviel und von den anderen zuwenig da sei? Mitnichten!<br />
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antwortet v. Kirchmann; in dem "Ort" gibt es von allen Dingen eine wohlproportionierte Menge, die alle<br />
just ausreichen würden, um sämtliche Bedürfnisse der Gesellschaft zu befriedigen. Woher also "das<br />
Hemmnis", die Krise? Das Hemmnis liegt einzig und allein in der Verteilung. Doch das will in eigenen<br />
Worten v. Kirchmanns genossen werden: "Das Hemmnis, daß dieses (glatter Austausch)<br />
<strong>des</strong>senungeachtet nicht geschieht, liegt lediglich und allein in der Verteilung dieser Produkte; die<br />
Verteilung erfolgt nicht gleich unter alle, sondern die Unternehmer behalten als Zins und Gewinn die<br />
Hälfte für sich und geben nur die Hälfte an ihre Arbeiter. Es ist klar, daß der Kleiderarbeiter sich <strong>des</strong>halb<br />
mit seinem halben Produkt auch nur die Hälfte der Produkte an Nahrung und Wohnung und so fort<br />
eintauschen kann, und es ist klar, daß die Unternehmer ihre andere Hälfte nicht loswerden können, weil<br />
kein Arbeiter noch ein Produkt hat, um sie von ihnen eintauschen zu können. <strong>Die</strong> Unternehmer wissen<br />
nicht wohin mit ihrem Vorrat, die Arbeiter wissen nicht wohin mit ihrem Hunger und ihrer Blöße." Und<br />
die Leser - fügen wir hinzu - wissen nicht wohin mit den Konstruktionen <strong>des</strong> Herrn v. Kirchmann. Das<br />
Kindische seines Beispiels stürzt uns in der Tat aus einem Rätsel ins andere.<br />
Zunächst ist ganz unerfindlich, auf welcher Grundlage und zu welchem Zweck die Dreiteilung der<br />
Produktion fingiert ist. Wenn in den analogen Beispielen Ricardos und MacCullochs gewöhnlich die<br />
Pächter den Fabrikanten entgegengestellt werden, so ist das u.E. nur die antiquierte Vorstellung der<br />
Physiokraten von der gesellschaftlichen Reproduktion, die von Ricardo übernommen war, trotzdem sie<br />
mit seiner Werttheorie, die der physiokratischen entgegengesetzt war, jeden Sinn verloren hatte, und<br />
trotzdem schon Smith bedeutende Anläufe zur Berücksichtigung wirklicher sachlicher Grundlagen <strong>des</strong><br />
gesellschaftlichen Reproduktionsprozesses gemacht hatte. Immerhin haben wir gesehen, daß sich jene<br />
physiokratische Unterscheidung der Landwirtschaft und Industrie als Grundlagen der Reproduktion in<br />
der theoretischen Nationalökonomie traditionell erhalten hatte, bis Marx seine epochemachende<br />
Unterscheidung der beiden gesellschaftlichen Abteilungen: Produktion von Produktionsmitteln und<br />
Produktion von Konsummitteln, eingeführt hat. Hingegen haben die drei Abteilungen v.<br />
Kirchmanns überhaupt keinen begreiflichen Sinn. Da hier Werkzeuge mit Möbeln, Rohstoffe mit<br />
Nahrungsmitteln zusammengeworfen sind, die Kleider eine Abteilung für sich bilden, so sind offenbar<br />
gar keine sachlichen Standpunkte der Reproduktion, sondern reine Willkür bei dieser <strong>Ein</strong>teilung<br />
maßgebend gewesen. Es könnte an sich ebensogut oder schlecht eine Abteilung für Lebensmittel, Kleider<br />
und Baulichkeiten, eine andere für Apothekerwaren und eine dritte für Zahnbürsten fingiert werden. Es<br />
kam v. Kirchmann offenbar nur darauf an, die gesellschaftliche Arbeitsteilung anzudeuten und für den<br />
Austausch einige möglichst "gleich große" Produktenmengen vorauszusetzen. Allein der Austausch<br />
selbst, um den es sich bei der ganzen Beweisführung dreht, spielt im v. Kirchmannschen Beispiel gar<br />
keine Rolle, da nicht Wert, sondern Produktenmenge, Masse der Gebrauchswerte als solcher zur<br />
Verteilung gelangt. Andererseits findet in dem interessanten "Ort" der v. Kirchmannschen Phantasie erst<br />
Verteilung der Produkte statt, alsdann soll darauf, nach geschehener Verteilung, der allgemeine<br />
Austausch stattfinden, während es auf der platten Erde der kapitalistischen Produktion bekanntlich der<br />
Austausch ist, der umgekehrt die Verteilung <strong>des</strong> Produkts einleitet und vermittelt. Dabei passieren in der<br />
v. Kirchmannschen Verteilung die wunderlichsten Dinge: Zwar besteht der Preis der Produkte, also auch<br />
<strong>des</strong> gesellschaftlichen Gesamtprodukts, "wie man weiß", nur aus "Arbeitslohn und Kapitalzins", nur aus<br />
v + m, und das Gesamtprodukt gelangt auch demgemäß restlos zur individuellen Verteilung unter die<br />
Arbeiter und Unternehmer, allein v. Kirchmann hat dabei zu seinem Pech eine schwache Erinnerung<br />
bewahrt, daß zu jeglicher Produktion so etwas wie Werkzeuge und Rohstoffe gehören. Er schmuggelt<br />
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auch in seinem "Ort" unter den Nahrungsmitteln Rohstoffe und unter Möbeln Werkzeuge ein, es fragt<br />
sich aber alsdann, wem bei der allgemeinen Verteilung diese unverdaulichen Dinge zufallen: den<br />
Arbeitern als Lohn oder den Kapitalisten als Unternehmergewinn? Beide Teile würden sich wohl<br />
bedanken. Und unter solchen Voraussetzungen soll dann noch der Clou der Vorstellung stattfinden: der<br />
Austausch zwischen den Arbeitern und den Unternehmern. Der grundlegende Austauschakt der<br />
kapitalistischen Produktion: der zwischen Lohnarbeitern und Kapitalisten, wird von v. Kirchmann aus<br />
dem Austausch zwischen lebendiger Arbeit und Kapital in einen Produktenaustausch verwandelt! Nicht<br />
der erste Akt: der Austausch zwischen Arbeitskraft und variablem Kapital, sondern der zweite: die<br />
Realisierung <strong>des</strong> aus variablem Kapital erhaltenen Lohns, wird in den Mittelpunkt <strong>des</strong> Getriebes gestellt<br />
und umgekehrt der ganze Warenaustausch der kapitalistischen Gesellschaft auf diese Realisierung<br />
<strong>des</strong> Arbeitslohns reduziert! Doch dann kommt das schönste: <strong>Die</strong>ser in den Brennpunkt <strong>des</strong><br />
Wirtschaftslebens gerückte Austausch zwischen den Arbeitern und den Unternehmern ist bei näherem<br />
Zusehen gar keiner, er findet überhaupt nicht statt. Denn nachdem alle Arbeiter ihren Lohn in Naturalien,<br />
und zwar in der Hälfte ihres eigenen Produkts erhalten haben, kann jetzt nur noch der Austausch unter<br />
den Arbeitern selbst stattfinden, indem die einen ihren in lauter Kleidungsstücken, die anderen den in<br />
lauter Nahrungsmitteln und die dritten den in lauter Möbeln bestehenden Lohn nunmehr so untereinander<br />
austauschen, daß jeder Arbeiter seinen Lohn zu je einem Drittel in Nahrung, Kleidung und Möbeln<br />
realisiert. Mit Unternehmern hat dieser Austausch nichts mehr zu tun. <strong>Die</strong>se sitzen ihrerseits mit ihrem<br />
Mehrwert, der in der Hälfte aller von der Gesellschaft hergestellten Kleider, Nahrungsmittel und Möbel<br />
besteht, da und wissen allerdings, drei Mann, die sie sind, nicht, "wohin" mit dem Krempel. Doch gegen<br />
dieses von v. Kirchmann angerichtete Malheur würde auch keine noch so generöse Verteilung <strong>des</strong><br />
Produkts etwas helfen. Im Gegenteil, je großer die Portion <strong>des</strong> gesellschaftlichen Produkts, die den<br />
Arbeitern zugewiesen wäre, um so weniger hätten sie mit den Unternehmern bei ihrem Austausch zu tun,<br />
es würde nur der gegenseitige Austausch der Arbeiter untereinander an Umfang zunehmen. Allerdings<br />
würde auch der die Unternehmer bedrückende Haufe von Mehrprodukt entsprechend<br />
zusammenschmelzen, aber nicht etwa weil dadurch der Austausch dieses Mehrprodukts erleichtert,<br />
sondern nur weil der Mehrwert selbst abnehmen würde. Von einem Austausch <strong>des</strong> Mehrprodukts<br />
zwischen Arbeitern und Unternehmern könnte nach wie vor keine Rede sein. Man muß gestehen, daß die<br />
hier auf verhältnismäßig kleinem Raum zusammengetragene Anzahl von Kindereien und ökonomischen<br />
Absurditäten sogar jenes Maß übersteigt, das einem preußischen Staatsanwalt zugute gehalten werden<br />
darf - v. Kirchmann war bekanntlich Staatsanwalt, und zwar zu seinen Ehren ein disziplinarisch zweimal<br />
gemaßregelter Staatsanwalt. Trotzdem geht v. Kirchmann nach seinen wenig versprechenden<br />
Präliminarien direkt auf die Sache los. Er sieht ein, daß die Unverwendbarkeit <strong>des</strong> Mehrwerts hier durch<br />
seine eigene Prämisse gegeben ist: durch die konkrete Gebrauchsgestalt <strong>des</strong> Mehrprodukts. Er läßt nun<br />
die Unternehmer mit der halben als Mehrwert angeeigneten gesellschaftlichen Arbeitsmenge nicht<br />
"ordinäre Waren" für die Arbeiter, sondern Luxuswaren herstellen. Da es "Wesen der Luxusware ist, daß<br />
sie dem Konsumenten es möglich macht, mehr an Kapital und Arbeitskraft zu verbrauchen als bei den<br />
ordinären Waren mög- lich ist", so bringen es die drei Unternehmer ganz allein fertig, die ganze<br />
Hälfte <strong>des</strong> in der Gesellschaft geleisteten Arbeitsquantums in Spitzen, eleganten Kutschen und<br />
dergleichen zu verzehren. Nun bleibt nichts Unveräußerliches übrig, die Krise ist glücklich behoben, die<br />
Überproduktion ein für allemal unmöglich gemacht, die Kapitalisten wie die Arbeiter sind in sicheren<br />
Verhältnissen, und das Wundermittel v. Kirchmanns, das alle diese Wohltaten herbeigeführt und das<br />
Gleichgewicht zwischen Produktion und Konsumtion wieder hergestellt hat, heißt: Luxus! Mit anderen<br />
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Worten, der Rat, den der gute Mann den Kapitalisten gibt, die nicht wissen, wohin mit ihrem<br />
unrealisierbaren Mehrwert, ist, sie sollen ihn selbst aufessen. In der kapitalistischen Gesellschaft ist nun<br />
freilich Luxus auch eine längst bekannte Erfindung, und die Krisen wüten trotzdem. - Woher kommt<br />
denn das? "<strong>Die</strong> Antwort kann nur die sein", belehrt uns v. Kirchmann, "daß diese Stockung <strong>des</strong> Absatzes<br />
in der wirklichen Welt lediglich daher kommt, weil noch zu wenig Luxus vorhanden ist oder, mit<br />
anderen Worten, daß von den Kapitalisten, d.h. von denen, welche die Mittel zur Konsumtion haben,<br />
noch zu wenig konsumiert wird." <strong>Die</strong>se unangebrachte Enthaltsamkeit der Kapitalisten kommt aber von<br />
einer durch die Nationalökonomie fälschlich geförderten Untugend: vom Hang zum Sparen zu Zwecken<br />
der "produktiven Konsumtion". Anders gesagt: <strong>Die</strong> Krisen kommen von der <strong>Akkumulation</strong> - das ist die<br />
Hauptthese v. Kirchmanns. Er beweist sie wieder an einem Beispiel von rührender <strong>Ein</strong>falt. Man setze den<br />
Fall, sagt er, "den von der Nationalökonomie als den besseren gepriesenen Fall", wo die Unternehmer<br />
sagen: Wir wollen unsere Revenuen nicht in Pracht und Luxus bis auf den letzten Heller verzehren,<br />
sondern wir wollen sie wieder produktiv anlegen. Was heißt das? Nichts anderes als neue<br />
Produktionsgeschäfte aller Art begründen, mittelst deren wieder Produkte gewonnen werden, durch<br />
deren Verkauf die Zinsen (v. K. will sagen: Profit) für jenes Kapital erlangt werden können, das aus den<br />
nicht verzehrten Revenuen der drei Unternehmer abgespart und angelegt worden ist. <strong>Die</strong> drei<br />
Unternehmer entschließen sich demgemäß, nur das Produkt von 100 Arbeitern zu verzehren, d.h. ihren<br />
Luxus erheblich einzuschränken, und die Arbeitskraft der übrigen 350 Arbeiter mit dem von diesen<br />
benutzten Kapital zur Anlegung neuer Produktionsgeschäfte zu verwenden. Hier entsteht die Frage, in<br />
welchen Produktionsgeschäften sollen diese Fonds verwendet werden? "<strong>Die</strong> drei Unternehmer haben nur<br />
die Wahl, entweder wieder Geschäfte für ordinäre Waren einzurichten oder Geschäfte für Luxuswaren",<br />
da nach der v. Kirchmannschen Annahme das konstante Kapital nicht reproduziert wird und das gesamte<br />
gesellschaft- liche Produkt in lauter Konsumtionsmitteln besteht. Damit kommen die<br />
Unternehmer aber in das uns schon bekannte Dilemma: Produzieren sie "ordinäre Waren", so entsteht<br />
eine Krise, da die Arbeiter keine Mittel zum Ankauf dieser zuschüssigen Lebensmittel haben, sind sie<br />
doch bereits mit der Hälfte <strong>des</strong> Produktenwerts abgefunden; produzieren sie aber Luxuswaren, so müssen<br />
sie sie auch selbst verzehren, Tertium non datur. Auch der auswärtige Handel ändert nichts an dem<br />
Dilemma, denn die Wirkung <strong>des</strong> Handels besteht nur darin, "die Mannigfaltigkeit der Waren <strong>des</strong><br />
inländischen Markts zu vergrößern" oder die Produktivität zu steigern. "Entweder also sind diese<br />
ausländischen Waren - ordinäre Waren, dann mag sie der Kapitalist nicht kaufen, und der Arbeiter kann<br />
sie nicht kaufen, weil er die Mittel nicht hat, oder es sind Luxuswaren, dann kann sie natürlich der<br />
Arbeiter noch weniger kaufen, und der Kapitalist mag wegen seines Bestrebens zu sparen sie ebenfalls<br />
nicht." So primitiv die Beweisführung, so kommt dabei doch der Grundgedanke v. Kirchmanns und der<br />
Alp der theoretischen Nationalökonomie ganz hübsch und klar zum Ausdruck: In einer lediglich aus<br />
Arbeitern und Kapitalisten bestehenden Gesellschaft erscheint die <strong>Akkumulation</strong> als eine Unmöglichkeit.<br />
v. Kirchmann zieht daraus die Konsequenz, indem er unumwunden die <strong>Akkumulation</strong>, das "Sparen", die<br />
"produktive Konsumtion" <strong>des</strong> Mehrwerts bekämpft, gegen die Befürwortung dieser Irrtümer durch die<br />
klassische Nationalökonomie heftig polemisiert und den mit der Produktivität der Arbeit steigenden<br />
Luxus als das Mittel gegen die Krisen predigt. Man sieht, wenn v. Kirchmann in seinen theoretischen<br />
Prämissen eine Karikatur Ricardo-Says war, so ist er in seinen Schlußfolgerungen eine Karikatur<br />
Sismondis. Es war jedoch notwendig, die Fragestellung v. Kirchmanns ganz scharf ins Auge zu fassen,<br />
um die Antikritik Rotibertus' und den Ausgang der Kontroverse würdigen zu können.<br />
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(1) <strong>Die</strong> Kirchmannsche Beweisführung ist bei Rodbertus sehr ausführlich wörtlich zitiert. <strong>Ein</strong><br />
vollständiges Exemplar der "Demokratischen Blätter" mit dem Originalaufsatz ist nach der Versicherung<br />
der Herausgeber Rodbertus' nicht zu erlangen.
<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 16. Kapitel<br />
15. Kapitel | Inhalt | 17. Kapitel<br />
<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - Gesammelte Werke. Herausgegeben vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Band<br />
5. <strong>Berlin</strong>/DDR. 1975. "<strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>", S. 196-209.<br />
1. Korrektur.<br />
Erstellt am 20.10.1998<br />
Sechzehntes Kapitel<br />
Rodbertus' Kritik der klassischen Schule<br />
Rodbertus gräbt tiefer als v. Kirchmann. Er sucht die Wurzeln <strong>des</strong> Übels in den Grundlagen selbst<br />
der gesellschaftlichen Organisation und erklärt der herrschenden Freihandelsschule erbitterten Krieg.<br />
Freilich nicht gegen das System <strong>des</strong> ungehinderten Warenverkehrs oder der Gewerbefreiheit, die er voll<br />
und ganz akzeptiert, zieht er ins Feld, sondern gegen das Manchestertum, das laissez faire in den inneren<br />
sozialen Verhältnissen der Wirtschaft. Zu seiner Zeit war auf die Sturm-und-Drang-Periode der<br />
klassischen Ökonomie bereits jenes skrupellose Apologetentum zur Herrschaft gelangt, das in dem<br />
fabelhaften Vulgarus und Abgott aller Philister, dem Herrn Frédéric Bastiat mit seinen "Harmonien", den<br />
gelungensten Ausdruck fand, und bald sollten auch verschiedene Schulzes als der kümmerlichspießerliche<br />
deutsche Abklatsch <strong>des</strong> französischen Harmoniepropheten grassieren. Gegen diese<br />
skrupellosen "Freihandelshausierburschen" richtete sich die Kritik Rodbertus'. "Fünf Sechsteile der<br />
Nation", ruft er in seinem "Ersten socialen Brief an von Kirchmann" (1850), "werden bisher durch die<br />
Geringfügigkeit ihres <strong>Ein</strong>kommens nicht bloß von den meisten Wohltaten der Zivilisation<br />
ausgeschlossen, sondern unterliegen dann und wann den furchtbarsten Ausbrüchen wirklichen Elends und<br />
sind immerdar <strong>des</strong>sen drohender Gefahr ausgesetzt. Dennoch sind sie die Schöpfer alles<br />
gesellschaftlichen Reichtums. Ihre Arbeit beginnt mit aufgehender, endigt mit niedergehender Sonne,<br />
erstreckt sich bis in die Nacht hinein, aber keine Anstrengung vermag dies Los zu ändern. Ohne ihr<br />
<strong>Ein</strong>kommen erhöhen zu können, verlieren sie nur noch die letzte Zeit, die ihnen für Bildung ihres Geistes<br />
hätte übrigbleiben sollen. Wir wollen annehmen, daß der Fortschritt der Zivilisation soviel Leiden zu<br />
seinem Fußgestell bisher bedurfte. Da leuchtet plötzlich die Möglichkeit einer Änderung dieser traurigen<br />
Notwendigkeit aus einer Reihe der wunderbarsten Erfindungen - Erfindungen, welche die menschliche<br />
Arbeitskraft mehr als verhundertfachen. Der Nationalreichtum - das Nationalvermögen im Verhältnis zur<br />
Bevölkerung - wächst infolge<strong>des</strong>sen in steigender Progression. Ich frage: Kann es eine natürlichere<br />
Folgerung, eine gerechtere Forderung geben, als daß auch die Schöpfer dieses alten und neuen Reichtums<br />
von dieser Zunahme irgendwie Vorteil haben? - als daß sich entweder ihr <strong>Ein</strong>kommen mit erhöht oder die<br />
Zeit ihrer Arbeit ermäßigt oder immer mehrere Mitglieder von ihnen in die Reihen jener Glücklichen<br />
übergehen, die vorzugsweise die Früchte der Arbeit zu brechen berechtigt sind? Aber die Staatswirtschaft<br />
oder besser die Volkswirtschaft hat nur das Gegenteil von dem allen zustande zu bringen vermocht.<br />
Während der Nationalreichtum wächst, wächst auch die Verarmung jener Klassen, müssen Spezialgesetze<br />
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sogar der Verlängerung der Arbeitszeit in den Weg treten und nimmt endlich die Zahl der arbeitenden<br />
Klassen in größerem Verhältnis zu als die der anderen. Aber nicht genug! <strong>Die</strong> hundertfach erhöhte Ar-<br />
beitskraft, die schon fünf Sechsteilen der Nation keine Erleichterung zu gewähren vermochte, wird<br />
periodisch auch noch der Schrecken <strong>des</strong> letzten Sechsteils der Nation und damit der ganzen Gesellschaft."<br />
"Welche Widersprüche also auf dem wirtschaftlichen Gebiete insbesondere! Und welche Widersprüche<br />
auf dem gesellschaftlichen Gebiete überhaupt! Der gesellschaftliche Reichtum nimmt zu, und die<br />
Begleiterin dieser Zunahme ist die Zunahme der Armut. - <strong>Die</strong> Schöpfungskraft der Produktivmittel wird<br />
gesteigert, und deren <strong>Ein</strong>stellung ist davon die Folge. - Der gesellschaftliche Zustand verlangt die<br />
Erhebung der materiellen Lage der arbeitenden Klassen zu gleicherer Höhe mit ihrer politischen, und der<br />
wirtschaftliche Zustand antwortet mit deren tieferer Erniedrigung. - <strong>Die</strong> Gesellschaft bedarf <strong>des</strong><br />
ungehinderten Aufschwungs <strong>des</strong> Reichtums, und die heutigen Leiter der Produktion müssen denselben<br />
hemmen, um nicht der Armut Vorschub zu leisten. - Nur eines ist in Harmonie! Der Verkehrtheit der<br />
Zustände entspricht die Verkehrtheit <strong>des</strong> herrschenden Teils der Gesellschaft, die Verkehrtheit, den Grund<br />
dieser Übel da zu suchen, wo er nicht liegt. Jener Egoismus, der sich nur zu oft in das Gewand der Moral<br />
hüllt, klagt als die Ursache <strong>des</strong> Pauperismus die Untugenden der Arbeiter an. Ihrer angeblichen<br />
Ungenügsamkeit und Unwirtschaftlichkeit bürdet er auf, was übermächtige Tatsachen an ihnen<br />
verbrechen, und wo selbst er seine Augen nicht vor ihrer Schuldlosigkeit verschließen kann, erhebt er die<br />
'Notwendigkeit der Armut' zur Theorie. Ohne Unterlaß ruft er den Arbeitern nur ora er labora zu, macht<br />
ihnen Enthaltsamkeit und Sparsamkeit zur Pflicht und fügt höchstens die Rechtsverletzung von<br />
Zwangssparanstalten der Not der Arbeiter hinzu. Er sieht nicht, daß eine blinde Verkehrsgewalt das Gebet<br />
zur Arbeit in einen Fluch über erzwungene Arbeitslosigkeit verwandelt, daß ... Sparsamkeit eine<br />
Unmöglichkeit oder eine Grausamkeit ist und daß endlich die Moral stets wirkungslos in dem Munde<br />
derer blieb, von denen der Dichter weiß, 'sie trinken heimlich Wein und predigen öffentlich Wasser'."(1)<br />
Konnten solche tapferen Worte an sich - dreißig Jahre nach Sismondi und Owen, zwanzig Jahre nach den<br />
Anklagen der englischen Sozialisten aus der Ricardoschule, endlich nach der Chartistenbewegung, nach<br />
der Junischlacht und, last not least, nach dem Erscheinen <strong>des</strong> Kommunistischen Manifests - keinen<br />
Anspruch auf bahnbrechende Bedeutung erheben, so kam es letzt um so mehr auf die wissenschaftliche<br />
Begründung dieser Anklagen an. Rodbertus gibt hier ein ganzes System, das auf die folgenden knappen<br />
Sätze zurückgeführt werden kann.<br />
<strong>Die</strong> geschichtlich erreichte Höhe der Produktivität der Arbeit zusammen mit den "Institutionen <strong>des</strong><br />
positiven Rechts", d.h. dem Privateigentum, haben dank den Gesetzen eines "sich selbst überlassenen<br />
Verkehrs" eine ganze Reihe verkehrter und unmoralischer Erscheinungen hervorgerufen. So<br />
1. den Tauschwert, an Stelle <strong>des</strong> "normalen", "konstituierten Werts" und dadurch das heutige Metallgeld<br />
an Stelle eines richtigen "seiner Idee entsprechenden" "Papierstreifen"gel<strong>des</strong> oder "Arbeitsgel<strong>des</strong>" "<strong>Die</strong><br />
erste (Wahrheit) ist, daß alle wirtschaftlichen Güter Arbeitsprodukt sind oder, wie man dieselbe auch<br />
wohl noch sonst auszudrücken pflegte, daß die Arbeit allein produktiv ist. <strong>Die</strong>ser Satz bedeutet aber<br />
weder schon, daß der Wert <strong>des</strong> Produkts immer der Kostenarbeit äqual ist, mit anderen Worten, daß die<br />
Arbeit heute schon einen Maßstab <strong>des</strong> Wertes abgeben könne." Wahrheit ist vielmehr, "daß dies noch<br />
keine staatswirtschaftliche Tatsache, sondern nur erst staatswirtschaftliche Idee ist".(2)<br />
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"Sollte der Wert nach der Arbeit, die das Produkt gekostet hat, konstituiert werden können, so läßt sich<br />
noch ein Geld vorstellen, das gleichsam aus den losgerissenen Blättern jenes allgemeinen Kontobuches,<br />
aus einer auf dem wohlfeilsten Stoff, auf Lumpen, geschriebenen Quittung bestehen würde, die<br />
jedermann über den von ihm produzierten Wert erhielte und die derselbe wieder als Anweisung auf<br />
ebensoviel Wert an dem zur Verteilung kommenden Nationalproduktteil realisierte ... Kann in<strong>des</strong>sen der<br />
Wert aus irgendwelchen Gründen nicht oder noch nicht konstituiert werden, so muß das Geld denjenigen<br />
Wert, den es liquidieren soll, selbst schon als Gleichwert, als Pfand oder Bürgschaft mit sich<br />
herumschleppen, d.h. selbst schon aus einem wertvollen Gut, aus Gold oder Silber, bestehen."(3) Sobald<br />
jedoch die kapitalistische Warenproduktion da ist, wird alles auf den Kopf gestellt: "<strong>Die</strong> Konstituierung<br />
<strong>des</strong> Wertes muß aufhören, weil er nur noch Tauschwert sein kann."(4) Und "weil nicht der Wert<br />
konstituiert werden konnte, kann auch das Geld nicht bloß Geld sein, nicht vollständig seiner Idee<br />
entsprechen"(5). "Bei einer gerechten Vergeltung im Tausche (müßte) der Tauschwert der Produkte äqual<br />
sein der Arbeitsquantität, die sie gekostet haben, müßten in den Produkten immer gleiche<br />
Arbeitsquantitäten ausgetauscht werden." Aber selbst vorausgesetzt, daß jedermann gerade die<br />
Gebrauchswerte produziert, die ein anderer braucht, "müßte, da es sich hier um menschliche Erkenntnis<br />
und menschlichen Willen handelte, doch immer noch eine richtige Berechnung, Ausgleichung und<br />
Festsetzung der in den auszutauschenden Produkten enthaltenen Arbeitsquantitäten vorausgehen und ein<br />
Gesetz dieserhalb bestehen, dem sich die Tauschenden fügen."(6)<br />
Rodbertus betont bekanntlich mit Nachdruck seine Priorität vor Proudhon in der Entdeckung <strong>des</strong><br />
"konstituierten Werts", was ihm gern zugestanden werden mag. Wie sehr diese "Idee" nur ein Gespenst<br />
war, das schon eine geraume Zeit vor Rodbertus in England theoretisch fruktifiziert und praktisch<br />
begraben worden war, und wie sehr diese "Idee" eine utopische Verballhornung der Ricardoschen<br />
Wertlehre war, haben Marx in seinem "Elend der Philosophie" wie Engels in seiner Vorrede dazu<br />
erschöpfend dargetan. Es erübrigt sich <strong>des</strong>halb, auf diese "Zukunftsmusik auf der Kindertrompete" hier<br />
weiter einzugehen.<br />
2. Aus dem "Tauschverkehr" ergab sich die "Degradation" der Arbeit zur Ware und der Arbeitslohn nach<br />
dem " Kostenwert" statt einer festen Quote <strong>des</strong> Anteils am Produkt. Rodbertus leitet sein Lohngesetz mit<br />
einem kühnen historischen Sprung direkt aus der Sklaverei her, wobei er die spezifischen Charaktere, die<br />
die kapitalistische Warenproduktion der Ausbeutung aufdrückt, nur als täuschende Lüge ansieht und vom<br />
moralischen Standpunkt verdonnert, "Solange die Produzenten selbst noch Eigentum der<br />
Nichtproduzenten waren, solange Sklaverei bestand, war es ausschließlich der Privatvorteil der 'Herren',<br />
der einseitig die Größe jenes Teils (<strong>des</strong> Anteils der Arbeitenden - R. L.) bestimmte. Seit die Produzenten<br />
die volle persönliche Freiheit, aber noch nichts weiter erreicht haben, vereinbaren sich beide Teile über<br />
den Lohn im voraus. Der Lohn ist, wie es heute heißt, Gegenstand eines 'freien Vertrages', d.i. der<br />
Konkurrenz. Dadurch wird natürlich die Arbeit denselben Tauschwertgesetzen unterworfen, denen auch<br />
die Produkte unterliegen; sie erhält selbst Tauschwert; die Größe ihres Lohns hängt von den Wirkungen<br />
<strong>des</strong> Angebots und der Nachfrage ab." Nachdem er so die Dinge auf den Kopf gestellt und den Tauschwert<br />
der Arbeitskraft aus der Konkurrenz abgeleitet hat, leitet er gleich darauf natürlich ihren Wert aus ihrem<br />
Tauschwert ab:<br />
"<strong>Die</strong> Arbeit erhält unter der Herrschaft der Tauschwertgesetze gleich den Produkten eine Art 'Kostenwert'<br />
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, der auf ihren Tauschwert, den Lohnbetrag, eine Anziehungskraft äußert." <strong>Die</strong>s ist derjenige Lohnbetrag,<br />
der nötig ist, um sie "instand zu erhalten", d.h. um ihr die Kraft zur eigenen Fortsetzung, wenn auch nur in<br />
ihrer Nachkommenschaft, zu gewähren, der sogenannte "notwendige Unterhalt". <strong>Die</strong>s ist aber für<br />
Rodbertus wieder- um nicht Feststellung objektiver ökonomischer Gesetze, sondern bloß<br />
Gegenstand sittlicher Entrüstung. <strong>Die</strong> Behauptung der klassischen Schule, "die Arbeit habe nicht mehr<br />
Wert, als sie Lohn bekomme", nennt Rodbertus "zynisch" und nimmt sich vor, "die Reihe von Irrtümern"<br />
aufzudecken, die zu diesem "krassen und unmoralischen Schlusse" geführt haben.(7) "<strong>Ein</strong>e ebenso<br />
entehrende Vorstellung als die war, welche den Arbeitslohn nach dem notwendigen Unterhalt oder wie<br />
eine Maschinenreparatur schätzen ließ, hat auch bei der zur Tauschware gewordenen Arbeit, diesem<br />
Prinzip aller Güter, von einem 'natürlichen Preise' oder von 'Kosten' wie bei dem Produkt derselben<br />
gesprochen und diesen natürlichen Preis, diese Kosten der Arbeit in den Güterbetrag gesetzt, der nötig sei,<br />
um die Arbeit immer wieder auf den Markt zu bringen." <strong>Die</strong>ser Warencharakter und die entsprechende<br />
Wertbestimmung der Arbeitskraft sind in<strong>des</strong> nichts als boshafte Verirrung der Freihandelsschule, und statt<br />
wie die englischen Ricardoschüler auf den Widerspruch innerhalb der kapitalistischen Warenproduktion:<br />
zwischen der Wertbestimmung der Arbeit und der Wertbestimmung durch die Arbeit, hinzuweisen, zeiht<br />
Rodbertus als guter Preuße die kapitalistische Warenproduktion <strong>des</strong> Widerspruchs - mit dem geltenden<br />
Staatsrecht. "Welch ein törichter, unbeschreiblicher Widerspruch in der Auffassung derjenigen<br />
Nationalökonomen" ruft er, "welche die Arbeiter in ihrer rechtlichen Stellung über die Geschicke der<br />
Gesellschaft mitentscheiden und zugleich sie nationalökonomisch nur immer als Ware behandeln lassen<br />
wollen!"(8)<br />
Es fragt sich nur noch, weshalb sich die Arbeiter eine so törichte und schreiende Ungerechtigkeit gefallen<br />
lassen - ein <strong>Ein</strong>wurf, der zum Beispiel von Hermann gegen die Ricardosche Werttheorie erhoben wurde.<br />
Darauf antwortet Rodbertus: "Was hätten die Arbeiter tun sollen, wenn sie sich nach ihrer Freilassung<br />
jene Vorschrift nicht hätten gefallen lassen wollen? Stellen Sie sich deren Lage vor! <strong>Die</strong> Arbeiter sind<br />
nackt oder in Lumpen freigelassen worden, mit nichts als ihrer Arbeitskraft. Auch war mit der Aufhebung<br />
der Sklaverei oder der Leibeigenschaft die moralische oder rechtliche Verpflichtung <strong>des</strong> Herrn, sie zu<br />
füttern oder für ihre Notdurft zu sorgen, fortgefallen. Aber ihre Bedürfnisse waren geblieben; sie mußten<br />
leben. Wie sollten sie mit ihrer Arbeitskraft für dies Leben sorgen? Von dem in der Gesellschaft<br />
vorhandenen Kapital nehmen und damit ihren Unterhalt produzieren? Aber das Kapital in der<br />
Gesellschaft gehörte schon anderen als ihnen, und die Vollstrecker <strong>des</strong> 'Rechts' hätten es nicht<br />
gelitten." Was blieb also den Arbeitern übrig? "Nur eine Alternative: entweder das Recht der Gesellschaft<br />
umstürzen oder unter den ungefähren früheren wirtschaftlichen Bedingungen, wenn auch in veränderter<br />
rechtlicher Stellung, zu ihren früheren Herren, den Grund- und Kapitalbesitzern, zurückzukehren und als<br />
Lohn zu empfangen, was sie früher als Futter bekommen hatten!" Zum Glück für die Menschheit und den<br />
preußischen Rechtsstaat waren die Arbeiter "so weise", die Zivilisation "nicht aus ihrer Bahn zu werfen"<br />
und sich lieber heroisch den niederträchtigen Zumutungen ihrer "früheren Herren" zu fügen. So entstand<br />
das kapitalistische Lohnsystem und das Lohngesetz als "ungefähre Sklaverei", als ein Produkt <strong>des</strong><br />
Gewaltmißbrauchs der Kapitalisten und der Zwangslage sowie der sanften Fügsamkeit der Proletarier,<br />
wenn man den bahnbrechenden theoretischen Erklärungen <strong>des</strong>selben Rodbertus Glauben schenken soll,<br />
der von Marx bekanntlich theoretisch "geplündert" worden ist. In bezug auf diese Lohntheorie ist<br />
jedenfalls die "Priorität" Rodbertus' unbestritten, denn die englischen Sozialisten und andere soziale<br />
Kritiker hatten das Lohnsystem viel weniger roh und primitiv analysiert. Das Originelle dabei ist, daß<br />
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Rodbertus den ganzen Aufwand an sittlicher Entrüstung über die Entstehung und die ökonomischen<br />
Gesetze <strong>des</strong> Lohnsystems nicht etwa dazu verbraucht, um als die Konsequenz daraus die Abschaffung <strong>des</strong><br />
schauderhaften Unrechts, <strong>des</strong> "törichten und unbeschreiblichen Widerspruchs" zu fordern. Bewahre! Er<br />
beruhigt wiederholt die Mitmenschheit, daß sein Gebrüll wider die Ausbeutung nicht gar zu tragisch<br />
gemeint sei, er sei kein Löwe, sondern bloß Schnock der Schreiner.(9) <strong>Die</strong> ethische Theorie <strong>des</strong><br />
Lohngesetzes ist nur nötig, um daraus den weiteren Schluß zu ziehen:<br />
3. Aus der Bestimmung <strong>des</strong> Lohnes durch die "Tauschwertgesetze" ergibt sich nämlich, daß mit dem<br />
Fortschritt der Produktivität der Arbeit der Anteil der Arbeiter am Produkt immer kleiner wird. Hier sind<br />
wir an dem archimedischen Punkt <strong>des</strong> Rodbertusschen "Systems" angelangt. <strong>Die</strong> "fallende Lohnquote" ist<br />
die wichtigste "eigene" Idee, die er seit seiner ersten sozialen Schrift (wahrscheinlich 1839) bis zu seinem<br />
Tode wiederholt und die er als sein Eigentum "in Anspruch nimmt". Zwar war diese "Idee" eine einfache<br />
Schlußfolgerung aus Ricardos Werttheorie, zwar ist sie implicite in der Lohnfondstheorie enthalten, die<br />
seit den Klassikern bis zum Erscheinen <strong>des</strong> Marxschen "<strong>Kapitals</strong>" die bürgerliche Nationalökonomie<br />
beherrschte. Trotzdem glaubt Rodbertus mit dieser "Entdek- kung" eine Art Galilei in der<br />
Nationalökonomie geworden zu sein, und er zieht seine "fallende Lohnquote" zur Erklärung aller Übel<br />
und Widersprüche der kapitalistischen Wirtschaft heran. Aus der fallenden Lohnquote leitet er also vor<br />
allem den Pauperismus ab, der bei ihm neben Krisen "die soziale Frage" ausmacht. Und es wäre<br />
angezeigt, der geneigten Aufmerksamkeit der modernen Marxtöter die Tatsache zu empfehlen, daß es<br />
zwar nicht Marx, wohl aber der ihnen viel näher stehende Rodbertus gewesen ist, der eine regelrechte<br />
Verelendungstheorie, und zwar in der gröbsten Form, aufgestellt und sie im Unterschied von Marx nicht<br />
zur Begleiterscheinung, sondern zum Zentralpunkt der "sozialen Frage" gemacht hat. Siehe z.B. seine<br />
Beweisführung der absoluten Verelendung der Arbeiterklasse im "Ersten socialen Brief an von<br />
Kirchmann". Sodann muß die "fallende Lohnquote" auch zur Erklärung der anderen grundlegenden<br />
Erscheinung der "sozialen Frage" herhalten: der Krisen, Hier tritt Rodbertus an das Problem <strong>des</strong><br />
Gleichgewichts zwischen Konsumtion und Produktion heran und berührt den ganzen Komplex der damit<br />
verbundenen Streitfragen, die bereits zwischen Sismondi und der Ricardoschule ausgefochten wurden.<br />
<strong>Die</strong> Kenntnis der Krisen war bei Rodbertus natürlich auf ein viel reicheres Tatsachenmaterial gestützt als<br />
bei Sismondi. In seinem "Ersten socialen Brief" gibt er bereits eine eingehende Schilderung der vier<br />
Krisen: 1818; 1819, 1825, 1837-1839 und 1847. Dank der längeren Beobachtung konnte Rodbertus zum<br />
Teil einen tieferen <strong>Ein</strong>blick in das Wesen der Krisen gewinnen, als dies seinen Vorläufern möglich war.<br />
So formuliert er bereits 1850 die Periodizität der Krisen, und zwar ihre Wiederkehr mit immer kürzeren<br />
Intervallen, dafür aber in immer zunehmender Schärfe: "Von Mal zu Mal, im Verhältnis der Zunahme <strong>des</strong><br />
Reichtums hat sich die Furchtbarkeit dieser Krisen gesteigert, sind die Opfer, die sie verschlingen, größer<br />
geworden, <strong>Die</strong> Krisis von 1818/19, so sehr sie schon den Schrecken <strong>des</strong> Handels und die Bedenken der<br />
Wissenschaft erregte, war verhältnismäßig unbedeutend gegen die von 1825/26. <strong>Die</strong> letztere schlug dem<br />
Kapitalvermögen Englands solche Wunden, daß die berühmtesten Staatswirte die vollständige Ausheilung<br />
derselben bezweifelten, sie ward dennoch von der Krisis von 1836/37 übertroffen. <strong>Die</strong> Krisen von<br />
1839/40 und 1846/47 richteten noch wieder stärkere Verheerungen an als die vorausgehenden." "In<strong>des</strong>sen<br />
nach der bisherigen Erfahrung kehren die- selben in immer kürzeren Intervallen wieder. Von der<br />
ersten bis zur dritten Krisis verflossen 18 Jahre, von der zweiten bis zur vierten 14 Jahre, von der dritten<br />
bis zur fünften 12 Jahre. Schon mehren sich die Anzeichen eines nahe bevorstehenden neuen Unglücks,<br />
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obwohl unzweifelhaft das Jahr 1848 <strong>des</strong>sen Ausbruch aufgehalten hat."(10) Weiter macht Rodbertus die<br />
Beobachtung, daß der regelmäßige Vorläufer der Krisen ein außerordentlicher Aufschwung der<br />
Produktion, große technische Fortschritte der Industrie zu sein pflegen: "... jede einzelne derselben (der<br />
Krisen) ist auf eine hervorstechende Periode industrieller Blüte gefolgt."(11) Er schildert an der Hand der<br />
Geschichte der Krisen, daß "dieselben stets nur nach einer bedeutenden Steigerung der Produktivität<br />
eintreten"(12). Rodbertus bekämpft die vulgäre Ansicht, die Krisen nur zu Geld- und Kreditstörungen<br />
machen will, und kritisiert die ganze verfehlte Peelsche Banknotengesetzgebung, ausführlich begründet er<br />
seine Ansicht in dem Aufsatz "<strong>Die</strong> Handelskrisen und die Hypothekennoth" aus dem Jahre 1858, wo er<br />
u.a. sagt: "Man täuscht sich daher auch, wenn man die Handelskrisen nur als Geld-, Börsen- oder<br />
Kreditkrisen auffaßt. So erscheinen sie nur äußerlich bei ihrem ersten Auftreten."(13) Bemerkenswert ist<br />
auch der scharfe Blick Rodbertus' für die Bedeutung <strong>des</strong> auswärtigen Handels im Zusammenhang mit<br />
dem Problem der Krisen. Genau wie Sismondi konstatiert er die Notwendigkeit der Expansion für die<br />
kapitalistische Produktion, zugleich aber die Tatsache, daß damit nur die Dimensionen der periodischen<br />
Krisen wachsen müssen. "Der auswärtige Handel", sagt er in "Zur Beleuchtung der Socialen Frage", 2.<br />
Teil, 1. Heft, "verhält sich zu den Handelsstockungen nur wie die Wohltätigkeit zum Pauperismus - sie<br />
steigern sich zuletzt nur an demselben."(14) Und in dem zitierten Aufsatz "Handelskrisen und<br />
Hypothekennoth": "Was man zur Verhütung künftiger Ausbrüche 'der Krisen' anwenden kann, ist nur das<br />
zweischneidige Mittel einer Erweiterung <strong>des</strong> auswärtigen Marktes. Das heftige Streben nach solcher<br />
Erweiterung ist großenteils nichts als ein aus dem leidenden Organ entspringender krankhafter Reiz. Weil<br />
auf dem inneren Markt der eine Faktor, die Produktivität, ewig steigt und der andere, die<br />
Kaufkraft, für den größten Teil der Nation sich ewig gleichbleibt, muß der Handel eine gleiche<br />
Unbegrenztheit <strong>des</strong> letzteren auf auswärtigen Märkten zu supplieren suchen. Was diesen Reiz stillt,<br />
verzögert wenigstens den neuen Ausbruch <strong>des</strong> Übels. Jeder neue auswärtige Markt gleicht daher einer<br />
Vertagung der sozialen Frage. In derselben Weise wirken Kolonisationen in unangebauten Ländern.<br />
Europa erzieht sich einen Markt, wo sonst keiner war. Aber dieses Mittel kajoliert doch im Grunde nur<br />
das Übel. Wenn die neuen Märkte ausgefüllt sind - so ist die Frage nur wieder zu ihrem alten<br />
Ausgangspunkt zurückgekehrt, dem begrenzten Faktor der Kaufkraft gegenüber dem unbegrenzten Faktor<br />
der Produktivität, und der neue Ausbruch ward nur von dem kleineren Markte ferngehalten, um ihn auf<br />
dem größeren in noch weiteren Dimensionen und noch heftigeren Zufällen wieder auftreten zu lassen.<br />
Und da doch die Erde begrenzt ist und <strong>des</strong>halb die Gewinnung neuer Märkte einmal aufhören muß, muß<br />
auch die bloße Vertagung der Frage einmal aufhören. Sie muß dereinst definitiv gelöst werden."(15)<br />
Er hat auch die Anarchie der kapitalistischen Privatproduktion als krisenbildenden Faktor ins Auge<br />
gefaßt, allein nur unter anderen Faktoren, nicht als die eigentliche Ursache der Krisen überhaupt, sondern<br />
als Quelle einer bestimmten Abart Krisen. So sagt er über den Ausbruch der "Krise" im v.<br />
Kirchmannschen "Ort": "Ich will nun nicht behaupten, daß diese Art der Absatzstockung nicht auch in der<br />
Wirklichkeit vorkäme. Der Markt ist heute groß, der Bedürfnisse und Produktionszweige sind viele, die<br />
Produktivität ist bedeutend, die Anzeichen <strong>des</strong> Begehrs sind dunkel und trügerisch, die Unternehmer ohne<br />
gegenseitige Kenntnis <strong>des</strong> Umfangs ihrer Produktion - es kann also auch leicht geschehen, daß diese sich<br />
in dem Maße eines bestimmten Warenbedarfs täuschen und den Markt damit überfüllen." Rodbertus<br />
spricht es auch rundweg heraus, daß diesen Krisen nur eine planmäßige Organisation der Wirtschaft, eine<br />
"vollständige Umkehrung" der heutigen Eigentumsverhältnisse. die Vereinigung aller Produktionsmittel<br />
"in der Hand einer einzigen gesellschaftlichen Behörde" abhelfen könnte. Er beeilt sich freilich<br />
auch hier gleich zur Beruhigung der Gemüter hinzuzufügen, daß er es dahingestellt sein lasse, ob ein<br />
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solcher Zustand möglich sei, "aber jedenfalls wäre in ihm die einzige Möglichkeit gegeben, diese Art von<br />
Absatzstockungen zu verhindern". Er unterstreicht also hier, daß er die Anarchie der heutigen<br />
Produktionsweise nur für eine bestimmte partielle Erscheinungsform der Krisen verantwortlich macht.<br />
Rodbertus verwirft mit Hohn den Say-Ricardoschen Satz von dem natürlichen Gleichgewicht zwischen<br />
Konsumtion und Produktion und legt ganz wie Sismondi den Nachdruck auf die Kaufkraft der<br />
Gesellschaft, die er wieder wie Sismondi von der <strong>Ein</strong>kommensverteilung abhängig macht. Trotzdem<br />
akzeptiert er die Sismondische Krisentheorie, namentlich in ihren Schlußfolgerungen, durchaus nicht und<br />
stellt sich zu ihr in scharfen Gegensatz. Wenn Sismondi nämlich in der schrankenlosen Ausdehnung der<br />
Produktion ohne Rücksicht auf die <strong>Ein</strong>kommensschranken die Quelle <strong>des</strong> Übels sah, und<br />
dementsprechend die <strong>Ein</strong>dämmung der Produktion predigte, tritt Rodbertus umgekehrt für die kräftigste<br />
und schrankenlose Ausdehnung der Produktion, <strong>des</strong> Reichtums, der Produktivkräfte ein. <strong>Die</strong> Gesellschaft,<br />
meint er, bedürfe einer ungehinderten Zunahme ihres Reichtums. Wer den Reichtum der Gesellschaft<br />
verwerfe, verwerfe mit ihrer Macht ihren Fortschritt, mit diesem ihre Tugend, wer seiner Zunahme<br />
Hindernisse in den Weg werfe, werfe sie ihrem Fortschritte überhaupt in den Weg. Jede Zunahme <strong>des</strong><br />
Wissens, Wollens und Könnens in der Gesellschaft sei an eine Zunahme <strong>des</strong> Reichtums gebunden.(16)<br />
Von diesem Standpunkt aus war Rodbertus ein warmer Befürworter <strong>des</strong> Systems der Notenbanken, die er<br />
als unumgänglich Grundlage zur raschen und unbeschränkten Expansion der Gründertätigkeit betrachtete.<br />
Sowohl sein Aufsatz über die Hypothekennot aus dem Jahre 1858 wie schon die 1845 erschienene<br />
Abhandlung über die preußische Geldkrisis sind dieser Beweisführung gewidmet. Er wendet sich aber<br />
auch direkt polemisierend gegen die Mahnungen im Geiste Sismondis, wobei er auch hier die Sache<br />
zunächst in seiner ethisch-utopischen Weise anfaßt. "<strong>Die</strong> Unternehmer", deklamiert er, "sind im<br />
wesentlichen nichts als volkswirtschaftliche Beamte, welche, wenn sie die nationalen Produktionsmittel,<br />
die ihnen die Institution <strong>des</strong> Eigentums unauflöslich anvertraut hat, mit der Anspannung aller Kräfte<br />
arbeiten lassen, nur ihre Schuldigkeit tun. Denn das Kapital ist, wiederhole ich, nur zur Produktion<br />
da." Weiter aber sachlich: "Oder sollen sie (die Unternehmer) gar die akuten Leidenszufälle chronisch<br />
machen, indem sie von Anbeginn an und fortwährend mir geringeren Kräften, als sie in ihren Mitteln<br />
wirklich besitzen, arbeiten und auf diese Weise einen niedrigeren Grad der Heftigkeit mit einer<br />
unausgesetzten Dauer <strong>des</strong> Übels erkaufen? Selbst wenn man so töricht wäre, ihnen solchen Rat zu geben,<br />
sie würden ihn nicht zu befolgen vermögen. Woran sollten jene Weltproduzenten diese schon krankhafte<br />
Grenze <strong>des</strong> Marktes erkennen? Sie alle produzieren, ohne voneinander zu wissen, an den verschiedensten<br />
Ecken und Enden der Erde für einen Hunderte von Meilen entfernten Markt mit so riesigen Kräften, daß<br />
die Produktion eines Monats jene Grenze zu überschreiten genügt - wie ist es denkbar, daß eine so<br />
zerstückte und doch so mächtige Produktion die Übersicht jenes Genüges rechtzeitig zu gewinnen<br />
vermöchte? Wo sind nur die Anstalten, z.B. auf dem laufenden gehaltene statistische Büros, um ihnen<br />
dabei behilflich zu sein? Aber was schlimmer ist, der einzige Fühler <strong>des</strong> Marktes ist der Preis, sein<br />
Steigen und Fallen. Aber er ist nicht wie ein Barometer, das die Temperatur <strong>des</strong> Marktes vorhersagt,<br />
sondern wie ein Thermometer, das sie nur mißt. Fällt der Preis, so ist schon die Grenze überschritten und<br />
das Übel bereits da."(17) <strong>Die</strong>se zweifellos gegen Sismondi gerichtete Polemik zeigt, daß zwischen beiden<br />
in der Auffassung der Krisen sehr wesentliche Unterschiede lagen; wenn <strong>des</strong>halb Engels im "Anti-<br />
Dühring" sagt, die Erklärung der Krisen aus Unterkonsumtion rühre von Sismondi her und von diesem<br />
habe sie Rodbertus entlehnt, so ist das, streng genommen, nicht genau. Gemeinsam ist Rodbertus wie<br />
Sismondi nur die Opposition gegen die klassische Schule sowie die Erklärung der Krisen im allgemeinen<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 16. Kapitel<br />
aus der Verteilung <strong>des</strong> <strong>Ein</strong>kommens. Aber auch hier folgt Rodbertus seiner eigenen Privatschrulle. Nicht<br />
die Niedrigkeit <strong>des</strong> <strong>Ein</strong>kommens der Arbeitermasse bewirke die Überproduktionen und auch nicht die<br />
beschränkte Konsumtionsfähigkeit der Kapitalisten, wie bei Sismondi, sondern lediglich die Tatsache,<br />
daß das <strong>Ein</strong>kommen der Arbeiter mit dem Fortschritt der Produktivität einen immer geringeren Teil <strong>des</strong><br />
Produktenwertes darstellt. Rodbertus weist seinem Widerpart ausdrücklich nach, daß nicht aus der<br />
Geringfügigkeit der Anteile der arbeitenden Klassen Absatzstockungen entspringen: "Stellen Sie sich",<br />
belehrt er v. Kirchmann, "diese Anteile so klein vor, daß die Berechtigten nur das nackte Leben dabei<br />
haben, halten Sie die Anteile aber nur in der Quote, die sie am Nationalprodukt einnehmen, fest,<br />
und lassen Sie dann die Produktivität zunehmen, so haben Sie auch das feste Wertgefäß, das einen immer<br />
größeren Inhalt aufzunehmen imstande ist, so haben Sie den immer zunehmenden Wohlstand auch der<br />
arbeitenden Klassen ... Umgekehrt stellen Sie sich die Anteile der arbeitenden Klassen so groß vor, wie<br />
Sie wollen, lassen Sie sie aber unter der Zunahme der Produktivität zu einer immer kleineren Quote <strong>des</strong><br />
Nationalprodukts herabsinken, so werden diese Anteile zwar bis dahin, daß sie auf ihre heutige<br />
Geringfügigkeit zurückgebracht sind, immer noch vor übergroßer Entbehrung schützen, denn ihr<br />
Produktinhalt wird noch immer bedeutend größer als heute sein, aber sie werden dennoch sofort, als sie<br />
zu sinken beginnen, jene zu unsern Handelskrisen sich steigernde Unbefriedigung nach sich ziehen, die<br />
ohne Verschulden der Kapitalisten ja nur <strong>des</strong>halb eintritt, weil die Kapitalisten den Umfang ihrer<br />
Produktion nach der gegebenen Größe der Anteile einrichteten."(18)<br />
Also die "fallende Lohnquote" ist die eigentliche Ursache der Krisen und das einzig wirksame Mittel<br />
gegen sie - die gesetzliche Bestimmung, wonach der Anteil der Arbeiter am Nationalprodukt eine feste<br />
und unabänderliche Quote darstellt. Man muß sich in diesen bizarren <strong>Ein</strong>fall gut hineindenken, um seinen<br />
ökonomischen Inhalt nach Gebühr zu würdigen.<br />
Fußnoten von <strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong><br />
(1) Carl Rodbertus-Jagetzow: Schriften, <strong>Berlin</strong> 1899, Bd. III, S. 172-174 u. 184.
<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 16. Kapitel<br />
(8) l.c., Bd. II, S. 72.
<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 16. Kapitel<br />
Visionen der kapitalistischen Kolonialexpansion beinah zum Dichter. Und dieser poetische Schwung will<br />
um so mehr gewürdigt werden, als die "christlich-ethische Kultur" sich just damals mit solchen<br />
Ruhmestaten bedeckte wie den Opiumkriegen gegen China und den "indischen Greul" - nämlich den<br />
Greul der Engländer bei der blutigen Unterdrückung <strong>des</strong> Sepoyaufstan<strong>des</strong>. In seinem "Zweiten socialen<br />
Brief", im Jahre 1850, meinte Rodbertus zwar, wenn der Gesellschaft "die sittliche Kraft" zur Lösung der<br />
sozialen Frage, d.h. zur Änderung der Verteilung <strong>des</strong> Reichtums fehlen sollte, würde die Geschichte<br />
"wieder die Peitsche der Revolution über sie schwingen müssen". (l.c., Bd. II, S. 83.) Acht Jahre später<br />
zieht er als braver Preuße vor, die Peitsche der christlich-ethischen Kolonialpolitik über die <strong>Ein</strong>geborenen<br />
der Kolonialländer zu schwingen. Es ist auch nur folgerichtig, daß der "eigentliche Begründer <strong>des</strong><br />
wissenschaftlichen Sozialismus in Deutschland" auch ein warmer Anhänger <strong>des</strong> Militarismus und seine<br />
Phrase von der "Reduktion der Armeen" nur als eine Licentia poetica im Re<strong>des</strong>chwall zu nehmen war. In<br />
seinem "Zur Beleuchtung der Socialen Frage", 2. Teil, 1. Heft, führt er aus, daß "die ganze nationale<br />
Steuerlast immerfort nach unten gravitiert, bald in Steigerung der Preise der Lohngüter, bald in dem<br />
Druck auf den Geldarbeitslohn", wobei die allgemeine Militärpflicht, "unter den Gesichtspunkt einer<br />
Staatslast gebracht, bei den arbeitenden Klassen nicht einmal einer Steuer, sondern gleich einer<br />
mehrjährigen Konfiskation <strong>des</strong> ganzen <strong>Ein</strong>kommens gleichkommt." Dem fügt er schleunig hinzu: "Um<br />
keinem Mißverständnis ausgesetzt zu sein, bemerke ich, daß ich ein entschiedener Anhänger unserer<br />
heutigen Militärverfassung (also der preußischen Militärverfassung der Konterevolution - R. L.) bin, so<br />
drückend sie auch für die arbeitenden Klassen sein mag und so hoch die finanziellen Opfer scheinbar<br />
sind, die den besitzenden Klassen dafür abverlangt werden." (l.c., Bd. III, S. 34) Nein, Schnock ist<br />
entschieden kein Löwe!
<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 17. Kapitel<br />
16. Kapitel | Inhalt | 18. Kapitel<br />
<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - Gesammelte Werke. Herausgegeben vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Band<br />
5. <strong>Berlin</strong>/DDR. 1975. "<strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>", S. 209-225.<br />
1. Korrektur.<br />
Erstellt am 20.10.1998<br />
Siebzehntes Kapitel<br />
Rodbertus' Analyse der Reproduktion<br />
Was soll es vor allem bedeuten, daß die Verringerung <strong>des</strong> Anteils der Arbeiter "sofort"<br />
Überproduktion und Handelskrisen hervorrufen müsse? <strong>Die</strong>se Auffassung wird nur begreiflich., wenn<br />
man voraussetzt, daß Rodbertus sich das "Nationalprodukt" aus zwei Teilen bestehend vorstellt, aus dem<br />
Anteil der Arbeiter und dem Anteil der Kapitalisten, also v + m, wobei sich etwa der eine Teil gegen den<br />
anderen austauscht. In der Tat spricht Rodbertus stellenweise beinahe in diesem Sinne, so, wenn er im<br />
"Ersten socialen Briefe" sagt: "<strong>Die</strong> Armut der arbeitenden Klassen läßt niemals zu, daß ihr <strong>Ein</strong>kommen<br />
ein Bett für die anschwellende Produktion abgebe. Das Übermaß von Produkten. das in den Händen der<br />
Arbeiter nicht bloß deren Lage verbessern, sondern zugleich ein Gewicht abgeben würde, um den Wert<br />
<strong>des</strong> bei den Unternehmern verbleibenden Restes zu steigern und diesen damit die Bedingung der<br />
Fortsetzung ihrer Betriebe in dem bisherigen Umfange zu gewähren, drückt auf seiten der<br />
Unternehmer den Wert <strong>des</strong> ganzen Produkts so tief, daß jene Bedingung verschwindet, und überläßt im<br />
besten Falle die Arbeiter ihrem gewohnten Mangel.(1) Das "Gewicht", das in den Händen der Arbeiter<br />
"den Wert" <strong>des</strong> bei den Unternehmern "verbleibenden Restes" steigert, kann hier nur Nachfrage bedeuten.<br />
Damit wären wir glücklich angelangt in dem famosen "Ort" v. Kirchmanns, wo die Arbeiter mit den<br />
Kapitalisten einen Austausch ihrer Löhne gegen das Mehrprodukt ausführen und wo die Krisen <strong>des</strong>halb<br />
entstehen, weil das variable Kapital klein und der Mehrwert groß ist. <strong>Die</strong>se seltsame Vorstellung ist schon<br />
oben besprochen worden. An anderen Stellen gibt jedoch Rodbertus eine abweichende Auffassung zum<br />
besten. Im "Vierten socialen Brief" deutet er seine Theorie so, daß die ständige Verschiebung im<br />
Verhältnis der Nachfrage, die durch den Anteil der Arbeiterklasse dargestellt, und derjenigen, die durch<br />
den Anteil der Kapitalistenklasse bewirkt wird, eine chronische Disproportion zwischen Produktion und<br />
Konsumtion hervorrufen müsse: "Aber wie, wenn sich nun die Unternehmer zwar immerfort in den<br />
Grenzen jener Anteile zu halten suchen, aber diese Anteile selbst sich bei der großen Mehrzahl der<br />
Gesellschaft, den Arbeitern, nach und nach mit unvermerkter, aber unwiderstehlicher Gewalt immerfort<br />
verkleinerten? Wenn sie sich bei diesen Klassen immerfort in demselben Maße verkleinerten, als sich<br />
deren Produktivität vergrößerte?" "Ob <strong>des</strong>halb nicht die Kapitalisten, während sie nur nach der bisherigen<br />
Große der Anteile die Produktion einrichten und einrichten mußten, um den Reichtum allgemein zu<br />
machen, dennoch immerfort über die bisherigen Anteile hinaus produzieren und also eine stete<br />
Nichtbefriedigung, die sich zu einer Absatzstockung ... steigert, veranlassen?"(2)<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 17. Kapitel<br />
Demnach haben wir uns die Krisen folgendermaßen zu erklären: Das Nationalprodukt besteht aus einer<br />
Anzahl "ordinärer Waren", wie v. Kirchmann sagt, für die Arbeiter und feinerer Waren für die<br />
Kapitalisten. <strong>Die</strong> Menge jener wird durch die Summe der Löhne, dieser durch den Gesamtmehrwert<br />
dargestellt. Richten sich die Kapitalisten bei ihrer Produktion danach ein und schreitet dabei die<br />
Produktivität fort, so muß sich schon im nächsten Augenblick ein Mißverhältnis herausstellen. Denn der<br />
Anteil der Arbeiter von heute ist nicht mehr der von gestern, sondern geringer; bildete gestern die<br />
Nachfrage nach "ordinären Waren", sagen wir, sechs Siebentel <strong>des</strong> Nationalprodukts, so bildet sie heute<br />
nur noch fünf Siebentel, und die Unternehmer, die sich auf sechs Siebentel "ordinärer Waren"<br />
eingerichtet haben, werden zu ihrer schmerzlichen Überraschung konstatieren müssen, daß sie um ein<br />
Siebentel deren zuviel hergestellt haben. Wollen sie aber, durch diese Erfahrung gewitzigt, morgen ihre<br />
Produktion so einrichten, daß sie nur fünf Siebentel <strong>des</strong> gesamten Wertes <strong>des</strong> Nationalprodukts in<br />
ordinären Waren herstellen, so laufen sie damit nur einer neuen Enttäuschung in die Arme, denn<br />
übermorgen wird der Lohnanteil am Nationalprodukt sicher nur noch vier Siebentel darstellen usw.<br />
<strong>Die</strong>se originelle Theorie ruft sofort eine Menge gelinder Zweifel wach. Wenn unsere Handelskrisen<br />
lediglich daher rühren, daß die " Lohnquote" der Arbeiterklasse, das variable Kapital, einen immer<br />
geringeren Teil <strong>des</strong> Gesamtwerts <strong>des</strong> Nationalprodukts ausmacht, dann birgt ja das fatale Gesetz in sich<br />
selbst auch die Heilung <strong>des</strong> von ihm angerichteten Übels, da doch die Überproduktion einen immer<br />
geringeren Teil <strong>des</strong> Gesamtprodukts betrifft. Rodbertus liebt zwar die Ausdrücke von "übergroßer<br />
Mehrzahl" der Konsumenten, von der "großen Volksmasse" der Konsumenten, deren Anteil immer mehr<br />
sinke, doch kommt es nicht auf die Zahl der Kopfe bei der Nachfrage an, sondern auf den durch sie<br />
dargestellten Wert. Und dieser Wert bildet nach Rodbertus selbst einen immer geringfügigeren Teil <strong>des</strong><br />
Gesamtprodukts. <strong>Die</strong> ökonomische Basis der Krisen wird damit immer schmaler, und es bleibt nur die<br />
Frage, wie es kommt, daß die Krisen trotzdem, wie Rodbertus feststellt, erstens allgemein und zweitens<br />
immer heftiger sind. Bildet ferner die "Lohnquote" den einen Teil <strong>des</strong> Nationalprodukts, so der Mehrwert,<br />
nach Rodbertus, den anderen. Was an Kaufkraft der Arbeiterklasse abgeht, wächst als Kaufkraft der<br />
Kapitalistenklasse an, wird v immer geringer, so m dafür immer größer. Nach dem eigenen kruden<br />
Schema von Rodberrus kann dadurch im ganzen die Kaufkraft der Gesellschaft nicht alteriert werden.<br />
Sagt er doch selbst: "Ich weiß wohl, daß schließlich dasjenige, um welches der Anteil der Arbeiter fällt,<br />
den Anteilen der Rentenbezieher (bei Rodbertus "Rente" gleich Mehrwert - R. L.) zuwächst, daß also auf<br />
die Dauer und im ganzen die Kaufkraft sich gleichbleibt. Aber in bezug auf das zu Markt gebrachte<br />
Produkt ist schon immer die Krisis erfolgt, ehe jener Zuwachs sich geltend machen kann."(3) Es kann<br />
sich also höchstens darum handeln, daß in demselben Maße wie in "ordinären Waren" ständig ein Zuviel,<br />
in feineren Waren für die Kapitalisten ständig ein Zuwenig sich herausstellt. Rodbertus kommt hier<br />
unversehens auf eigentümlichen Pfaden zu der von ihm so hitzig bekämpften Theorie Say-Ricardos: der<br />
Überproduktion auf der einen Seite entspräche stets die Unterproduktion auf der anderen. Und da<br />
die Wertanteile der Arbeiterklasse und der Kapitalisten sich ständig zuungunsten der ersteren<br />
verschieben, so würden unsere Handelskrisen im ganzen immer mehr den Charakter von periodischer<br />
Unterproduktion an Stelle von Überproduktion annehmen! Doch lassen wir diese Rätsel. Was aus alledem<br />
einleuchtet, ist, daß Rodbertus sich das Nationalprodukt dem Werte nach als lediglich zusammengesetzt<br />
aus zwei Teilen, aus v und m, denkt, darin also ganz die Auffassung und Überlieferung der klassischen<br />
Schule teilt, die er mit solcher Erbitterung bekämpft, verschönert noch um die Vorstellung. daß der ganze<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 17. Kapitel<br />
Mehrwert von den Kapitalisten konsumiert wird. Er spricht dies an mehreren Stellen mit dürren Worten<br />
aus, so im "Vierten socialen Brief": "Demgemäß muß man gerade, um zuvörderst das Prinzip der Rente<br />
(<strong>des</strong> Mehrwerts - R. L.) überhaupt, das Prinzip der Teilung <strong>des</strong> Arbeitsprodukts in Lohn und Rente, zu<br />
finden, von den Gründen abstrahieren, welche die Scheidung der Rente überhaupt in Grundrente und<br />
Kapitalrente veranlassen."(4) Und im "Dritten [socialen] Brief": "Grundrente, Kapitalgewinn und<br />
Arbeitslohn, wiederhole ich, sind <strong>Ein</strong>kommen. Grundbesitzer, Kapitalisten und Arbeiter wollen davon<br />
leben, d.h. ihre unmittelbaren menschlichen Bedürfnisse damit befriedigen. <strong>Die</strong> Güter, die im <strong>Ein</strong>kommen<br />
bezogen werden, müssen also dazu brauchbar sein."(5) Krasser ist die Verfälschung der kapitalistischen<br />
Wirtschaft in eine nur für die Zwecke der direkten Konsumtion bestimmte Produktion nirgends formuliert<br />
worden, und darin hat Rodbertus unzweifelhaft die Palme der " Priorität" - nicht sowohl vor Marx wie vor<br />
allen Vulgärökonomen. Um ja keinen Zweifel über diese seine Konfusion bei dem Leser zu lassen, stellt<br />
er in demselben Briefe etwas weiter den kapitalistischen Mehrwert als ökonomische Kategorie direkt mit<br />
dem <strong>Ein</strong>kommen <strong>des</strong> antiken Sklavenhalters in eine Reihe: "Mit dem ersten Zustand (der Sklaverei - R.<br />
L.) ist die einfachste Naturalwirtschaft verbunden; es wird der Teil <strong>des</strong> Arbeitsprodukts, der dem<br />
<strong>Ein</strong>kommen der Arbeiter oder Sklaven entzogen ist und das Eigentum <strong>des</strong> Herrn oder Besitzers ausmacht,<br />
ungeteilt als eine Rente dem einen Grund-, Kapital-, Arbeiter- und Arbeitsproduktbesitzer zufallen; es<br />
werden selbst nicht dem Begriffe nach Grundrente und Kapitalgewinn zu unterscheiden sein. - Mit dem<br />
zweiten Zustande ist die komplizierteste Geldwirtschaft gegeben; es wird der Teil <strong>des</strong> Arbeitsprodukts,<br />
der dem <strong>Ein</strong>kommen jetzt der freien Arbeiter entzogen ist und auf den Grund- und Kapitalbesitz fällt, sich<br />
zwischen den Besitzern <strong>des</strong> Rohprodukts uni den Besitzern <strong>des</strong> Fabrikationsprodukts weiter teilen;<br />
es wird endlich die eine Rente <strong>des</strong> früheren Zustan<strong>des</strong> in Grundrente und Kapitalgewinn<br />
auseinanderfallen und zu scheiden sein."(6) Den hervorstechendsten ökonomischen Unterschied zwischen<br />
der Ausbeutung unter der Herrschaft der Sklaverei und der modernen kapitalistischen Ausbeutung<br />
erblickt Rodbertus - in der Spaltung <strong>des</strong> "dem <strong>Ein</strong>kommen" der Arbeiter "entzogenen" Mehrwerts in<br />
Grundrente und Kapitalgewinn. Nicht die spezifische historische Form der Teilung <strong>des</strong> Mehrwerts<br />
zwischen Arbeit und Kapital, sondern die für den Produktionsprozeß gleichgültige Teilung <strong>des</strong> Mehrwerts<br />
unter seine verschiedenen Nutznießer ist die entscheidende Tatsache der kapitalistischen<br />
Produktionsweise! Sonst bleibt der kapitalistische Mehrwert als Ganzes dasselbe, was "die eine Rente"<br />
<strong>des</strong> Sklavenhalters war: ein privater Konsumtionsfonds <strong>des</strong> Ausbeuters!<br />
Freilich widerspricht sich Rodbertus auch wieder an anderen Stellen und erinnert sich an das konstante<br />
Kapital sowie die Notwendigkeit seiner Erneuerung im Reproduktionsprozeß. Er nimmt also statt der<br />
Zweiteilung <strong>des</strong> Gesamtprodukts in v + m die Dreiteilung in c + v + m an. In seinem "Dritten [socialen]<br />
Brief" führt er über die Reproduktionsformen der Sklavenwirtschaft aus: "Weil der Herr darauf halten<br />
wird, daß ein Teil der Sklavenarbeit darauf verwandt werde, die Felder, Herden und Werkzeuge in der<br />
Landwirtschaft und Fabrikation in gleichem Zustande zu erhalten oder auch zu verbessern, so wird das,<br />
was heute 'Kapitalersatz' genannt wird, sich so vollziehen, daß ein Teil <strong>des</strong> nationalen Produkts der<br />
Wirtschaft immer gleich unmittelbar und ohne Dazwischenkunft <strong>des</strong> Tausches und selbst <strong>des</strong> Tauschwerts<br />
zur Instandhaltung <strong>des</strong> Vermögens verwandt wird."(7) Und zur kapitalistischen Reproduktion<br />
übergehend: "Es wird also jetzt ein Wertteil <strong>des</strong> Arbeitsprodukts zur Instandhaltung <strong>des</strong> Vermögens oder<br />
als 'Kapitalersatz' verwandt oder berechnet; es wird ein Wertteil <strong>des</strong> Arbeitsprodukts in dem Geldlohn der<br />
Arbeiter zum Unterhalt derselben verwandt, und es bleibt endlich ein Wertteil <strong>des</strong>selben in den Händen<br />
der Grund-, Kapital- und Arbeitsproduktbesitzer als deren <strong>Ein</strong>kommen oder als Rente zurück."(8)<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 17. Kapitel<br />
Hier haben wir ausdrücklich die Dreiteilung in konstantes Kapital, variables Kapital und Mehrwert, und<br />
ebenso formuliert er nochmals ausdrücklich in diesem "Dritten [socialen] Brief als Eigentümlichkeit<br />
seiner "neuen" Theorie. "Nachdem also diese Theorie, bei hinreichender Produktivität der Arbeit,<br />
denjenigen Teil <strong>des</strong> Produktwerts, der vom Kapitalersatz zum <strong>Ein</strong>kommen übrigbleibt, infolge <strong>des</strong> Grund-<br />
und Kapitaleigentums unter Arbeiter und Besitzer als Lohn und Rente hat sich teilen lassen" usw.(9)<br />
Rodbertus hat hier anscheinend einen entschiedenen Schritt in der Wertanalyse <strong>des</strong> Gesamtprodukts über<br />
die klassische Schule hinaus gemacht, ja, er kritisiert etwas weiter direkt das "Dogma" von Smith, und es<br />
bleibt nur, sich zu wundern, daß die gelehrten Bewunderer Rodbertus', die Herren Wagner, <strong>Die</strong>tzel, <strong>Die</strong>hl<br />
u. Co., verabsäumt haben, die " Priorität" ihres Lieblings vor Marx in einem so wichtigen Punkte der<br />
ökonomischen Theorie mir Beschlag zu belegen. - In Wirklichkeit sieht es mit der Priorität hier genauso<br />
windig aus wie in der Werttheorie überhaupt. Auch dort, wo Rodbertus anscheinend zu einer richtigen<br />
<strong>Ein</strong>sicht gelangt, stellt sich dies im nächsten Augenblick als ein Mißverständnis oder min<strong>des</strong>tens eine<br />
Schiefheit heraus. Wie wenig Rodbertus tatsächlich mit der Dreiteilung <strong>des</strong> Nationalprodukts anzufangen<br />
wußte, zu der er sich vorwärtsgetastet hatte, beweist gerade am besten seine Kritik an dem Smithschen<br />
Dogma, die wörtlich so lautet: "Sie wissen, daß alle Nationalökonomen schon seit Ad. Smith den Wert<br />
<strong>des</strong> Produkts in Arbeitslohn, Grundrente und Kapitalgewinn zerfallen lassen und daß also die Idee, das<br />
<strong>Ein</strong>kommen der verschiedenen Klassen und namentlich auch die Rententeile auf eine Teilung <strong>des</strong><br />
Produkts zu gründen, nicht neu ist. Allein sofort geraten die Nationalökonomen auf Abwege. Alle - selbst<br />
nicht mit Ausnahme der Ricardoschen Schule - begehen zuvörderst den Fehler, nicht das ganze Produkt,<br />
das vollendete Gut, das ganze Nationalprodukt als <strong>Ein</strong>heit aufzufassen, an der Arbeiter, Grundbesitzer<br />
und Kapitalisten partizipieren, sondern die Teilung <strong>des</strong> Rohprodukts als eine besondere Teilung, an der<br />
drei Teilnehmer, und die Teilung <strong>des</strong> Fabrikationsprodukts wieder als eine besondere Teilung<br />
aufzufassen, an der nur zwei Teilnehmer partizipieren. So sehen diese Systeme schon das bloße<br />
Rohprodukt und das bloße Fabrikationsprodukt je<strong>des</strong> für sich als ein besonderes <strong>Ein</strong>kommensgut an. - Sie<br />
begehen dann zweitens - hier in<strong>des</strong>sen mit Ausnahme Ricardos und auch Smith' - den Fehler, daß sie die<br />
natürliche Tatsache, daß die Arbeit ohne Mitwirkung der Materie, also ohne den Boden, kein Gut<br />
produzieren kann, für eine wirtschaftliche und die gesellschaftliche Tatsache, daß in Teilung der Arbeit<br />
das Kapital im heutigen Sinne dazu gebraucht wird, für eine ursprüngliche halten. So fingieren sie ein<br />
wirtschaftliches Grundverhältnis, auf welches sie, bei dem geteilten Besitz <strong>des</strong> Bodens, <strong>des</strong><br />
<strong>Kapitals</strong> und der Arbeit in der Gesellschaft, auch die Anteile dieser verschiedenen Besitzer in der Weise<br />
zurückführen, daß die Grundrente aus der Mitwirkung <strong>des</strong> Bodens, den der Grundbesitzer zur Produktion<br />
hergebe, der Kapitalgewinn aus der Mitwirkung <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, das der Kapitalist dazu verwende, und der<br />
Lohn endlich aus der Mitwirkung der Arbeit entspringe. <strong>Die</strong> Saysche Schule, welche diesen Irrtum am<br />
feinsten ausgesponnen hat, schafft sich sogar den Begriff eines dem Produktanteil jener verschiedenen<br />
Besitzer entsprechenden Produktivdienstes <strong>des</strong> Bodens, <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong> und der Arbeit, um aus solchem<br />
Produktivdienst wieder den Produktanteil zu erklären. - Hieran schließt sich endlich drittens sogar die<br />
Ungereimtheit, daß, während doch Arbeitslohn und Rententeile aus dem Werte <strong>des</strong> Produkts abgeleitet<br />
werden, doch wieder der Wert <strong>des</strong> Produkts aus Arbeitslohn und Rententeilen abgeleitet und so<br />
wechselseitig das eine auf das andere basiert wird. Bei manchen tritt diese Ungereimtheit so zutage, daß<br />
in zwei unmittelbar aufeinanderfolgenden Kapiteln 'Der <strong>Ein</strong>fluß der Renten auf die Produktionspreise'<br />
und 'Der <strong>Ein</strong>fluß der Produktionspreise auf die Renten' zu setzen gesucht wird."(10)<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 17. Kapitel<br />
Bei diesen ausgezeichneten kritischen Bemerkungen, deren letzte namentlich fein ist und in gewissem<br />
Sinne die betreffende Kritik im zweiten Bande <strong>des</strong> Marxschen "<strong>Kapitals</strong>" vorwegnimmt, akzeptiert<br />
Rodbertus ruhig den Hauptschnitzer der klassischen Schule und ihrer vulgären Nachtreter: die völlige<br />
Vernachlässigung <strong>des</strong> Wertteils <strong>des</strong> Gesamtprodukts, der zum Ersatz <strong>des</strong> konstanten <strong>Kapitals</strong> der<br />
Gesellschaft notwendig ist. <strong>Die</strong>se Konfusion war es denn auch, die ihm erleichterte, sich in seinen<br />
wunderlichen Kampf gegen die "fallende Lohnquote" zu verbeißen.<br />
Der Wert <strong>des</strong> gesellschaftlichen Gesamtprodukts zerfällt unter kapitalistischen Produktionsformen in drei<br />
Teile, von denen der eine dem Wert <strong>des</strong> konstanten <strong>Kapitals</strong>, der andere der Lohnsumme, d.h. dem<br />
variablen Kapital und der dritte dem Gesamtmehrwert der Kapitalistenklasse entspricht. Nun wird<br />
innerhalb dieser Wertzusammensetzung der dem variablen Kapital entsprechende Wertteil relativ immer<br />
geringer, und das aus zwei Gründen. Erstens verschiebt sich innerhalb c + v + m das Verhältnis von c zu<br />
(v + m), d.h. <strong>des</strong> konstanten <strong>Kapitals</strong> zum Neuwert, in der Richtung, daß c relativ immer größer, (v + m)<br />
immer kleiner wird. <strong>Die</strong>s ist ein einfacher Ausdruck der steigenden Produktivität der menschlichen<br />
Arbeit, der absolute Geltung hat für alle ökonomisch fortschreitenden Gesellschaften, unabhängig von<br />
ihren historischen Formen, und der nur bedeutet, daß die lebendige Arbeit imstande wird, immer<br />
mehr Produktionsmittel in immer kürzerer Zeit zu Gebrauchsgegenständen zu verarbeiten. Da (v + m) im<br />
Verhältnis zum Gesamtwert <strong>des</strong> Produkts sinkt, so sinkt damit auch v als Wertteil <strong>des</strong> Gesamtprodukts.<br />
Sich dagegen sträuben, diesem Sinken <strong>Ein</strong>halt tun wollen heißt mit anderen Worten, sich dem Fortschritt<br />
der Produktivität der Arbeit in seinen allgemeinen Wirkungen widersetzen. Sodann tritt auch innerhalb (v<br />
+ m) eine Verschiebung ein in der Richtung, daß v relativ immer kleiner, m relativ immer größer wird,<br />
d.h. daß von dem geschaffenen Neuwert ein immer kleinerer Teil auf Löhne entfällt, ein immer größerer<br />
als Mehrwert angeeignet wird. <strong>Die</strong>s ist der spezifisch kapitalistische Ausdruck der fortschreitenden<br />
Produktivität der Arbeit, der aber innerhalb der kapitalistischen Bedingungen der Produktion ebenso<br />
absolute Geltung hat wie jenes erste Gesetz. Durch staatliche Mittel nun verbieten wollen, daß v immer<br />
geringer im Verhältnis zu m wird, heißt verbieten wollen, daß sich die fortschreitende Produktivität der<br />
Arbeit, die die Herstellungskosten aller Waren verringert, auch auf die grundlegende Ware Arbeitskraft<br />
beziehe, heißt diese eine Ware von den ökonomischen Wirkungen der technischen Fortschritte<br />
ausnehmen wollen. Aber noch mehr: <strong>Die</strong> "fallende Lohnquote" ist nur ein anderer Ausdruck für steigende<br />
Mehrwertrate, die das stärkste und wirksamste Mittel darstellt, den Fall der Profitrate aufzuhalten, und<br />
<strong>des</strong>halb das treibende Motiv der kapitalistischen Produktion überhaupt wie namentlich <strong>des</strong> technischen<br />
Fortschritts innerhalb dieser Produktion darstellt. <strong>Die</strong> "fallende Lohnquote" auf dem Wege der<br />
Gesetzgebung beseitigen heißt also soviel, wie das Existenzmotiv der kapitalistischen Wirtschaft<br />
ausschalten, ihr Lebensprinzip unterbinden wollen. Man stelle sich aber die Sache konkret vor. Der<br />
einzelne Kapitalist wie die kapitalistische Gesellschaft im ganzen kennt ja überhaupt den Wert der<br />
Produkte als eine Summe gesellschaftlich notwendiger Arbeit nicht und ist gar nicht imstande, ihn so zu<br />
fassen. Der Kapitalist kennt ihn nur in der abgeleiteten und durch die Konkurrenz auf den Kopf gestellten<br />
Form der Produktionskosten. Während der Wert <strong>des</strong> Produkts in die Wertteile c + v + m zerfällt, setzen<br />
sich die Produktionskosten im Bewußtsein <strong>des</strong> Kapitalisten umgekehrt aus c + v + m zusammen Und<br />
zwar stellen sich ihm auch diese in der verschobenen und abgeleiteten Form dar 1. als Verschleiß seines<br />
fixen <strong>Kapitals</strong>, 2. als seine Auslagen an zirkulierendem Kapital einschließlich der Auslagen für Löhne der<br />
Arbeiter, 3. als die "übliche", d.h. durchschnittliche Profitrate auf sein gesamtes Kapital. Wie soll nun der<br />
Kapitalist, sagen wir, durch ein Gesetz im Rodbertusschen Sinne gezwun- gen, eine "feste<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 17. Kapitel<br />
Lohnquote" gegenüber dem gesamten Produktwert einhalten? Der <strong>Ein</strong>fall ist genauso geistreich, wie<br />
wenn man durch Gesetz fixieren wollte, bei der Herstellung aller Waren dürfe der Rohstoff nie mehr oder<br />
weniger als ein Drittel <strong>des</strong> Gesamtpreises der Waren ausmachen. Es ist klar, daß die Hauptidee<br />
Rodbertus', auf die er stolz war und baute wie auf eine neue archimedische Entdeckung und mit der er die<br />
kapitalistische Produktion radikal kurieren wollte, von allen Standpunkten der kapitalistischen<br />
Produktionsweise ein barer, blühender Unsinn ist, zu dem man aber auch nur aus jener Konfusion über<br />
die Werttheorie heraus gelangen konnte, die bei Rodbertus in dem unvergleichlichen Satze kulminiert,<br />
"das Produkt müsse jetzt (in der kapitalistischen Gesellschaft - R. L.) so Tauschwert haben, wie es in der<br />
antiken Wirtschaft Gebrauchswert haben mußte".(11) In der antiken Gesellschaft mußten Brot und<br />
Fleisch gegessen werden, damit man von ihnen leben konnte, jetzt aber wird man schon satt, wenn man<br />
den Preis von Fleisch und Brot weiß! Was jedoch am deutlichsten aus der fixen Idee der "fixen<br />
Lohnquote" bei Rodbertus herausschaut, ist seine völlige Unfähigkeit, die kapitalistische <strong>Akkumulation</strong><br />
zu begreifen.<br />
Man hat schon aus den früheren Zitaten entnehmen können, daß er, im <strong>Ein</strong>klang mit der verkehrten<br />
Vorstellung, der Zweck der kapitalistischen Produktion sei die Herstellung von Konsumgegenständen zur<br />
Befriedigung "menschlicher Bedürfnisse", ausschließlich die einfache Reproduktion im Auge hat. Spricht<br />
er doch immer nur vom "Ersatz <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>" und von der Notwendigkeit, die Kapitalisten zu befähigen,<br />
"ihre Betriebe in dem bisherigen Umfange" fortzusetzen. Seine Hauptidee wendet sich aber direkt gegen<br />
die <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>. <strong>Die</strong> Mehrwertrate fixieren, ihr Wachstum verhindern heißt die<br />
<strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong> lahmlegen. In der Tat war für Sismondi wie für v. Kirchmann die Frage <strong>des</strong><br />
Gleichgewichts zwischen Produktion und Konsumtion eine Frage der <strong>Akkumulation</strong>, d.h. der erweiterten<br />
kapitalistischen Reproduktion. Beide leiteten die Störungen in dem Gleichgewicht der Reproduktion von<br />
der <strong>Akkumulation</strong> her, deren Möglichkeit beide verneinten. Nur daß der eine als Mittel dagegen die<br />
Dämpfung der Produktivkräfte überhaupt, während der andere ihre steigende Verwendung in der<br />
Luxusproduktion, das restlose Verzehren <strong>des</strong> Mehrwerts empfahl. Rodbertus geht auch hier seine eigenen<br />
Wege. Während jene mit mehr oder weniger Erfolg die Erscheinung der kapitalistischen <strong>Akkumulation</strong><br />
zu fassen suchten, kämpft Rodbertus gegen den Begriff.<br />
"<strong>Die</strong> Nationalökonomen haben seit A. Smith einander nachgesprochen und es als allgemeine und<br />
absolute Wahrheit aufgestellt, daß das Kapital nur durch Sparen und Ansammeln entstehe."(12) Gegen<br />
diese "Verirrung" zieht nun Rodbertus wohlgerüstet zu Felde, und er weist auf 60 Druckseiten haarklein<br />
nach, daß Kapital nicht durch Sparen, sondern durch Arbeit entsteht, daß der "Irrtum" der<br />
Nationalökonomen in bezug auf das "Sparen" daher rühre, weil sie die irrtümliche Auffassung hätten, die<br />
Produktivität hafte dem Kapital an, dieser Irrtum endlich von einem anderen Irrtum: daß Kapital - Kapital<br />
sei.<br />
v. Kirchmann seinerseits verstand sehr gut, was hinter dem kapitalistischen "Sparen" steckt. Er führt ganz<br />
hübsch aus: "Kapitalansammlung besteht bekanntlich nicht in dem bloßen Anhäufen von Vorräten oder in<br />
dem Sammeln von Metall- und Geldvorräten, die dann in den Kellern <strong>des</strong> Eigentümers ungenützt<br />
liegenbleiben, sondern wer sparen will, tut es, um selbst oder durch andere seine ersparte Summe als<br />
Kapital wieder nutzbar anzuwenden, um davon Revenuen zu ziehen. <strong>Die</strong>se Revenuen sind nur möglich,<br />
wenn diese Kapitale zu neuen Unternehmungen verwendet werden, die durch ihre Produkte imstande<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 17. Kapitel<br />
sind, jene verlangten Zinsen abzuwerfen. Der eine baut ein Schiff, der andere baut eine Scheune, der<br />
dritte kultiviert damit eine öde Heide, der vierte läßt sich eine neue Spinnmaschine kommen, der fünfte<br />
kauft mehr Leder und nimmt mehr Gesellen an, um seine Schuhmacherprofession zu erweitern usw. Erst<br />
in dieser Anwendung kann das gesparte Kapital Zinsen (soll heißen: Profit - R. L.) tragen, was der<br />
Endzweck alles Sparens ist."(13) Was v. Kirchmann hier mit unbeholfenen Worten, aber im ganzen<br />
richtig schildert, ist nichts anderes als der Prozeß der Kapitalisierung <strong>des</strong> Mehrwerts, der kapitalistischen<br />
<strong>Akkumulation</strong>, die ja den ganzen Sinn <strong>des</strong> von der klassischen Ökonomie "seit A. Smith" mit richtigem<br />
Instinkt befürworteten "Sparens" ausmacht. v. Kirchmann ist denn von seinem Standpunkt ganz<br />
konsequent, wenn er, da nach seiner Auffassung - wie bei Sismondi - die Krisen sich direkt aus der<br />
<strong>Akkumulation</strong> ergeben, gegen die <strong>Akkumulation</strong>, gegen das "Sparen" zu Felde zieht. Rodbertus ist auch<br />
hier der "gründlichere" Mann. Er hat zu seinem Unglück aus der Ricardoschen Werttheorie die <strong>Ein</strong>sicht<br />
gewonnen, daß Arbeit die einzige Quelle <strong>des</strong> Werts, also auch <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong> ist. Und diese elementare<br />
Weisheit genügt ihm vollständig, um ihn für alle komplizierten Verhältnisse der Kapitalproduktion und<br />
der Kapitalbewegungen völlig blind zu machen. Da Kapital durch Arbeit entsteht, so ist <br />
Kapitalakkumulation, d.h. "Sparen", Kapitalisierung <strong>des</strong> Mehrwertes - bloßer Humbug.<br />
Um diesen verworrenen Knäuel von Irrtümern "der Nationalökonomen seit A. Smith" zu entwirren,<br />
nimmt er sich, wie sich von selbst versteht, einen "isolierten Wert" vor und weist in einer langen<br />
Vivisektion an dem unglücklichen Wurm alles nach, was er braucht. So findet er hier schon das "Kapital",<br />
d.h. natürlich den berühmten "ersten Stock", womit die Nationalökonomie "seit A. Smith" die Früchte<br />
ihrer Kapitaltheorie vom Baume der Erkenntnis schlägt. Entsteht der Stock etwa aus "Sparen"? fragt<br />
Rodbertus. Und da jeder normale Mensch versteht, daß aus "Sparen" kein Stock entstehen kann, sondern<br />
daß sich Robinson den Stock aus Holz verfertigen muß, so ist auch schon bewiesen, daß die "Spartheorie"<br />
ganz falsch sei. Weiter: Der "isolierte Wert" schlägt sich mit dem Stock eine Frucht vom Baume, diese<br />
Frucht ist sein "<strong>Ein</strong>kommen". "Wenn Kapital die Quelle von <strong>Ein</strong>kommen wäre, so müßte sich dies<br />
Verhältnis schon an diesem ursprünglichen und einfachsten Vorgange nachweisen lassen. Aber kann man,<br />
ohne den Dingen und Begriffen Gewalt anzutun, den Stecken die Quelle <strong>des</strong> <strong>Ein</strong>kommens oder eines<br />
Teils <strong>des</strong> <strong>Ein</strong>kommens nennen, das in der herabgeschlagenen Frucht besteht, dieses <strong>Ein</strong>kommen ganz<br />
oder zum Teil auf den Stecken als seine Ursache zurückführen. ganz oder zum Teil als Produkt <strong>des</strong><br />
Steckens betrachten?"(14) Sicher nicht. Und da die Frucht das Produkt nicht "<strong>des</strong> Steckens", womit sie<br />
abgeschlagen, sondern <strong>des</strong> Baumes, auf dem sie gewachsen, so hat Rodbertus auch schon bewiesen, daß<br />
alle Nationalökonomen "seit A. Smith" sich gründlich irrten, wenn sie behaupteten. das <strong>Ein</strong>kommen rühre<br />
vom Kapital her. Nachdem so an der "Wirtschaft" Robinsons alle Grundbegriffe der Nationalökonomie<br />
klargelegt sind, überträgt Rodbertus die so gewonnene Erkenntnis zuerst auf eine fingierte Gesellschaft<br />
"ohne Kapital- und Grundeigentum", d.h. mit kommunistischem Besitz, sodann auf die Gesellschaft "mit<br />
Kapital- und Grundeigentum", d.h. auf die heutige Gesellschaft - und siehe da: Alle Gesetze der<br />
Robinsonwirtschaft bewähren sich Punkt für Punkt auch in diesen beiden Gesellschaftsformen. Hier stellt<br />
Rodbertus eine Theorie vom Kapital und <strong>Ein</strong>kommen auf, die seiner utopischen Phantasie die Krone<br />
aufsetzt. Da er entdeckt hat, daß bei Robinson "das Kapital" schlicht und einfach die Produktionsmittel<br />
sind, so identifiziert er auch in der kapitalistischen Wirtschaft Kapital mit Produktionsmitteln, und hat er<br />
so das Kapital mit einer Handbewegung auf konstantes Kapital reduziert, so protestiert er im Namen der<br />
Gerechtigkeit und der Moral dagegen, daß die Existenzmittel der Arbeiter, ihre Löhne, auch als<br />
Kapital betrachtet werden. Gegen den Begriff <strong>des</strong> variablen <strong>Kapitals</strong> kämpft er hitzig, denn dieser Begriff<br />
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sei an allem Unheil schuld! "Möchten doch die Nationalökonomen", fleht er, "mir hier Aufmerksamkeit<br />
schenken und unbefangen prüfen, ob sie oder ich recht haben! Hier liegt der Knotenpunkt aller Irrtümer<br />
<strong>des</strong> herrschenden Systems über das Kapital, hier der letzte Grund der theoretischen wie praktischen<br />
Ungerechtigkeit gegen die arbeitenden Klassen."(15) <strong>Die</strong> "Gerechtigkeit" fordert nämlich, daß man die<br />
"realen Lohngüter" der Arbeiter nicht zum Kapital, sondern zur Kategorie <strong>Ein</strong>kommen rechne. Rodbertus<br />
weiß zwar sehr wohl, daß für den Kapitalisten die von ihm "vorgestreckten" Löhne ein Teil seines<br />
<strong>Kapitals</strong> sind, ganz so wie der andere in toten Produktionsmitteln vorgestreckte Teil. Allein das bezieht<br />
sich nach Rodbertus nur auf das <strong>Ein</strong>zelkapital. Sobald er das gesellschaftliche Gesamtprodukt und die<br />
Gesamtreproduktion ins Auge faßt, erklärt er die kapitalistischen Kategorien der Produktion für ein<br />
Trugbild, eine boshafte Lüge und eine "Ungerechtigkeit". "Etwas ganz anderes als das Kapital an sich, die<br />
Kapitalgegenstände, das Kapital vom Standpunkt der Nation, ist das Privatkapital, das Kapitalvermögen,<br />
das Kapitaleigentum, das, was gewöhnlich heute unter 'Kapital' verstanden wird."(16) <strong>Die</strong><br />
<strong>Ein</strong>zelkapitalisten produzieren kapitalistisch, die Gesamtgesellschaft aber genauso wie Robinson, d.h. als<br />
ein Gesamteigentümer, kommunistisch: "Daß jetzt das gesamte Nationalprodukt auf allen verschiedenen<br />
Produktionsstufen zu größeren oder kleineren Teilen einzelnen Privatpersonen, die zu den eigentlichen<br />
Produzenten gar nicht zu rechnen sind, zu eigen gehört, daß die eigentlichen Produzenten dies ganze<br />
Nationalprodukt immerfort nur im <strong>Die</strong>nste dieser wenigen Eigentümer herstellen ohne Miteigentümer an<br />
ihrem eigenen Produkt zu sein, macht von diesem allgemeinen und nationalen Standpunkt aus<br />
keinen Unterschied." Freilich ergeben sich daraus gewisse Besonderheiten der Verhältnisse auch für die<br />
Gesellschaft im ganzen, nämlich erstens "der Tausch" als Vermittler und zweitens die ungleiche<br />
Verteilung <strong>des</strong> Produkts. "Allein sowenig alle diese Wirkungen verhindern, daß nach wie vor die<br />
Bewegung der Nationalproduktion und die Gestaltung <strong>des</strong> Nationalprodukts im allgemeinen dieselbe<br />
bleibt (wie unter der Herrschaft <strong>des</strong> Kommunismus), sowenig alterieren sie auch vom nationalen<br />
Standpunkt aus in irgendeiner Beziehung den bisher aufgestellten Gegensatz von Kapital und<br />
<strong>Ein</strong>kommen." Sismondi mühte sich gleich Smith und vielen anderen im Schweiße seines Angesichts ab,<br />
um den Begriff von Kapital und <strong>Ein</strong>kommen aus den Widersprüchen der kapitalistischen Produktion zu<br />
entwirren; Rodbertus macht sich die Sache leichter: er sieht für die Gesellschaft im ganzen von allen<br />
Formbestimmtheiten der kapitalistischen Produktion einfach ab und nennt "Kapital" die Produktionsmittel<br />
und "<strong>Ein</strong>kommen" die Konsumtionsmittel - basta! "Das Grund- und Kapitaleigentum hat nur in bezug auf<br />
die verkehrenden Individuen einen wesentlichen <strong>Ein</strong>fluß. Faßt man also die Nation als eine <strong>Ein</strong>heit auf, so<br />
verschwinden seine Wirkungen auf die Individuen."(17) Man sieht, Rodbertus zeigt, sobald er an das<br />
eigentliche Problem, an das kapitalistische Gesamtprodukt und seine Bewegung, herantritt, die typische<br />
Geringschätzung <strong>des</strong> Utopisten für historische Besonderheiten der Produktion, und auf ihn paßt wie<br />
angegossen die Bemerkung, die Marx über Proudhon macht, daß, sobald er von der Gesellschaft im<br />
ganzen spricht, er so tut, als ob sie aufhörte, kapitalistisch zu sein. Andererseits sieht man am Beispiel<br />
Rodbertus' wieder, wie hilflos die gesamte Nationalökonomie vor Marx in ihren Bemühungen<br />
herumtappte, sachliche Gesichtspunkte <strong>des</strong> Arbeitsprozesses mit Wertstandpunkten der kapitalistischen<br />
Produktion, Bewegungsformen <strong>des</strong> <strong>Ein</strong>zelkapitals mit denen <strong>des</strong> gesellschaftlichen Gesamtkapitals in<br />
<strong>Ein</strong>klang zu bringen. <strong>Die</strong>se Bemühungen pendeln gewöhnlich zwischen zwei Extremen: der vulgären<br />
Auffassung à la Say, MacCulloch, für die überhaupt nur Gesichtspunkte <strong>des</strong> <strong>Ein</strong>zelkapitals existieren, und<br />
der utopischen Auffassung à la Proudhon, Rodbertus, für die nur Standpunkte <strong>des</strong> Arbeitsprozesses<br />
existieren. Da lernt man erst schätzen, welches enorme Licht über die ganze Sache durch das Schema der<br />
einfachen Reproduktion von Marx verbreitet worden ist, wo alle jene Stand- punkte in ihrem<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 17. Kapitel<br />
<strong>Ein</strong>klang wie in ihrem Widerspruch zusammengefaßt und wo der heillose Wirrwarr zahlloser Bände in<br />
zwei Zahlenreihen von verblüffender <strong>Ein</strong>fachheit aufgelöst ist.<br />
Daß bei einer solchen Auffassung von Kapital und <strong>Ein</strong>kommen die kapitalistische Aneignung<br />
unerklärlich wird, versteht sich von selbst. Rodbertus erklärt sie denn auch einfach für "Raub" und<br />
verklagt sie vor dem Forum <strong>des</strong> Eigentumsrechts, <strong>des</strong>sen schnöde Verletzung sie darstelle. "Wenn also ...<br />
diese persönliche Freiheit (der Arbeiter), die rechtlich das Eigentum am Wert <strong>des</strong> Arbeitsprodukts<br />
involviert, infolge <strong>des</strong> vom Grund- und Kapitaleigentum über die Arbeiter geübten Zwanges in der Praxis<br />
wieder zur Entäußerung jenes Eigentumsanspruchs führt - so ist es, als ob eine instinktive Scheu, daß die<br />
Geschichte ihre strengen, unerbittlichen Syllogismen daraus ziehen könne, die Besitzer von dem<br />
Geständnis dieses großen und allgemeinen Unrechts abhielte."(18) "Daher ist endlich diese<br />
(Rodbertussche) Theorie in allen ihren <strong>Ein</strong>zelheiten ein durchgängiger Beweis, daß jene Lobredner der<br />
heutigen Eigentumsverhältnisse, die sich doch wieder nicht entbrechen können, das Eigentum auf die<br />
Arbeit zu gründen, mit ihrem eigenen Prinzip im vollständigsten Widerspruch stehen. Sie beweist, daß die<br />
heutigen Eigentumsverhältnisse gerade auf einer allgemeinen Verletzung dieses Prinzips beruhen und daß<br />
jene großen individuellen Vermögen. die sich heute in der Gesellschaft anhäufen ..., mit jedem<br />
neugeborenen Arbeiter den schon von alters her sich in der Gesellschaft anhäufenden Raub<br />
vergrößern."(19) Und ist der Mehrwert so zum "Raub" erklärt worden, so erscheint die steigende<br />
Mehrwertrate als "ein merkwürdiger Fehler in der heutigen nationalökonomischen Organisation".(20)<br />
Proudhon hat in seinem ersten Pamphlet wenigstens den paradoxen und rohen, aber revolutionär<br />
klingenden Satz Brissots ausgesponnen: Eigentum ist <strong>Die</strong>bstahl. Rodbertus beweist, daß das Kapital ein<br />
<strong>Die</strong>bstahl am Eigentum sei. Man vergleiche damit im ersten Bande <strong>des</strong> Marxschen "<strong>Kapitals</strong>" das Kapitel<br />
über den Umschlag der Eigentumsgesetze in Gesetze der kapitalistischen Aneignung, das ein<br />
Meisterstück historischer Dialektik bietet, und man wird wieder einmal die "Priorität" Rodbertus'<br />
konstatieren können. Jedenfalls hat sich Rodbertus durch seine Deklamationen gegen die kapitalistische<br />
Aneignung vom Standpunkte <strong>des</strong> "Eigentumrecht" das Verständnis für die Entstehung <strong>des</strong> Mehrwerts aus<br />
Kapital ebenso versperrt, wie er sich früher durch seine Deklamationen gegen das "Sparen" das<br />
Verständnis für die Entstehung <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong> aus Mehrwert versperrt hatte. So gehen Rodbertus alle<br />
Voraussetzungen für das Begreifen der kapitalistischen <strong>Akkumulation</strong> ab, und er bringt es fertig, darin<br />
sogar vor v. Kirchmann den kürzeren zu ziehen.<br />
Summa: Rodbertus will unumschränkte Erweiterung der Produktion, aber ohne alles "Sparen", d.h. ohne<br />
kapitalistische <strong>Akkumulation</strong>! Er will unumschränkte Steigerung der Produktivkräfte - aber eine feste<br />
Mehrwertrate durch Staatsgesetz! Mit einem Wort, er zeigt völlige Verständnislosigkeit für die<br />
eigentlichen Grundlagen der kapitalistischen Produktion, die er reformieren will, wie für die wichtigsten<br />
Ergebnisse der klassischen Nationalökonomie, gegen die er kritisch zu Felde zieht.<br />
Deshalb sagt Professor <strong>Die</strong>hl natürlich, Rodbertus habe in der theoretischen Nationalökonomie durch<br />
seine "neue <strong>Ein</strong>kommenstheorie" und durch die Unterscheidung der logischen und historischen<br />
Kategorien <strong>des</strong> Kapital (jenes bewußte "Kapital an sich" im Gegensatz zum <strong>Ein</strong>zelkapital) bahnbrechend<br />
gewirkt. Und <strong>des</strong>halb nennt ihn natürlich Professor Adolph Wagner "den Ricardo <strong>des</strong> ökonomischen<br />
Sozialismus", um so die eigene Unschuld in bezug auf Ricardo, Rodbertus wie den Sozialismus mit einem<br />
Schlage zu dokumentieren. Lexis aber findet gar, daß Rodbertus "seinem britischen Rivalen" an Kraft <strong>des</strong><br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 17. Kapitel<br />
abstrakten Denkens min<strong>des</strong>tens gleichkäme; ihn aber in der "Virtuosität der Aufdeckung <strong>des</strong> tiefsten<br />
Zusammenhanges der Erscheinungen", in der "Lebendigkeit der Phantasie" und vor allem - in seinem<br />
"ethischen Standpunkt gegenüber dem Wirtschaftsleben" weitaus überträfe. Das hingegen, was Rodbertus<br />
wirklich in der theoretischen Ökonomie außer seiner Kritik der Grundrente von Ricardo geleistet hat:<br />
seine stellenweise ganz klare Unterscheidung von Mehrwert und Profit, seine Behandlung <strong>des</strong> Mehrwerts<br />
als Ganzes im bewußten Unterschied von <strong>des</strong>sen Teilerscheinungen, seine teilweise vortreffliche Kritik<br />
<strong>des</strong> Smithschen Dogmas über die Wertzusammensetzung der Waren, seine scharfe Formulierung der<br />
Periodizität der Krisen und die Analyse ihrer Erscheinungsformen - wertvolle Ansätze, um die Analyse<br />
über Smith-Ricardo hinauszuführen, die freilich an der Konfusion in den Grundbegriffen scheitern mußte -<br />
, das alles sind den offiziellen Bewunderern Rodbertus' meistens böhmische Dörfer. Franz Mehring hat<br />
schon auf das merkwürdige Los Rodbertus' hingewiesen, für seine angeblichen nationalökonomischen<br />
Großtaten in den Himmel gehoben, wegen seiner wirklichen politischen Verdienste hingegen von<br />
denselben Leuten "wie ein dumme Junge" behandelt zu werden. In unserem Fall handelt es sich <br />
aber nicht einmal um den Gegensatz seiner ökonomischen und politischen Leistungen: Auf dem Gebiete<br />
der theoretischen Nationalökonomie selbst haben ihm seine Lobhudler ein großes Denkmal auf dem<br />
Sandfelde errichtet, wo er mit dem hoffnungslosen Eifer eines Utopisten grub, während sie zugleich die<br />
paar bescheidenen Beete mit Unkraut haben überwuchern und in Vergessenheit geraten lassen, in denen<br />
er einige fruchtbare Setzlinge hinterlassen hatte.(21)<br />
Im ganzen kann man nicht behaupten, daß das Problem der <strong>Akkumulation</strong> seit der ersten Kontroverse, in<br />
preußisch-pommerscher Behandlung, vorwärtsgekommen wäre. Wenn die ökonomische Harmonielehre<br />
inzwischen von der Höhe Ricardos auf Bastiat-Schulze heruntergekommen war, so hat auch die soziale<br />
Kritik dementsprechend den Abrutsch von Sismondi auf Rodbertus vollzogen. Und wenn die Kritik<br />
Sismondis im Jahre 1819 eine geschichtliche Tat war, so waren die Reformideen Rodbertus' schon<br />
bei ihrem ersten Auftreten, zumal aber in seinen späteren Wiederholungen ein kläglicher Rückschritt.<br />
In der Polemik zwischen Sismondi und Say-Ricardo bewies die eine Seite die Unmöglichkeit der<br />
<strong>Akkumulation</strong> infolge der Krisen und warnte vor der Entfaltung der Produktivkräfte. <strong>Die</strong> andere Seite<br />
bewies die Unmöglichkeit der Krisen und befürwortete die schrankenlose Entfaltung der <strong>Akkumulation</strong>.<br />
Jede war trotz der Verkehrtheit <strong>des</strong> Ausgangspunkts in ihrer Art konsequent. v. Kirchmann und Rodbertus<br />
gehen beide, wie auch nicht anders möglich war, von der Tatsache der Krisen aus. Trotzdem aber jetzt,<br />
nach der geschichtlichen Erfahrung eines halben Jahrhunderts, die Krisen sich gerade durch ihre<br />
Periodizität nur als Bewegungsform der kapitalistischen Reproduktion deutlich erwiesen hatten, wurde<br />
auch hier das Problem der erweiterten Reproduktion <strong>des</strong> Gesamtkapitals, der <strong>Akkumulation</strong>, mit dem<br />
Problem der Krisen völlig identifiziert und dadurch auf das tote Gleis <strong>des</strong> Suchens nach einem Mittel<br />
gegen Krisen geschoben. <strong>Die</strong> eine Seite sieht dabei das Mittel in dem restlosen Verzehren <strong>des</strong> Mehrwerts<br />
durch die Kapitalisten, d.h. im Verzicht auf die <strong>Akkumulation</strong>, die andere - in einer gesetzlichen<br />
Fixierung der Mehrwertrate, d.h. gleichfalls im Verzicht auf die <strong>Akkumulation</strong>. <strong>Die</strong> Spezialschrulle<br />
Rodbertus' beruht hierbei darauf, daß er ohne kapitalistische <strong>Akkumulation</strong> eine schrankenlose<br />
kapitalistische Steigerung der Produktivkräfte und <strong>des</strong> Reichtums erhofft und befürwortet. Zu einer Zeit,<br />
wo der hohe Reifegrad der kapitalistischen Produktion bald ihre grundlegende Analyse durch Marx<br />
ermöglichen sollte, artete der letzte Versuch der bürgerlichen Ökonomie, allein mit dem Problem der<br />
Reproduktion fertig zu werden, in eine abgeschmackte kindische Utopie aus.<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 17. Kapitel<br />
Fußnoten von <strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong><br />
(1) l.c., Bd. III, S. 176.
<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 17. Kapitel<br />
<strong>des</strong> Guts mit den Auslagen <strong>des</strong> Unternehmers oder den Kosten <strong>des</strong> Betriebs." (Zur Erkenntniß,<br />
Neubrandenburg und Friedland 1842, S. 14.)
<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 17. Kapitel<br />
zu Band III ruhig weiter von "Band II" fortwährend reden läßt, wo der "Erste sociale Brief" in Band III,<br />
der zweit und dritte in Band II und der vierte in Band I geraten ist, wo überhaupt die Reihenfolge der<br />
"Socialen Briefe", "Kontroversen", Teile "Zur Beleuchtung [der Socialen Frage]" und Bände,<br />
chronologische und logische Zusammenhänge, Datum der Herausgaben und Datum der Entstehung der<br />
Schriften ein undurchdringlicheres Chaos darstellen als die Schichtungen der Erdrinde nach mehrmaligen<br />
vulkanischen Ausbrüchen und wo - im Jahre 1899 - wohl aus Pietät für Professor Wagner das Datum der<br />
ältesten Schrift Rodbertus' auf 1837 beibehalten worden ist, trotzdem Mehrings Belehrung bereits 1894<br />
erfolgt war! Man vergleiche damit <strong>des</strong> Marxschen Nachlaß in den Ausgaben von Mehring und Kautsky<br />
bei <strong>Die</strong>tz, und man wird sehen, wie sich in scheinbar so äußerlichen Dingen tiefere Zusammenhänge<br />
spiegeln. So wird das wissenschaftliche Erbe der Meister <strong>des</strong> klassenbewußten Proletariats gepflegt und<br />
so wird von <strong>des</strong> offiziellen Gelehrten der Bourgeoisie das Erbe eines Mannes vertrödelt, der nach ihrer<br />
eigenen interessierten Legende ein erstklassiges Genie war! Suum cuique - war der Wahlspruch<br />
Rodbertus'.
<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 18. Kapitel<br />
17. Kapitel | Inhalt | 19. Kapitel<br />
<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - Gesammelte Werke. Herausgegeben vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Band<br />
5. <strong>Berlin</strong>/DDR. 1975. "<strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>", S. 225-231.<br />
1. Korrektur.<br />
Erstellt am 20.10.1998<br />
Dritter Waffengang<br />
Struve - Bulgakow - Tugan-Baranowski<br />
gegen Woronzow - Nikolai-on<br />
Achtzehntes Kapitel<br />
Das Problem in neuer Auflage<br />
In einem ganz anderen historischen Rahmen als die beiden ersten spielte sich die dritte<br />
Kontroverse um die Frage der kapitalistischen <strong>Akkumulation</strong> ab. <strong>Die</strong>smal war die Zeit der Handlung der<br />
Anfang der 80er Jahre bis um die Mitte der 90er und ihr Schauplatz Rußland. <strong>Die</strong> kapitalistische<br />
Entwicklung hatte bereits in Westeuropa ihren Reifegrad erreicht. <strong>Die</strong> einstige rosige Auffassung der<br />
Klassiker Smith-Ricardo mitten in der in Knospen stehenden bürgerlichen Gesellschaft war längst<br />
zerronnen. Auch der interessierte Optimismus der vulgär-manchesterlichen Harmonielehre war unter<br />
dem niederschmetternden <strong>Ein</strong>druck <strong>des</strong> Weltkrachs der 70er Jahre sowie unter den wuchtigen Schlägen<br />
<strong>des</strong> seit den 60er Jahren in allen kapitalistischen Ländern entbrannten heftigen Klassenkampfes<br />
verstummt. Selbst von den sozialreformerisch geflickten Harmonien, die sich namentlich in Deutschland<br />
noch Anfang der 80er Jahre breitgemacht hatten, war sehr bald nur der Katzenjammer geblieben, die<br />
12jährige Prüfungszeit <strong>des</strong> Ausnahmegesetzes gegen die Sozialdemokratie hatte eine grausame<br />
Ernüchterung gebracht, alle Harmonieschleier endgültig zerrissen und die nackte Wirklichkeit der<br />
kapitalistischen Gegensätze in ihrer ganzen Schroffheit enthüllt. Optimismus war seitdem nur noch im<br />
Lager der aufstrebenden Arbeiterklasse und ihrer theoretischen Wortführer möglich. <strong>Ein</strong> Optimismus<br />
freilich nicht in bezug auf das natürliche oder künstlich hergestellte innere Gleichgewicht der<br />
kapitalistischen Wirtschaft und ihre ewige Dauer, sondern in dem Sinne, daß die von ihr mächtig<br />
geförderte Entfaltung der Produktivkräfte gerade durch ihre inneren Widersprüche einen ausgezeichneten<br />
historischen Boden für die fortschrittliche Entwicklung der Gesellschaft zu neuen ökonomischen und<br />
sozialen Formen biete. <strong>Die</strong> negative, herabdrückende Tendenz der ersten Periode <strong>des</strong> Kapitalismus, die<br />
einst Sismondi allein vor den Augen hatte und die noch Rodbertus in den 40er und 50er Jahren sah, war<br />
file:///C|/DOKUME~1/peter1/LOKALE~1/Temp/Rar$DR90.484/lu/lu05/lu05_225.htm (1 of 4) [19.07.2004 21:12:26]
<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 18. Kapitel<br />
jetzt aufgewogen durch die emporhebende Tendenz: das hoffnungsvolle und siegreiche Aufstreben der<br />
Arbeiterklasse in ihrer gewerkschaftlichen und politischen Aktion.<br />
So war das Milieu in Westeuropa beschaffen. Anders sah es freilich um dieselbe Zeit in Rußland<br />
aus. Hier stellen die siebziger und achtziger Jahre in jeder Hinsicht eine Übergangszeit, eine Periode der<br />
inneren Krise mit all ihren Qualen dar. <strong>Die</strong> Großindustrie feierte erst eigentlich ihren <strong>Ein</strong>zug unter der<br />
<strong>Ein</strong>wirkung der hochschutzzöllnerischen Periode. In der nun einsetzenden forcierten Förderung <strong>des</strong><br />
Kapitalismus durch die absolutistische Regierung bildete namentlich die <strong>Ein</strong>führung <strong>des</strong> Goldzolls an der<br />
westlichen Grenze im Jahre 1877 einen Markstein. <strong>Die</strong> "primitive <strong>Akkumulation</strong>" <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong> gedieh in<br />
Rußland unter der Begünstigung allerlei staatlicher Subsidien, Garantien, Prämien und<br />
Staatsbestellungen herrlich und erntete Profite, die im Westen um jene Zeit bereits ins Reich der Fabel<br />
gehörten. <strong>Die</strong> inneren Zustände Rußlands boten dabei ein nichts weniger als anziehen<strong>des</strong> und<br />
hoffnungsvolles Bild dar. Auf dem platten Lande zeitigte der Niedergang und die Zersetzung der<br />
bäuerlichen Wirtschaft unter dem Druck der fiskalischen Auspowerung und der Geldwirtschaft<br />
grauenvolle Zustände, periodische Hungersnöte und periodische Bauernunruhen. Andererseits war das<br />
Fabrikproletariat in den Städten sozial und geistig noch nicht zu einer modernen Arbeiterklasse<br />
konsolidiert. Namentlich in dem größten industriellen Zentralbezirk Moskau-Wladimir, dem wichtigsten<br />
Sitz der russischen Textilindustrie, war es noch zum großen Teil mit der Landwirtschaft verwachsen und<br />
halb bäuerisch. Dementsprechend primitive Formen der Ausbeutung riefen primitive Äußerungen der<br />
Abwehr auf den Plan. Anfangs der 80er Jahre sollten erst die spontanen Fabriktumulte im Moskauer<br />
Bezirk, bei denen Maschinen zertrümmert wurden, den Anstoß zu den ersten Grundlagen einer<br />
Fabrikgesetzgebung im Zarenreiche geben.<br />
Wies so die wirtschaftliche Seite <strong>des</strong> öffentlichen Lebens in Rußland auf jedem Schritt schreiende<br />
Dissonanzen einer Übergangsperiode auf, so entsprach ihr auch eine Krise im geistigen Leben Der<br />
"volkstümlerische", bodenständige russische Sozialismus, der theoretisch auf den Eigentüm- <br />
lichkeiten der russischen Agrarverfassung basierte, war nach dem Fiasko seines äußersten revolutionären<br />
Ausdrucks: der terroristischen Partei der "Narodnaja Wolja", politisch bankrott. Andererseits waren die<br />
ersten Schriften Georg Plechanows, die den marxistischen Gedankengängen in Rußland <strong>Ein</strong>gang<br />
verschaffen sollten, erst 1883 und 1885 erschienen und etwa für ein Jahrzehnt noch von scheinbar<br />
geringem <strong>Ein</strong>fluß geblieben. Während der 80er Jahre und bis in die 90er Jahre hinein war das geistige<br />
Leben der russischen Intelligenz, namentlich der oppositionell gesinnten, sozialistischen Intelligenz, von<br />
einem seltsamen Gemisch "bodenständiger" Überbleibsel der Volkstümelei mit aufgegriffenen<br />
Elementen der Marxschen Theorie beherrscht, ein Gemisch, <strong>des</strong>sen hervorstechenden Zug die Skepsis in<br />
bezug auf die Entwicklungsmöglichkeiten <strong>des</strong> Kapitalismus in Rußland bildete.<br />
<strong>Die</strong> Frage, ob Rußland die kapitalistische Entwicklung nach dem Beispiel <strong>des</strong> westlichen Europa<br />
durchmachen soll, beschäftigte sehr früh die russische Intelligenz. <strong>Die</strong>se sah auch in Westeuropa vorerst<br />
nur die Schattenseiten <strong>des</strong> Kapitalismus, seine zersetzende Wirkung auf die hergebrachten<br />
patriarchalischen Produktionsformen und auf den Wohlstand und die Sicherheit der Existenz breiter<br />
Volksmassen. Andererseits erschien das russische bäuerliche Gemeineigentum an Grund und Boden, die<br />
berühmte "Obschtschina", als ein möglicher Ausgangspunkt für eine höhere soziale Entwicklung in<br />
Rußland, das unter Umgehung <strong>des</strong> kapitalistischen Stadiums mit seinen Leiden auf einem kürzeren und<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 18. Kapitel<br />
weniger qualvollen Wege als die westeuropäischen Länder in das gelobte Land <strong>des</strong> Sozialismus gelangen<br />
würde. Sollte man nun diese glückliche Ausnahmelage, diese einzigartige geschichtliche Gelegenheit<br />
verscherzen, indem man durch eine forcierte Verpflanzung der kapitalistischen Produktion nach Rußland<br />
unter staatlicher Beihilfe die bäuerlichen Besitz- und Produktionsformen vernichtete, der<br />
Proletarisierung, dem Elend und der Unsicherheit der Existenz der arbeitenden Massen Tür und Tor<br />
öffnete?<br />
<strong>Die</strong>ses Grundproblem beherrschte das geistige Leben der russischen Intelligenz seit der Bauernreform, ja<br />
schon früher, seit Herzen und nament- lich seit Tschernyschewski, es bildete die Zentralachse, um<br />
die sich eine ganze eigenartige Weltanschauung, die "volkstümlerische", geformt hatte. <strong>Die</strong>se<br />
Geistesrichtung, die in verschiedenen Abarten und Tendenzen spielte - von den deutlich reaktionären<br />
Lehren <strong>des</strong> Slavophilismus bis zur revolutionären Theorie der terroristischen Partei -, hat in Rußland eine<br />
enorme Literatur geschaffen. <strong>Ein</strong>erseits förderte sie ein reiches Material in <strong>Ein</strong>zeluntersuchungen über<br />
die Wirtschaftsformen <strong>des</strong> russischen Lebens zutage, namentlich über die "Volksproduktion" und ihre<br />
eigentümlichen Formen, über die Landwirtschaft der Bauerngemeinde, die bäuerliche Hausindustrie, den<br />
"Artel", sowie auch über das geistige Leben <strong>des</strong> Bauerntums, das Sektenwesen und dergleichen.<br />
Andererseits kam eine eigenartige Belletristik als künstlerischer Reflex der widerspruchsvollen sozialen<br />
Verhältnisse auf, in denen Altes mit Neuem rang und auf Schritt und Tritt mit schwierigen Problemen<br />
auf den Geist einstürmte. Endlich entsproß derselben Wurzel in den 70er und 80er Jahren eine originelle<br />
hausbackene Geschichtsphilosophie, die "subjektive Methode in der Soziologie" die den "kritischen<br />
Gedanken" zum ausschlaggebenden Faktor der gesellschaftlichen Entwicklung oder genauer: die<br />
deklassierte Intelligenz zum Träger <strong>des</strong> historischen Fortschritts machen wollte und die in Peter Lawrow,<br />
Nikolai Michailowski, Professor Karejew, W. Woronzow ihre Wortführer fand.<br />
Von diesem ganzen umfangreichen und weitverzweigten Gebiete der "volkstümlerischen" Literatur<br />
interessiert uns hier lediglich eine Seite: der Meinungskampf um die Aussichten der kapitalistischen<br />
Entwicklung in Rußland, und auch dieser nur insofern, als er sich auf allgemeine Erwägungen über die<br />
gesellschaftlichen Bedingungen der kapitalistischen Produktionsweise stützte. Denn auch diese<br />
Erwägungen sollten in der russischen Streitliteratur der 80er und 90er Jahre eine große Rolle spielen.<br />
Um den russischen Kapitalismus und seine Aussichten handelte es sich zunächst, die daraus entstandene<br />
Debatte griff jedoch naturgemäß auf die allgemeinen Probleme der Entwicklung <strong>des</strong> Kapitalismus über,<br />
wobei das Beispiel und die Erfahrungen <strong>des</strong> Westens die hervorragendste Rolle als Beweismaterial<br />
spielten.<br />
Für den theoretischen Inhalt der nun folgenden Diskussion war eine Tatsache von entscheidender<br />
Bedeutung: Nicht bloß war die Marxsche Analyse der kapitalistischen Produktion, wie sie im ersten<br />
Band <strong>des</strong> "<strong>Kapitals</strong>" niedergelegt ist, bereits Gemeingut <strong>des</strong> gebildeten Rußlands, sondern auch der<br />
zweite Band mit der Analyse der Reproduktion <strong>des</strong> Gesamtkapitals war schon 1885 erschienen. Das gab<br />
der Diskussion ein wesentlich anderes Gepräge. Das Problem der Krisen verstellte nun nicht mehr wie in<br />
den früheren Fällen den eigentlichen Kern der Erörterungen. Zum erstenmal war die Frage der<br />
Reproduktion <strong>des</strong> Gesamtkapitals, der <strong>Akkumulation</strong>, in reiner Gestalt in den Mittelpunkt der<br />
Auseinandersetzung gerückt. Auch verlor sich die Analyse nicht mehr im hilflosen Herumtappen um die<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 18. Kapitel<br />
Begriffe <strong>Ein</strong>kommen und Kapital, <strong>Ein</strong>zelkapital und Gesamtkapital. Man stand nunmehr auf dem festen<br />
Gerüst <strong>des</strong> Marxschen Schemas der gesellschaftlichen Reproduktion. Und endlich handelt es sich<br />
diesmal überhaupt nicht mehr um eine Auseinandersetzung zwischen Manchestertum und Sozialreform,<br />
sondern zwischen zwei Spielarten <strong>des</strong> Sozialismus. <strong>Die</strong> Skepsis in bezug auf die Möglichkeit der<br />
kapitalistischen Entwicklung wird im Geiste Sismondis und zum Teil Rodbertus' von der<br />
kleinbürgerlichen "volkstümlerisch"-konfusen Spielart <strong>des</strong> russischen Sozialismus vertreten, die sich<br />
aber selbst vielfach auf Marx beruft, der Optimismus - von der marxistischen Schule in Rußland. Es war<br />
somit ein völliger Wechsel der Szenerie eingetreten.<br />
Von den zwei Hauptwortführern der "volkstümlerischen" Richtung war der eine, Woronzow, bekannt in<br />
Rußland hauptsächlich unter seinem schriftstellerischen Pseudonym "W. W" (seinen Initialen), ein<br />
wunderlicher Heiliger, der in der Nationalökonomie völlig konfus und als Theoretiker überhaupt nicht<br />
ernst zu nehmen war. Der andere dagegen, Nikolai-on (Danielson), ein Mann von umfassender Bildung<br />
und gründlicher Kenner <strong>des</strong> Marxismus, Herausgeber der russischen Übersetzung <strong>des</strong> ersten Ban<strong>des</strong> <strong>des</strong><br />
"<strong>Kapitals</strong>", persönlicher Freund von Marx und Engels, mit beiden in einem regen Briefwechsel (der 1908<br />
in russischer Sprache im Druck erschienen ist). Namentlich Woronzow hatte jedoch in den 80er Jahren<br />
einen großen <strong>Ein</strong>fluß auf die öffentliche Meinung der russischen Intelligenz ausgeübt, und gegen ihn<br />
mußte der Marxismus in Rußland in erster Linie den Kampf ausfechten. In der uns interessierenden<br />
Frage der allgemeinen Entwicklungsmöglichkeiten <strong>des</strong> Kapitalismus erstand den beiden genannten<br />
Vertretern der Skepsis in den 90er Jahren eine ganze Reihe von Widersachern, eine neue Generation<br />
russischer Marxisten, die, ausgerüstet mit der historischen Erfahrung und dem Wissen Westeuropas,<br />
neben Georg Plechanow in die Schranken traten: Professor Kablukow, Professor Manuilow,<br />
Professor Issajew, Professor Skworzow, Wlad. Iljin, Peter v. Struve, Bulgakow, Professor Tugan-<br />
Baranowski u.a. Wir werden uns im weiteren hauptsächlich auf die drei letzten beschränken, da jeder von<br />
ihnen eine mehr oder minder abgeschlossene Kritik jener Theorie auf dem uns hier angebenden Gebiete<br />
geliefert hat. <strong>Die</strong>ses zum Teil glänzende Turnier, das in den 90er Jahren die sozialistische Intelligenz in<br />
Rußland in Atem hielt und mit einem unbestrittenen Triumph der Marxschen Schule schloß, hat offiziell<br />
den <strong>Ein</strong>zug <strong>des</strong> Marxismus als historisch-ökonomischer Theorie in die Wissenschaft Rußlands<br />
inauguriert. Der "legale" Marxismus nahm damals vom Katheder, von den Revuen und vom<br />
ökonomischen Büchermarkt Rußlands öffentlich Besitz - mit allen Schattenseiten dieser Lage. Von jener<br />
Plejade der marxistischen Optimisten ist zehn Jahre später, als die Entwicklungsmöglichkeiten <strong>des</strong><br />
russischen Kapitalismus ihre optimistische Kehrseite in der revolutionären Erhebung <strong>des</strong> Proletariats<br />
straßenkundig machten - mit einer Ausnahme -, kein einziger im Lager <strong>des</strong> Proletariats zu finden<br />
gewesen.<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 19. Kapitel<br />
18. Kapitel | Inhalt | 20. Kapitel<br />
<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - Gesammelte Werke. Herausgegeben vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Band<br />
5. <strong>Berlin</strong>/DDR. 1975. "<strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>", S. 231-238.<br />
1. Korrektur.<br />
Erstellt am 20.10.1998<br />
Neunzehntes Kapitel<br />
Herr Woronzow und sein "Überschuß"<br />
Was die Vertreter der "volkstümlerischen" Theorie in Rußland auf das Problem der<br />
kapitalistischen Reproduktion führte, war ihre Überzeugung von der Aussichtslosigkeit <strong>des</strong> Kapitalismus<br />
in Rußland, und zwar infolge <strong>des</strong> Mangels an Absatzmärkten. W. Woronzow hatte seine Theorie in<br />
dieser Hinsicht in der Revue "Vaterländische Memoiren" und in anderen Revuen in einer Reihe von<br />
Artikeln niedergelegt, die 1882 zu einem Buch gesammelt unter dem Titel "Schicksale <strong>des</strong> Kapitalismus<br />
in Rußland" erschienen, sodann in einem Aufsatz im Maiheft derselben Revue 1883 unter dem Titel "Der<br />
Überschuß bei der Versorgung <strong>des</strong> Marktes mit Waren", im Septemberheft der Revue "Russischer<br />
Gedanke" 1889 in einem Aufsatz über "Militarismus und Kapitalismus", in dem Buche "Unsere<br />
Richtungen" 1893, endlich 1895 in Buchform unter dem Titel "Umrisse der theoretischen<br />
Nationalökonomie". <strong>Die</strong> Stellung Woronzows zur kapitalistischen Entwicklung in Rußland ist nicht ganz<br />
leicht zu fassen. Er steht weder auf seiten der rein slavophilen Theorie, die aus den "Eigen- <br />
tümlichkeiten" der ökonomischen Struktur Rußlands und seines besonderen "Volksgeistes" die<br />
Verkehrtheit und Verderblichkeit <strong>des</strong> Kapitalismus für Rußland ableitete, noch auf seiten der Marxisten,<br />
die in der kapitalistischen Entwicklung eine unvermeidliche historische Etappe erblickten, welche auch<br />
für die russische Gesellschaft den einzig gangbaren Weg <strong>des</strong> sozialen Fortschritts eröffnen könne.<br />
Woronzow seinerseits behauptete, der Kapitalismus sei in Rußland einfach unmöglich, er habe keine<br />
Wurzeln und keine Zukunft. Es sei gleichermaßen verkehrt, ihn zu verwünschen oder ihn<br />
herbeizuwünschen, denn es fehlen in Rußland die Lebensbedingungen selbst für eine kapitalistische<br />
Entwicklung, so daß alle die mit schweren Opfern verbundenen Anstrengungen, von Staats wegen den<br />
Kapitalismus in Rußland großzuziehen, verlorene Liebesmüh wären. Sieht man jedoch näher zu, dann<br />
schränkt Woronzow diese von ihm aufgestellte Behauptung sehr wesentlich wieder ein. Hat man nicht<br />
die Anhäufung <strong>des</strong> kapitalistischen Reichtums, sondern die kapitalistische Proletarisierung der kleinen<br />
Produzenten, die Unsicherheit der Existenz der Arbeiter, die periodischen Krisen im Auge, so stellt<br />
Woronzow alle diese Erscheinungen für Rußland durchaus nicht in Abrede. Im Gegenteil, er sagt<br />
ausdrücklich in der Vorrede zu seinen "Schicksalen <strong>des</strong> Kapitalismus in Rußland": "Indem ich die<br />
Möglichkeit der Herrschaft <strong>des</strong> Kapitalismus in Rußland als einer Produktionsform bestreite, will ich<br />
nichts über seine Zukunft als Ausbeutungsform und -grad der Volkskräfte aussagen." Woronzow meint<br />
also, der Kapitalismus könne in Rußland bloß nicht jenen Reifegrad erlangen wie im Westen, hingegen<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 19. Kapitel<br />
der Prozeß der Trennung der unmittelbaren Produzenten von den Produktionsmitteln sei in den<br />
russischen Verhältnissen wohl zu gewärtigen. Ja, Woronzow geht noch weiter. Er bestreitet gar nicht die<br />
Möglichkeit der Entwicklung kapitalistischer Produktionsformen in gewissen Zweigen der russischen<br />
Industrie, selbst der kapitalistischen Ausfuhr aus Rußland nach den auswärtigen Märkten. Sagt er doch in<br />
seinem Aufsatz "Der Überschuß bei der Versorgung <strong>des</strong> Marktes": "<strong>Die</strong> kapitalistische Produktion<br />
entwickelt sich in einigen Zweigen der Industrie sehr rasch (versteht sich: im russischen Sinne <strong>des</strong><br />
Wortes)."(1) "Es ist sehr wahrscheinlich, daß Rußland, wie andere Länder, gewisse natürliche Vorteile<br />
hat, infolge deren es als Lieferant gewisser Arten Waren auf auswärtigen Märkten auftreten kann; es ist<br />
sehr möglich, daß sich das Kapital dies zunutze machen und die entsprechenden Produktionszweige in<br />
seine Hände ergreifen wird ..., d.h., die nationale Arbeitsteilung wird es unserem Kapitalismus<br />
erleichtern, in ge- wissen Zweigen Fuß zu fassen. Es handelt sich aber für uns nicht darum. Wir<br />
reden nicht von der zufälligen Teilnahme <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong> an der industriellen Organisation <strong>des</strong> Lan<strong>des</strong>,<br />
sondern wir fragen, ob es wahrscheinlich sei, daß die gesamte Produktion Rußlands auf kapitalistische<br />
Basis gestellt werden könnte."(2)<br />
In dieser Form bekommt die Skepsis <strong>des</strong> Herrn Woronzow offenbar ein ziemlich anderes Gesicht, als<br />
man zuerst annehmen mochte. Er hegt Zweifel darüber, ob sich die kapitalistische Produktionsweise je<br />
der gesamten Produktion in Rußland wird bemächtigen können. <strong>Die</strong>ses Kunststück hat sie aber bis jetzt<br />
noch in keinem Lande der Welt, nicht einmal in England ganz fertiggebracht. <strong>Ein</strong>e derartige Skepsis in<br />
bezug auf die Zukunft <strong>des</strong> russischen Kapitalismus dürfte also vorerst ganz international gefaßt werden<br />
Und in der Tat läuft hier die Theorie Woronzows auf ganz allgemeine Erwägungen über die Natur und<br />
die Lebensbedingungen <strong>des</strong> Kapitalismus hinaus, sie stützt sich auf allgemeine theoretische Ansichten<br />
über den Reproduktionsprozeß <strong>des</strong> gesellschaftlichen Gesamtkapitals. Woronzow formuliert in folgender<br />
deutlicher Weise den besonderen Zusammenhang der kapitalistischen Produktionsweise mit der Frage<br />
der Absatzmärkte: "<strong>Die</strong> nationale Arbeitsteilung, die Verteilung aller Industriezweige unter den am<br />
Welthandel beteiligten Ländern hat mit dem Kapitalismus gar nichts zu tun. Der Absatzmarkt, der sich<br />
auf diese Weise bildet, die Nachfrage nach den Produkten verschiedener Länder, die sich aus einer<br />
solchen Arbeitsteilung zwischen den Völkern ergibt, hat ihrem Charakter nach nichts gemein mit dem<br />
Absatzmarkt, den die kapitalistische Produktionsweise benötigt ... <strong>Die</strong> Produkte der kapitalistischen<br />
Industrie kommen auf den Markt zu einem anderen Zwecke: Sie berühren nicht die Frage, ob alle<br />
Bedürfnisse <strong>des</strong> Lan<strong>des</strong> befriedigt sind; sie brauchen nicht unbedingt dem Unternehmer anstatt ihrer<br />
selbst ein anderes materielles Produkt zu liefern, das der Konsumtion dient. Ihr Hauptzweck ist: den in<br />
ihnen verborgenen Warenwert zu realisieren. Was ist das aber für ein Mehrwert, der den Kapitalisten um<br />
seiner selbst willen interessiert? Von dem Standpunkt, von dem aus wir die Frage betrachten, ist der<br />
erwähnte Mehrwert - der Überschuß der Produktion über die Konsumtion im Innern <strong>des</strong> Lan<strong>des</strong>. Jeder<br />
Arbeiter produziert mehr, als er selbst konsumiert, und alle diese Überschüsse sammeln sich in wenigen<br />
Händen; die Besitzer dieser Überschüsse verzehren sie selbst, zu welchem Zwecke sie sie innerhalb <strong>des</strong><br />
Lan<strong>des</strong> sowie im Auslande gegen verschiedenste Lebensmittel und Gegenstände <strong>des</strong> Luxus austauschen;<br />
doch soviel sie auch essen, trinken und tanzen mögen - den ganzen Mehrwert zu verjubeln,<br />
bringen sie doch nicht fertig; es verbleibt noch ein bedeutender Rest, den sie nicht gegen ein anderes<br />
Produkt austauschen, sondern ganz einfach loswerden, zu Geld machen müssen, sonst wird er sowieso<br />
umkommen. Da niemand im Lande da ist, an den sie diesen Rest loswerden könnten, so muß er ins<br />
Ausland ausgeführt werden - und da haben wir die Ursache, weshalb Länder, die sich kapitalisieren, ohne<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 19. Kapitel<br />
auswärtige Absatzmärkte nicht auskommen können."(3)<br />
<strong>Die</strong> Leser haben in dem obigen Zitat, das wir wörtlich mit allen Eigentümlichkeiten der Woronzowschen<br />
Ausdrucksweise übersetzt haben, eine Stichprobe, die ihnen eine Ahnung von dem geistvollen russischen<br />
Theoretiker gehen kann, bei <strong>des</strong>sen Lektüre man die köstlichsten Augenblicke verlebt.<br />
<strong>Die</strong>selben Ansichten hat Woronzow später in seinem Buche "Umrisse der theoretischen<br />
Nationalökonomie" 1895 zusammengefaßt, und hier wollen wir ihn hören. W. polemisiert gegen die<br />
Ansichten Say-Ricardos, namentlich auch gegen J. St. Mill, die die Möglichkeit einer allgemeinen<br />
Überproduktion bestritten. Dabei entdeckt er, was keiner vor ihm wußte: Er hat die Quelle aller<br />
Verirrungen der klassischen Schule in bezug auf die Krisen ausfindig gemacht. <strong>Die</strong>se Quelle liege in der<br />
irrtümlichen Theorie der Produktionskosten, der die bürgerliche Ökonomie fröne. Vom Standpunkte der<br />
Produktionskosten (die W. ohne Profit annimmt, was gleichfalls keiner vor ihm fertiggebracht hat) sei<br />
allerdings sowohl der Profit wie Krisen undenkbar und unerklärlich. Doch dieser originelle Denker will<br />
in seinen eigenen Worten genossen sein: "Nach der Lehre der bürgerlichen Nationalökonomie wird der<br />
Wert <strong>des</strong> Produkts durch die Arbeit bestimmt, die zu seiner Herstellung aufgewendet wurde. Nachdem<br />
sie aber diese Wertbestimmung gegeben hat, vergißt sie sie sofort, und bei den folgenden Erklärungen<br />
der Tauscherscheinungen stützt sie sich auf eine andere Theorie, in der die Arbeit durch<br />
Produktionskosten ersetzt ist. So werden zwei Produkte gegeneinander in solchen Quantitäten<br />
ausgetauscht, daß auf beiden Seiten gleiche Produktionskosten vorhanden sind. Bei einer solchen<br />
Auffassung <strong>des</strong> Austausches ist für einen Überschuß an Waren im Lande tatsächlich kein Platz.<br />
Irgendein Produkt der Jahresarbeit eines Arbeiters erscheint von diesem Standpunkt als Vertreter eines<br />
gewissen Quantums Stoff, aus dem es verfertigt ist, Werkzeuge, die dabei abgenutzt sind, und der<br />
Produkte, die zur Erhaltung <strong>des</strong> Arbeiters während der Produktionsperiode dienten. Bei seiner<br />
Erscheinung auf dem Markte hat es (wohl "das Produkt"! - R. L.) den Zweck, seine<br />
Gebrauchsform zu ändern, sich wieder in den Stoff zu verwandeln, in Produkte für den Arbeiter und in<br />
den Wert, der zur Erneuerung der Werkzeuge nötig ist, und nach diesem Prozeß seiner Zerstückelung in<br />
Bestandteile wird der Prozeß ihrer Wiedervereinigung, der Produktionsprozeß einsetzen, während<strong>des</strong>sen<br />
alle aufgezählten Werte verzehrt werden, dafür aber ein neues Produkt entstehen wird, das ein Bindeglied<br />
zwischen der vergangenen Konsumtion und der künftigen darstellt." Aus diesem ganz eigenartigen<br />
Versuch, die gesellschaftliche Reproduktion als einen fortlaufenden Prozeß vom Standpunkte der<br />
Theorie der Produktionskosten darzustellen, folgt plötzlich, wie aus der Pistole geschossen, der folgende<br />
Schluß: "Wenn wir somit die Gesamtmasse der Produkte eines Lan<strong>des</strong> betrachten, so werden wir gar<br />
keine überflüssige Ware vorfinden, die den Bedarf der Gesellschaft übersteigen würde; der unabsetzbare<br />
Überschuß ist daher vom Standpunkte der Werttheorie der bürgerlichen Nationalökonomie unmöglich."<br />
Nachdem Woronzow so durch eine höchst souveräne Mißhandlung der "bürgerlichen Werttheorie" aus<br />
den Produktionskosten den Kapitalprofit ausgeschaltet hat, macht er nun diese seine Unterlassung im<br />
nächsten Moment zu einer großartigen Entdeckung: "Aber die angeführte Analyse deckt noch einen<br />
anderen Zug in der bis vor kurzem herrschenden Werttheorie auf: Es stellt sich heraus, daß auf dem<br />
Boden dieser Theorie für den Kapitalprofit kein Platz da ist." Hier folgt eine in ihrer Kürze und<br />
<strong>Ein</strong>fachheit verblüffende Beweisführung: "In der Tat, wenn mein Produkt, <strong>des</strong>sen Produktionskosten mit<br />
5 Rubeln ausgedrückt sind, gegen ein anderes Produkt von gleichem Wert ausgetauscht wird, so wird das<br />
von mir Erhaltene nur ausreichen, um meine Auslagen zu decken, für meine Enthaltung aber (wörtlich so<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 19. Kapitel<br />
- R. L.) werde ich nichts kriegen." Und jetzt hat Woronzow das Problem an der Wurzel gepackt:<br />
"So stellt sich heraus, daß auf dem Boden einer streng logischen Entwicklung der Ideen der bürgerlichen<br />
Nationalökonomie das Schicksal <strong>des</strong> Überschusses von Waren auf dem Markte und das Schicksal <strong>des</strong><br />
kapitalistischen Profits dasselbe ist. <strong>Die</strong>ser Umstand berechtigt uns zu dem Schluß, daß sich beide<br />
Phänomene in gegenseitiger Abhängigkeit befinden, daß die Möglichkeit <strong>des</strong> einen durch das<br />
Vorhandensein <strong>des</strong> anderen bedingt ist. Und in der Tat: Solange es keinen Profit gibt, gibt es auch keinen<br />
Warenüberschuß ... Anders, wenn sich im Lande Profit bildet. <strong>Die</strong>ser steht in keinem organischen<br />
Zusammenhang mit der Produktion, er ist ein Phänomen, das mit der letzteren nicht durch technischnatürliche<br />
Bedingungen verbunden ist, sondern durch ihre äußere, soziale Form. <strong>Die</strong> Pro- duktion<br />
braucht zu ihrer Fortsetzung ... nur Stoff, Werkzeuge, Lebensmittel für die Arbeiter und verzehrt <strong>des</strong>halb<br />
selbst nur den entsprechenden Teil der Produkte; der Überschuß aber, der den Profit bildet und der für<br />
sich in dem ständigen Element <strong>des</strong> industriellen Lebens - in der Produktion - keinen Platz findet, muß für<br />
sich andere Konsumenten suchen, die mit der Produktion nicht organisch verknüpft sind, Konsumenten<br />
bis zu einem gewissen Grad zufälligen Charakters. Er (der Überschuß) kann solche Konsumenten finden,<br />
es ist aber auch möglich, daß er sie nicht findet in dem erforderlichen Maße, in diesem Fall werden wir<br />
einen Warenüberschuß auf dem Markte haben."(4) Höchst zufrieden mit dieser "einfachen" Aufklärung,<br />
bei der er das Mehrprodukt zu einer Erfindung <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong> gemacht hat und den Kapitalisten zu einem<br />
"nicht organisch" mit der kapitalistischen Produktion verknüpften "zufälligen" Konsumenten, entwickelt<br />
Woronzow nunmehr auf Grund der Marxschen "konsequenten" Arbeitswerttheorie, die er nach seiner<br />
Erklärung im weiteren "benutzt" hat, die Krisen direkt aus dem Mehrwert in folgender Weise:<br />
"Wenn das, was in Gestalt <strong>des</strong> Arbeitslohnes in die Produktionskosten eingeht, von dem arbeitenden Teil<br />
der Bevölkerung verzehrt wird, so muß der Mehrwert, ausgenommen den Teil, der für die vom Markt<br />
erforderte Erweiterung der Produktion bestimmt ist, durch die Kapitalisten selbst vernichtet werden<br />
(wörtlich so! - R. L.). Sind sie dazu imstande und tun sie's, dann findet kein Warenüberschuß statt, wenn<br />
nicht - dann stellt sich Überproduktion, Industriekrise ein, Verdrängung der Arbeiter von den Fabriken<br />
und sonstige Übelstände." Wer aber an diesen Übelständen in letzter Linie schuld ist, das ist nach Herrn<br />
Woronzow "die ungenügende Elastizität <strong>des</strong> menschlichen Organismus, der seine Konsumtionsfähigkeit<br />
nicht mit der Rapidität zu erweitern vermag, mit der der Mehrwert wächst". Wiederholt formuliert er<br />
diesen genialen Gedanken in den folgenden Worten: "Somit liegt die Achillesferse der kapitalistischen<br />
Industrieorganisation in der Unfähigkeit der Unternehmer, ihr ganzes <strong>Ein</strong>kommen zu verzehren."<br />
Hier gelangt also Woronzow, nachdem er die Ricardosche Werttheorie in der Marxschen "konsequenten"<br />
Fassung "benutzt" hat, zu der Sismondischen Krisentheorie, die er auch noch in einer möglichst rohen<br />
und simplistischen Form sich zu eigen macht. Während er aber die Auffassung Sismondis wiedergibt,<br />
glaubt er natürlich die von Rodbertus zu akzeptieren. "<strong>Die</strong> induktive Forschungsmethode hat zu<br />
derselben Theorie der Krisen und <strong>des</strong> Pauperismus geführt, die von Rodbertus objektiv aufgestellt wor-<br />
den war"(5), erklärt er triumphierend. Was Woronzow unter der "induktiven Forschungsmethode"<br />
versteht, die er der "objektiven" entgegenstellt, ist freilich nicht ganz klar, doch kann darunter, da bei<br />
Herrn Woronzow alles möglich ist, auch die Marxsche Theorie zu verstehen sein. Aber auch Rodbertus<br />
sollte nicht "unverbessert" aus den Händen <strong>des</strong> originellen russischen Denkers hervorgehen. Zu der<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 19. Kapitel<br />
Rodbertusschen Theorie macht Woronzow nur die Korrektur, daß er aus ihr ausschaltet, was bei<br />
Rodbertus der Zentralpunkt <strong>des</strong> ganzen Systems war: die Fixierung der Lohnquote am Wert <strong>des</strong><br />
Gesamtprodukts. Nach Herrn Woronzow wäre nämlich auch diese Maßregel gegen Krisen ein<br />
Palliativmittel, denn "die unmittelbare Ursache der erwähnten Erscheinungen (Überproduktion,<br />
Arbeitslosigkeit usw.) liegt nicht darin, daß der Anteil der arbeitenden Klassen am Nationaleinkommen<br />
zu klein ist, sondern darin, daß die Kapitalistenklasse nicht imstande ist, je<strong>des</strong> Jahr die Masse Produkte<br />
zu verzehren, die ihr zufällt."(6) Nachdem er aber soeben die Rodbertussche Reform der<br />
<strong>Ein</strong>kommensverteilung abgelehnt hat, landet Woronzow mit der ihm eigenen "streng logischen<br />
Konsequenz" schließlich bei der folgenden Prognose für die künftigen Schicksale <strong>des</strong> Kapitalismus:<br />
"Wenn nach alledem der industriellen Organisation, die in Westeuropa herrscht, noch weiter zu blühen<br />
und zu gedeihen beschieden sein sollte, so nur unter der Bedingung, daß Mittel gefunden werden,<br />
denjenigen Teil <strong>des</strong> Nationaleinkommens zu vernichten (wörtlich so! - R. L.), der die<br />
Konsumtionsfähigkeit der Kapitalistenklasse übersteigt und nichts<strong>des</strong>toweniger in ihre Hände gelangt.<br />
<strong>Die</strong> allereinfachste Lösung dieser Frage wäre eine entsprechende Änderung in der Verteilung <strong>des</strong><br />
Nationaleinkommens unter den Teilnehmern der Produktion. Das kapitalistische Regime wäre für lange<br />
Zeit gesichert, wenn die Unternehmer von jedem Zuwachs <strong>des</strong> Nationaleinkommens für sich nur soviel<br />
behielten, wie sie zur Befriedigung aller ihrer <strong>Ein</strong>fälle und Launen brauchen, den Rest aber der<br />
Arbeiterklasse, d.h. der Masse der Bevölkerung, überließen."(7) So endet das Ragout aus Ricardo, Marx,<br />
Sismondi und Rodbertus mit der Entdeckung, daß die kapitalistische Produktion von der Überproduktion<br />
radikal kuriert wäre und in alle Ewigkeit "blühen und gedeihen" könnte, wenn die Kapitalisten auf die<br />
Kapitalisierung <strong>des</strong> Mehrwerts verzichteten und den entsprechenden Teil <strong>des</strong> Mehrwerts den Arbeitern<br />
zum Geschenk machen würden. Inzwischen, bis die Kapitalisten so vernünftig werden, den guten<br />
Rat <strong>des</strong> Herrn Woronzow anzunehmen, verfallen sie auf andere Mittel, alljährlich einen Teil ihres<br />
Mehrwerts zu "vernichten". Zu diesen probaten Mitteln gehört unter anderm der moderne Militarismus,<br />
und zwar, da Herr Woronzow mit tödlicher Sicherheit alles auf den Kopf zu stellen weiß, gerade in dem<br />
Maße, wie die Kosten <strong>des</strong> Militarismus nicht aus den Mitteln der arbeitenden Volksmasse, sondern aus<br />
dem <strong>Ein</strong>kommen der Kapitalistenklasse bestritten werden. In erster Linie aber besteht das Rettungsmittel<br />
<strong>des</strong> Kapitalismus im auswärtigen Handel. Und das ist wiederum die "Achillesferse" <strong>des</strong> russischen<br />
Kapitalismus. Als letzter an der Tafel <strong>des</strong> Weltmarktes hat er bei der Konkurrenz älterer kapitalistischer<br />
Länder <strong>des</strong> Westens nur das Nachsehen, und so geht dem russischen Kapitalismus zusammen mit der<br />
Aussicht auf auswärtige Märkte auch die wichtigste Bedingung seiner Lebensfähigkeit ab, Rußland<br />
bleibt das "Reich der Bauern" und der "Volksproduktion".<br />
"Wenn das alles richtig ist", schließt W. W. seinen Aufsatz vom "Überschuß bei der Versorgung <strong>des</strong><br />
Marktes mit Waren", "dann ergeben sich daraus auch die Schranken für die Herrschaft <strong>des</strong> Kapitalismus<br />
in Rußland: <strong>Die</strong> Landwirtschaft muß seiner Leitung entzogen werden; aber auch auf dem Gebiete der<br />
Industrie darf seine Entwicklung nicht zu sehr vernichtend auf die Hausindustrie einwirken, die bei<br />
unseren klimatischen Verhältnissen (!) für den Wohlstand eines großen Teils der Bevölkerung<br />
unentbehrlich ist. Wenn der Leser darauf bemerken wird, daß der Kapitalismus sich auf solche<br />
Kompromisse nicht einlassen wird, dann antworten wir: um so schlimmer für ihn." So wäscht Herr<br />
Woronzow zum Schluß seine Hände und lehnt für seine Person jede Verantwortung für die weiteren<br />
Schicksale der wirtschaftlichen Entwicklung in Rußland ab.<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 19. Kapitel<br />
Fußnoten von <strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong><br />
(1) Vaterländische Memoiren, 1883, V, Zeitgenössische Rundschau, S. 4.
<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 20. Kapitel<br />
19. Kapitel | Inhalt | 21. Kapitel<br />
<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - Gesammelte Werke. Herausgegeben vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Band<br />
5. <strong>Berlin</strong>/DDR. 1975. "<strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>", S. 238-245.<br />
1. Korrektur.<br />
Erstellt am 20.10.1998<br />
Zwanzigstes Kapitel<br />
Nikolai-on<br />
Mit anderer ökonomischer Vorbildung und Sachkenntnis geht der zweite Theoretiker der<br />
"volkstümlerischen" Kritik, Nikolai-on, ans Werk. <strong>Ein</strong>er der gründlichsten Kenner der russischen<br />
Wirtschaftsverhältnisse, hatte er schon 1880 durch seine Abhandlung über die Kapitalisierung der<br />
landwirtschaftlichen <strong>Ein</strong>kommen (in der Revue "Slowo") Aufsehen erregt. Dreizehn Jahre später gab er,<br />
angeregt durch die große russische Hungersnot <strong>des</strong> Jahres 1891, ein Buch unter dem Titel<br />
"Abhandlungen über unsere Volkswirtschaft nach der Reform" heraus, in dem er jene erste Unter- <br />
suchung weiterführt und auf Grund eines großangelegten und mit reichem Tatsachen- und<br />
Zahlenmaterial fundierten Bil<strong>des</strong> der Entwicklung <strong>des</strong> Kapitalismus in Rußland nachzuweisen sucht, daß<br />
diese Entwicklung für das russische Volk zur Quelle aller Übel und auch der Hungersnot geworden sei.<br />
Nikolai-on legt seinen Ansichten über die Schicksale <strong>des</strong> Kapitalismus in Rußland eine bestimmte<br />
Theorie der Entwicklungsbedingungen der kapitalistischen Produktion überhaupt zugrunde, und diese<br />
Theorie ist es eben, die für uns von Interesse ist.<br />
Für die kapitalistische Wirtschaftsweise ist der Absatzmarkt von entscheidender Bedeutung. Jede<br />
kapitalistische Nation sucht sich <strong>des</strong>halb einen möglichst großen Absatzmarkt zu sichern. Sie greift dabei<br />
naturgemäß vor allem zu ihrem eigenen inneren Markt. Auf einer gewissen Höhe der Entwicklung kann<br />
sich jedoch eine kapitalistische Nation mit dem inneren Markte nicht mehr begnügen, und zwar aus<br />
folgenden Gründen: Das ganze neue Jahresprodukt der gesellschaftlichen Arbeit kann man in zwei Teile<br />
sondern: in einen Teil, den die Arbeitet in Gestalt ihrer Löhne bekommen, und einen anderen Teil, den<br />
die Kapitalisten sich aneignen. Der erste Teil vermag aus der Zirkulation nur ein Quantum Lebensmittel<br />
zu entziehen, das seinem Werte nach der Summe der im Lande gezahlten Löhne entspricht. <strong>Die</strong><br />
kapitalistische Wirtschaft hat aber die ausgesprochene Tendenz, diesen Teil immer mehr<br />
herabzudrücken. <strong>Die</strong> Methoden, deren sie sich dabei bedient, sind: Verlängerung der Arbeitszeit,<br />
Steigerung der Intensität der Arbeit, Steigerung ihrer Produktivität vermittelst technischer<br />
Vervollkommnungen, die es ermöglichen, an Stelle männlicher Arbeitskräfte weibliche und jugendliche<br />
zu setzen und erwachsene Arbeiter zum Teil ganz aus der Arbeit zu verdrängen. Mögen auch die Löhne<br />
der übrigen beschäftigten Arbeiter steigen, doch kann die Steigerung niemals den Ersparnissen <strong>des</strong><br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 20. Kapitel<br />
Kapitalisten gleichkommen, die durch jene Verschiebungen bedingt werden. Aus alledem ergibt sich,<br />
daß die Rolle der Arbeiterklasse als Käufer auf dem inneren Markte immer mehr verringert wird.<br />
Daneben vollzieht sich noch ein anderer Prozeß: <strong>Die</strong> kapitalistische Produktion bemächtigt sich Schritt<br />
für Schritt der Gewerbe, die bei der landwirtschaftlichen Bevölkerung eine Nebenbeschäftigung waren,<br />
sie entzieht dem Bauerntum auf diese Weise eine Erwerbsquelle nach der anderen, wodurch auch die<br />
Kaufkraft der ländlichen Bevölkerung gegenüber den Erzeugnissen der Industrie immer mehr<br />
zurückgeht, so daß der innere Markt auch von dieser Seite immer mehr zusammenschrumpft. Wenden<br />
wir uns aber an den Anteil der Kapitalistenklasse, so vermag auch dieser nicht das ganze neuerzeugte<br />
Produkt zu realisieren, dies freilich aus umgekehrten Gründen. Wie groß auch die<br />
Konsumtionsbedürfnisse dieser Klasse sein mögen, sie kann doch nicht das ganze jährliche Mehrprodukt<br />
persönlich verzehren, erstens, weil ein Teil davon zur Erweiterung der Produktion, für technische<br />
Verbesserung aufgewendet werden muß, die jedem <strong>Ein</strong>zelunternehmer durch den Konkurrenzkampf als<br />
Existenzbedingung aufgezwungen wird; zweitens, weil mit dem Wachstum der kapitalistischen<br />
Produktion auch jener Zweig wächst, der die Produktion von Produktionsmitteln besorgt, wie Bergbau,<br />
Maschinenindustrie usw., und <strong>des</strong>sen Produkt durch seine Gebrauchsgestalt von vornherein die<br />
persönliche Konsumtion ausschließt und die Funktion als Kapital bedingt; drittens endlich, weil die<br />
größere Produktivität der Arbeit und Kapitalersparnis, die bei der Massenproduktion billiger Waren<br />
erreicht werden kann, immer mehr die gesellschaftliche Produktion gerade auf solche Massenprodukte<br />
richtet, die nicht durch die Handvoll Kapitalisten verbraucht werden können.<br />
Obwohl nun der Mehrwert <strong>des</strong> einen Kapitalisten im Mehrprodukt anderer Kapitalisten realisiert werden<br />
kann und umgekehrt, so bezieht sich das doch nur auf Produkte eines bestimmten Zweiges, nämlich der<br />
Lebensmittelbranche. Aber das Hauptmotiv der kapitalistischen Produktion ist nicht Befriedigung der<br />
persönlichen Konsumtionsbedürfnisse. Das äußert sich auch darin, daß die Produktion von Lebensmitteln<br />
im ganzen immer mehr zurücktritt gegen die Produktion von Produktionsmitteln. "Auf diese Weise sehen<br />
wir, daß, wie das Produkt jeder Fabrik die Bedürfnisse der darin beschäftigten Arbeiter und <strong>des</strong><br />
Unternehmers nach diesem Produkt weitaus übertrifft, ebenso das Gesamtprodukt einer kapitalistischen<br />
Nation weitaus die Bedürfnisse der gesamten beschäftigten Industriebevölkerung übertrifft, und zwar<br />
übertrifft sie sie gerade <strong>des</strong>halb, weil die Nation eine kapitalistische ist, weil ihre gesellschaftliche<br />
Kräfteverteilung nicht auf die Befriedigung der wirklichen Bedürfnisse der Bevölkerung gerichtet ist,<br />
sondern bloß auf die Befriedigung zahlungsfähiger Bedürfnisse. Genauso wie ein <strong>Ein</strong>zelfabrikant also<br />
auch nicht einen Tag existieren kann als Kapitalist, wenn sein Absatzmarkt nur durch die Bedürfnisse<br />
seiner Arbeiter und seine persönlichen Bedürfnisse beschränkt wäre, ebenso vermag sich auch eine<br />
entwickelte kapitalistische Nation nicht mit ihrem eigenen inneren Markt zu begnügen."<br />
So hat die kapitalistische Entwicklung die Tendenz, auf einer gewissen Höhe sich selbst Hindernisse zu<br />
bereiten. <strong>Die</strong>se Hindernisse kommen in letzter Linie daher, daß die fortschreitende Produktivität der<br />
Arbeit angesichts der Trennung der unmittelbaren Produzenten von den Produk- tionsmitteln<br />
nicht der ganzen Gesellschaft, sondern bloß einzelnen Unternehmern zugute kommt, während eine Masse<br />
Arbeitskräfte und Arbeitszeit durch diesen Prozeß "befreit", überflüssig werden und nicht bloß für die<br />
Gesellschaft verlorengehen, sondern ihr sogar zur Last fallen. Wirkliche Bedürfnisse der Volksmasse<br />
können nur in dem Maße besser befriedigt werden, als die "volkstümliche", auf der Vereinigung <strong>des</strong><br />
Produzenten mit den Produktionsmitteln basierende Produktionsweise das Übergewicht bekommt. Der<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 20. Kapitel<br />
Kapitalismus hat aber das Bestreben, sich just dieser Produktionssphären zu bemächtigen und so den<br />
Hauptfaktor seiner eigenen Blüte zu vernichten. Waren doch z.B. die periodischen Hungersnöte in<br />
Indien, die alle zehn oder elf Jahre auftraten, eine der Ursachen der Periodizität der industriellen Krisen<br />
in England. In diesen Widerspruch gerät früher oder später jede Nation, die die Bahn der kapitalistischen<br />
Entwicklung betreten hat, denn er steckt in dieser Produktionsweise selbst. Je später aber eine Nation die<br />
Bahn <strong>des</strong> Kapitalismus betritt, um so schärfer macht sich der Widerspruch geltend, denn sie kann nach<br />
der Sättigung <strong>des</strong> inneren Marktes keinen Ersatz auf dem auswärtigen finden, da dieser schon von älteren<br />
konkurrierenden Ländern mit Beschlag belegt ist.<br />
Aus alledem folgt, daß die Schranken <strong>des</strong> Kapitalismus durch die steigende Armut gegeben sind, die<br />
seine eigene Entwicklung bedingt, durch die wachsende Zahl überzähliger Arbeiter, die gar keine<br />
Kaufkraft besitzen. Der zunehmenden Produktivität der Arbeit, die je<strong>des</strong> zahlungsfähige Bedürfnis der<br />
Gesellschaft außerordentlich rasch befriedigt, entspricht eine zunehmende Unfähigkeit wachsender<br />
Volksmassen, ihre dringendsten Bedürfnisse zu befriedigen, dem Überfluß unabsetzbarer Waren - der<br />
Mangel breiter Massen an dem Notwendigsten.<br />
Das sind die allgemeinen Ansichten Nikolai-ons.(1) Man sieht: Nikolai-on kennt seinen Marx und hat<br />
sich die beiden ersten Bände <strong>des</strong> "<strong>Kapitals</strong>" sehr wohl zunutze kommen lassen. Und doch ist seine ganze<br />
Argumentation echt sismondisch: Der Kapitalismus führt selbst zur Verkürzung <strong>des</strong> inneren Marktes<br />
durch die Verelendung der Massen, alles Unheil in der modernen Gesellschaft kommt von der<br />
Zerstörung der "volkstümlichen" Produktionsweise, d.h. <strong>des</strong> Kleinbetriebes - das sind seine Leitmotive.<br />
Das Lob <strong>des</strong> alleinseligmachenden Kleinbetriebes kommt sogar bei Nikolai-on als der Grundton seiner<br />
ganzen Kritik viel deutlicher und offener bei Sismondi zum Ausdruck.(2) Im Schlußresultat ist die<br />
Realisi- rung <strong>des</strong> kapitalistischen Gesamtprodukts im Innern der Gesellschaft unmöglich, sie kann<br />
nur dank den auswärtigen Märkten gelingen. Hier mündet Nikolai-on, trotz ganz verschiedener<br />
theoretischer Ausgangspunkte, mit Woronzow in den gleichen Schluß, <strong>des</strong>sen Moral, auf Rußland<br />
angewendet, die ökonomische Begründung der Skepsis im Verhältnis zum Kapitalismus bildet. In<br />
Rußland hat die kapitalistische Entwicklung, der auswärtige Märkte von vornherein abgeschnitten sind,<br />
nur Schattenseiten, nur Verelendung der Volksmassen ergeben, und <strong>des</strong>halb war die Förderung <strong>des</strong><br />
Kapitalismus in Rußland ein verhängnisvoller "Fehler".<br />
Hier angelangt, donnert Nikolai-on wie ein alttestamentarischer Prophet: "Anstatt uns an die<br />
jahrhundertealten Überlieferungen zu halten, anstatt das von uns ererbte Prinzip der festen Verbindung<br />
<strong>des</strong> unmittelbaren Produzenten mit den Produktionsmitteln zu entwickeln, anstatt die Errungenschaften<br />
der westeuropäischen Wissenschaft zu benutzen, um sie auf Produktionsformen anzuwenden, die auf<br />
dem Besitz der Produktionsmittel durch die Bauern beruhen, anstatt die Produktivität ihrer Arbeit durch<br />
die Konzentrierung der Produktionsmittel in ihren Händen zu erhöhen, anstatt uns nicht die<br />
westeuropäische Form der Produktion, wohl aber ihre Organisation zunutze kommen zu lassen, ihre<br />
starke Kooperation, ihre Arbeitsteilung, ihre Maschinen usw. usw., anstatt das Prinzip zu entwickeln, das<br />
dem bäuerlichen Grundbesitz zugrunde liegt, und es auf die bäuerliche Bodenbearbeitung anzuwenden,<br />
anstatt dem Bauerntum zu diesem Zwecke den Zutritt zur Wissenschaft und deren Anwendung weit zu<br />
öffnen: anstatt alles <strong>des</strong>sen haben wir den direkt entgegengesetzten Weg eingeschlagen. Wir haben nicht<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 20. Kapitel<br />
bloß die Entwicklung kapitalistischer Produktionsformen nicht verhindert, trotzdem sie auf der<br />
Expropriation <strong>des</strong> Bauerntums basieren, sondern wir haben umgekehrt mit allen Kräften die<br />
Umkrempelung unseres ganzen wirtschaftlichen Lebens gefördert, die zu der Hungersnot <strong>des</strong> Jahres<br />
1891 geführt hat." Das Übel sei bereits weit gediehen, doch sei es noch nicht zu spät zur Umkehr. Im<br />
Gegenteil, eine völlige Reform der ökonomischen Politik sei für Rußland eine ebenso dringende<br />
Notwendigkeit angesichts der drohenden Proletarisierung und <strong>des</strong> drohenden Untergangs wie seinerzeit<br />
die alexandrinischen Reformen nach dem Krimkriege. <strong>Die</strong> soziale Reform, die Nikolai-on empfiehlt, ist<br />
nun völlig utopisch und kehrt um soviel krasser als bei Sismondi die kleinbürgerliche und<br />
reaktionäre Seite der Auffassung heraus, als der russische "Volkstümler" um 70 Jahre später schreibt.<br />
Nach seiner Meinung ist nämlich die einzige Rettungsplanke Rußlands aus der kapitalistischen<br />
Überschwemmung die alte "Obschtschina", die auf Gemeinbesitz an Grund und Boden beruhende<br />
Landgemeinde. Auf diese sollen - durch Maßnahmen freilich, die das Geheimnis Nikolai-ons geblieben<br />
sind - die Resultate der modernen Großindustrie und der modernen wissenschaftlichen Technik<br />
aufgepfropft werden, damit sie als Grundlage einer "vergesellschafteten" höheren Produktionsform<br />
dienen könne. Rußland habe keine Wahl mehr als diese Alternative: entweder Umkehr von der<br />
kapitalistischen Entwicklung oder Untergang und Tod.(3)<br />
Nikolai-on langt also nach einer vernichtenden Kritik <strong>des</strong> Kapitalismus bei demselben alten<br />
Allheilmittel der "Volkstümelei" an, das schon in den fünfziger Jahren, damals freilich mit viel mehr<br />
Recht, als ein "spezifisch russisches" Pfand der höheren sozialen Entwicklung glorifiziert worden ist, das<br />
aber schon 1875 von Engels im "Volksstaat" im Aufsatz "Flüchtlingsliteratur" als ein lebensunfähiges<br />
Überbleibsel uralter <strong>Ein</strong>richtungen in ihrem reaktionären Charakter aufgezeigt wurde. "<strong>Die</strong><br />
Fortentwicklung Rußlands in bürgerlicher Richtung", schrieb Engels damals, "würde das Gemeinde-<br />
Eigentum auch hier nach und nach vernichten, ohne daß die russische Regierung mit 'Bajonetten und<br />
Knute' einzuschreiten braucht (wie sich die revolutionären Volkstümler einbildeten - R. L.) ... unter dem<br />
Druck von Steuern und Wucher ist das Gemeinde-Eigentum an Grund und Boden keine Wohltat mehr, es<br />
wird eine Fessel. <strong>Die</strong> Bauern entlaufen ihm häufig, mit oder ohne Familie, um sich als wandernde<br />
Arbeiter zu ernähren, und lassen ihr Land daheim.<br />
Man sieht, das Gemeinde-Eigentum in Rußland hat seine Blütezeit längst passiert und geht allem<br />
Anscheine nach seiner Auflösung entgegen." Damit hatte Engels bereits 18 Jahre vor Nikolai-ons<br />
Hauptschrift in der Frage der Obschtschina den Nagel auf den Kopf getroffen. Wenn Nikolai-on darauf<br />
nochmals frischen Mutes dasselbe Gespenst der Obschtschina heraufbeschwor, so war das insofern ein<br />
arger historischer Anachronismus, als ungefähr ein Jahrzehnt später bereits das offizielle Begräbnis der<br />
Obschtschina von Staats wegen erfolgte. <strong>Die</strong> absolutistische Regierung, die ein halbes Jahrhundert lang<br />
mit aller Gewalt den Apparat der bäuerlichen Landgemeinde zu fiskalischen Zwecken künstlich<br />
zusammenzuhalten gesucht hatte, sah sich gezwungen, diese Sisyphusarbeit selbst aufzugeben. Bald<br />
zeigte es sich an der Agrarfrage als denn mächtigsten Faktor der russischen Revolution ganz<br />
offenkundig, wie sehr der alte Wahn der "Volkstümler" bei dem tatsächlichen ökonomischen Gang der<br />
Dinge ins Hintertreffen geraten war und wie kräftig umgekehrt die kapitalistische Entwicklung in<br />
Rußland, die sie als eine totgeborene betrauerten und verwünschten, ihre Lebensfähigkeit und ihre<br />
fruchtbare Arbeit unter Blitz und Donner zu offenbaren verstand. <strong>Die</strong>se Wendung der Dinge sollte<br />
wieder und zum letztenmal in ganz verändertem historischem Milieu feststellen, daß eine soziale Kritik<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 20. Kapitel<br />
<strong>des</strong> Kapitalismus, die theoretisch von dem Zweifel an seiner Entwicklungsmöglichkeit ausgeht, mit<br />
fataler Logik auf eine reaktionäre Utopie hinausläuft - so gut 1819 in Frankreich wie 1842 in<br />
Deutschland und 1893 in Rußland.(4)<br />
Fußnoten von <strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong><br />
(1) Vgl. Abhandlungen über unsere Volkswirtschaft, namentlich S. 202-205 u. 338-341.
<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 20. Kapitel<br />
<strong>Die</strong> kapitalistische Produktion als eine vorübergehende ökonomische Phase ist voll innerer<br />
Widersprüche, die sich in dem Maße entfalten und sichtbar werden, in dem sie sich selbst entfaltet. <strong>Die</strong><br />
Tendenz, ihren eigenen Markt zu schaffen und zugleich zu zerstören, ist einer dieser Widersprüche. <strong>Ein</strong><br />
anderer liegt in der , zu der sie führt und die in einem Land ohne auswärtigen Markt, wie Rußland, eher<br />
eintritt als in Ländern, die auf dem freien Weltmarkt mehr oder weniger konkurrenzfähig sind. <strong>Die</strong>se<br />
letztgenannten Länder finden in einer solchen scheinbar ausweglosen Lage eine Lösung in der<br />
Ausdehnung <strong>des</strong> Handels durch gewaltsame Erschließung neuer Märkte. Aber auch da steht man vor<br />
einem cul-de-sac. Nehmen Sie England! Der letzte neue Markt, <strong>des</strong>sen Erschließung dem englischen<br />
Handel eine zeitweilige Wiederbelebung bringen könnte, ist China. Daher besteht das englische Kapital<br />
darauf, die chinesischen Eisenbahnen zu bauen. Aber chinesische Eisenbahnen bedeuten die Zerstörung<br />
der ganzen Basis der chinesischen kleinen Landwirtschaft und Hausindustrie, und da es nicht einmal eine<br />
chinesische grande industrie als Gegengewicht gibt, wird es Hunderten von Millionen Menschen<br />
unmöglich gemacht, ihr Dasein zu fristen. <strong>Die</strong> Folge wird eine Massenauswanderung sein, wir sie die<br />
Welt noch nicht gesehen hat, eine Überflutung Amerikas, Asiens und Europas durch den verhaßten<br />
Chinesen, der dem amerikanischen, australischen und europäischen Arbeiter auf der Grundlage <strong>des</strong><br />
chinesischen Lebensstandards, <strong>des</strong> niedrigsten der Welt, Konkurrenz machen wird - und wenn die<br />
Produktionsweise in Europa bis dahin noch nicht umgewälzt ist, so wird ihre Umwälzung dann<br />
notwendig werden." (Briefe von Karl Marx und Friedrich Engels an Nikolai-on. Übersetzt ins Russische<br />
von G. Lopatin, Petersburg 1908, S. 79.) [Engels an Nikolai Franzewitsch Danielson, 22. September<br />
1892. In: Karl Marx/Friedrich Engels: Werke, Bd. 38, S. 467 u. 469/470.] - Trotzdem Engels an die<br />
Entwicklung der Dinge in Rußland aufmerksam verfolgte und dafür das größte Interesse zeigte, lehnte er<br />
seinerseits geflissentlich jede <strong>Ein</strong>mischung in den russischen Streit ab. Er äußerte sich darüber selbst in<br />
seinem Briefe vom 24. November 1894, also kurz vor seinem Tode, wie folgt:<br />
"Meine russischen Freunde bestürmen mich ununterbrochen mit der Bitte, auf russische Zeitschriften und<br />
Bücher zu antworten, in denen die Worte unseres Autors (so wurde in dem Briefwechsel Marx<br />
bezeichnet - R. L.) nicht nur falsch interpretiert, sondern auch falsch zitiert werden; sie behaupten, mein<br />
<strong>Ein</strong>greifen würde genügen, um alles in Ordnung zu bringen. Ich habe das ständig abgelehnt, weil ich<br />
mich nicht, ohne dringende und wichtige Arbeiten aufzugeben, in Kontroversen hineinzerren lassen<br />
kann, die in einem weit entfernten Land in einer Sprache geführt werden, die ich noch nicht so leicht wie<br />
die bekannteren westeuropäischen Sprachen zu lesen vermag, und in Druckschriften, von denen ich im<br />
besten Falle nur gelegentliche Bruchstücke zu Gesicht bekomme, und daher die Debatte ganz unmöglich<br />
gründlich und in allen ihrer Phasen und <strong>Ein</strong>zelheiten verfolgen kann. Überall trifft man ja Leute, die, um<br />
eine einmal eingenommene Position zu verteidigen, vor keiner Verzerrung und keinem unfairen Manöver<br />
zurückschrecken; und wenn man das mit den Schriften unseres Autors gemacht hat, so befürchte ich, daß<br />
man auch mit mir nicht glimpflicher verfahren und mich so schließlich zwingen würde, in die Debatte<br />
einzugreifen, um andere und mich selbst zu verteidigen." (l.c., S. 90.) [Engels an Nikolai Franzewitseh<br />
Danielson, 24. November 1894. In: Karl Marx/Friedrich Engels: Werke, Bd. 39, S. 328.]
<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 20. Kapitel<br />
W. W. mit Hinweis auf die Krise der Jahre 1900-1902 "<strong>Die</strong> dogmatische Lehre <strong>des</strong> Neomarxismus<br />
verliert rasch ihre Macht über die Geister, und die Wurzellosigkeit <strong>des</strong> neuesten Erfolge <strong>des</strong><br />
Individualismus ist offenbar selbst für seine offiziellen Apologeten klargeworden ... Im ersten<br />
Dezennium <strong>des</strong> 20. Jahrhunderts kehren wir somit zu derselben Auffassung der ökonomischen<br />
Entwicklung Rußlands zurück, die von der Generation der siebziger Jahre <strong>des</strong> vorigen Jahrhunderts ihren<br />
Nachfolgern vermacht worden war." (Siehe die Revue "<strong>Die</strong> Volkswirtschaft" , Oktober 1902. Zit. bei A.<br />
Finn-Jenotajewskij: <strong>Die</strong> gegenwärtige Wirtschaft Rußlands (1890 bis 1910), Petersburg 1911, S. 2.) Statt<br />
auf die "Wurzellosigkeit" der eigenen Theorien, schließen die letzten Mohikaner der Volkstümelei also<br />
heute noch auf die "Wurzellosigkeit" der ökonomischen Wirklichkeit - eine lebendige Widerlegung <strong>des</strong><br />
Barèreschen Wortes: "il n'y a que les morts qui ne reviennent pas."
<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 21. Kapitel<br />
20. Kapitel | Inhalt | 22. Kapitel<br />
<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - Gesammelte Werke. Herausgegeben vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Band<br />
5. <strong>Berlin</strong>/DDR. 1975. "<strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>", S. 246-251.<br />
1. Korrektur.<br />
Erstellt am 20.10.1998<br />
<strong>Ein</strong>undzwanzigstes Kapitel<br />
<strong>Die</strong> "dritten Personen" und die drei Weltreiche Struves<br />
Wir wenden uns nun zu der Kritik der obigen Ansichten, wie sie von den russischen Marxisten<br />
gegeben worden ist.<br />
Peter v. Struve, der 1894 im "Sozialpolitischen Centralblatt" (3. Jahrgang, Nr. 1) unter dem Titel "Zur<br />
Beurtheilung der kapitalistischen Entwickelung Rußlands" eine eingehende Würdigung <strong>des</strong> Buches von<br />
Nikolai-on gegeben hatte, veröffentlichte 1894 in russischer Sprache ein Buch. "Kritische Bemerkungen<br />
zur Frage der ökonomischen Entwicklung Rußlands", worin er die "volkstümlerischen" Theorien einer<br />
vielseitigen Kritik unterzieht. In der uns hier beschäftigenden Frage jedoch beschränkt sich Struve<br />
sowohl in bezug auf Woronzow wie Nikolai-on hauptsächlich auf den Nachweis, daß der Kapitalismus<br />
seinen inneren Markt nicht verringere, sondern umgekehrt erweitere. Der Schnitzer Nikolai-ons, den er<br />
von Sismondi übernommen hat, liegt in der Tat auf der Hand. Beide schilderten nur die eine Seite <strong>des</strong><br />
Prozesses der kapitalistischen Zerstörung althergebrachter Produktionsformen <strong>des</strong> Kleinbetriebes. Sie<br />
sahen nur die sich daraus ergebende Herabdrückung <strong>des</strong> Wohlstands, die Verelendung breiter Schichten<br />
der Bevölkerung. Sie bemerkten nicht, was die andere ökonomische Seite dieses Prozesses bedeutet:<br />
Beseitigung der Naturalwirtschaft und <strong>Ein</strong>zug an ihre Stelle der Warenwirtschaft auf dem Lande. Das<br />
besagt aber, daß der Kapitalismus durch <strong>Ein</strong>beziehung immer neuer Kreise früher selbständiger und<br />
abgeschlossener Produzenten in sein Bereich mit jedem Schritt neue Schichten in Käufer seiner Waren<br />
verwandelt, die es früher nicht waren. Der Gang der kapitalistischen Entwicklung ist also ein gerade<br />
umgekehrter, als ihn die "Volkstümler" nach Sismondis Vorbild schildern: Der Kapitalismus vernichtet<br />
nicht seinen inneren Markt, sondern er schafft sich ihn gerade zunächst durch das Umsichgreifen der<br />
Geldwirtschaft<br />
Was speziell die Theorie Woronzows über die Unrealisierbarkeit <strong>des</strong> Mehrwerts auf dem inneren Markte<br />
betrifft, so wird sie von Struve folgendermaßen widerlegt. <strong>Die</strong> Grundlage der Woronzowschen Theorie<br />
bestehe darin, daß eine entwickelte kapitalistische Gesellschaft sich lediglich aus Unternehmern und<br />
Arbeitern zusammensetze. Nikolai-on operiert gleichfalls die ganze Zeit mit dieser Vorstellung. Von<br />
diesem Standpunkt lasse sich die Realisierung <strong>des</strong> kapitalistischen Gesamtprodukts allerdings nicht<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 21. Kapitel<br />
begreifen. <strong>Die</strong> Theorie Woronzows sei auch insofern richtig, "als sie die Tatsache konstatiert, daß der<br />
Mehrwert weder durch die Konsumtion der Kapitalisten noch durch diejenige der Arbeiter<br />
realisiert werden könne, sondern die Konsumtion dritter Personen voraussetze"(1). Demgegenüber sei<br />
aber festzustellen, daß es solche "dritten Personen" in jeder kapitalistischen Gesellschaft wohl gebe. <strong>Die</strong><br />
Vorstellung Woronzows und Nikolai-ons sei nichts als eine Fiktion, "die uns nicht um Haaresbreite<br />
vorwärtsbringen kann im Verständnis irgendeines historischen Prozesses"(2). Es gibt keine<br />
kapitalistische Gesellschaft, und mag sie noch so hochentwickelt sein, die lediglich aus Unternehmern<br />
und Arbeitern bestände. "Selbst in England mit Wales entfallen von 1.000 erwerbsfähigen <strong>Ein</strong>wohnern<br />
545 auf die Industrie, 172 auf den Handel, 140 auf die Landwirtschaft, 81 auf unbestimmte und<br />
wechselnde Lohnarbeit und 62 auf Staatsdienst, liberale Berufe usw." Also selbst in England gibt es<br />
massenhaft "dritte Personen", und diese sind es eben, die den Mehrwert, sofern er von den Unternehmern<br />
nicht konsumiert wird, durch ihre Konsumtion realisieren helfen. Ob die Konsumtion der "dritten<br />
Personen" zur Realisierung <strong>des</strong> ganzen Mehrwerts ausreicht, das läßt Struve offen, jedenfalls müßte "das<br />
Gegenteil erst noch bewiesen werden"(3). Für Rußland als ein großes Land mit enormer Bevölkerung sei<br />
dies sicher nicht zu beweisen. Rußland sei gerade in der glücklichen Lage, auswärtige Märkte entbehren<br />
zu können, darin - hier macht Struve eine Anleihe aus dem Ideenschatz der Professoren Wagner, Schäffle<br />
und Schmoller - vom gleichen Schicksal begünstigt wie die Vereinigten Staaten von Amerika. "Wenn<br />
das Beispiel der nordamerikanischen Union etwas beweise, dann nur eins, nämlich die Tatsache, daß<br />
unter Umständen die kapitalistische Industrie eine sehr hohe Entwicklung erreichen kann, fast<br />
ausschließlich auf den inneren Markt gestützt."(4) <strong>Die</strong>ser Satz wird illustriert an der Hand der <br />
geringen industriellen Ausfuhr der Vereinigten Staaten im Jahre 1882. Als allgemeine These stellt Struve<br />
den Satz auf: "Je umfangreicher das Territorium und je zahlreicher die Bevölkerung eines Lan<strong>des</strong>, um so<br />
weniger bedarf es auswärtiger Märkte für seine kapitalistische Entwicklung." Von diesem Standpunkt<br />
aus deduziert er für den Kapitalismus in Rußland - gerade umgekehrt wie die "Volkstümler" - eine<br />
glänzendere Zukunft als in anderen Ländern. "<strong>Die</strong> fortschrittliche Entwicklung der Landwirtschaft auf<br />
der Basis der Warenproduktion muß einen Absatzmarkt schaffen, auf den sich der russische<br />
Industriekapitalismus in seiner Entwicklung stützen wird. <strong>Die</strong>ser Absatzmarkt kann in dem Maße, wie<br />
die ökonomische und kulturelle Hebung <strong>des</strong> Lan<strong>des</strong> und Hand in Hand damit die Verdrängung der<br />
Naturalwirtschaft fortschreiten wird, unbestimmt wachsen. In dieser Beziehung befindet sich der<br />
Kapitalismus in Rußland in günstigeren Bedingungen als in anderen Ländern."(5) Und Struve schildert<br />
im einzelnen ein farbenprächtiges Bild der Erschließung neuer Absatzmärkte in Rußland, dank der<br />
Sibirischen Eisenbahn in Sibirien, in Zentralasien, in Vorderasien, in Persien, in den Balkanländern.<br />
Struve hat nicht bemerkt, daß er im Schwung seiner Prophezeiungen von dem "unbestimmt wachsenden"<br />
inneren Markt auf ganz bestimmte auswärtige Absatzmärkte übergegangen ist. Wenige Jahre später stand<br />
er auch politisch im Lager dieses hoffnungsfreudigen russischen Kapitalismus, <strong>des</strong>sen liberales<br />
Programm der imperialistischen Expansion er schon als "Marxist" theoretisch begründet hatte.<br />
Aus der Argumentation Struves spricht in der Tat nur ein starker Optimismus in bezug auf die<br />
unbeschränkte Entwicklungsfähigkeit der kapitalistischen Produktion. Um die ökonomische Begründung<br />
dieses Optimismus hingegen ist es ziemlich schwach bestellt. Struves Hauptpfeiler für die <strong>Akkumulation</strong><br />
<strong>des</strong> Mehrwerts sind die "dritten Personen". Was er darunter versteht, hat er nicht mit genügender<br />
Deutlichkeit verraten, doch zeigen namentlich seine Hinweise auf die englische Berufsstatistik, daß er<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 21. Kapitel<br />
damit die verschiedenen Privat- und Staatsangestellten, liberale Berufe, kurz das berühmte "grand<br />
public" versteht, auf das bürgerliche Vulgärökonomen mit vager Geste hinzuweisen pflegen, wenn sie<br />
nicht ein noch aus wissen, und von dem Marx gesagt hat, daß es dem Ökonomen "den <strong>Die</strong>nst" erweist,<br />
Dinge zu erklären, für die er sonst keine Erklärung hat. Es ist klar, daß, wenn man von der Konsumtion<br />
der Kapitalisten und der Arbeiter im kategorischen Sinne spricht, man dabei nicht die<br />
Unternehmer als <strong>Ein</strong>zelpersonen meint, sondern die Kapitalistenklasse als Ganzes, mitsamt ihrem<br />
Anhang an Angestellten, Staatsbeamten, liberalen Berufen usw. Alle diese "dritten Personen", die gewiß<br />
in keiner kapitalistischen Gesellschaft fehlen, sind ökonomisch meist Mitesser <strong>des</strong> Mehrwerts, insofern<br />
sie sich nicht zum Teil auch als Mitesser <strong>des</strong> Arbeitslohns bewähren. <strong>Die</strong>se Schichten können ihre<br />
Kaufmittel nur entweder vom Arbeitslohn <strong>des</strong> Proletariats oder vom Mehrwert ableiten, und sie tun, so<br />
gut es geht, bei<strong>des</strong>, müssen aber im großen und ganzen als Mitverzehrer <strong>des</strong> Mehrwerts betrachtet<br />
werden. Ihre Konsumtion ist somit in der Konsumtion der Kapitalistenklasse eingeschlossen, und wenn<br />
Struve sie durch eine Hintertür wieder auf die Buhne führt und sie dem Kapitalisten als "dritte Personen"<br />
vorstellt, um ihm aus der Verlegenheit und zur Realisierung <strong>des</strong> Mehrwerts zu verhelfen, so wird der<br />
geriebene Profitmacher mit einem Blick in diesem "großen Publikum" seinen Troß Parasiten erkennen,<br />
die ihm erst Geld aus der Tasche ziehen, um ihm hinterher mit diesem Gelde seine Waren abzukaufen.<br />
Mit den "dritten Personen" Struves ist es also nichts.<br />
Ebenso unhaltbar ist seine Theorie vom auswärtigen Absatz und <strong>des</strong>sen Bedeutung für die kapitalistische<br />
Produktion. Struve folgt hier ganz den "Volkstümlern" in ihrer mechanischen Auffassung, wonach ein<br />
kapitalistisches Land, nach dem Schema eines professoralen Lehrbuches, erst den "inneren Markt"<br />
möglichst gründlich abgrast, um sich dann, wenn dieser völlig oder nahezu erschöpft ist, nach<br />
auswärtigen Märkten umzusehen. Von hier aus gelangt Struve, in den Fußtapfen Wagners, Schäffles und<br />
Schmollers, auch zu der abgeschmackten Vorstellung, ein Land mit "großem Territorium" und recht viel<br />
Volk könne in seiner kapitalistischen Produktion ein "abgeschlossenes Ganzes" bilden und mit dem<br />
inneren Markte allein auf "unbestimmte Zeit" auskommen.(6) Tatsächlich ist die kapitalistische<br />
Produktion von Haus aus eine Weltproduktion, und sie beginnt, gerade umgekehrt wie sie nach dem<br />
pedantischen Rezept der deutschen Kathederweisheit sollte, schon in ihrer Kindheitsphase für den<br />
Weltmarkt zu produzieren. Ihre einzelnen bahnbrechenden Zweige in England, wie die Textilindustrie,<br />
die Eisen- und Kohlenindustrie, suchten sich Absatzmärkte in allen Ländern und Weltteilen, während im<br />
Innern <strong>des</strong> Lan<strong>des</strong> noch der Prozeß der Zerstörung <strong>des</strong> bäuerlichen Besitzes, der Untergang <strong>des</strong><br />
Handwerks und der alten Heimproduktion bei weitem nicht zum Abschluß gebracht waren. Man<br />
versuche auch z.B. der deutschen chemischen Industrie und der deutschen Elektrotechnik mit dem<br />
weisen Rat zu kommen, sie möchten sich, statt, wie tatsächlich, von ihrem Aufkommen für fünf<br />
Weltteile zu arbeiten, erst doch auf den inneren deutschen Markt beschränken, der in so vielen anderen<br />
Zweigen noch von der heimischen Industrie nicht erschöpft ist, sintemalen er massenhaft von auswärts<br />
mit Erzeugnissen versorgt wird. Oder man mache der deutschen Maschinenindustrie klar, sie dürfe sich<br />
noch nicht auf die auswärtigen Märkte werfen, da ja, wie die Statistik der deutschen <strong>Ein</strong>fuhr schwarz auf<br />
weiß beweist, ein großer Teil <strong>des</strong> Bedarfs Deutschlands an Erzeugnissen dieses Zweiges durch<br />
auswärtige Lieferungen gedeckt wird. Vom Standpunkte dieses Schemas <strong>des</strong> "auswärtigen Handels" ist<br />
solchen Zusammenhängen <strong>des</strong> Weltmarkts mit ihren tausendfältigen Verzweigungen und Nuancen der<br />
Arbeitsteilung gar nicht beizukommen. <strong>Die</strong> industrielle Entwicklung der Vereinigten Staaten, die heute<br />
ein gefährlicher Konkurrent Englands auf dem Weltmarkt, ja in England selbst geworden sind, ebenso<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 21. Kapitel<br />
wie sie z.B. auch in der Elektrotechnik die deutsche Konkurrenz auf dem Weltmarkt und in Deutschland<br />
selbst schlagen, hat die Deduktionen Struves, die übrigens schon zur Zeit, als er sie niederschrieb,<br />
antiquiert waren, vollends Lügen gestraft.<br />
Struve akzeptiert auch die rohe Auffassung der russischen Volkstümler, wonach die internationalen<br />
Zusammenhänge der kapitalistischen Weltwirtschaft mit ihrer historischen Tendenz zur Ausbildung eines<br />
lebendigen ein- heitlichen Organismus mit gesellschaftlicher Arbeitsteilung, die auf die ganze<br />
Mannigfaltigkeit <strong>des</strong> Naturreichtums und der Produktionsbedingungen der Erdkugel gestützt ist, in der<br />
Hauptsache auf die ordinäre Sorge <strong>des</strong> Kaufmanns um den "Markt" reduziert werden. <strong>Die</strong> fundamentale<br />
Rolle der unumschränkten Versorgung der kapitalistischen Industrie mit Nahrungsmitteln, mit Roh- und<br />
Hilfsstoffen und Arbeitskräften, die genauso auf den Weltmarkt berechnet ist wie der Absatz der fertigen<br />
Waren, wird bei der Fiktion von den drei sich selbst genügenden Weltreichen Wagners und Schmollers:<br />
England mit Kolonien, Rußland und Vereinigte Staaten, die Struve übernimmt, ganz übersehen oder<br />
künstlich eingeengt. <strong>Die</strong> Geschichte der englischen Baumwollindustrie allein, die in sich die abgekürzte<br />
Geschichte <strong>des</strong> Kapitalismus im ganzen einschließt und deren Schauplatz während <strong>des</strong> ganzen 19.<br />
Jahrhunderts fünf Weltteile waren, ist auf jedem Schritt ein Hohn auf diese professorale<br />
Kinderstubenvorstellung, deren einziger realer Sinn darin liegt, daß sie die gewundene theoretische<br />
Rechtfertigung <strong>des</strong> Schutzzollsystems liefert.<br />
Fußnoten von <strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong><br />
(1) Kritische Bemerkungen, S. 251.
<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 21. Kapitel<br />
Oktober 1893. In: Briefe usw., S. 85.) [Engels an Nikolai Franzewitsch Danielson, 17. Oktober 1893. In<br />
Karl Marx/Friedrich Engels: Werke, Bd. 39, S. 148/149.]
<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 22. Kapitel<br />
21. Kapitel | Inhalt | 23. Kapitel<br />
<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - Gesammelte Werke. Herausgegeben vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Band<br />
5. <strong>Berlin</strong>/DDR. 1975. "<strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>", S. 251-263.<br />
1. Korrektur.<br />
Erstellt am 20.10.1998<br />
Zweiundzwanzigstes Kapitel<br />
Bulgakow und seine Ergänzung der Marxschen Analyse<br />
Der zweite Kritiker der "volkstümlerischen" Skepsis, S. Bulgakow, lehnt sofort die Struveschen<br />
"dritten Personen" als Rettungsanker der kapitalistischen <strong>Akkumulation</strong> rundweg ab. Er hat für sie nur<br />
ein Achselzucken. "<strong>Die</strong> Mehrheit der Ökonomen (bis Marx)" sagt er, "löste die Frage in dem Sinne, daß<br />
irgendwelche 'dritten Personen' nötig seien, um als Deus ex machina den gordischen Knoten zu<br />
durchhauen, d.h. den Mehrwert zu verzehren. Als solche Personen treten bald luxustreibende<br />
Grundbesitzer auf (wie bei Malthus), bald luxustreibende Kapitalisten, bald der Militarismus u.dgl. mehr.<br />
Ohne solche außerordentlichen Mittel könne der Mehrwert keinen Absatz finden: er werde auf den<br />
Märkten festgefahren und rufe Überproduktion und Krisen hervor."(1) "So nimmt Herr Struve an, daß<br />
die kapitalistische Produktion sich in ihrer Entwicklung auf die Konsumtion irgendwelcher<br />
phantastischer dritter Personen stützen könne. Wo liegt denn aber die Quelle der Kaufkraft dieses grand<br />
public, <strong>des</strong>sen spezielle Bestimmung es ist, den Mehrwert zu verzehren?"(2) Bul- gakow<br />
seinerseits stellt das ganze Problem von vornherein auf die Analyse <strong>des</strong> gesellschaftlichen<br />
Gesamtprodukts und seiner Reproduktion, wie sie Marx im zweiten Bande <strong>des</strong> "<strong>Kapitals</strong>" gegeben. Er<br />
begreift ausgezeichnet, daß man zur Lösung der Frage der <strong>Akkumulation</strong> erst mit der einfachen<br />
Reproduktion beginnen und sich ihren Mechanismus ganz klarmachen müsse. Hier sei es namentlich<br />
wichtig, sich über die Konsumtion <strong>des</strong> Mehrwerts und der Löhne derjenigen Produktionszweige<br />
klarzuwerden, die nichtkonsumierbare Produkte herstellen, und andererseits über die Zirkulation<br />
<strong>des</strong>jenigen Teils <strong>des</strong> gesellschaftlichen Gesamtprodukts, der das verbrauchte konstante Kapital darstellt.<br />
Das sei eine ganz neue Aufgabe, deren sich die Ökonomen gar nicht einmal bewußt waren und die erst<br />
von Marx gestellt wurde. "Zur Lösung dieser Aufgabe teilt Marx alle kapitalistisch hergestellten Waren<br />
in zwei große und wesentlich verschiedene Kategorien. die Produktion von Produktionsmitteln und die<br />
Produktion von Konsummitteln. In dieser <strong>Ein</strong>teilung allein ist mehr theoretischer Sinn verborgen, als in<br />
sämtlichen vorhergehenden Wortgefechten über die Theorie der Absatzmärkte."(3)<br />
Man sieht, Bulgakow ist ein ausgesprochener und begeisterter Anhänger der Marxschen Theorie. Er<br />
formuliert auch als die Aufgabe seiner Studie die theoretische Nachprüfung der Lehre, daß der<br />
Kapitalismus ohne auswärtige Märkte nicht existieren könne. "Zu diesem Behufe hat der Verfasser die<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 22. Kapitel<br />
sehr wertvolle, aber - man weiß nicht warum - in der Wissenschaft fast nicht verwertete Analyse der<br />
gesellschaftlichen Reproduktion benutzt, die K. Marx im zweiten Teil <strong>des</strong> zweiten Ban<strong>des</strong> <strong>des</strong> '<strong>Kapitals</strong>'<br />
gibt. Obwohl diese Analyse nicht als abgeschlossen gelten kann, bietet sie doch u.E. auch in ihrer<br />
vorliegenden unbearbeiteten Fassung eine genügende Grundlage für eine andere Lösung der Frage von<br />
den Absatzmärkten als diejenige, die sich die Herren Nikolai-on, W. Woronzow und andere zu eigen<br />
gemacht haben und die sie K. Marx aufs Konto schreiben."(4) <strong>Die</strong> Lösung, die Bulgakow aus Marx<br />
selbst abgeleitet hat, formuliert er folgendermaßen "Der Kapitalismus kann unter Umständen existieren<br />
ausschließlich dank dem inneren Markt; es liegt keine innere, der kapitalistischen Produktionsweise<br />
eigentümliche Notwendigkeit vor, daß nur der auswärtige Markt den Überschuß der kapitalistischen<br />
Produktion verschlingen kann. <strong>Die</strong>s der Schluß, zu dem der Verfasser auf Grund <strong>des</strong> Studiums der<br />
erwähnten Analyse der gesellschaftlichen Reproduktion gelangt ist."<br />
Und nun sind wir gespannt auf die Bulgakowsche Beweisführung für die angeführte These.<br />
Sie fällt zunächst unerwartet einfach aus. Bulgakow gibt getreulich das uns bekannte Marxsche Schema<br />
der einfachen Reproduktion wieder, mit Kommentaren, die seinem Verständnis alle Ehre machen. Dann<br />
führt er das uns ebenso bekannte Marxsche Schema der erweiterten Reproduktion an - und damit ist der<br />
gesuchte Beweis auch schon erbracht. "Auf Grund <strong>des</strong> Gesagten bietet es keine Schwierigkeit zu<br />
bestimmen, worin die <strong>Akkumulation</strong> bestehen wird: I (Abteilung der Produktionsmittel) muß die zur<br />
Produktionserweiterung erforderlichen zuschüssigen Produktionsmittel sowohl für sich wie für II<br />
(Abteilung der Konsummittel) herstellen, während hinwiederum II die zuschüssigen Konsummittel zur<br />
Erweiterung <strong>des</strong> variablen <strong>Kapitals</strong> I und II zu liefern haben wird. Sieht man von der Geldzirkulation ab,<br />
so reduziert sich die Produktionserweiterung auf den Austausch der zuschüssigen Produkte I, deren II<br />
bedarf, und der zuschüssigen Produkte II, deren I bedarf." Bulgakow folgt hier also getreulich den<br />
Ausführungen Marxens und merkt gar nicht, daß seine These bis jetzt immer noch auf dem Papier bleibt.<br />
Er glaubt mit diesen mathematischen Formeln die Frage der <strong>Akkumulation</strong> gelöst zu haben. Daß man<br />
sich die Proportionen, die er aus Marx abschreibt, wohl vorstellen kann, ist außer Zweifel. Ebenso sicher<br />
ist es, daß, wenn die Produktionserweiterung stattfinden soll, sie sich in diesen Formeln ausdrücken kann.<br />
Bulgakow übersieht aber die Hauptfrage: Für wen findet denn die Erweiterung statt, deren Mechanismus<br />
er untersucht? Da sich die <strong>Akkumulation</strong> in mathematischen Proportionen auf dem Papier darstellen läßt,<br />
so ist sie auch schon vollbracht. Doch nachdem Bulgakow soeben die Sache für gelöst erklärt hat, stößt<br />
er im nächsten Moment, bei dem Versuch, die Geldzirkulation in die Analyse hineinzuführen, auf die<br />
Frage: Wo kommt bei I und II das Geld für den Ankauf der zuschüssigen Produkte her? Wir haben bei<br />
Marx gesehen, wie die wunde Stelle seiner Analyse, die eigentliche Frage nach den Konsumenten für die<br />
erweiterte Produktion, in der schiefen Form der Frage nach zuschüssigen Geldquellen immer wieder zum<br />
Vorschein kommt. Bulgakow folgt hier sklavisch der Marxschen Betrachtungsweise und akzeptiert<br />
dieselbe mißverständliche Fragestellung. ohne die darin enthaltene Verschiebung zu merken. Er stellt<br />
freilich fest, daß "Marx selbst auf diese Frage in den Brouillonheften, nach denen der zweite Band <strong>des</strong><br />
'<strong>Kapitals</strong>' hergestellt ist, eine Antwort nicht gegeben hat". Um so interessanter muß die Antwort<br />
sein, die Marxens russischer Schüler auf eigene Faust abzuleiten versucht.<br />
"Uns", sagt Bulgakow, "scheint der ganzen Marxschen Lehre die folgende Lösung am besten zu<br />
entsprechen. Das neue variable Kapital in Geldform, das II für I wie für sich selbst liefert, findet sein<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 22. Kapitel<br />
Warenäquivalent im Mehrwert II. Wir haben schon bei der Betrachtung der einfachen Reproduktion<br />
gesehen, daß die Kapitalisten selbst das Geld zur Realisierung ihres Mehrwerts in die Zirkulation werfen<br />
müssen und dieses Geld schließlich in die Tasche <strong>des</strong> Kapitalisten, von dem es ausging, zurückkehrt. Das<br />
Quantum Geld, das zur Zirkulation <strong>des</strong> Mehrwerts erforderlich ist, wird nach dem allgemeinen Gesetz<br />
der Warenzirkulation bestimmt, durch den Wert der Waren, worin er eingeschlossen ist, geteilt durch die<br />
Durchschnittszahl der Umschläge <strong>des</strong> Gel<strong>des</strong>. Dasselbe Gesetz findet auch hier Anwendung. <strong>Die</strong><br />
Kapitalisten II müssen eine gewisse Summe Gel<strong>des</strong> zur Zirkulation ihres Mehrwerts haben, sie müssen<br />
folglich einen gewissen Geldvorrat besitzen. <strong>Die</strong>ser Vorrat muß genügend groß sein, damit er sowohl für<br />
die Zirkulation <strong>des</strong>jenigen Teils <strong>des</strong> Mehrwerts ausreicht, der den Konsumtionsfonds darstellt, wie<br />
<strong>des</strong>jenigen, der als Kapital akkumuliert werden soll." Weiter entwickelt Bulgakow den Standpunkt, daß<br />
es für die Frage, wieviel Geld zur Zirkulation eines bestimmten Warenquantums im Lande erforderlich<br />
ist, gar keinen Unterschied machte, ob ein Teil dieser Waren Mehrwert darstellt oder nicht. "<strong>Die</strong><br />
allgemeine Frage aber, woher das Geld überhaupt im Lande kommt, wird in dem Sinne gelöst, daß dieses<br />
Geld durch den Goldproduzenten geliefert wird." Wird mit der Erweiterung der Produktion im Lande<br />
mehr Geld erforderlich, so wird eben auch die Goldproduktion dementsprechend erweitert.(5) Wir landen<br />
also schließlich glücklich beim Goldproduzenten, der schon bei Marx die Rolle <strong>des</strong> Deus ex machina<br />
spielt. Man muß gestehen, daß Bulgakow die gespannten Erwartungen auf seine neue Lösung arg<br />
getäuscht hat. "Seine" Lösung der Frage ist über die von Marx gelieferte Analyse auch nicht um ein Jota<br />
hinausgegangen. Sie reduziert sich auf die folgenden äußerst einfachen drei Sätze: 1. Frage. Wieviel<br />
Geld ist erforderlich, um den kapitalisierten Mehrwert zu realisieren? Antwort: Soviel wie nach dem<br />
allgemeinen Gesetz der Warenzirkulation nötig ist. 2. Frage. Woher nehmen die Kapitalisten dieses Geld,<br />
um den kapitalisierten Mehrwert zu realisieren? Antwort: Sie müssen es eben haben. 3. Frage. Woher<br />
kommt das Geld überhaupt ins Land? Antwort: Vom Goldproduzenten. <strong>Ein</strong>e Erklärungsweise die<br />
in ihrer außerordentlichen <strong>Ein</strong>fachheit mehr verdächtig als bestrickend ist.<br />
Doch es erübrigt sich, diese Theorie vorn Goldproduzenten als Deus ex machina der kapitalistischen<br />
<strong>Akkumulation</strong> zu widerlegen. Bulgakow selbst hat sie sehr schön widerlegt. 80 Seiten weitet kommt er in<br />
einem ganz anderen Zusammenhang, nämlich von der Lohnfondstheorie aus, gegen die er sich ohne<br />
ersichtlichen Grund in eine breite Polemik verwickelt hat, wieder auf den Goldproduzenten. Und hier<br />
entwickelt er plötzlich die folgende scharfe <strong>Ein</strong>sicht:<br />
"Wir wissen schon, daß unter anderen Produzenten auch der Goldproduzent existiert, der einerseits selbst<br />
bei einfacher Reproduktion die absolute Menge <strong>des</strong> im Lande zirkulierenden Gel<strong>des</strong> vergrößert und<br />
andererseits Produktionsmittel und Konsummittel kauft, ohne seinerseits Waren zu verkaufen, wobei er<br />
für die gekauften Waren direkt mit dem allgemeinen Tauschäquivalent zahlt, das sein eigenes Produkt<br />
darstellt. Kann nun der Goldproduzent nicht vielleicht den <strong>Die</strong>nst erweisen, daß er bei II <strong>des</strong>sen ganzen<br />
akkumulierten Mehrwert abkauft und dafür mit Gold zahlt, das II alsdann zum Ankauf der<br />
Produktionsmittel bei I und zur Erweiterung <strong>des</strong> variablen <strong>Kapitals</strong>, d.h. zum Ankauf der zuschüssigen<br />
Arbeitskraft, gebrauchen wird? Als wirklicher auswärtiger Absatzmarkt erscheint somit der<br />
Goldproduzent.<br />
Doch das ist eine vollkommen absurde Voraussetzung. Ihre Annahme bedeutet, daß man die Erweiterung<br />
der gesellschaftlichen Produktion von der Erweiterung der Goldproduktion abhängig macht. (Bravo!)<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 22. Kapitel<br />
<strong>Die</strong>s setzt seinerseits ein Wachstum der Goldproduktion voraus, das der Wirklichkeit gar nicht<br />
entspricht. Soll der Goldproduzent verpflichtet werden, durch seine Arbeiter bei II den ganzen<br />
akkumulierten Mehrwert abzukaufen, dann bedeutet dies, daß sein variables Kapital täglich und stündlich<br />
wachsen muß. Aber dementsprechend muß auch das konstante Kapital wachsen und auch der Mehrwert,<br />
folglich muß die ganze Goldproduktion direkt ungeheuerliche Dimensionen annehmen (Bravo!) Anstatt<br />
diese läppische Voraussetzung statistisch nachzuprüfen (was übrigens kaum möglich wäre), genügt es,<br />
auf eine Tatsache hinzuweisen, die ganz allein diese Voraussetzung vernichtet. <strong>Die</strong>se Tatsache ist - die<br />
Entwicklung <strong>des</strong> Kredits, welche die Entwicklung der kapitalistischen Wirtschaft begleitet. (Bravo!) Der<br />
Kredit hat die Tendenz, die Menge <strong>des</strong> umlaufenden Gel<strong>des</strong> (natürlich relativ, nicht absolut) zu<br />
verringern und erscheint als notwendige Ergänzung zur Entwicklung der Tauschwirtschaft, die sonst sehr<br />
bald am Mangel an Metallgeld ihre Schranken finden würde. Ich finde es über- flüssig, hier<br />
zahlenmäßig nachzuweisen, wie gering jetzt die Rolle <strong>des</strong> Metallgel<strong>des</strong> bei den Tauschgeschäften ist.<br />
<strong>Die</strong> aufgestellte Hypothese steht auf diese Weise in direktem und offenbarem Widerspruch mit den<br />
Tatsachen und muß abgelehnt werden."(6)<br />
Bravissimo! Sehr schön! Aber damit hat Bulgakow auch seine einzige bisherige Erklärung der Frage, wie<br />
und durch wen der kapitalisierte Mehrwert realisiert wird, selbst "abgelehnt". Übrigens hat er auch in<br />
dieser Selbstwiderlegung nur etwas ausführlicher dargelegt, was Marx bereits mit einem Wort gesagt hat,<br />
indem er die Hypothese von dem Goldproduzenten, der den ganzen gesellschaftlichen Mehrwert<br />
schluckt, "abgeschmackt" genannt hat.<br />
Freilich liegt die eigentliche Lösung bei Bulgakow wie überhaupt bei den russischen Marxisten, die sich<br />
mit der Frage eingehend beschäftigt haben, ganz anderswo. Sowohl er wie Tugan-Baranowski wie Iljin<br />
legen das Hauptgewicht darauf, daß die Gegenseite - die Skeptiker - in bezug auf die Möglichkeit der<br />
<strong>Akkumulation</strong> einen kapitalen Fehler in der Wertanalyse <strong>des</strong> Gesamtprodukts machen. <strong>Die</strong>se -<br />
namentlich Woronzow - nahmen an, das gesamte gesellschaftliche Produkt bestehe in Konsummitteln,<br />
und gingen von der irrtümlichen Voraussetzung aus, Konsumtion sei überhaupt Zweck der<br />
kapitalistischen Produktion. Hier - erklärten nun die Marxisten - liege die Quelle <strong>des</strong> ganzen<br />
Mißverständnisses, und aus dieser Quelle flössen die imaginären Schwierigkeiten der Realisierung <strong>des</strong><br />
Mehrwerts, über die sich die Skeptiker den Kopf zerbrachen. "Dank dieser irrigen Vorstellung schuf sich<br />
diese Schule selbst nichtexistierende Schwierigkeiten: Da die normalen Bedingungen der kapitalistischen<br />
Produktion voraussetzen, daß der Konsumtionsfonds der Kapitalisten bloß einen und dazu geringeren<br />
Teil <strong>des</strong> Mehrwerts ausmacht, während der größere für die Erweiterung der Produktion abgerechnet<br />
wird, so ist es augenscheinlich, daß die Schwierigkeiten, die sich jene Schule (die Volkstümler - R. L.)<br />
vorstellte, in Wirklichkeit gar nicht existieren."(7) Es ist auffallend, mit welcher Selbstverständlichkeit<br />
Bulgakow hier das Problem übersieht und nicht einmal zu ahnen scheint, daß gerade erst bei der<br />
Annahme der erweiterten Reproduktion die Frage: für wen? unabweisbar wird, jene Frage, die unter der<br />
Voraussetzung der persönlichen Konsumtion <strong>des</strong> gesamten Mehrwerts sehr nebensächlich ist.<br />
Alle diese "imaginären Schwierigkeiten" lösen sich nun durch die zwei Entdeckungen Marxens in Dunst<br />
auf, die seine russischen Schüler nicht müde werden, ihren Widersachern entgegenzuhalten.<br />
Erstens die Tatsache, daß die Wertzusammensetzung <strong>des</strong> gesellschaftlichen Produkts nicht v + m,<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 22. Kapitel<br />
sondern c + v + m sei, und zweitens, daß mit den Fortschritten der kapitalistischen Produktion in dieser<br />
Zusammensetzung der Teil c im Verhältnis zu v immer größer werde, während gleichzeitig im Mehrwert<br />
der kapitalisierte Teil im Verhältnis zum konsumierten immer wachse. Von hier aus stellt Bulgakow eine<br />
ganze Theorie über das Verhältnis der Produktion zur Konsumtion in der kapitalistischen Gesellschaft<br />
auf. Sie spielt bei den russischen Marxisten und insbesondere bei Bulgakow eine so wichtige Rolle, daß<br />
es nötig ist, sie in extenso kennenzulernen.<br />
"<strong>Die</strong> Konsumtion", sagt Bulgakow, "die Befriedigung gesellschaftlicher Bedürfnisse, bildet nur ein<br />
nebensächliches Moment der Kapitalzirkulation. Der Umfang der Produktion wird durch den Umfang<br />
<strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong> und nicht durch die Größe der gesellschaftlichen Bedürfnisse bestimmt. <strong>Die</strong> Entwicklung<br />
der Produktion wird nicht nur von dem Wachstum der Konsumtion nicht begleitet, sondern es besteht<br />
zwischen beiden sogar ein Antagonismus. <strong>Die</strong> kapitalistische Produktion kennt keine andere Konsumtion<br />
als die zahlungsfähige, zahlungsfähige Konsumenten können aber nur diejenigen sein, die Arbeitslohn<br />
oder Mehrwert beziehen, und ihre Kaufkraft entspricht genau dem Umfang dieser <strong>Ein</strong>kommen. Wir<br />
haben aber gesehen, daß die Grundgesetze der Entwicklung der kapitalistischen Produktion die Tendenz<br />
haben, die relative Größe <strong>des</strong> variablen <strong>Kapitals</strong> wie <strong>des</strong> Konsumtionsfonds <strong>des</strong> Kapitalisten (obgleich<br />
sie absolut wächst) zu verringern. Man kann <strong>des</strong>halb sagen, daß die Entwicklung der Produktion die<br />
Konsumtion verringert.(8) Auf diese Weise stehen die Bedingungen der Produktion und der Konsumtion<br />
zueinander im Widerspruch. <strong>Die</strong> Erweiterung der Produktion kann sich nicht vollziehen und vollzieht<br />
sich nicht für die Rechnung der Konsumtion. <strong>Die</strong>se Erweiterung ist aber ein inneres grundlegen<strong>des</strong><br />
Gesetz der kapitalistischen Produktion, das jedem <strong>Ein</strong>zelkapitalisten gegenüber die Form <strong>des</strong> strengen<br />
Gebotes der Konkurrenz annimmt. Der Ausweg aus diesem Widerspruch ist der, daß den Markt für die<br />
zuschüssige Menge Produkte die sich erweiternde Produktion selbst darstellt. 'Der innere Widerspruch<br />
wird gelöst durch die Erweiterung <strong>des</strong> äußeren Fel<strong>des</strong> der Produktion.' (Das Kapital, Bd. III, S.189.)<br />
(Hier zitiert Bulgakow einen Marxschen Satz in ganz verkehrtem Sinne, worauf noch weiter<br />
zurückzukommen sein wird. - R. L.) Wie das möglich, ist soeben gezeigt worden. (Bulgakow meint die<br />
Analyse <strong>des</strong> Schemas der erweiterten Reproduktion. - R. L.) Dabei entfällt offenbar der grö- ßere<br />
Teil dieser Erweiterung auf die Abteilung I. d.h. auf die Produktion <strong>des</strong> konstanten <strong>Kapitals</strong>, und nur der<br />
relativ kleinere Teil auf die Abteilung II, die Güter für die unmittelbare Konsumton produziert. In dieser<br />
Verschiebung allein im Verhältnis der Abteilungen I und II kommt mit genügender Klarheit die Rolle<br />
zum Ausdruck, welche die Konsumtion in der kapitalistischen Gesellschaft spielt, sowie auch der<br />
Hinweis, wo der wichtigste Absatz der kapitalistischen Waren zu suchen ist."(9) "Auch in diesen engen<br />
Schranken (<strong>des</strong> Profitinteresses und der Krisen - R. L.), auch auf diesem Dornenwege vermag sich die<br />
kapitalistische Produktion schrankenlos zu erweitern, ungeachtet und selbst trotz der Verringerung der<br />
Konsumtion. In der russischen Literatur wird mehrmals auf die Unmöglichkeit eines bedeutenden<br />
Wachstums der kapitalistischen Produktion ohne auswärtige Märkte hingewiesen, und zwar angesichts<br />
der Verringerung der Konsumtion. Dabei war die Rolle der Konsumtion in der kapitalistischen<br />
Gesellschaft ganz falsch eingeschätzt. Man hat übersehen, daß die Konsumtion gar nicht der Zweck der<br />
kapitalistischen Produktion ist, daß diese letztere nicht durch das Wachstum der Konsumtion, sondern<br />
durch die Erweiterung <strong>des</strong> äußeren Fel<strong>des</strong> der Produktion existiert, die eben den Absatzmarkt für die<br />
kapitalistisch hergestellten Produkte bildet. An der Lösung der unlösbaren Aufgabe: der Auffindung von<br />
Mitteln, um die Konsumtion zu erweitern, die die kapitalistische Produktionsweise zu verringern bestrebt<br />
ist, quälte sich eine ganze Reihe Forscher der Malthusschen Schule ab, die sich mit der oberflächlichen<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 22. Kapitel<br />
Harmonielehre der Schule Ricarcio-Say nicht zufriedengeben konnten. Erst Marx hat die Analyse <strong>des</strong><br />
wirklichen Zusammenhangs gegeben: Er zeigte, daß das Wachstum der Konsumtion fatal hinter dem<br />
Wachstum der Produktion zurückbleibt und zurückbleiben muß, welche 'dritten Personen' man auch<br />
erfinden möge. Deshalb kann die Konsumtion und ihr Umfang in keiner Weise als die unmittelbare<br />
Schranke der Erweiterung der Produktion gelten. <strong>Die</strong> kapitalistische Produktion büßt für die Abweichung<br />
von diesem wahren Zweck der Produktion mit Krisen, aber sie ist unabhängig von der Konsumtion. <strong>Die</strong><br />
Erweiterung der Produktion findet ihre Schranke nur in dem Umfang <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong> und hängt lediglich<br />
von diesem letzteren ab."(10)<br />
Hier wird die Theorie Bulgakows und Tugan-Baranowskis direkt Marx in die Schuhe geschoben, so sehr<br />
schien sie den russischen Marxisten unmittelbar aus der Marxschen Lehre zu folgen und sich in sie<br />
organisch einzufügen. Noch deutlicher formuliert sie Bulgakow an einer anderen Stelle als direkte<br />
Deutung <strong>des</strong> Marxschen Schemas der erweiterten Reproduktion. Nachdem die kapitalistische<br />
Produktionsweise in einem Lande <strong>Ein</strong>zug gehalten hat, fängt ihre innere Bewegung an, sich nach diesem<br />
Schema zu entwickeln: "<strong>Die</strong> Produktion <strong>des</strong> konstanten <strong>Kapitals</strong> bildet die Abteilung I der<br />
gesellschaftlichen Reproduktion, die schon eine selbständige Nachfrage nach Konsummitteln eröffnet im<br />
Umfange <strong>des</strong> eigenen variablen <strong>Kapitals</strong> dieser Abteilung I sowie <strong>des</strong> Konsumtionsfonds ihrer<br />
Kapitalisten. Abteilung II ihrerseits eröffnet die Nachfrage nach Produkten I. Auf diese Weise bildet sich<br />
schon bei Beginn der kapitalistischen Produktion ein geschlossener Kreis heraus, in dem die<br />
kapitalistische Produktion von gar keinem auswärtigen Markt abhängig ist, sondern sich selbst genügt<br />
und in dem sie sozusagen automatisch vermittelst der <strong>Akkumulation</strong> zu wachsen in der Lage ist."(11)<br />
Und an einer anderen Stelle versteigt er sich gar zu der folgenden krassen Formulierung seiner Theorie:<br />
"Der einzige Markt für die Produkte der kapitalistischen Produktion ist diese Produktion selbst."(12)<br />
Man kann die ganze Kühnheit dieser Theorie, die in den Händen der russischen Marxisten zur<br />
Hauptwaffe wurde, womit sie ihre Gegner, die "volkstümlerischen" Skeptiker, in der Frage der<br />
Absatzmärkte zur Strecke gebracht haben, nur dann richtig würdigen, wenn man sich vergegenwärtigt, in<br />
welchem erstaunlichen Widerspruch sich diese Theorie mit der täglichen Praxis, mit allen bekannten<br />
Tatsachen der kapitalistischen Wirklichkeit befindet. Aber noch mehr: Man muß diese Theorie, die mit<br />
solchem Triumph als reinste marxistische Wahrheit verkündet wurde, noch mehr bewundern, wenn man<br />
bedenkt, daß sie auf einem einfachen kapitalen Quiproquo basiert. Doch auf diese Frage werden wir<br />
weiter bei der Besprechung Tugan-Baranowskis eingehen.<br />
Auf dem Mißverständnis über das Verhältnis der Konsumtion zur Produktion in der kapitalistischen<br />
Gesellschaft errichtet Bulgakow ferner eine ganz verkehrte Theorie <strong>des</strong> auswärtigen Handels. Vom<br />
Standpunkte der obigen Auffassung der Reproduktion gibt es in der Tat für den auswärtigen Handel<br />
keinen Raum. Wenn der Kapitalismus in jedem Lande gleich zu Beginn seiner Entwicklung jenen<br />
bewußten "geschlossenen Zirkel" herausbildet, in dem er sich wie eine Katze um den eigenen Schwanz<br />
dreht und "sich selbst genügt", für sich selbst schrankenlos einen Absatz schafft und sich selbst Stachel<br />
zur Erweiterung ist, dann ist je<strong>des</strong> kapitalistische Land ökonomisch auch ein abgeschlossenes, "sich<br />
selbst genügen<strong>des</strong>" Gan- zes. Nur in einem Fall wäre dann auswärtiger Handel begreiflich: als<br />
Mittel, das natürliche Manko eines Lan<strong>des</strong> an gewissen Produkten <strong>des</strong> Bodens und <strong>des</strong> Klimas durch<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 22. Kapitel<br />
<strong>Ein</strong>fuhr von auswärts zu decken, nur als notgedrungene <strong>Ein</strong>fuhr von Rohstoffen oder Nahrungsmitteln.<br />
Und in der Tat errichtet Bulgakow, indem er die These der Volkstümler direkt auf den Kopf stellt, eine<br />
Theorie <strong>des</strong> internationalen Handels der kapitalistischen Staaten, in dem die <strong>Ein</strong>fuhr von Produkten der<br />
Landwirtschaft das grundlegende aktive Element, die industrielle Ausfuhr nur die notgedrungene<br />
Deckung jener <strong>Ein</strong>fuhr darstellt. Der internationale Warenverkehr erscheint hier nicht im Wesen der<br />
Produktionsweise begründet, sondern in den Naturbedingungen der Länder - jedenfalls eine Theorie, die<br />
nicht von Marx, sondern von deutschen Gelehrten der bürgerlichen Nationalökonomie geliehen ist. Wie<br />
Struve von Wagner und Schäffle sein Schema der drei Weltreiche, so übernimmt Bulgakow von dem<br />
seligen List die <strong>Ein</strong>teilung der Staaten in Kategorien nach dem "Agrikulturstand" und dem<br />
"Agrikulturmanufakturstand", die er mit dem Fortschritt der Zeiten in "Manufakturstand" und<br />
"Agrikulturmanufakturstand" modifiziert. <strong>Die</strong> erstere Kategorie ist von Natur mit einem Mangel eigener<br />
Rohstoffe und Nahrungsmittel gestraft und <strong>des</strong>halb auf den auswärtigen Handel angewiesen, die letztere<br />
Kategorie ist von der Natur mit allem versehen und kann auf den auswärtigen Handel pfeifen. Typus der<br />
ersteren ist England, der zweiten - die Vereinigten Staaten. Für England würde die Abschaffung <strong>des</strong><br />
auswärtigen Handels ökonomische Agonie und Tod bedeuten, für die Vereinigten Staaten nur eine<br />
vorübergehende Krise, nach der völlige Genesung gesichert wäre: "Hier kann sich die Produktion auf der<br />
Basis <strong>des</strong> inneren Marktes schrankenlos erweitern."(13) <strong>Die</strong>se Theorie, die ein ehrwürdiges Erbstück der<br />
deutschen Nationalökonomie bis auf den heutigen Tag bildet, hat offenbar von den Zusammenhängen der<br />
kapitalistischen Weltwirtschaft keinen Dunst und führt den heutigen Weltverkehr ungefähr auf die<br />
Grundlagen aus den Zeiten der Phönizier zurück. Doziert doch z.B. auch Professor Bücher: "Es ist ein<br />
Irrtum, wenn man aus der im liberalistischen Zeitalter erfolgten Erleichterung <strong>des</strong> internationalen<br />
Verkehrs schließen zu dürfen meint, die Periode der Volkswirtschaft gehe zur Neige und mache der<br />
Periode der Weltwirtschaft Platz ... Gewiß sehen wir heute in Europa eine Reihe von Staaten. welche der<br />
nationalen Selbständigkeit in ihrer Güterversorgung insofern entbehren, als sie erhebliche Mengen ihrer<br />
Nahrungs- und Genußmittel aus dem Auslande zu beziehen genötigt sind, während ihre industrielle<br />
Produktionstätigkeit weit über das nationale Bedürfnis hinausgewachsen ist und dauernd<br />
Überschüsse liefert, die auf fremden Konsumtionsgebieten ihre Verwertung finden müssen. Aber das<br />
Nebeneinanderbestehen solcher Industrie- und Rohproduktionsländer, die gegenseitig aufeinander<br />
angewiesen sind, diese 'Internationale Arbeitsteilung' ist nicht als ein Zeichen anzusehen, daß die<br />
Menschheit eine neue Stufe der Entwicklung zu erklimmen im Begriffe steht, die unter dem Namen der<br />
Weltwirtschaft den ... früheren Stufen gegenübergestellt werden müßte. Denn einerseits hat keine<br />
Wirtschaftsstufe volle Selbstherrlichkeit der Bedürfnisbefriedigung auf die Dauer garantiert; jede ließ ...<br />
gewisse Lücken bestehen, die so oder so ausgefüllt werden mußten. Andererseits hat jene sogenannte<br />
Weltwirtschaft bis jetzt wenigstens keine Erscheinungen hervortreten lassen, die von denen der<br />
Volkswirtschaft in wesentlichen Merkmalen abweichen, und es steht sehr zu bezweifeln, daß solche in<br />
absehbarer Zukunft auftreten werden."(14) Bei Bulgakow ergibt sich aus dieser Auffassung jedenfalls ein<br />
unerwarteter Schluß: Seine Theorie von der schrankenlosen Entwicklungsfähigkeit <strong>des</strong> Kapitalismus<br />
wird nur auf gewisse Länder mit günstigen Naturbedingungen beschränkt. In England muß der<br />
Kapitalismus in absehbarer Zeit an der Erschöpfung <strong>des</strong> Weltmarktes zugrunde gehen, in den<br />
Vereinigten Staaten, in Indien und in - Rußland blüht ihm eine unumschränkte Entwicklung durch<br />
"Selbstgenügsamkeit".<br />
Doch abgesehen von diesen augenscheinlichen Seltsamkeiten, birgt die Bulgakowsche Argumentation in<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 22. Kapitel<br />
bezug auf den auswärtigen Handel wiederum ein fundamentales Mißverständnis. Das Hauptargument<br />
Bulgakows gegen die Skeptiker von Sismondi bis Nikolai-on, die zur Realisierung <strong>des</strong> kapitalistischen<br />
Mehrwerts den auswärtigen Absatzmarkt zu Hilfe nehmen zu müssen glaubten, ist folgen<strong>des</strong>: <strong>Die</strong>se<br />
Theoretiker betrachteten offenbar alle den auswärtigen Handel als "einen bodenlosen Abgrund", in dem<br />
der im Innern unabsetzbare Überschuß der kapitalistischen Produktion auf Nimmerwiedersehen<br />
verschwinde. Demgegenüber hebt Bulgakow mit Triumph hervor, daß ja der auswärtige Handel durchaus<br />
kein "Abgrund" und erst recht kein "bodenloser" sei, daß er ein zweischneidiges Schwert darstelle und<br />
daß zur Ausfuhr stets auch <strong>Ein</strong>fuhr gehöre, die sich beide so ziemlich die Waage zu halten pflegen. Was<br />
also durch die eine Grenze hinausgeschoben werde, das werde durch die andere Grenze bloß in<br />
veränderter Gebrauchsgestalt wieder hereingeschoben. "Für die eingeführten Waren, die das Äquivalent<br />
der ausgeführten darstellen, muß man in den Grenzen <strong>des</strong> gegebenen Absatzmarktes Platz finden, Platz<br />
ist aber nicht da, folglich zieht die Zuhilfenahme <strong>des</strong> auswärtigen Absatzes bloß neue Schwierigkeiten<br />
nach sich."(15) An einer anderen Stelle sagt er, der Ausweg, den die russischen Volkstümler zur<br />
Realisierung <strong>des</strong> Mehrwerts gefunden hätten, die auswärtigen Märkte, sei "viel weniger glücklich als der<br />
Ausweg, den Malthus, v. Kirchmann und Woronzow selbst als Verfasser <strong>des</strong> Aufsatzes vom<br />
'Militarismus und Kapitalismus' gefunden hatten"(16). Bulgakow verrät hier, daß er trotz all seiner<br />
begeisterten Wiedergabe der Marxschen Schemata der Reproduktion gar nicht begriffen hat, worin das<br />
eigentliche Problem liegt, um das die Skeptiker seit Sismondi bis Nikolai-on herumtasteten: Er lehnt den<br />
auswärtigen Handel als angeblichen Ausweg aus der Schwierigkeit ab, weil dieser den abgesetzten<br />
Mehrwert, "wenn auch in veränderter Gestalt", wieder ins Land einführe. Bulgakow glaubt also, im<br />
<strong>Ein</strong>klang mit der rohen Vor- stellung v. Kirchmanns und Woronzows, daß es sich darum handelt,<br />
ein gewisses Quantum Mehrwert zu vertilgen, vom Erdboden zu verwischen, er ahnt nicht, daß es sich<br />
um die Realisierung, um die Warenmetamorphose, also gerade um die "veränderte Gestalt" <strong>des</strong><br />
Mehrwerts handelt.<br />
So gelangt Bulgakow schließlich, wenn auch durch eine andere Straße, nach demselben Rom wie Struve.<br />
Er verkündet die Selbstgenügsamkeit der kapitalistischen <strong>Akkumulation</strong>, die selbst ihre Produkte<br />
verschlinge, wie Kronos seine Kinder, und sich aus sich selbst immer mächtiger gebäre. Von hier aus<br />
blieb nur noch ein Schritt zur Rückkehr vom Marxismus zur bürgerlichen Ökonomie. <strong>Die</strong>sen Schritt hat<br />
glücklich Tugan-Baranowski vollzogen.<br />
Fußnoten von <strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong><br />
(1) S. Bulgakow: Über die Absatzmärkte der kapitalistischen Produktion. <strong>Ein</strong>e theoretische Studie,<br />
Moskau 1897, S. 15.
<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 22. Kapitel<br />
(4) l.c., S. 2/3.
<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 22. Kapitel<br />
<strong>Ein</strong>e andere Entdeckung Sombarts ist, daß die großen kapitalistischen Länder, die ja keine<br />
"Ausfuhrländer" sind, ihre <strong>Ein</strong>fuhr immer mehr "umsonst" kriegen - nämlich als Zinsen der ausgeführten<br />
Kapitalien. Für Professor Sombart zählt aber die Kapitalausfuhr ebenso wie die industrielle<br />
Warenausfuhr überhaupt nicht: "Mit der Zeit werden wir wohl dahin kommen einzuführen, ohne<br />
auszuführen." (l.c., S. 422.) Modern, sensationell und gigerlhaft.
<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 23. Kapitel<br />
22. Kapitel | Inhalt | 24. Kapitel<br />
<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - Gesammelte Werke. Herausgegeben vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Band<br />
5. <strong>Berlin</strong>/DDR. 1975. "<strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>", S. 263-275.<br />
1. Korrektur.<br />
Erstellt am 20.10.1998<br />
Dreiundzwanzigstes Kapitel<br />
<strong>Die</strong> "Disproportionalität" <strong>des</strong> Herrn Tugan-Baranowski<br />
Wir behandeln diesen Theoretiker zum Schluß - obwohl er seine Auffassung in russischer<br />
Sprache schon 1894, vor Struve und Bulgakow, formuliert hatte -, teils weil er erst später in deutscher<br />
Sprache seine Theorie in den "Studien zur Theorie und Geschichte der Handelskrisen in England" 1901<br />
und in den "Theoretischen Grundlagen <strong>des</strong> Marxismus" 1905 in reifer Form entwickelt hat, teils weil er<br />
derjenige ist, der aus den gemeinsamen Prämissen der genannten marxistischen Kritiker die<br />
weitgehendsten Konsequenzen gezogen hat.<br />
Auch Tugan-Baranowski geht wie Bulgakow von der Marxschen Analyse der gesellschaftlichen<br />
Reproduktion aus. Auch er hat erst in dieser Analyse den Schlüssel gefunden, um sich in dem ganzen<br />
verworrenen und verwirrenden Komplex von Problemen zurechtzufinden. Während aber Bulgakow als<br />
begeisterter Adept der Marxschen Lehre diese nur getreu zu entwickeln sich bemüht und seine Schlüsse<br />
einfach dem Meister imputiert, belehrt Tugan-Baranowski umgekehrt Marx, der es nicht verstanden<br />
habe, seine eigene glänzende Untersuchung <strong>des</strong> Reproduktionsprozesses zu verwerten. Der wichtigste<br />
allgemeine Schluß, zu dem Tugan auf Grund der Marxschen Sätze gelangt und den er zum Angelpunkt<br />
seiner ganzen Theorie macht, ist der, daß die kapitalistische <strong>Akkumulation</strong> - entgegen der Annahme der<br />
Skeptiker - nicht bloß bei den kapitalistischen Formen <strong>des</strong> <strong>Ein</strong>kommens und der Konsumtion möglich,<br />
sondern daß sie von <strong>Ein</strong>kommen und Konsumtion überhaupt unabhängig sei. Nicht die Konsumtion - die<br />
Produktion selbst sei ihr eigener bester Absatz. Deshalb sei Produktion mit Absatz identisch und, da die<br />
Produktionsausdehnung an sich unbeschränkt, habe auch die Aufnahmefähigkeit für ihre<br />
Produkte, der Absatz, keine Schranken. "<strong>Die</strong> angeführten Schemata", sagt er, "mußten zur Evidenz den<br />
an sich sehr einfachen Grundsatz beweisen, welcher aber bei ungenügendem Verständnis <strong>des</strong> Prozesses<br />
der Reproduktion <strong>des</strong> gesellschaftlichen <strong>Kapitals</strong> leicht <strong>Ein</strong>wände hervorruft, nämlich den Grundsatz,<br />
daß die kapitalistische Produktion für sich selbst einen Markt schafft. Ist es nur möglich, die<br />
gesellschaftliche Produktion zu erweitern, reichen die Produktivkräfte dazu aus, so muß bei der<br />
proportionellen <strong>Ein</strong>teilung der gesellschaftlichen Produktion auch die Nachfrage eine entsprechende<br />
Erweiterung erfahren, denn unter diesen Bedingungen repräsentiert jede neuproduzierte Ware eine<br />
neuerschienene Kaufkraft für die Erwerbung anderer Waren. Aus der Vergleichung der einfachen<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 23. Kapitel<br />
Reproduktion <strong>des</strong> gesellschaftlichen <strong>Kapitals</strong> mit <strong>des</strong>sen Reproduktion auf erweiterter Stufenleiter kann<br />
man den höchst wichtigen Schluß ziehen, daß in der kapitalistischen Wirtschaft die Nachfrage nach<br />
Waren vom Gesamtumfang der gesellschaftlichen Konsumtion in einem gewissen Sinne unabhängig ist:<br />
Es kann der Gesamtumfang der gesellschaftlichen Konsumtion zurückgehen und zugleich die gesamte<br />
gesellschaftliche Nachfrage nach Waren wachsen, wie absurd das auch vom Standpunkte <strong>des</strong> 'gesunden'<br />
Menschenverstan<strong>des</strong> erscheinen mag."(1) Und ebenso weiter: "Als Resultat unserer abstrakten Analyse<br />
<strong>des</strong> Prozesses der Reproduktion <strong>des</strong> gesellschaftlichen <strong>Kapitals</strong> hat sich der Schluß ergeben, daß es bei<br />
einer proportionellen <strong>Ein</strong>teilung der gesellschaftlichen Produktion kein überschüssiges gesellschaftliches<br />
Produkt geben kann."(2) Von hier aus revidiert Tugan die Marxsche Krisentheorie, die angeblich auf der<br />
Sismondischen "Unterkonsumtion" beruhe: "<strong>Die</strong> verbreitete Meinung, die bis zu einem gewissen Grade<br />
auch von Marx geteilt wurde, daß das Elend der Arbeiter, welche die große Mehrzahl der Bevölkerung<br />
bilden, eine Realisation der Produkte der sich immer erweiternden kapitalistischen Produktion wegen<br />
mangelnder Nachfrage unmöglich macht - ist als falsch zu bezeichnen. Wir haben gesehen, daß die<br />
kapitalistische Produktion für sich selbst einen Markt schafft - die Konsumtion ist nur eines der Momente<br />
der kapitalistischen Produktion. Wenn die gesellschaftliche Produktion planmäßig organisiert wäre, wenn<br />
die Leiter der Produktion eine vollkommene Kenntnis der Nachfrage und die Macht hätten, die Arbeit<br />
und das Kapital frei aus einem Produktionszweig in einen anderen überzuführen, so könnte, wie niedrig<br />
die gesellschaftliche Konsumtion auch sein möchte, das Angebot der Waren die Nachfrage nicht<br />
überschreiten."(3) Der einzige Umstand, der periodisch eine Marktüberfüllung erzeugt, sei der Mangel an<br />
Proportionalität bei der Produktionserweiterung. Den Gang der kapitalistischen <strong>Akkumulation</strong> unter<br />
dieser Voraussetzung schildert Tugan folgendermaßen: "Was würden ... die Arbeiter ... bei einer<br />
proportionellen <strong>Ein</strong>teilung der Produktion produzieren? Offenbar ihre eigenen Lebensmittel und<br />
Produktionsmittel. Wozu werden aber solche dienen? Zur Erweiterung der Produktion im zweiten Jahre.<br />
Der Produktion welcher Produkte? Wieder der Produktionsmittel und Lebensmittel der Arbeiter - und so<br />
ad infinitum."(4) <strong>Die</strong>ses Frage- und Antwortspiel ist wohlgemerkt nicht als Selbstpersiflage, sondern<br />
völlig ernst gemeint. Und so ergeben sich für die Kapitalakkumulation unendliche Perspektiven: "Ist ...<br />
die Ausdehnung der Produktion praktisch grenzenlos, so müssen wir die Ausdehnung <strong>des</strong> Marktes als<br />
ebenso grenzenlos annehmen, denn es gibt bei der proportionellen <strong>Ein</strong>teilung der gesellschaftlichen<br />
Produktion für die Ausdehnung <strong>des</strong> Marktes keine andere Schranke außer den Produktivkräften, über<br />
welche die Gesellschaft verfügt."(5)<br />
Da so die Produktion selbst ihren Absatz schafft, so bekommt auch der auswärtige Handel der<br />
kapitalistischen Staaten die eigentümliche mechanische Rolle zugewiesen, die wir schon bei Bulgakow<br />
kennengelernt haben. Der auswärtige Absatzmarkt ist z.B. für England unbedingt notwendig. "Beweist<br />
das nicht, daß die kapitalistische Produktion ein überschüssiges Produkt schafft, für welches auf dem<br />
inneren Markte kein Platz vorhanden ist? Warum bedarf England überhaupt eines auswärtigen Marktes?<br />
<strong>Die</strong> Antwort ist keine schwere. Darum, weil ein bedeutender Teil der Kaufkraft Englands für die<br />
Anschaffung ausländischer Waren verausgabt wird. <strong>Die</strong> <strong>Ein</strong>fuhr ausländischer Waren für den inneren<br />
Markt Englands macht auch die Ausfuhr englischer Waren für den auswärtigen Markt absolut notwendig.<br />
Da England ohne einen ausländischen Import nicht auskommen kann, so ist auch ein Export für dieses<br />
Land eine Existenzbedingung, sonst hätte es nichts, womit es für seinen Import bezahlen könnte."(6)<br />
Hier ist also wieder die landwirtschaftliche <strong>Ein</strong>fuhr als der stimulierende, ausschlaggebende Faktor<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 23. Kapitel<br />
bezeichnet, und ebenso finden wir die zwei Kategorien Länder "eines landwirtschaftlichen und eines<br />
industriellen Typus", die von Natur auf den Austausch untereinander angewiesen sind ganz nach dem<br />
Schema deutscher Professoren.<br />
Welches ist nun die Beweisführung für die kühne Lösung <strong>des</strong> <strong>Akkumulation</strong>sproblems bei Tugan-<br />
Baranowski, von der aus er auch das Problem der Krisen und eine ganze Reihe anderer beleuchtet? Es ist<br />
kaum zu glauben, aber um so wichtiger festzustellen: <strong>Die</strong> Beweisführung Tugans besteht einzig und<br />
allein im Marxschen Schema der erweiterten Reproduktion. Ni plus ni moins. Tugan-Baranowski spricht<br />
zwar an mehreren Stellen etwas großspurig von seiner "abstrakten Analyse <strong>des</strong> Prozesses der<br />
Reproduktion <strong>des</strong> gesellschaftlichen <strong>Kapitals</strong>", von "zwingender Logik" seiner Analyse, die ganze<br />
"Analyse" reduziert sich jedoch auf die Abschrift <strong>des</strong> Marxschen Schemas der erweiterten Reproduktion,<br />
nur mir anders gewählten Zahlen. In der ganzen Studie Tugans wird man keine Spur eines anderen<br />
Beweises finden. In dem Marxschen Schema verläuft nun tatsächlich die <strong>Akkumulation</strong>, die Produktion,<br />
die Realisierung, der Austausch, die Reproduktion glatt wie am Schnürchen. Und ferner kann man diese<br />
"<strong>Akkumulation</strong>" auch tatsächlich "ad infinitum" fortsetzen. Nämlich solange Papier und Tinte reichen.<br />
Und diese seine harmlose Übung mit arithmetischen Gleichungen auf dem Papier gibt Tugan-<br />
Baranowski in vollem Ernst für den Beweis aus, daß die Dinge sich ebenso in Wirklichkeit abspielen.<br />
"<strong>Die</strong> angeführten Schemata mußten zur Evidenz beweisen ..." Und an einer anderen Stelle widerlegt er<br />
Hobson, der von der Unmöglichkeit der <strong>Akkumulation</strong> überzeugt ist, folgendermaßen: "Das Schema Nr.<br />
2 der Reproduktion <strong>des</strong> gesellschaftlichen <strong>Kapitals</strong> auf erweiterter Stufenleiter entspricht dem von<br />
Hobson betrachteten Falle der <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>. Sehen wir aber in diesem Schema ein<br />
überschüssiges Produkt entstehen? In keiner Weise!"(7) Also weil "im Schema" kein überschüssiges<br />
Produkt entsteht, so ist Hobson auch schon widerlegt und die Sache erledigt.<br />
Freilich, Tugan-Baranowski weiß sehr wohl, daß in der rauhen Wirklichkeit die Dinge nicht so glatt<br />
verlaufen. Es gibt beständige Schwankungen beim Austausch und periodische Krisen. Aber die Krisen<br />
treten eben nur <strong>des</strong>halb ein, weil keine Proportionalität bei der Produktionserweiterung beobachtet wird,<br />
d.h. weil man sich im voraus nicht an die Proportionen <strong>des</strong> "Schemas Nr. 2" hält. Wäre [man] nach dem<br />
verfahren, dann hätten wir keine Krisen, und alles ginge in der kapitalistischen Produktion so hübsch<br />
vonstatten wie auf dem Papier. Nun wird Tugan zugeben müssen, daß man - wo wir den<br />
Reproduktionsprozeß im ganzen als einen fortlaufenden Prozeß behandeln - von den Krisen füglich<br />
absehen darf. <strong>Die</strong> "Proportionalität" mag alle Augenblicke aus den Fugen gehen, im Durch- <br />
schnitt der Konjunkturen durch lauter Abweichungen, durch Preisschwankungen täglich und durch<br />
Krisen periodisch wird ja die "Proportionalität" immer wieder eingerenkt. Daß sie im ganzen schlecht<br />
oder recht tatsächlich eingehalten wird, beweist der Umstand, daß die kapitalistische Wirtschaft<br />
fortbesteht und sich entwickelt, sonst hätten wir längst ein Tohuwabohu und den Zusammenbruch erlebt.<br />
Im Durchschnitt, im Endresultat wird also die Tugansche Proportionalität eingehalten, woraus zu<br />
schließen, daß die Wirklichkeit sich nach "Schema Nr. 2" richtet. Und weil dieses Schema sich unendlich<br />
weiterführen läßt, so kann auch die Kapitalakkumulation ad infinitum fortschreiten.<br />
Auffallend ist bei alledem nicht das Resultat, zu dem Tugan-Baranowski gelangt, nämlich die Annahme,<br />
daß das Schema tatsächlich dem Gang der Dinge entspricht - wir sahen, daß auch Bulgakow diesen<br />
Glauben teilte -, sondern der Umstand, daß Tugan nicht einmal für nötig hält, die Frage danach zu<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 23. Kapitel<br />
stellen, ob denn das "Schema" stimmt, daß er, statt das Schema zu beweisen, umgekehrt das Schema<br />
selbst, die arithmetische Übung auf dem Papier, für einen Beweis betrachtet, daß auch in Wirklichkeit die<br />
Dinge sich so verhalten. Bulgakow suchte das Marxsche Schema mit ehrlicher Mühe auf die wirklichen<br />
konkreten Verhältnisse der kapitalistischen Wirtschaft und <strong>des</strong> kapitalistischen Austausches zu<br />
projizieren, suchte sich durch die Schwierigkeiten, die sich daraus ergaben, durchzuringen, was er<br />
freilich nicht fertiggebracht hat und wobei er schließlich in der Analyse von Marx steckenblieb, die er<br />
selbst mit voller Klarheit als unfertig, abgebrochen ansah. Tugan-Baranowski braucht gar keine Beweise,<br />
er zerbricht sich nicht viel den Kopf: Da sich die arithmetischen Proportionen zur Zufriedenheit lösen<br />
und nach Belieben fortsetzen lassen, so ist ihm das just ein Beweis, daß sich die kapitalistische<br />
<strong>Akkumulation</strong> - vorbehaltlich der bewußten "Proportionalität", die aber, wie auch Tugan nicht bestreiten<br />
wird, vorn oder hinten doch hineinkommt - ebenso restlos und unendlich fortwinden könne.<br />
Tugan-Baranowski hat freilich einen indirekten Beweis, daß das Schema mit seinen seltsamen<br />
Ergebnissen der Wirklichkeit entspricht, ihr treues Spiegelbild darstellt. Das ist die Tatsache, daß in der<br />
kapitalistischen Gesellschaft, ganz im <strong>Ein</strong>klang mit dem Schema, die menschliche Konsumtion hinter die<br />
Produktion gesetzt, jene zum Mittel, diese zum Selbstzweck wie auch menschliche Arbeit der "Arbeit"<br />
der Maschine gleichgesetzt werde: "Der technische Fortschritt gelangt darin zum Ausdruck, daß die<br />
Bedeutung der Arbeitsmittel, der Maschine immer mehr, im Vergleich mit der lebendigen Arbeit, dem<br />
Arbeiter selbst, zunimmt. <strong>Die</strong> Produktions- mittel spielen eine immer größere Rolle im<br />
Produktionsprozeß und auf dem Warenmarkt. Der Arbeiter tritt gegenüber der Maschine in den<br />
Hintergrund, und zugleich tritt in den Hintergrund die aus der Konsumtion <strong>des</strong> Arbeiters entstehende<br />
Nachfrage im Vergleich mit der Nachfrage, welche aus der produktiven Konsumtion der<br />
Produktionsmittel entsteht. Das ganze Getriebe der kapitalistischen Wirtschaft nimmt den Charakter<br />
eines gleichsam für sich selbst existierenden Mechanismus an, in welchem die Konsumtion der<br />
Menschen als ein einfaches Moment <strong>des</strong> Prozesses der Reproduktion und der Zirkulation <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong><br />
erscheint."(8) <strong>Die</strong>se Entdeckung betrachtet Tugan als das Grundgesetz der kapitalistischen<br />
Wirtschaftsweise, und ihre Bestätigung kommt in einem ganz handgreiflichen Phänomen zum Ausdruck:<br />
Mit dem Fortgang der kapitalistischen Entwicklung wächst die Abteilung der Produktionsmittel im<br />
Verhältnis zur Abteilung der Konsumtionsmittel und auf ihre Kosten immer mehr. Gerade Marx hat<br />
bekanntlich dieses Gesetz selbst aufgestellt, und seine schematische Darstellung der Reproduktion beruht<br />
auf diesem Gesetz, obschon Marx die dadurch herbeigeführten Verschiebungen der <strong>Ein</strong>fachheit halber<br />
nicht in der weiteren Entwicklung seines Schemas zahlenmäßig berücksichtigt hat. Hier also, in dem<br />
automatischen Wachstum der Abteilung der Produktionsmittel im Vergleich zu der Abteilung der<br />
Konsumtionsmittel hat Tugan den einzigen objektiven exakten Beweis für seine Theorie gefunden, daß<br />
in der kapitalistischen Gesellschaft die menschliche Konsumtion immer unwichtiger, die Produktion<br />
immer mehr Selbstzweck wird. <strong>Die</strong>sen Gedanken macht er zum Eckstein seines ganzen theoretischen<br />
Gebäu<strong>des</strong>. "In allen industriellen Staaten", verkündet er, "tritt uns dieselbe Erscheinung entgegen -<br />
überall folgt die Entwicklung der Volkswirtschaft demselben fundamentalen Gesetz. <strong>Die</strong><br />
Montanindustrie, welche die Produktionsmittel für die moderne Industrie schafft, wird immer mehr in<br />
den Vordergrund gerückt. Somit kommt in der relativen Abnahme <strong>des</strong> Exports derjenigen britischen<br />
Fabrikate, die in den unmittelbaren Verbrauch eingehen, auch das Grundgesetz der kapitalistischen<br />
Entwicklung zum Ausdruck: Je mehr die Technik fortschreitet, <strong>des</strong>to mehr treten die Konsumtionsmittel<br />
zurück gegenüber den Produktionsmitteln. <strong>Die</strong> Menschenkonsumtion spielt eine immer geringere Rolle<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 23. Kapitel<br />
gegenüber der produktiven Konsumtion der Produktionsmittel ..."(9)<br />
Wiewohl Tugan auch dieses "fundamentale Gesetz" leibhaftig und fertig direkt von Marx bezogen hat,<br />
wie seine sämtlichen " fundamentalen" Gedanken sonst, sofern sie etwas Greifbares und Exaktes<br />
darstellen, so ist er wieder damit nicht zufrieden und beeilt sich, Marx sofort mit der von Marx<br />
bezogenen Weisheit zu belehren. Marx habe da wieder wie ein blin<strong>des</strong> Huhn eine Perle gefunden, wisse<br />
aber nicht, was er damit anfangen soll. Erst Tugan-Baranowski hat die "fundamentale" Entdeckung für<br />
die Wissenschaft zu fruktifizieren verstanden, in seiner Hand beleuchtet plötzlich das gefundene Gesetz<br />
das gesamte Getriebe der kapitalistischen Wirtschaft: Hier in diesem Gesetz <strong>des</strong> Wachstums der<br />
Abteilung der Produktionsmittel auf Kosten der Abteilung der Konsumtionsmittel kommt klar, deutlich,<br />
exakt, meßbar zum Ausdruck, daß für die kapitalistische Gesellschaft die menschliche Konsumtion<br />
immer unwichtiger, daß der Mensch von ihr dem Produktionsmittel gleichgesetzt wird, daß also Marx<br />
gründlich irrte, einmal als er annahm, daß nur der Mensch den Mehrwert schaffe und nicht auch die<br />
Maschine, daß die menschliche Konsumtion eine Schranke für die kapitalistische Produktion darstelle,<br />
woraus sich heute periodische Krisen und morgen der Zusammenbruch und das Ende mit Schrecken der<br />
kapitalistischen Wirtschaft ergeben müßten.<br />
Kurz, in dem "Grundgesetz" <strong>des</strong> Wachstums der Produktionsmittel auf Kosten der Konsumtionsmittel<br />
spiegelt sich die kapitalistische Gesellschaft als Ganzes mit ihrem spezifischen Wesen, wie es von Marx<br />
nicht verstanden und von Tugan-Baranowski endlich glücklich entziffert worden ist.<br />
Wir haben schon früher gesehen, welche entscheidende Rolle das besagte kapitalistische "Grundgesetz"<br />
in der Kontroverse der russischen Marxisten mit den Skeptikern spielte. Bulgakows Äußerungen kennen<br />
wir. Genauso drückt sich ein anderer Marxist in seiner Polemik gegen die "Volkstümler", der von uns<br />
bereits erwähnte W. Iljin, aus:<br />
"Bekanntlich besteht das Entwicklungsgesetz <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong> darin, daß das konstante Kapital schneller<br />
wächst als das variable, d.h., ein immer größerer Teil der sich neu bildenden Kapitalien wendet sich der<br />
Produktionsmittel erzeugenden Abteilung der gesellschaftlichen Produktion zu. Folglich wächst diese<br />
Abteilung notwendigerweise schneller als die Konsumtionsmittel erzeugende Abteilung, d.h., es tritt<br />
gerade das ein, was Sismondi als 'unmöglich', 'gefährlich' usw. hinstellte. Folglich nehmen die Produkte<br />
der individuellen Konsumtion in der Gesamtmasse der kapitalistischen Produktion einen immer<br />
geringeren Platz ein. Und das entspricht völlig der historischen 'Mission' <strong>des</strong> Kapitalismus und seiner<br />
spezifischen sozialen Struktur: die erste besteht gerade in der Entwicklung der Produktivkräfte der<br />
Gesellschaft (Produktion für die Produktion); die zweite schließt ihre Utilisation durch die Masse<br />
der Bevölkerung aus." (10) [Hervorhebung - R. L.]<br />
Tugan-Baranowski geht natürlich auch hier weiter als die anderen. In seinem Gefallen an Paradoxen<br />
leistet er sich sogar den Witz, mathematisch den Nachweis zu liefern, daß die <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong><br />
und die Produktionserweiterung sogar bei absolutem Rückgang der Konsumtion möglich sei. Hier<br />
ertappt ihn K. Kautsky bei einem wissenschaftlich wenig salonfähigen Manöver, nämlich dabei, daß er<br />
seine kühne Deduktion ausschließlich auf einen spezifischen Moment: den Übergang von der einfachen<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 23. Kapitel<br />
zur erweiterten Reproduktion, zugeschnitten hat, einen Moment, der theoretisch nur als Ausnahme<br />
gedacht werden kann, praktisch aber überhaupt nicht in Betracht kommt.(11)<br />
Was das Tugansche "Grundgesetz" betrifft, so erklärt es Kautsky für bloßen Schein, der sich<br />
<strong>des</strong>halb ergäbe, weil Tugan-Baranowski nur die Gestaltung der Produktion in den alten Ländern der<br />
kapitalistischen Großindustrie ins Auge fasse: "Es ist richtig", sagt Kautsky, "daß die Zahl der<br />
Produktionsstätten, in denen die Produkte direkt für den persönlichen Konsum fertiggemacht werden, mit<br />
fortschreitender Arbeitsteilung verhältnismäßig immer mehr sinkt gegenüber den anderen<br />
Produktionsstätten, die jenen und einander Werkzeuge, Maschinen, Rohmaterialien, Transportmittel usw.<br />
liefern. Während in der ursprünglichen Bauernwirtschaft der Flachs von dem Betrieb, der ihn gewann,<br />
auch mit eigenen Werkzeugen verarbeitet und für den menschlichen Verbrauch fertiggemacht wurde,<br />
sind jetzt vielleicht Hunderte von Betrieben an der Herstellung eines Hemds beteiligt, an der Herstellung<br />
der Rohbaumwolle, der Produktion der Eisenschienen, Lokomotiven und Waggons, die sie nach dem<br />
Hafen bringen" usw. "Bei der internationalen Arbeitsteilung kommt es dahin, daß einzelne Länder - die<br />
alten Industrieländer - ihre Produktion zum persönlichen Konsum nur noch langsam ausdehnen können,<br />
während die Produktion von Produktionsmitteln bei ihnen noch rasche Fortschritte macht und für den<br />
Pulsgang ihres ökonomischen Lebens viel bestimmender wird als die der Produktion von<br />
Konsumtionsmitteln. Wer die Sache nur vom Standpunkt der betreffenden Nation ansieht, kommt dann<br />
leicht zur Ansicht, die Produktion von Produktionsmitteln könne dauernd rascher wachsen als die von<br />
Konsumtionsmitteln, sie sei an diese nicht gebunden."<br />
Letzteres, d.h. die Ansicht, als sei die Produktion von Produktionsmitteln von der Konsumtion<br />
unabhängig, ist natürlich eine vulgärökonomische Luftspiegelung Tugan-Baranowskis. Nicht so die<br />
Tatsache, mit der er diesen Trugschluß begründen will: das raschere Wachstum der Abteilung der<br />
Produktionsmittel im Vergleich zu derjenigen der Konsumtionsmittel. <strong>Die</strong>se Tatsache läßt sich gar nicht<br />
bestreiten, und zwar nicht bloß für alte Industrieländer, sondern überall, wo technischer Fortschritt die<br />
Produktion beherrscht. Auf ihr beruht auch das Marxsche Fundamentalgesetz vom tendenziellen Fall der<br />
Profitrate. Aber trotzdem oder gerade <strong>des</strong>halb ist es ein großer Irrtum, wenn Bulgakow, Iljin und Tugan-<br />
Baranowski wähnen, in diesem Gesetz das spezifische Wesen der kapitalistischen Wirtschaft als einer,<br />
für die Produktion Selbstzweck, menschliche Konsumtion bloß Nebensache sei, entschleiert zu haben.<br />
Das Wachstum <strong>des</strong> konstanten <strong>Kapitals</strong> auf Kosten <strong>des</strong> variablen ist nur der kapitalistische Ausdruck der<br />
allgemeinen Wirkungen der steigenden Produktivität der Arbeit. <strong>Die</strong> Formel c > v, aus der<br />
kapitalistischen Sprache in die Sprache <strong>des</strong> gesellschaftlichen Arbeitsprozesses übertragen, heißt nur<br />
soviel: je höher die Produktivität der menschlichen Arbeit, um so kürzer die Zeit, in der sie ein<br />
gegebenes Quantum Produktionsmittel in fertige Produkte verwandelt.(12) Das ist ein allgemeines<br />
Gesetz der menschlichen Arbeit, das ebensogut unter allen vorkapitalistischen Produktionsformen<br />
Geltung hatte, wie es in der Zukunft in der sozialistischen Gesellschaftsordnung gelten wird.<br />
Ausgedrückt in der sachlichen Gebrauchsgestalt <strong>des</strong> gesellschaftlichen Gesamtprodukts, muß sich dieses<br />
Gesetz äußern in einer immer größeren Verwendung der gesellschaftlichen Arbeitszeit auf Herstellung<br />
von Produktionsmitteln im Vergleich zur Herstellung von Konsummitteln. Ja, diese Verschiebung müßte<br />
in einer sozialistisch organisierten, planmäßig geleiteten gesellschaftlichen Wirtschaft noch bedeutend<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 23. Kapitel<br />
rascher vor sich gehen als in der gegenwärtigen kapitalistischen. Erstens wird die Anwendung der<br />
rationellen wissenschaftlichen Technik auf breitester Grundlage in der Landwirtschaft erst möglich,<br />
wenn die Schranken <strong>des</strong> privaten Grundbesitzes beseitigt sind. Daraus wird sich auf einem großen<br />
Gebiete der Produktion eine gewaltige Umwälzung ergeben, die im allgemeinen Resultat auf eine<br />
umfangreiche Verdrängung der lebendigen Arbeit durch Maschinenarbeit hinausläuft und die<br />
Inangriffnahme technischer Aufgaben größten Stils herbeiführen wird, für die heute keine Bedingungen<br />
vorhanden sind. Zweitens wird die Anwendung der Maschinerie überhaupt im Produktionsprozeß auf<br />
eine neue ökonomische Basis gestellt werden. Gegenwärtig tritt die Maschine nicht mit der lebendigen<br />
Arbeit, sondern bloß mit dem bezahlten Teil der lebendigen Arbeit in Konkurrenz. <strong>Die</strong> unterste Grenze<br />
der Anwendbarkeit der Maschine in der kapitalistischen Produktion ist mit den Kosten der durch sie<br />
verdrängten Arbeitskraft gegeben. Das heißt, für den Kapitalisten kommt eine Maschine erst dann in<br />
Betracht, wenn ihre Produktionskosten - bei gleicher Leistungsfähigkeit - weniger betragen als die Löhne<br />
der durch sie verdrängten Arbeiter. Vom Standpunkte <strong>des</strong> gesellschaftlichen Arbeitsprozesses, der allein<br />
in der sozialistischen Gesellschaft maßgebend sein kann, muß die Maschine nicht mit der zur Erhaltung<br />
der Arbeitenden notwendigen Arbeit, sondern mit der von ihnen geleisteten Arbeit in Konkurrenz treten.<br />
Das besagt soviel, daß für eine Gesellschaft, in der nicht Profitstandpunkt, sondern Ersparnis der<br />
menschlichen Arbeit maßgebend ist, die Anwendung der Maschine schon dann ökonomisch geboten<br />
wäre, wenn ihre Herstellung weniger Arbeit kostet, als sie an lebendiger Arbeit erspart. Wir sehen davon<br />
ab, daß in vielen Fallen, wo die Gesundheit und dergleichen Rücksichten auf die Interessen der<br />
Arbeitenden selbst in Frage kommen, die Anwendbarkeit der Maschine in Betracht kommen kann, auch<br />
wenn sie nicht einmal diese ökonomische Minimalgrenze der Ersparnis erreicht. Jedenfalls ist die<br />
Spannung zwischen der ökonomischen Anwendbarkeit der Maschinen in der kapitalistischen und in der<br />
sozialistischen Gesellschaft min<strong>des</strong>tens gleich der Differenz zwischen der lebendigen Arbeit und ihrem<br />
bezahlten Teil, d.h., sie kann genau gemessen werden durch den ganzen kapitalistischen Mehrwert.<br />
Daraus folgt, daß mit der Beseitigung der kapitalistischen Profitinteressen und der <strong>Ein</strong>führung der<br />
gesellschaftlichen Organisation der Arbeit die Grenze für die Anwendung der Maschinen sich plötzlich<br />
um die ganze Größe <strong>des</strong> kapitalistischen Mehrwerts hinausschieben, ihrem Eroberungszug sich ein<br />
enormes, unübersehbares Feld eröffnen wird. Es müßte sich dann handgreiflich zeigen, daß die<br />
kapitalistische Produktionsweise, die angeblich zur äußersten Entwicklung der Technik anstachelt,<br />
tatsächlich in dem ihr zugrunde liegenden Profitinteresse eine hohe soziale Schranke für den technischen<br />
Fort- schritt aufrichtet und daß mit der Niederreißung dieser Schranke der technische Fortschritt<br />
mit einer Macht vorwärtsdrängen wird, gegen die die technischen Wunder der kapitalistischen<br />
Produktion wie ein Kinderspiel erscheinen dürften.<br />
Ausgedrückt in der Zusammensetzung <strong>des</strong> gesellschaftlichen Produkts, kann dieser technische<br />
Umschwung nur bedeuten, daß die Produktion von Produktionsmitteln in der sozialistischen Gesellschaft<br />
- an Arbeitszeit gemessen - noch unvergleichlich rascher anwachsen muß im Vergleich zur Produktion<br />
von Konsummitteln als heute. Und so stellt sich das Verhältnis der beiden Abteilungen der<br />
gesellschaftlichen Produktion, in dem die russischen Marxisten einen spezifischen Ausdruck der<br />
kapitalistischen Verworrenheit, der Mißachtung für die menschlichen Konsumtionsbedürfnisse gepackt<br />
zu haben wähnten, vielmehr als der genaue Ausdruck der fortschreitenden Beherrschung der Natur durch<br />
die gesellschaftliche Arbeit heraus, ein Ausdruck, der am ausgeprägtesten just dann hervortreten müßte,<br />
wenn die menschlichen Bedürfnisse der allein maßgebende Gesichtspunkt der Produktion sein werden.<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 23. Kapitel<br />
Der einzige objektive Beweis für das "Fundamentalgesetz" Tugan-Baranowskis bricht somit als ein<br />
"fundamentales" Quiproquo zusammen, und seine ganze Konstruktion, aus der er auch die "neue<br />
Krisentheorie" mitsamt der " Disproportionalität" abgeleitet hat, wird reduziert auf ihre papierene<br />
Grundlage: auf das von Marx sklavisch abgeschriebene Schema der erweiterten Reproduktion.<br />
Fußnoten von <strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong><br />
(1) Studien zur Theorie und Geschichte der Handelskrisen in England, Jena 1901, S. 25.
<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 23. Kapitel<br />
Wachstum der Konsumtion, auf das Kautsky hier verweist, selbst Folge, Ergebnis der erweiterten<br />
Reproduktion, nicht ihre Grundlage und ihr Zweck, es ergibt sich in der Hauptsache aus dem<br />
gewachsenen variablen Kapital, aus der wachsenden Verwendung neuer Arbeiter. <strong>Die</strong> Erhaltung dieser<br />
Arbeiter kann aber nicht als Zweck und Aufgabe der Erweiterung der Reproduktion betrachtet werden,<br />
sowenig übrigens wie die zunehmende persönliche Konsumtion der Kapitalistenklasse. Der Hinweis<br />
Kautskys schlägt also wohl die Spezialschrulle Tugans zu Boden: den <strong>Ein</strong>fall, eine erweiterte<br />
Reproduktion bei absoluter Abnahme der Konsumtion zu konstruieren; er geht hingegen nicht auf die<br />
Grundfrage <strong>des</strong> Verhältnisses von Produktion zur Konsumtion vom Standpunkte <strong>des</strong><br />
Reproduktionsprozesse ein. Wir lesen zwar an einer anderen Stelle <strong>des</strong>selben Aufsatzes: "<strong>Die</strong><br />
Kapitalisten und die von ihnen ausgebeuteten Arbeiter bilden einen mit der Zunahme <strong>des</strong> Reichtums der<br />
ersteren und der Zahl der letzteren zwar stets wachsenden, aber nicht so rasch wie die <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong><br />
<strong>Kapitals</strong> und die Produktivität der Arbeit anwachsenden und für sich allein nicht ausreichenden Markt für<br />
die von der kapitalistischen Großindustrie geschaffenen Konsummittel. <strong>Die</strong>se muß einen zusätzlichen<br />
Markt außerhalb ihres Bereiches in den noch nicht kapitalistisch produzierenden Berufen und Nationen<br />
suchen. Den findet sie auch, und sie erweitert ihn ebenfalls immer mehr, aber ebenfalls nicht rasch<br />
genug. Denn dieser zusätzliche Markt besitzt bei weitem nicht die Elastizität und Ausdehnungsfähigkeit<br />
<strong>des</strong> kapitalistischen Produktionsprozesses. Sobald die kapitalistische Produktion zur entwickelten<br />
Großindustrie geworden ist, wie dies in England schon im ersten Viertel <strong>des</strong> neunzehnten Jahrhunderts<br />
der Fall war, erhält sie die Möglichkeit derartiger sprunghafter Ausdehnung, daß sie jede Erweiterung<br />
<strong>des</strong> Marktes binnen kurzem überholt. So ist jede Periode der Prosperität, die einer erheblichen<br />
Erweiterung <strong>des</strong> Marktes folgt, von vornherein zur Kurzlebigkeit verurteilt, und die Krise wird ihr<br />
notwendiges Ende. <strong>Die</strong>s in kurzen Zügen die, soweit wir sehen, von den 'orthodoxen' Marxisten<br />
allgemein angenommen, von Marx begründete Krisentheorie." (l.c., S. 80.) Kautsky befaßt sich aber<br />
damit nicht, die Auffassung von der Realisierung <strong>des</strong> Gesamtprodukts mit dem .Marxschen Schema der<br />
erweiterten Reproduktion in <strong>Ein</strong>klang zu bringen, vielleicht aus dem Grunde, weil er, wie auch das Zitat<br />
zeigt, das Problem ausschließlich unter dem Gesichtswinkel dar Krisen, d.h. vom Standpunkte <strong>des</strong><br />
gesellschaftlichen Produkts als einer unterschiedslosen Warenmasse in ihrer Gesamtmenge, nicht unter<br />
dem Gesichtswinkel seiner Gliederung im Reproduktionsprozeß, behandelt,<br />
An diese letztere Frage tritt anscheinend näher L. Boudin heran, der in seiner glänzenden Kritik<br />
<strong>des</strong>selben Tugan-Baranowski die Formulierung gibt: "Das in den kapitalistischen Ländern produzierte<br />
Mehrprodukt hat - mit einigen später zu erwähnenden Ausnahmen - nicht darum die Räder den<br />
Produktion in ihrem Lauf gehemmt, weil die Produktion geschickter in die verschiedenen Sphären<br />
verteilt wurden ist oder weil aus der Produktion von Baumwollwaren eine Produktion von Maschinen<br />
geworden ist, sondern <strong>des</strong>halb, weil auf Grund der Tatsache, daß sich einige Länder früher kapitalistisch<br />
umentwickelt haben als andere und daß es auch jetzt noch einige kapitalistisch unentwickelt gebliebene<br />
gibt, die kapitalistischen Länder wirklich eine außerhalb liegende Welt haben, in welche sie die von<br />
ihnen nicht selbst zu verbrauchenden Produkte hineinwerfen konnten, gleichviel, ob diese Produkte nun<br />
in Baumwoll- oder Eisenwaren bestanden. Damit soll durchaus nicht gesagt sein, daß die Wandlung von<br />
den Baumwoll- zu den Eisenwaren als führendem Produkt der hauptsächlichen kapitalistischen Länder<br />
etwa bedeutungslos wäre. Im Gegenteil, sie ist von der größten Wichtigkeit. Aber ihre Bedeutung ist eine<br />
ganz andere, als Tugan-Baranowski ihr beilegt. Sie zeigt den Anfang vom Ende <strong>des</strong> Kapitalismus.<br />
Solange die kapitalistischen Länder Waren zur Konsumtion ausführten, solange war noch Hoffnung für<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 23. Kapitel<br />
den Kapitalismus in jenen Ländern. Da war noch nicht die Rede davon, wie groß die Aufnahmefähigkeit<br />
der nichtkapitalistischen Außenwelt für die kapitalistisch produzierten Waren wäre und wie lange sie<br />
noch dauern würde. Das Anwachsen der Maschinenfabrikation im Export der kapitalistischen<br />
Hauptländer auf Kosten der Konsumtionsgüter zeigt, daß Gebiete, welche früher abseits vom<br />
Kapitalismus standen und <strong>des</strong>halb als Abla<strong>des</strong>telle für sein Mehrprodukt dienten, nunmehr in das<br />
Getriebe <strong>des</strong> Kapitalismus hineingezogen worden sind, zeigt, daß, da ihr eigener Kapitalismus sich<br />
entwickelt, sie ihre eigenen Konsumtionsgüter selbst produzieren. Jetzt, wo sie erst im Anfangsstadium<br />
ihrer kapitalistischen Entwicklung sind, brauchen sie noch die kapitalistisch produzierten Maschinen.<br />
Aber bald genug werden sie sie nicht mehr brauchen. Sie werden ihre eigenen Eisenwaren produzieren,<br />
genauso wie sie jetzt ihre eigenen Baumwoll- und andere Konsumtionswaren erzeugen. Dann werden sie<br />
nicht nur aufhören, eine Aufnahmestelle für das Mehrprodukt der eigentlichen kapitalistischen Länder zu<br />
sein, vielmehr werden sie selbst ein Mehrprodukt erzeugen, das sie nur schwer unterbringen können."<br />
(Mathematische Formeln gegen Karl Marx. In: <strong>Die</strong> Neue Zeit, 25 Jg. Erster Band, S. 604.) Baudin gibt<br />
hier sehr wichtige Ausblicke auf die großen Verknüpfungen in der Entwicklung <strong>des</strong> internationalen<br />
Kapitalismus. Weiter kommt er in diesem Zusammenhang logisch auf die Frage <strong>des</strong> Imperialismus.<br />
Leider spitzt er seine scharfe Analyse zum Schluß nach einer falschen Seite zu, indem er die ganze<br />
militärische Produktion und das System der internationalen Kapitalausfuhr nach nichtkapitalistischen<br />
Ländern unter den Begriff der "Verschwendung" bringt. - Im übrigen ist festzustellen, daß Boudin, genau<br />
wie Kautsky, das Gesetz <strong>des</strong> rascheren Wachstums der Abteilung der Produktionsmittel im Vergleich zur<br />
Abteilung der Lebensmittel für eine Täuschung Tugan-Baranowskis hält.
<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 23. Kapitel<br />
Form von Arbeitsmitteln dem Prozeß ein für allemal einverleibten und stets wiederholten, während<br />
längrer oder kürzrer Periode in ihm fungierenden Produktionsmittel (Gebäude, Maschinen etc.) beständig<br />
wächst und daß ihr Wachstum sowohl Voraussetzung wie Wirkung der Entwicklung der<br />
gesellschaftlichen Produktivkraft der Arbeit ist. Das nicht nur absolute, sondern relative Wachstum <strong>des</strong><br />
Reichtums in dieser Form (vgl. Buch I, Kap. XXIII, 2.) charakterisiert vor allem die kapitalistische<br />
Produktionsweise. <strong>Die</strong> stofflichen Existenzformen <strong>des</strong> konstanten <strong>Kapitals</strong>, die Produktionsmittel,<br />
bestehn aber nicht nur aus derartigen Arbeitsmitteln, sondern auch aus Arbeitsmaterial auf den<br />
verschiedenen Stufen der Verarbeitung und aus Hilfsstoffen. Mit der Stufenleiter der Produktion und der<br />
Steigerung der Produktivkraft der Arbeit durch Kooperation, Teilung, Maschinerie usw. wächst die<br />
Masse <strong>des</strong> Rohmaterials, der Hilfsstoffe etc., die in den täglichen Reproduktionsprozeß eingehn" (Das<br />
Kapital, Bd. II. S. 112.) [Karl Marx: Das Kapital, Zweiter Band. In Karl Marx/Friedrich Engels: Werke,<br />
Bd. 24, S. 142/143.]
<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 24. Kapitel<br />
23. Kapitel | Inhalt | 25. Kapitel<br />
<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - Gesammelte Werke. Herausgegeben vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Band<br />
5. <strong>Berlin</strong>/DDR. 1975. "<strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>", S. 275-278.<br />
1. Korrektur.<br />
Erstellt am 20.10.1998<br />
Vierundzwanzigstes Kapitel<br />
Der Ausgang <strong>des</strong> russischen "legalen" Marxismus<br />
Es ist ein Verdienst der russischen "legalen" Marxisten und insbesondere Tugan-Baranowskis, die<br />
Analyse <strong>des</strong> gesellschaftlichen Reproduktionsprozesses und <strong>des</strong>sen schematische Darstellung im zweiten<br />
Bande <strong>des</strong> Marxschen "<strong>Kapitals</strong>" im Kampfe mit den Skeptikern der kapitalistischen <strong>Akkumulation</strong> für<br />
die Wissenschaft fruktifiziert zu haben. Da aber Tugan-Baranowski diese schematische Darstellung für<br />
die Losung <strong>des</strong> Problems selbst statt für <strong>des</strong>sen Formulierung versehen hat, so kam er zu Schlüssen,<br />
welche die Grundlagen selbst der Marxschen Lehre auf den Kopf stellen mußten.<br />
<strong>Die</strong> Tugansche Auffassung, wonach die kapitalistische Produktion für sich selbst schrankenlosen Absatz<br />
bilden könne und von der Konsumtion unabhängig sei, führt ihn geradenwegs zu der Say-Ricardoschen<br />
Theorie von dem natürlichen Gleichgewicht zwischen Produktion und Konsumtion, Nachfrage<br />
und Angebot. Der Unterschied ist nur der, daß Say-Ricardo sich ausschließlich in den Bahnen der<br />
einfachen Warenzirkulation bewegten, während Tugan dieselbe Auffassung einfach auf die<br />
Kapitalzirkulation überträgt. Seine Theorie der Krisen aus "Disproportionalität" ist im Grunde<br />
genommen nichts als eine Paraphrase der alten platten Abgeschmacktheit Says: Wenn von irgendeiner<br />
Ware zuviel produziert worden ist, so beweist das bloß, daß von irgendeiner anderen Ware zuwenig<br />
produziert worden ist, nur daß Tugan diese Abgeschmacktheit in der Sprache der Marxschen Analyse <strong>des</strong><br />
Reproduktionsprozesses vorträgt. Und wenn er entgegen Say die allgemeine Überproduktion wohl für<br />
möglich erklärt, und zwar mit dem Hinweis auf die von Say ganz vernachlässigte Geldzirkulation, so<br />
basieren Tugans erfreuliche Operationen mit dem Marxschen Schema doch tatsächlich auf derselben<br />
Vernachlässigung der Geldzirkulation, wie sie Say und Ricardo im Problem der Krisen geläufig war:<br />
"Schema Nr. 2" wird sofort voller Stacheln mit Widerhaken, sobald man beginnt, es auf die<br />
Geldzirkulation zu transponieren. An diesen Stacheln ist Bulgakow in seinem Versuch, die abgebrochene<br />
Marxsche Analyse zu Ende zu denken, hängengeblieben. Es ist diese Vereinigung von Marx geborgter<br />
Denkformen mit Say-Ricatdoschem Gedankeninhalt, was Tugan-Baranowski bescheiden seinen<br />
"Versuch der Synthese der Marxschen Theorie mit der klassischen Nationalökonomie" getauft hat.<br />
So gelangt die optimistische Theorie, die die Möglichkeit und Entwicklungsfähigkeit der kapitalistischen<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 24. Kapitel<br />
Produktion gegen kleinbürgerliche Zweifel verteidigte, nach fast einem Jahrhundert und über die<br />
Marxsche Lehre in ihren "legalen" Wortführern wieder zum Ausgangspunkt, zu Say-Ricardo. <strong>Die</strong> drei<br />
"Marxisten" landen bei den bürgerlichen Harmonikern der guten alten Zeit knapp vor dem Sündenfall<br />
und der Vertreibung der bürgerlichen Nationalökonomie aus dem Paradiese der Unschuld - der Kreis ist<br />
geschlossen.<br />
<strong>Die</strong> "legalen" russischen Marxisten haben über Ihre Widersacher, die "Volkstümler", zweifellos gesiegt,<br />
sie haben aber zuviel gesiegt. Alle drei - Struve, Bulgakow, Tugan-Baranowski - haben im Eifer <strong>des</strong><br />
Gefechts mehr bewiesen als zu beweisen war. Es handelte sich darum, ob der Kapitalismus im<br />
allgemeinen und insbesondere in Rußland entwicklungsfähig sei, und die genannten Marxisten haben<br />
diese Fähigkeit so gründlich dargetan, daß sie sogar die Möglichkeit der ewigen Dauer <strong>des</strong> Kapitalismus<br />
theoretisch nachgewiesen haben. Es ist klar, daß, wenn man die schrankenlose <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong><br />
<strong>Kapitals</strong> annimmt, man auch die schranken- lose Lebensfähigkeit <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong> bewiesen hat. <strong>Die</strong><br />
<strong>Akkumulation</strong> ist die spezifisch kapitalistische Methode der Erweiterung der Produktion, der<br />
Entwicklung der Produktivität der Arbeit, der Entfaltung der Produktivkräfte, <strong>des</strong> ökonomischen<br />
Fortschritts. Ist die kapitalistische Produktionsweise imstande, schrankenlos die Steigerung der<br />
Produktivkräfte, den ökonomischen Fortschritt zu sichern, dann ist sie unüberwindlich. Der wichtigste<br />
objektive Pfeiler der wissenschaftlichen sozialistischen Theorie bricht dann zusammen, die politische<br />
Aktion <strong>des</strong> Sozialismus, der Ideengehalt <strong>des</strong> proletarischen Klassenkampfes hört auf, ein Reflex<br />
ökonomischer Vorgänge, der Sozialismus hört auf, eine historische Notwendigkeit zu sein. <strong>Die</strong><br />
Beweisführung, die von der Möglichkeit <strong>des</strong> Kapitalismus ausging, landet bei der Unmöglichkeit <strong>des</strong><br />
Sozialismus.<br />
<strong>Die</strong> drei russischen Marxisten waren sich <strong>des</strong> von ihnen im Gefecht vollzogenen Terrainwechsels wohl<br />
bewußt. Struve machte sich freilich über den Verlust <strong>des</strong> teuren Pfan<strong>des</strong> vor Jubel über die Kulturmission<br />
<strong>des</strong> Kapitalismus weiter keine Sorgen.(1) Bulgakow suchte das in die sozialistische Theorie gerissene<br />
Leck notdürftig mit einem anderen Fetzen dieser Theorie zu verstopfen: Er erhoffte, daß die<br />
kapitalistische Wirtschaft dennoch trotz ihres immanenten Gleichgewichts zwischen Produktion und<br />
Absatz zugrunde gehen müsse, und zwar an dem Fall der Profitrate. <strong>Die</strong>ser etwas nebelhafte Trost wird<br />
aber durch Bulgakow selbst zum Schluß vernichtet, wo er, auf die letzte Rettungsplanke, die er dem<br />
Sozialismus hingestreckt hatte, vergessend, plötzlich Tugan-Baranowski belehrt, daß der relative Fall der<br />
Profitrate für große Kapitale durch das absolute Wachstum <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong> wettgemacht werde.(2)<br />
Endlich Tugan-Baranowski, der konsequenteste von allen, reißt mit der derben Freude eines<br />
Naturburschen sämtliche objektive ökonomische Pfeiler der sozialistischen Theorie nieder und baut die<br />
Welt in seinem Geiste "schöner wieder auf" - auf dem Fundament der "Ethik". "Das Individuum<br />
protestiert gegen eine Wirtschaftsordnung, die den Zweck (den Menschen) in ein Mittel verwandelt und<br />
das Mittel (die Produktion) in einen Zweck."(3)<br />
Wie dünn und fadenscheinig die neuen Begründungen <strong>des</strong> Sozialismus waren, haben alle drei genannten<br />
Marxisten an ihrer Person bewiesen, indem sie dem Sozialismus alsbald, kaum daß sie ihn neu begründet<br />
hatten, den Rücken kehrten. Während die Massen in Rußland mit <strong>Ein</strong>setzung ihres Lebens für die Ideale<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 24. Kapitel<br />
einer Gesellschaftsordnung kämpften, die dereinst den Zweck (den Menschen) über das Mittel (die<br />
Produktion) stellen soll, schlug sich "das Individuum" in die Büsche und fand in Kant eine<br />
philosophische und ethische Beruhigung. <strong>Die</strong> "legalen" russischen Marxisten endeten praktisch, wo ihre<br />
theoretische Position sie hinführte: im Lager der bürgerlichen "Harmonien".<br />
Fußnoten von <strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong><br />
(1) In einer 1901 herausgegebenen Sammlung seiner russischen Aufsätze sagt Struve in der <strong>Ein</strong>leitung:<br />
"Im Jahre 1894, als der Verfasser seine 'Kritischen Bemerkungen zur Frage der ökonomischen<br />
Entwicklung Rußlands' veröffentlichte, war er in der Philosophie kritischer Positivist, in der Soziologie<br />
und Nationalökonomie ausgesprochener, wenn auch durchaus nicht orthodoxer Marxist. Seitdem haben<br />
sowohl der Positivismus wie der auf ihn gestützte (!) Marxismus aufgehört, für den Verfasser die ganze<br />
Wahrheit zu sein, haben aufgehört, seine Weltanschauung völlig zu bestimmen. Er sah sich genötigt, auf<br />
eigene Faust ein neues Gedankensystem zu suchen und auszuarbeiten. Der bösartige Dogmatismus, der<br />
Andersdenkende nicht nur widerlegt, sondern sie auch noch moralisch-psychologisch spioniert, erblickt<br />
in einer solchen Arbeit nur 'epikureische Flatterhaftigkeit <strong>des</strong> Sinnes'. Er ist nicht imstande zu begreifen,<br />
daß das Recht der Kritik an sich eins der teuersten Rechte <strong>des</strong> lebendigen, denkenden Individuums ist.<br />
Auf dieses Recht gedenkt der Verfasser nicht zu verzichten, und sollte ihm auch ständig die Gefahr<br />
drohen, unter der Anklage der 'Unbeständigkeit' zu stehen." (Über verschiedene Themen, Petersburg<br />
1901.)
<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 25. Kapitel<br />
24. Kapitel | Inhalt | 26. Kapitel<br />
<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - Gesammelte Werke. Herausgegeben vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Band<br />
5. <strong>Berlin</strong>/DDR. 1975. "<strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>", S. 279-296.<br />
1. Korrektur.<br />
Erstellt am 20.10.1998<br />
Dritter Abschnitt<br />
<strong>Die</strong> geschichtlichen Bedingungen<br />
der <strong>Akkumulation</strong><br />
Fünfundzwanzigstes Kapitel<br />
Widersprüche <strong>des</strong> Schemas der erweiterten Reproduktion<br />
Wir haben im ersten Abschnitt festgestellt, daß das Marxsche Schema der <strong>Akkumulation</strong> auf die<br />
Frage, für wen die erweiterte Reproduktion eigentlich stattfinde, keine Antwort gibt. Nimmt man das<br />
Schema wörtlich so, wie es im zweiten Bande am Schluß entwickelt ist, dann erweckt es den Anschein,<br />
als ob die kapitalistische Produktion ausschließlich selbst ihren gesamten Mehrwert realisierte und den<br />
kapitalisierten Mehrwert für die eigenen Bedürfnisse verwendete. <strong>Die</strong>s bestätigt Marx durch seine<br />
Analyse <strong>des</strong> Schemas, in der er den wiederholten Versuch macht, die Zirkulation dieses Schemas<br />
lediglich mit Geldmitteln, d.h. mit der Nachfrage der Kapitalisten und der Arbeiter zu bestreiten, ein<br />
Versuch, der ihn schließlich dazu führt, den Goldproduzenten als Deus ex machina in die Reproduktion<br />
einzuführen. Es kommt noch jene hochwichtige Stelle im ersten Band <strong>des</strong> "<strong>Kapitals</strong>" hinzu, die in<br />
demselben Sinne gedeutet werden muß: "Zunächst muß die Jahresproduktion alle die Gegenstände<br />
(Gebrauchswerte) liefern, aus denen die im Lauf <strong>des</strong> Jahres verbrauchten sachlichen Bestandteile <strong>des</strong><br />
<strong>Kapitals</strong> zu ersetzen sind. Nach Abzug dieser bleibt das Netto- oder Mehrprodukt, worin der Mehrwert<br />
steckt. Und woraus besteht dies Mehrprodukt? Vielleicht in Dingen, bestimmt zur Befriedigung der<br />
Bedürfnisse und Gelüste der Kapitalistenklasse, die also in ihren Konsumtionsfonds eingehn? Wäre das<br />
alles, so würde der Mehrwert verjubelt bis auf die Hefen, und es fände bloß einfache Reproduktion statt.<br />
Um zu akkumulieren, muß man einen Teil <strong>des</strong> Mehrprodukts in Kapital verwandeln. Aber, ohne Wunder<br />
zu tun, kann man nur solche Dinge in Kapital verwandeln, die im Arbeitsprozeß verwendbar sind. d h.<br />
Produktionsmittel, und <strong>des</strong> ferneren Dinge, von denen der Arbeiter sich er- halten kann, d.h.<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 25. Kapitel<br />
Lebensmittel. Folglich muß ein Teil der jährlichen Mehrarbeit verwandt worden sein zur Herstellung<br />
zusätzlicher Produktions- und Lebensmittel, im Überschuß über das Quantum, das zum Ersatz <strong>des</strong><br />
vorgeschossenen <strong>Kapitals</strong> erforderlich war. Mit einem Wort: der Mehrwert ist nur <strong>des</strong>halb in Kapital<br />
verwandelbar, weil das Mehrprodukt, <strong>des</strong>sen Wert er ist, bereits die sachlichen Bestandteile eines neuen<br />
<strong>Kapitals</strong> enthält."<br />
Hier werden für die <strong>Akkumulation</strong> folgende Bedingungen aufgestellt:<br />
1. Der Mehrwert, der kapitalisiert werden soll, kommt von vornherein in der Naturalgestalt <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong><br />
(als zuschüssige Produktionsmittel und zuschüssige Lebensmittel der Arbeiter) zur Welt.<br />
2. <strong>Die</strong> Erweiterung der kapitalistischen Produktion wird vollzogen ausschließlich mit eigenen<br />
(kapitalistisch produzierten) Produktionsmitteln und Lebensmitteln.<br />
3. Der Umfang der jeweiligen Produktionserweiterung (<strong>Akkumulation</strong>) ist von vornherein durch den<br />
Umfang <strong>des</strong> je<strong>des</strong>maligen zu kapitalisierenden) Mehrwerts gegeben; sie kann nicht größer sein, da sie an<br />
die Menge Produktions- und Lebensmittel gebunden ist, die das Mehrprodukt darstellen, sie kann aber<br />
auch nicht geringer sein, da sonst ein Teil <strong>des</strong> Mehrprodukts in seiner Naturalgestalt unverwendbar wäre.<br />
<strong>Die</strong>se Abweichungen nach oben und nach unten mögen periodische Schwankungen und Krisen<br />
hervorrufen, von denen wir hier abzusehen haben; im Durchschnitt müssen sich zu kapitalisieren<strong>des</strong><br />
Mehrprodukt und faktische <strong>Akkumulation</strong> decken.<br />
4. Da die kapitalistische Produktion selbst ausschließliche Abnehmerin ihres Mehrprodukts ist, so ist für<br />
die Kapitalakkumulation keine Schranke zu finden.<br />
<strong>Die</strong>sen Bedingungen entspricht auch das Marxsche Schema der erweiterten Reproduktion. Hier geht die<br />
<strong>Akkumulation</strong> vonstatten, ohne daß im geringsten ersichtlich wäre, für wen, für welche neuen<br />
Konsumenten schließlich die Produktion immer mehr erweitert wird. Das Schema setzt etwa folgenden<br />
Gang voraus: <strong>Die</strong> Kohlenindustrie wird erweitert, um die Eisenindustrie zu erweitern. <strong>Die</strong>se wird<br />
erweitert, um die Maschinenindustrie zu erweitern. <strong>Die</strong>se wird erweitert, um die Produktion der<br />
Konsumtionsmittel zu erweitern. <strong>Die</strong>se wird ihrerseits erweitert, um die wachsende Armee der Kohlen-,<br />
Eisen- und Maschinenarbeiter sowie der eigenen Arbeiter zu erhalten. Und so "ad infinitum" im Kreise -<br />
nach der Theorie Tugan-Baranowskis. Daß das Marxsche Schema, allein betrachtet, in der Tat<br />
eine solche Auslegung zuläßt, beweist der bloße Umstand, daß Marx nach seinen eigenen wiederholten<br />
und ausdrücklichen Feststellungen überhaupt unternimmt, den <strong>Akkumulation</strong>sprozeß <strong>des</strong> Gesamtkapitals<br />
in einer Gesellschaft darzustellen, die lediglich aus Kapitalisten und Arbeitern besteht. <strong>Die</strong> Stellen, die<br />
darauf Bezug nehmen, finden sich in jedem Bande <strong>des</strong> "<strong>Kapitals</strong>".<br />
Im ersten Bande, gerade im Kapitel über die "Verwandlung von Mehrwert in Kapital" heißt es: "Um den<br />
Gegenstand der Untersuchung in seiner Reinheit, frei von störenden Nebenumständen aufzufassen,<br />
müssen wir hier die gesamte Handelswelt als eine Nation ansehn und voraussetzen, daß die<br />
kapitalistische Produktion sich überall festgesetzt und sich aller Industriezweige bemächtigt hat." (S. 544,<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 25. Kapitel<br />
Fußnote 21a.) [Karl Marx: Das Kapital, Erster Band. In: Karl Marx Friedrich Engels: Werke, Bd. 23, S.<br />
607]<br />
Im zweiten Bande kehrt die Voraussetzung mehrmals wieder. So im Kapitel 17 über die Zirkulation <strong>des</strong><br />
Mehrwerts:<br />
"Nun aber existieren nur zwei Ausgangspunkte: der Kapitalist und der Arbeiter. Alle dritten<br />
Personenrubriken müssen entweder für <strong>Die</strong>nstleistungen Geld von diesen beiden Klassen erhalten, oder<br />
soweit sie es ohne Gestenleistung erhalten, sind sie Mitbesitzer <strong>des</strong> Mehrwerts in der Form von Rente,<br />
Zins etc. ...<br />
<strong>Die</strong> Kapitalistenklasse bleibt also der einzige Ausgangspunkt der Geldzirkulation." (S. 307.) [Karl Marx:<br />
Das Kapital, Zweiter Band. In: Karl Marx/Friedrich Engels: Werke, Bd. 24, S. 334/335.]<br />
Weiter in demselben Kapitel speziell über die Geldzirkulation unter Voraussetzung der <strong>Akkumulation</strong>:<br />
"Aber die Schwierigkeit kommt dann, wenn wir nicht partielle, sondern allgemeine <strong>Akkumulation</strong> von<br />
Geldkapital in der Kapitalistenklasse voraussetzen. Außer dieser Klasse gibt es nach unsrer Unterstellung<br />
- allgemeine und ausschließliche Herrschaft der kapitalistischen Produktion - überhaupt keine andre<br />
Klasse als die Arbeiterklasse." (S. 321.) [Karl Marx: Das Kapital, Zweiter Band. In: Karl Marx Friedrich<br />
Engels: Werke, Bd. 24, S. 348.]<br />
Dasselbe nochmals im 20. Kapitel: "... hier gibt es nur zwei Klassen: die Arbeiterklasse, die nur über ihre<br />
Arbeitskraft verfügt; die Kapitalistenklasse, die im Monopolbesitz der gesellschaftlichen<br />
Produktionsmittel wie <strong>des</strong> Gel<strong>des</strong> ist." (S. 396.) [Karl Marx: Das Kapital, Zweiter Band. In: Karl<br />
Marx/Friedrich Engels: Werke, Bd. 24, S. 419.]<br />
Im dritten Bande, bei der Darstellung <strong>des</strong> Gesamtprozesses der kapitalistischen Produktion, sagt<br />
Marx ganz ausdrücklich:<br />
"Denken wir uns die ganze Gesellschaft bloß aus industriellen Kapitalisten und Lohnarbeitern<br />
zusammengesetzt. Sehn wir ferner ab von den Preiswechseln, die große Portionen <strong>des</strong> Gesamtkapitals<br />
hindern, sich in ihren Durchschnittsverhältnissen zu ersetzen, und die, bei dem allgemeinen<br />
Zusammenhang <strong>des</strong> ganzen Reproduktionsprozesses, wie ihn namentlich der Kredit entwickelt, immer<br />
zeitweilige allgemeine Stockungen hervorbringen müssen. Sehn wir ab ebenfalls von den<br />
Scheingeschäften und spekulativen Umsätzen, die das Kreditwesen fördert. Dann wäre eine Krise nur<br />
erklärlich aus Mißverhältnis der Produktion in verschiednen Zweigen und aus einem Mißverhältnis,<br />
worin der Konsum der Kapitalisten selbst zu ihrer <strong>Akkumulation</strong> stände. Wie aber die Dinge liegen,<br />
hängt der Ersatz der in der Produktion angelegten Kapitale großenteils ab von der Konsumtionsfähigkeit<br />
der nicht produktiven Klassen; während die Konsumtionsfähigkeit der Arbeiter teils durch die Gesetze<br />
<strong>des</strong> Arbeitslohns, teils dadurch beschränkt ist, daß sie nur solange angewandt werden, als sie mit Profit<br />
für die Kapitalistenklasse angewandt werden können." (2. Teil, S. 21.; [Karl Marx: Das Kapital, Dritter<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 25. Kapitel<br />
Band. In: Karl Marx/Friedrich Engels: Werke, Bd. 25, S. 500/501.] <strong>Die</strong>ses letzte Zitat bezieht sich auf<br />
die Frage der Krisen, die für uns nicht in Betracht kommt; es zeigt aber unzweideutig, daß Marx die<br />
Bewegung <strong>des</strong> Gesamtkapitals, "wie die Dinge liegen", nur von drei Kategorien Konsumenten abhängig<br />
macht: Kapitalisten, Arbeitern und "nichtproduktiven Klassen", d.h. dem Anhang der Kapitalistenklasse<br />
("König, Praff, Professor, Hure, Kriegsknecht") den er im zweiten Bande mit vollem Recht nur als<br />
Vertreter abgeleiteter Kaukraft und sofern als Mitverzehrer <strong>des</strong> Mehrwertes oder <strong>des</strong> Arbeitslohnes abtut.<br />
Endlich in den "Theorien über den Mehrwert", Band II, Teil 2, Seite 263 [Karl Marx: Theorien über den<br />
Mehrwert, Zweiter Teil. In: Karl Marx/Friedrich Engels: Werke, Bd. 26.2, S. 493.], formuliert Marx die<br />
allgemeinen Voraussetzungen, unter denen er die <strong>Akkumulation</strong> ins Auge faßt, im Kapitel<br />
"<strong>Akkumulation</strong> von Kapital und Krisen" wie folgt:<br />
"Wir haben hier bloß die Formen zu betrachten, die das Kapital in seinen verschiednen<br />
Fortentwicklungen durchmacht. Es sind also die reellen Verhältnisse nicht entwickelt, innerhalb deren<br />
der wirkliche Produktionsprozeß vorgeht. Es wird immer unterstellt, daß die Ware zu ihrem Wert<br />
verkauft wird. <strong>Die</strong> Konkurrenz der Kapitalien wird nicht betrachtet, ebensowenig das<br />
Kreditwesen, ebensowenig die wirkliche Konstitution der Gesellschaft, die keineswegs bloß aus den<br />
Klassen der Arbeiter und industriellen Kapitalisten besteht, wo also Konsumenten und Produzenten nicht<br />
identisch, die erstere Kategorie (deren Revenuen zum Teil sekundäre, vom Profit und Salair abgeleitete,<br />
keine primitiven sind) der Konsumenten viel weiter ist als die zweite (die der Produzenten - R. L.), und<br />
daher die Art, wie sie ihre Revenue spendet, und der Umfang der letztren sehr große Modifikationen im<br />
ökonomischen Haushalt und speziell im Zirkulations- und Reproduktionsprozesse <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong><br />
hervorbringt." Also auch hier berücksichtigt Marx, wenn er schon von der "wirklichen Konstitution der<br />
Gesellschaft" spricht, lediglich die Mitesser <strong>des</strong> Mehrwerts und <strong>des</strong> Arbeitslohns, also bloß den Anhang<br />
der kapitalistischen Grundkategorien der Produktion.<br />
So unterliegt es keinem Zweifel, daß Marx den Prozeß der <strong>Akkumulation</strong> in einer ausschließlich aus<br />
Kapitalisten und Arbeitern bestehenden Gesellschaft darstellen wollte, unter allgemeiner und<br />
ausschließlicher Herrschaft der kapitalistischen Produktionsweise. Unter diesen Voraussetzungen läßt<br />
aber sein Schema keine andere Deutung zu als die Produktion um der Produktion willen.<br />
Erinnern wir uns an daß zweite Beispiel <strong>des</strong> Marxschen Schemas der erweiterten Reproduktion.<br />
Erstes Jahr<br />
I. 5.000 c + 1.000 v + 1.000 m = 7.000 (Produktionsmittel)<br />
II. 1.430 c + 285 v + 285 m = 2.000<br />
9.000<br />
(Konsummittel)<br />
Zweites Jahr<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 25. Kapitel<br />
I. 5.417 c + 1.083 v + 1.083 m = 7.583 (Produktionsmittel)<br />
II. 1.583 c + 316 v + 316 m = 2.215 (Konsummittel)<br />
Drittes Jahr<br />
9.798<br />
I. 5.869 c + 1.173 v + 1.173 m = 8.215 (Produktionsmittel)<br />
II. 1.715 c + 342 v + 342 m = 2.399 (Konsummittel)<br />
Viertes Jahr<br />
10.614<br />
I. 6.358 c + 1.271 v + 1.271 m = 8.900 (Produktionsmittel)<br />
II. 1.858 c + 371 v + 371 m = 2.600 (Konsummittel)<br />
11.500<br />
Hier geht die <strong>Akkumulation</strong> von Jahr zu Jahr ununterbrochen in dem Maße fort, daß jeweilig aus<br />
dem erzielten Mehrwert die Hälfte von den Kapitalisten konsumiert, die Hälfte kapitalisiert wird. Bei der<br />
Kapitalisierung wird fortlaufend für das Zusatzkapital wie für das Originalkapital dieselbe technische<br />
Basis, d.h. dieselbe organische Zusammensetzung oder <strong>Ein</strong>teilung in konstantes und variables Kapital<br />
und auch dieselbe Ausbeutungsrate (immer = 100 Prozent) beibehalten. Der kapitalisierte Teil <strong>des</strong><br />
Mehrwerts kommt, der Marxschen Annahme im ersten Bande <strong>des</strong> "<strong>Kapitals</strong>" entsprechend, von<br />
vornherein in Gestalt von zuschüssigen Produktionsmitteln und Lebensmitteln der Arbeiter zur Welt.<br />
Beide dienen dazu, die Produktion in der Abteilung I wie II immer mehr zu steigern. Für wen diese<br />
fortschreitende Steigerung der Produktion stattfindet, ist nach den Marxschen Voraussetzungen <strong>des</strong><br />
Schemas unerfindlich. Freilich steigt gleichzeitig mit der Produktion auch die Konsumtion der<br />
Gesellschaft: Es steigt die Konsumtion der Kapitalisten (im ersten Jahr beträgt sie, im Wert dargestellt,<br />
500 + 142, im zweiten 542 + 158, im dritten 586 + 171, im vierten 635 + 185), es steigt auch die<br />
Konsumtion der Arbeiter; ihr genauer Anzeiger, im Wert dargestellt, ist das variable Kapital, das von<br />
Jahr zu Jahr in beiden Abteilungen wächst. Doch - abgesehen von allem anderen - kann die wachsende<br />
Konsumtion der Kapitalistenklasse jedenfalls nicht als Zweck der <strong>Akkumulation</strong> betrachtet werden;<br />
umgekehrt, sofern diese Konsumtion stattfindet und wächst, findet keine <strong>Akkumulation</strong> statt; die<br />
persönliche Konsumtion der Kapitalisten fällt unter die Gesichtspunkte der einfachen Reproduktion. Es<br />
fragt sich vielmehr: Für wen produzieren die Kapitalisten, wenn und soweit sie nicht selbst konsumieren,<br />
sondern "entsagen", d.h. akkumulieren? Noch weniger kann die Erhaltung einer immer größeren Armee<br />
von Arbeitern der Zweck der ununterbrochenen Kapitalakkumulation sein. <strong>Die</strong> Konsumtion der Arbeiter<br />
ist kapitalistisch eine Folge der <strong>Akkumulation</strong>, niemals ihr Zweck und ihre Voraussetzung, wenn anders<br />
die Grundlagen der kapitalistischen Produktion nicht auf den Kopf gestellt werden sollen. Und jedenfalls<br />
können die Arbeiter stets nur den Teil <strong>des</strong> Produkts konsumieren, der dem variablen Kapital entspricht,<br />
kein Jota darüber hinaus. Wer realisiert also den beständig wachsenden Mehrwert. Das Schema<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 25. Kapitel<br />
antwortet: die Kapitalisten selbst und nur sie. Und was fangen sie mit ihrem wachsenden Mehrwert an?<br />
Das Schema antwortet: Sie gebrauchen ihn, um ihre Produktion immer mehr zu erweitern. <strong>Die</strong>se<br />
Kapitalisten sind also Fanatiker der Produktionserweiterung um der Produktionserweiterung willen. Sie<br />
lassen immer neue Maschinen bauen, um damit immer wieder neue Maschinen zu bauen. Was wir<br />
aber auf diese Weise bekommen, ist nicht eine Kapitalakkumulation, sondern eine wachsende Produktion<br />
von Produktionsmitteln ohne jeden Zweck, und es gehört die Tugan-Baranowskische Kühnheit und<br />
Freude an Paradoxen dazu, um anzunehmen, dieses unermüdliche Karussell im leeren Luftraum könne<br />
ein treues theoretisches Spiegelbild der kapitalistischen Wirklichkeit und eine wirkliche Konsequenz der<br />
Marxschen Lehre sein.(1)<br />
Außer dem gleich im Anfang abgebrochenen Entwurf der Analyse der erweiterten Reproduktion, den wir<br />
im zweiten Bande <strong>des</strong> "<strong>Kapitals</strong>" vorfinden, hat Marx seine allgemeine Auffassung von dem<br />
charakteristischen Gang der kapitalistischen <strong>Akkumulation</strong> in seinem ganzen Werke, namentlich im<br />
dritten Bande, sehr ausführlich und deutlich niedergelegt. Und man braucht sich nur in diese Auffassung<br />
hineinzudenken, um das Unzulängliche <strong>des</strong> Schemas am Schluß <strong>des</strong> zweiten Ban<strong>des</strong> ohne Mühe<br />
einzusehen.<br />
Prüft man das Schema der erweiterten Reproduktion gerade vom Standpunkte der Marxschen Theorie, so<br />
muß man finden, daß es sich mit ihr in mehreren Hinsichten im Widerspruch befindet.<br />
Vor allem berücksichtigt das Schema die fortschreitende Produktivität der Arbeit gar nicht. Es setzt<br />
nämlich von Jahr zu Jahr trotz der <strong>Akkumulation</strong> dieselbe Zusammensetzung <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, d.h. dieselbe<br />
technische Grundlage <strong>des</strong> Produktionsprozesses voraus. <strong>Die</strong>ses Verfahren ist an sich, behufs<br />
Vereinfachung der Analyse, vollkommen zulässig. Das Absehen von den Verschiebungen der Technik,<br />
die dem Prozeß der Kapitalakkumulation parallel laufen und von ihm unzertrennlich sind, muß jedoch<br />
wenigstens hinterher in Betracht gezogen, angerechnet werden, wo man die konkreten Bedingungen der<br />
Realisierung <strong>des</strong> gesellschaftlichen Gesamtprodukts und der Reproduktion untersucht. Zieht man aber<br />
die Fortschritte der Produktivität der Arbeit in Betracht, dann folgt daraus, daß die sachliche Masse <strong>des</strong><br />
gesellschaftlichen Produkts - Produktionsmitte wie Konsumtionsmittel - noch viel rascher wächst als<br />
seine Wertmasse, wie das Schema anzeigt. <strong>Die</strong> andere Seite dieses Anwachsens der Masse der<br />
Gebrauchswerte ist aber auch eine Verschiebung der Wertverhältnisse. Nach der zwingenden<br />
Beweisführung Marxens, die einen der Ecksteine der Theorie bildet, äußert sich die fortschreitende<br />
Entwicklung der Produktivität der Arbeit darin, daß bei zunehmender Kapital- akkumulation die<br />
Zusammensetzung <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong> sowie die Mehrwertrate nicht konstant bleiben können, wie dies in dem<br />
Marxschen Schema unterstellt wird. Im Gegenteil, mit dem Fortgang der <strong>Akkumulation</strong> muß das c<br />
(konstantes Kapital) in beiden Abteilungen nicht bloß absolut, sondern auch relativ zu v + m oder dem<br />
gesamten geschaffenen Neuwert wachsen (gesellschaftlicher Ausdruck der Produktivität der Arbeit);<br />
gleichzeitig muß das konstante Kapital im Verhältnis zum variablen Kapital und ebenso der Mehrwert im<br />
Verhältnis zum variablen Kapital oder die Mehrwertrate wachsen (kapitalistischer Ausdruck der<br />
Produktivität der Arbeit). Daß diese Verschiebungen nicht buchstäblich in jedem Jahre eintreten, tut<br />
nichts zur Sache, wie auch die Bezeichnungen "erstes, zweites, drittes usw. Jahr" im Marxschen Schema<br />
sich überhaupt nicht notwendig auf das Kalenderjahr beziehen und beliebige Zeitabschnitte bedeuten<br />
können. Endlich mögen die Verschiebungen in der Zusammensetzung <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong> sowie in der<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 25. Kapitel<br />
Mehrwertrate beliebig im ersten, dritten, fünften, siebenten usw. Jahr oder im zweiten, sechsten, neunten<br />
usw. unterstellt werden. Es kommt nur darauf an, daß sie überhaupt und als eine periodische Erscheinung<br />
in Betracht gezogen werden. Ergänzt man dementsprechend das Schema, so wird sich herausstellen, daß<br />
sogar bei dieser <strong>Akkumulation</strong>smethode mit jedem Jahre ein wachsen<strong>des</strong> Defizit an Produktionsmitteln<br />
und wachsender Überschuß an Konsumtionsmitteln entstehen muß. Tugan-Baranowski freilich, der auf<br />
dem Papier aller Schwierigkeiten Herr wird, konstruiert einfach ein Schema mit anderen Proportionen,<br />
wobei er das variable Kapital von Jahr zu Jahr um 25 Prozent verringert. Da das Papier auch diese<br />
arithmetische Übung geduldig erträgt, ist das für Tugan ein Grund, mit Triumph zu "beweisen", daß<br />
sogar bei absolutem Rückgang der Konsumtion die <strong>Akkumulation</strong> glatt wie am Schnürchen verläuft.<br />
Schließlich muß aber auch Tugan selbst zugehen, daß seine Annahme der absoluten Verringerung <strong>des</strong><br />
variablen <strong>Kapitals</strong> mit der Wirklichkeit in schroffem Widerspruch steht. Das variable Kapital wächst im<br />
Gegenteil absolut in allen kapitalistischen Ländern, es geht nur relativ zurück im Verhältnis zum noch<br />
rascheren Wachstum <strong>des</strong> konstanten <strong>Kapitals</strong>. Nehmen wir aber, dem wirklichen Gang der Dinge<br />
entsprechend, von Jahr zu Jahr bloß ein rascheres Wachstum <strong>des</strong> konstanten und ein langsameres <strong>des</strong><br />
variablen <strong>Kapitals</strong> sowie eine wachsende Mehrwertrate an, dann tritt ein Mißverhältnis zwischen der<br />
sachlichen Zusammensetzung <strong>des</strong> gesellschaftlichen Produkts und der Wertzusammensetzung <strong>des</strong><br />
<strong>Kapitals</strong> in die Erscheinung. Nehmen wir z.B. im Marxschen Schema statt der ständigen Proportion von<br />
konstant zu variabel = 5:1 die fortschreitend höhere Zu- sammensetzung für den Zuwachs <strong>des</strong><br />
<strong>Kapitals</strong>, im zweiten Jahr 6:1, im dritten 7:1, im vierten 8:1. Nehmen wir ferner, entsprechend der<br />
höheren Produktivität der Arbeit, auch eine fortlaufend wachsende Mehrwertrate - sagen wir, statt der<br />
stabilen Mehrwertrate von 100 Prozent setzen wir, trotz <strong>des</strong> relativ abnehmenden variablen <strong>Kapitals</strong>, den<br />
im Marxschen Schema jeweilig angenommenen Mehrwert. Gehen wir endlich von der je<strong>des</strong>maligen<br />
Kapitalisierung der Hälfte <strong>des</strong> angeeigneten Mehrwerts aus (ausgenommen die Abteilung II, die im<br />
ersten Jahr nach Marxscher Annahme mehr als die Hälfte, nämlich 184 von 285 m kapitalisiert). Dann<br />
erhalten wir das folgende Resultat:<br />
Erstes Jahr<br />
I. 5.000 c + 1.000 v + 1.000 m = 7.000 (Produktionsmittel).<br />
II. 1.430 c + 285 v + 285 m = 2.000 (Konsummittel).<br />
Zweites Jahr<br />
I. 5.4284/7 c + 1.0713/7 v + 1.083 m = 7.583.<br />
II. 1.5875/7 c + 3112/7 v + 316 m = 2.215.<br />
Drittes Jahr<br />
I. 5.903 c + 1.139 v + 1.173 m = 8.215.<br />
II. 1.726 c + 311 v + 342 m = 2.399.<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 25. Kapitel<br />
Viertes Jahr<br />
I. 6.424 c + 1.205 v + 1.271 m = 8.900.<br />
II. 1.879 c + 350 v + 371 m = 2.600.<br />
Sollte die <strong>Akkumulation</strong> in dieser Weise vor sich gehen, dann ergäbe sich ein Defizit an<br />
Produktionsmitteln im zweiten Jahr um 16, im dritten in 45, im vierten um 88 und gleichzeitig ein<br />
Überschuß an Konsumtionsmitteln im zweiten Jahr um 16, im dritten um 45, im vierten um 88.<br />
Das Defizit an Produktionsmitteln mag z.T. ein scheinbares sein. Infolge der steigenden Produktivität der<br />
Arbeit ist das Wachstum der Masse der Produktionsmittel ein rascheres als das ihrer Wertmasse, oder<br />
anders ausgedrückt, es folgt die Verbilligung der Produktionsmittel. Da es bei der Erhöhung der Technik<br />
der Produktion vor allem nicht auf den Wert, sondern auf den Gebrauchswert, auf die sachlichen<br />
Elemente <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong> ankommt, so mag trotz <strong>des</strong> Wertdefizits bis zu einem gewissen Grade tatsächlich<br />
eine ausreichende Menge Produktionsmittel zur fortschreitenden <strong>Akkumulation</strong> angenommen werden. Es<br />
ist dies dieselbe Erscheinung, die u.a. den Fall der Profitrate aufhält und ihn nur zu einem tendenziellen<br />
macht. Allerdings wäre aber, wie unser Beispiel zeigt, der Fall der Profit- rate nicht aufgehalten,<br />
sondern gänzlich aufgehoben. Hingegen weist derselbe Umstand auf einen viel stärkeren Überschuß<br />
unabsetzbarer Konsumtionsmittel hin, als dies aus der Wertsumme dieses Überschusses hervorgeht. Es<br />
bliebe dann nur übrig, entweder die Kapitalisten der II. Abteilung zu zwingen, diesen Überschuß selbst<br />
zu konsumieren, wie Marx sonst mit ihnen verfährt, was für diese Kapitalisten das Gesetz der<br />
<strong>Akkumulation</strong> wieder in der Richtung zur einfachen Reproduktion beugen würde, oder dieser Überschuß<br />
muß als unabsetzbar erklärt werden.<br />
Man kann freilich erwidern, daß dem Defizit an Produktionsmitteln, das sich in unserem Beispiel ergab,<br />
sehr leicht abzuhelfen wäre: Wir brauchen nur anzunehmen, daß die Kapitalisten der Abteilung I in<br />
stärkerem Maße ihren Mehrwert kapitalisieren. In der Tat liegt gar kein zwingender Grund vor, um<br />
anzunehmen, daß die Kapitalisten jeweilig nur die Hälfte ihres Mehrwerts zum Kapital schlagen, wie<br />
dies Marx in seinem Beispiel voraussetzt. Mag dem Fortschritt in der Produktivität der Arbeit eine<br />
fortschreitend wachsende Quote <strong>des</strong> kapitalisierten Mehrwerts entsprechen. <strong>Die</strong>se Annahme ist an sich<br />
um so zulässiger, als ja eine der Folgen der fortgeschrittenen Technik auch die Verbilligung der<br />
Konsumtionsmittel der Kapitalistenklasse ist, so daß sich die relative Wertverminderung ihrer verzehrten<br />
Revenue (im Vergleich zum kapitalisierten Teil) in derselben oder selbst steigenden Lebenshaltung für<br />
diese Klasse äußern mag. So dürfen wir denn z.B. annehmen, daß das von uns festgestellte Defizit an<br />
Produktionsmitteln für die Abteilung I durch die entsprechende Übertragung eines Teils <strong>des</strong><br />
konsumierten Mehrwerts I (der ja in dieser Abteilung, wie alle Wertteile <strong>des</strong> Produkts, in der Gestalt von<br />
Produktionsmitteln zur Welt kommt) ins konstante Kapital, und zwar im zweiten Jahre im Betrage von<br />
11 4/7, im dritten von 34, im vierten von 66, gedeckt wird.(2) <strong>Die</strong> Lösung der einen Schwierigkeit<br />
vergrößert in<strong>des</strong> nur die andere. Es ist ohne weiteres klar: Je mehr die Kapitalisten der Abteilung I ihre<br />
Konsumtion relativ einschränken, um die <strong>Akkumulation</strong> zu ermöglichen, um so mehr erweist sich auf<br />
seiten der Abteilung II ein unabsetzbarer Rest an Konsumtionsmitteln und dementsprechend die<br />
Unmöglichkeit, das konstante Kapital auch nur auf der bisherigen technischen Grundlage zu vergrößern.<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 25. Kapitel<br />
<strong>Die</strong> eine Voraussetzung: fortschreitende relative <strong>Ein</strong>schränkung der Konsumtion bei den Kapitalisten I,<br />
müßte durch die andere Voraussetzung ergänzt werden: fortschreitende relative Vergröße- rung<br />
der Privatkonsumtion der Kapitalisten II, die Beschleunigung der <strong>Akkumulation</strong> in der ersten Abteilung<br />
durch Verlangsamung in der zweiten, der Fortschritt der Technik in der einen durch den Rückschritt in<br />
der andern.<br />
<strong>Die</strong>se Resultate sind kein Zufall. Was durch unsere obigen Versuche mit dem Marxschen Schema<br />
lediglich illustriert werden sollte, ist folgen<strong>des</strong>. <strong>Die</strong> fortschreitende Technik muß sich nach Marx selbst<br />
in dem relativen Wachstum <strong>des</strong> konstanten <strong>Kapitals</strong> im Vergleich mit dem variablen äußern. Daraus<br />
ergibt sich die Notwendigkeit einer fortschreitenden Verschiebung in der <strong>Ein</strong>teilung <strong>des</strong> kapitalisierten<br />
Mehrwerts zwischen c und v. <strong>Die</strong> Kapitalisten <strong>des</strong> Marxschen Schemas sind aber gar nicht in der Lage,<br />
diese <strong>Ein</strong>teilung beliebig vorzunehmen, denn sie sind bei ihrem Geschäft der Kapitalisierung von<br />
vornherein an die Sachgestalt ihres Mehrwerts gebunden. Da nach der Marxschen Annahme die ganze<br />
Produktionserweiterung ausschließlich mit den eigenen kapitalistisch hergestellten Produktions- und<br />
Konsumtionsmitteln vorgenommen wird - andere Produktionsstätten und -formen existieren hier<br />
ebensowenig wie andere Konsumenten als die Kapitalisten und Arbeiter der beiden Abteilungen - und da<br />
andererseits Voraussetzung <strong>des</strong> glatten Fortganges der <strong>Akkumulation</strong> ist, daß das Gesamtprodukt der<br />
beiden Abteilungen in der Zirkulation restlos draufgeht, so ergibt sich das folgende Resultat: <strong>Die</strong><br />
technische Gestaltung der erweiterten Reproduktion ist hier den Kapitalisten im voraus streng<br />
vorgeschrieben durch die Sachgestalt <strong>des</strong> Mehrprodukts. Mit anderen Worten: <strong>Die</strong> Erweiterung der<br />
Produktion kann und muß bei dem Marxschen Schema jeweilig nur auf einer solchen technischen<br />
Grundlage vorgenommen werden, bei der der ganze hergestellte Mehrwert der Abteilung I wie der<br />
Abteilung II Verwendung findet, wobei noch im Auge behalten werden muß, daß die beiden Abteilungen<br />
zu ihren respektiven Produktionselementen nur durch gegenseitigen Austausch gelangen können. Auf<br />
diese Weise ist die jeweilige Verteilung <strong>des</strong> zu kapitalisierenden Mehrwerts zwischen dem konstanten<br />
und variablen Kapital sowie die Verteilung der zuschüssigen Produktionsmittel und Konsumtionsmittel<br />
(der Arbeiter) zwischen den Abteilungen I und II im voraus bestimmt und gegeben durch die Sach- und<br />
Wertbeziehungen der beiden Abteilungen <strong>des</strong> Schemas. <strong>Die</strong>se Sach- und Wertbeziehungen drücken aber<br />
selbst schon eine ganz bestimmte technische Gestaltung der Produktion aus. Damit ist gesagt, daß bei<br />
Fortsetzung der <strong>Akkumulation</strong> unter den Voraussetzungen <strong>des</strong> Marxschen Schemas die jeweilig<br />
gegebene Technik der Produktion im voraus auch schon die Technik der folgenden Perioden der <br />
erweiterten Reproduktion bestimmt. Das heißt, wenn wir mit dem Marxschen Schema annehmen, daß die<br />
kapitalistische Produktionserweiterung stets nur mit dem im voraus in Kapitalgestalt produzierten<br />
Mehrwert vorgenommen wird, ferner - was in<strong>des</strong> nur die andere Seite derselben Annahme ist -, daß die<br />
<strong>Akkumulation</strong> der einen Abteilung der kapitalistischen Produktion in strengster Abhängigkeit von der<br />
<strong>Akkumulation</strong> der anderen Abteilung fortschreiten kann, dann ergibt sich, daß eine Verschiebung in der<br />
technischen Grundlage der Produktion (sofern sie sich im Verhältnis von c zu v ausdrückt) unmöglich ist.<br />
Dasselbe läßt sich auch noch anders fassen. Es ist klar, daß die fortschreitend höhere organische<br />
Zusammensetzung <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, d.h. das raschere Wachstum <strong>des</strong> konstanten <strong>Kapitals</strong> im Vergleich zum<br />
variablen, ihren sachlichen Ausdruck im rascheren Wachstum der Produktion von Produktionsmitteln<br />
(Abteilung I) im Vergleich zur Produktion von Konsumtionsmitteln (Abteilung II) finden muß. <strong>Ein</strong>e<br />
solche Abweichung im <strong>Akkumulation</strong>stempo der beiden Abteilungen ist aber durch das Marxsche<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 25. Kapitel<br />
Schema, das auf ihrer strengen Gleichmäßigkeit beruht, direkt ausgeschlossen. An sich steht nichts der<br />
Annahme im Wege, daß mit dem Fortschritt der <strong>Akkumulation</strong> und ihrer technischen Basis von der<br />
Gesellschaft fortlaufend eine größere Portion <strong>des</strong> zu kapitalisierenden Mehrwerts in der Abteilung der<br />
Produktionsmittel statt in derjenigen der Konsumtionsmittel angelegt wird. Da die beiden Abteilungen<br />
der Produktion nur Zweige derselben gesellschaftlichen Gesamtproduktion oder, wenn man will,<br />
Teilbetriebe <strong>des</strong> Gesamtkapitalisten darstellen, so ist gegen die Annahme einer solchen fortschreitenden<br />
Übertragung eines Teils <strong>des</strong> akkumulierten Mehrwerts - den technischen Erfordernissen gemäß - aus der<br />
einen Abteilung in die andere nichts einzuwenden, sie entspricht auch der tatsächlichen Praxis <strong>des</strong><br />
<strong>Kapitals</strong>. Allein diese Annahme ist nur so lange möglich, wie wir den zur Kapitalisierung bestimmten<br />
Mehrwert als Wertgröße ins Auge fassen. Durch das Marxsche Schema und seine Zusammenhänge<br />
jedoch ist dieser Teil <strong>des</strong> Mehrwerts an eine bestimmte Sachgestalt gebunden, die direkt zur<br />
Kapitalisierung bestimmt ist. So stellt sich der Mehrwert der Abteilung II in Konsumtionsmitteln dar.<br />
Und da diese nur durch die Abteilung I realisiert werden können, so scheitert die beabsichtigte<br />
Übertragung eines Teils <strong>des</strong> kapitalisierten Mehrwerts aus der Abteilung II in de Abteilung I erstens an<br />
der Sachgestalt dieses Mehrwerts, mit der die Abteilung I offenbar nichts anfangen kann, zweitens aber<br />
an den Austauschverhältnissen zwischen beiden Abteilungen, die es mit sich bringen, daß der<br />
Übertragung eines Teiles <strong>des</strong> Mehrwerts in Pro- dukten II in die erste Abteilung eine<br />
gleichwertige Übertragung von Produkten I in die zweite Abteilung entsprechen muß. Das raschere<br />
Wachstum der Abteilung I im Vergleich zur Abteilung II ist somit innerhalb der Zusammenhänge <strong>des</strong><br />
Marxschen Schemas schlechterdings nicht zu erreichen.<br />
Wie wir also immer die technische Verschiebung der Produktionsweise im Fortgang der <strong>Akkumulation</strong><br />
ins Auge fassen, sie kann sich nicht durchsetzen, ohne die grundlegenden Beziehungen <strong>des</strong> Marxschen<br />
Schemas aus den Fugen zu bringen.<br />
Ferner: Nach dem Marxschen Schema geht der jeweilige kapitalisierte Mehrwert in der nächsten<br />
Produktionsperiode unmittelbar und restlos in der Produktion auf, hat er doch von vornherein die<br />
Naturalgestalt, die seine Verwendung (außer der konsumierbaren Portion) nur in dieser Weise zulässig<br />
macht. <strong>Ein</strong>e Bildung und Aufschatzung <strong>des</strong> Mehrwerts in Geldform, als anlagesuchen<strong>des</strong> Kapital, ist<br />
nach diesem Schema ausgeschlossen. Für das <strong>Ein</strong>zelkapital nimmt Marx selbst als jeweilig freie<br />
Geldformen <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>: erstens den allmählichen Geldniederschlag, der dem Verschleiß <strong>des</strong> fixen<br />
<strong>Kapitals</strong> entspricht und zu seiner späteren Erneuerung bestimmt ist, zweitens die Geldsummen, die den<br />
realisierten Mehrwert darstellen, aber noch nicht die zur Anlage erforderliche Minimalgröße erreicht<br />
haben. Beide Quellen <strong>des</strong> freien <strong>Kapitals</strong> in Geldgestalt kommen jedoch vom Standpunkt <strong>des</strong><br />
Gesamtkapitals nicht in Betracht. Denn setzen wir nur einen Teil <strong>des</strong> realisierten gesellschaftlichen<br />
Mehrwerts als in Geldform verharrend und anlagesuchend voraus, dann entsteht sofort die Frage: Wer<br />
hat denn die Naturalgestalt dieses Teils abgenommen, und wer hat das Geld dafür gegeben? Antwortet<br />
man: eben andere Kapitalisten, dann muß bei der Klasse der Kapitalisten, wie sie im Schema durch die<br />
zwei Abteilungen dargestellt ist, auch dieser Teil <strong>des</strong> Mehrwerts als tatsächlich angelegt, in der<br />
Produktion verwendet gelten, und wir werden zu der unmittelbaren und restlosen Anlage <strong>des</strong> Mehrwerts<br />
zurückgeführt.<br />
Oder aber bedeutet das Festgerinnen eines Teils <strong>des</strong> Mehrwerts in den Händen gewisser Kapitalisten in<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 25. Kapitel<br />
Geldform das Verharren eines entsprechenden Teiles <strong>des</strong> Mehrprodukts in den Händen anderer<br />
Kapitalisten in seiner sachlichen Form, die Aufspeicherung <strong>des</strong> realisierten Mehrwerts bei den einen - die<br />
Unrealisierbarkeit <strong>des</strong> Mehrwerts bei den anderen, sind doch die Kapitalisten die einzigen Abnehmer <strong>des</strong><br />
Mehrwerts füreinander. Damit wäre aber der glatte Fortgang der Reproduktion und also auch der<br />
<strong>Akkumulation</strong>, wie ihn das Schema schildert, unterbrochen. Wir hätten eine Krise, aber nicht eine<br />
Krise aus Überproduktion, sondern aus bloßer Absicht der <strong>Akkumulation</strong>, eine Krise, wie sie Sismondi<br />
vorschwebte.<br />
An einer Stelle seiner "Theorien" erklärt Marx ausdrücklich, daß er hier gar nicht auf den Fall eingehe,<br />
"daß mehr Kapital akkumuliert ist, als in der Produktion unterzubringen, z.B. in der Form von Geld,<br />
{das} brach bei Bankiers liegt. Daher das Ausleihen ins Ausland etc."(3) Marx verweist diese<br />
Erscheinungen in den Abschnitt von der Konkurrenz. Aber es ist wichtig festzustellen, daß sein Schema<br />
die Bildung eines solchen überschüssigen <strong>Kapitals</strong> direkt ausschließt. <strong>Die</strong> Konkurrenz, wie weit wir auch<br />
den Begriff fassen, kann offenbar nicht erst Werte, also auch Kapital, schaffen, die sich nicht aus dem<br />
Reproduktionsprozeß ergeben.<br />
Das Schema schließt auf diese Weise die sprunghafte Erweiterung der Produktion aus. Es läßt nur die<br />
stetige Erweiterung zu, die mit Bildung <strong>des</strong> Mehrwerts genau Schritt hält und auf der Identität zwischen<br />
Realisierung und Kapitalisierung <strong>des</strong> Mehrwerts beruht.<br />
Aus demselben Grunde unterstellt das Schema eine <strong>Akkumulation</strong>, die beide Abteilungen, also sämtliche<br />
Zweige der kapitalistischen Produktion, gleichmäßig ergreift. <strong>Ein</strong>e sprungweise Erweiterung <strong>des</strong><br />
Absatzes erscheint hier ebenso ausgeschlossen wie die einseitige Entwicklung einzelner kapitalistischer<br />
Produktionszweige, die anderen weit vorauseilen.<br />
Das Schema setzt also eine Bewegung <strong>des</strong> Gesamtkapitals voraus, die dem tatsächlichen Gang der<br />
kapitalistischen Entwicklung widerspricht. <strong>Die</strong> Geschichte der kapitalistischen Produktionsweise wird<br />
durch zwei Tatsachen auf den ersten Blick charakterisiert: einerseits periodische sprungweise Expansion<br />
<strong>des</strong> ganzen Produktionsfel<strong>des</strong>, andererseits höchst ungleichmäßige Entwicklung verschiedener<br />
Produktionszweige. <strong>Die</strong> Geschichte der englischen Baumwollindustrie, das charakteristischste Kapitel in<br />
der Geschichte der kapitalistischen Produktionsweise seit dem letzten Viertel <strong>des</strong> 18. bis in die 70er Jahre<br />
<strong>des</strong> 19. Jahrhunderts, erscheint vom Standpunkte <strong>des</strong> Marxschen Schemas völlig unerklärlich.<br />
Endlich widerspricht das Schema der Auffassung vom kapitalistischen Gesamtprozeß und seinem<br />
Verlauf, wie sie von Marx im dritten Bande <strong>des</strong> "<strong>Kapitals</strong>" niedergelegt ist. Der Grundgedanke dieser<br />
Auffassung ist der immanente Widerspruch zwischen der schrankenlosen Expansionsfähigkeit der<br />
Produktivkraft und der beschränkten Expansionsfähigkeit der gesellschaftlichen Konsumtion unter<br />
kapitalistischen Verteilungsverhältnissen. Hören wir zu, wie Marx ihn im 15. Kapitel "Entfaltung der<br />
innern Widersprüche <strong>des</strong> Gesetzes" (der fallenden Profitrate) ausführlich schildert:<br />
"<strong>Die</strong> Schöpfung von Mehrwert findet, die nötigen Produktionsmittel, d.h. hinreichende <strong>Akkumulation</strong><br />
von Kapital vorausgesetzt, keine andre Schranke als die Arbeiterbevölkerung, wenn die Rate <strong>des</strong><br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 25. Kapitel<br />
Mehrwerts, also der Exploitationsgrad der Arbeit, und keine andre Schranke als den Exploitationsgrad<br />
der Arbeit, wenn die Arbeiterbevölkerung gegeben ist. Und der kapitalistische Produktionsprozeß besteht<br />
wesentlich in der Produktion von Mehrwert, dargestellt in dem Mehrprodukt oder dem aliquoten Teil der<br />
produzierten Waren, worin unbezahlte Arbeit vergegenständlicht ist. Man muß es nie vergessen, daß die<br />
Produktion dieses Mehrwerts - und die Rückverwandlung eines Teils <strong>des</strong>selben in Kapital, oder die<br />
<strong>Akkumulation</strong>, bildet einen integrierenden Teil dieser Produktion <strong>des</strong> Mehrwerts - der unmittelbare<br />
Zweck und das bestimmende Motiv der kapitalistischen Produktion ist. Man darf diese daher nie<br />
darstellen als das, was sie nicht ist, nämlich als Produktion, die zu ihrem unmittelbaren Zweck den<br />
Genuß hat oder die Erzeugung von Genußmitteln für den Kapitalisten (und natürlich noch viel weniger<br />
für den Arbeiter - R. L.). Man sieht dabei ganz ab von ihrem spezifischen Charakter, der sich in ihrer<br />
ganzen innern Kerngestalt darstellt.<br />
<strong>Die</strong> Gewinnung dieses Mehrwerts bildet den unmittelbaren Produktionsprozeß, der wie gesagt keine<br />
andern Schranken als die oben angegebnen hat. Sobald das auspreßbare Quantum Mehrarbeit in Waren<br />
vergegenständlicht ist, ist der Mehrwert produziert. Aber mit dieser Produktion <strong>des</strong> Mehrwerts ist nur der<br />
erste Akt <strong>des</strong> kapitalistischen Produktionsprozesses, der unmittelbare Produktionsprozeß beendet. Das<br />
Kapital hat soundsoviel unbezahlte Arbeit eingesaugt. Mit der Entwicklung <strong>des</strong> Prozesses, der sich im<br />
Fall der Profitrate ausdrückt, schwillt die Masse <strong>des</strong> so produzierten Mehrwerts ins Ungeheure. Nun<br />
kommt der zweite Akt <strong>des</strong> Prozesses. <strong>Die</strong> gesamte Warenmasse, das Gesamtprodukt, sowohl der Teil,<br />
der das konstante und variable Kapital ersetzt, wie der den Mehrwert darstellt, muß verkauft werden.<br />
Geschieht das nicht, oder nur zum Teil, oder nur zu Preisen, die unter den Produktionspreisen stehn, so<br />
ist der Arbeiter zwar exploitiert, aber seine Exploitation realisiert sich nicht als solche für den<br />
Kapitalisten, kann mit gar keiner oder nur mit teilweiser Realisation <strong>des</strong> abgepreßten Mehrwerts, ja mit<br />
teilweisem oder ganzem Verlust seines <strong>Kapitals</strong> verbunden sein. <strong>Die</strong> Bedingungen der unmittelbaren<br />
Exploitation und die ihrer Realisation sind nicht identisch. Sie fallen nicht nur nach Zeit und Ort, sondern<br />
auch begrifflich auseinander. <strong>Die</strong> einen sind nur beschränkt durch die Produktivkraft der<br />
Gesellschaft, die andren durch die Proportionalität der verschiednen Produktionszweige und durch die<br />
Konsumtionskraft der Gesellschaft. <strong>Die</strong>se letztre ist aber bestimmt weder durch die absolute<br />
Produktionskraft noch durch die absolute Konsumtionskraft; sondern durch die Konsumtionskraft auf<br />
Basis antagonistischer Distributionsverhältnisse, welche die Konsumtion der großen Masse der<br />
Gesellschaft auf ein nur innerhalb mehr oder minder enger Grenzen veränderliches Minimum reduziert.<br />
Sie ist ferner beschränkt durch den <strong>Akkumulation</strong>strieb, den Trieb nach Vergrößerung <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong> und<br />
nach Produktion von Mehrwert auf erweiterter Stufenleiter. <strong>Die</strong>s ist Gesetz für die kapitalistische<br />
Produktion, gegeben durch die beständigen Revolutionen in den Produktionsmethoden selbst, die damit<br />
beständig verknüpfte Entwertung von vorhandnem Kapital, den allgemeinen Konkurrenzkampf und die<br />
Notwendigkeit, die Produktion zu verbessern und ihre Stufenleiter auszudehnen, bloß als<br />
Erhaltungsmittel und bei Strafe <strong>des</strong> Untergangs. Der Markt muß daher beständig ausgedehnt werden, so<br />
daß seine Zusammenhänge und die sie regelnden Bedingungen immer mehr die Gestalt eines von den<br />
Produzenten unabhängigen Naturgesetzes annehmen, immer unkontrollierbarer werden. Der innere<br />
Widerspruch sucht sich auszugleichen durch Ausdehnung <strong>des</strong> äußern Fel<strong>des</strong> der Produktion. Je mehr sich<br />
aber die Produktivkraft entwickelt, um so mehr gerät sie in Widerstreit mit der engen Basis, worauf die<br />
Konsumtionsverhältnisse beruhen. Es ist auf dieser widerspruchsvollen Basis durchaus kein<br />
Widerspruch, daß Übermaß von Kapital verbunden ist mit wachsendem Übermaß von Bevölkerung;<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 25. Kapitel<br />
denn obgleich, beide zusammengebracht, die Masse <strong>des</strong> produzierten Mehrwerts sich steigern würde,<br />
steigert sich eben damit der Widerspruch zwischen den Bedingungen, worin dieser Mehrwert produziert,<br />
und den Bedingungen, worin er realisiert wird."(4)<br />
Vergleicht man diese Schilderung mit dem Schema der erweiterten Reproduktion, so stimmen sie<br />
durchaus nicht überein. Nach dem Schema besteht zwischen der Produktion <strong>des</strong> Mehrwerts und seiner<br />
Realisierung gar kein immanenter Widerspruch, vielmehr immanente Identität. Der Mehrwert kommt<br />
hier von vornherein in einer ausschließlich für die Bedürfnisse der <strong>Akkumulation</strong> berechneten<br />
Naturalgestalt zur Welt. Er kommt als zuschüssiges Kapital schon aus der Produktionsstätte heraus.<br />
Damit ist seine Realisierbarkeit gegeben, nämlich in dem <strong>Akkumulation</strong>strieb der Kapitalisten selbst.<br />
<strong>Die</strong>se lassen, als Klasse, den von ihnen angeeigneten Mehrwert im voraus ausschließlich in der<br />
Sachgestalt produzieren, die seine Verwendung zur weiteren <strong>Akkumulation</strong> sowohl ermöglicht als<br />
bedingt. <strong>Die</strong> Realisierung <strong>des</strong> Mehrwerts und seine <strong>Akkumulation</strong> sind hier nur zwei Seiten eines und<br />
<strong>des</strong>selben Vorgangs, sind begrifflich identisch. Für den Prozeß der Reproduktion, wie er im Schema<br />
dargestellt ist, ist die Konsumtionskraft der Gesellschaft <strong>des</strong>halb auch keine Schranke der Produktion.<br />
Hier schreitet die Erweiterung der Produktion von Jahr zu Jahr automatisch fort, ohne daß die<br />
Konsumtionskraft der Gesellschaft über ihre "antagonistischen Distributionsverhältnisse"<br />
hinausgegangen wäre. <strong>Die</strong>ses automatische Fortschreiten der Erweiterung, der <strong>Akkumulation</strong>, ist freilich<br />
"Gesetz für die kapitalistische Produktion - bei Strafe <strong>des</strong> Untergangs". Aber nach der Analyse im dritten<br />
Bande "muß der Markt daher beständig ausgedehnt werden", "der Markt" offenbar über die Konsumtion<br />
der Kapitalisten und der Arbeiter hinaus. Und wenn Tugan-Baranowski den unmittelbar darauffolgenden<br />
Satz bei Marx: "Der innere Widerspruch sucht sich auszugleichen durch Ausdehnung <strong>des</strong> äußern Fel<strong>des</strong><br />
der Produktion" so interpretiert, als ob Marx mit dem "äußern Feld der Produktion" eben die Produktion<br />
selbst gemeint habe, so tut er damit nicht bloß dem Sinn der Sprache, sondern auch dem klaren<br />
Gedankengang Marxens Gewalt an. Das "äußere Feld der Produktion" ist hier klar und unzweideutig<br />
nicht die Produktion selbst, sondern die Konsumtion, die "beständig ausgedehnt werden muß". Daß Marx<br />
so und nicht anders dachte, dafür zeugt genügend z.B. die folgende Stelle in den "Theorien über den<br />
Mehrwert": "Ric{ardo} leugnet daher konsequent die Notwendigkeit einer Erweiterung <strong>des</strong> Markts mit<br />
Erweiterung der Produktion und Wachstum <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>. Alles Kapital, das in einem Lande vorhanden<br />
ist, kann auch vorteilhaft in diesem Lande verwandt werden. Er polemisiert daher gegen A. Smith, der<br />
einerseits seine (Ric{ardos}) Ansicht aufgestellt und mit seinem gewöhnlichen vernünftigen Instinkt ihr<br />
auch widersprechen hat."(5)<br />
Und noch eine andere Stelle bei Marx zeigt deutlich, daß ihm der Tugan-Baranowskische <strong>Ein</strong>fall einer<br />
Produktion um der Produktion willen völlig fremd war: "Außerdem findet, wie wir gesehn haben (Buch<br />
II, Abschn. III), eine beständige Zirkulation statt zwischen konstantem Kapital und konstantem Kapital<br />
(auch abgesehn von der beschleunigten <strong>Akkumulation</strong>), die insofern zunächst unabhängig ist von der<br />
individuellen Konsumtion, als sie nie in dieselbe eingeht, die aber doch durch sie defini- tiv<br />
begrenzt ist, indem die Produktion von konstantem Kapital nie seiner selbst willen stattfindet, sondern<br />
nur, weil mehr davon gebraucht wird in den Produktionssphären, deren Produkte in die individuelle<br />
Konsumtion eingehn."(6)<br />
file:///C|/DOKUME~1/peter1/LOKALE~1/Temp/Rar$DR95.187/lu/lu05/lu05_279.htm (13 of 15) [19.07.2004 21:13:21]
<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 25. Kapitel<br />
Nach dem Schema im zweiten Bande, an das sich Tugan-Baranowski allein klammert, ist freilich der<br />
Markt mit der Produktion identisch. Den Markt erweitern heißt hier die Produktion erweitern, denn die<br />
Produktion ist sich hier selbst ausschließlicher Markt (die Konsumtion der Arbeiter ist nur ein Moment<br />
der Produktion, nämlich Reproduktion <strong>des</strong> variablen <strong>Kapitals</strong>). Daher hat Ausdehnung der Produktion<br />
und <strong>des</strong> Marktes eine und dieselbe Schranke: die Größe <strong>des</strong> gesellschaftlichen <strong>Kapitals</strong> oder die Stufe der<br />
bereits erreichten <strong>Akkumulation</strong>. Je mehr Mehrwert - in Naturalform <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong> - ausgepreßt worden<br />
ist, <strong>des</strong>to mehr kann akkumuliert werden, und je mehr akkumuliert wird, um so mehr kann Mehrwert in<br />
Kapitalgestalt, die seine Naturalgestalt ist, untergebracht, realisiert werden. Nach dem Schema existiert<br />
also der in der Analyse <strong>des</strong> dritten Ban<strong>des</strong> gekennzeichnete Widerspruch nicht. Es liegt hier - im Prozeß,<br />
wie er im Schema dargestellt ist - gar keine Notwendigkeit vor, den Markt über die Konsumtion der<br />
Kapitalisten und Arbeiter hinaus beständig auszudehnen, und die beschränkte Konsumtionsfähigkeit der<br />
Gesellschaft ist gar kein Hindernis für einen glatten Fortgang und die unumschränkte<br />
Ausdehnungsfähigkeit der Produktion. Das Schema läßt wohl Krisen zu, aber ausschließlich aus Mangel<br />
an Proportionalität der Produktion, d.h. aus Mangel an gesellschaftlicher Kontrolle über den<br />
Produktionsprozeß. Es schließt dagegen den tiefen fundamentalen Widerstreit zwischen<br />
Produktionsfähigkeit und Konsumtionsfähigkeit der kapitalistischen Gesellschaft aus, der sich gerade aus<br />
der Kapitalakkumulation ergibt, der sich periodisch in Krisen Luft macht und der das Kapital zur<br />
beständigen Markterweiterung antreibt.<br />
Fußnoten von <strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong><br />
(1) "Es sind nie die originellen Denker, welche die absurden Konsequenzen ziehn. Sie überlassen das den<br />
Says und MacCullochs." (Das Kapital, Bd. II, S. 365.) [Karl Marx: Das Kapital, Zweiter Band. In: Karl<br />
Marx/Friedrich Engels: Werke, Bd. 24 S. 389.] und den Tugan-Baranowskis, fügen wir hinzu.
<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 25. Kapitel<br />
(6) Das Kapital Bd. III, Teil 1. S. 289. [Karl Marx: Das Kapital, Dritter Band. In Karl Marx/Friedrich<br />
Engels: Werke, Bd. 25, S. 316/317.]
file:///C|/DOKUME~1/peter1/LOKALE~1/Temp/Rar$DR96.187/lu/lu05/lu05_296.htm<br />
25. Kapitel | Inhalt | 27. Kapitel<br />
<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - Gesammelte Werke. Herausgegeben vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Band<br />
5. <strong>Berlin</strong>/DDR. 1975. "<strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>", S. 296-316.<br />
1. Korrektur.<br />
Erstellt am 20.10.1998<br />
Sechsundzwanzigstes Kapitel<br />
<strong>Die</strong> Reproduktion <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong> und ihr Milieu<br />
Das Marxsche Schema der erweiterten Reproduktion vermag uns also den Prozeß der<br />
<strong>Akkumulation</strong>, wie er in der Wirklichkeit vorgeht und sich geschichtlich durchsetzt, nicht zu erklären.<br />
Woran liegt das? An nichts an- derem als an den Voraussetzungen <strong>des</strong> Schemas selbst. <strong>Die</strong>ses<br />
Schema unternimmt es, den <strong>Akkumulation</strong>sprozeß unter der Voraussetzung darzustellen, daß<br />
Kapitalisten und Arbeiter die einzigen Vertreter der gesellschaftlichen Konsumtion sind. Wir haben<br />
gesehen, daß Marx konsequent und bewußt als die theoretische Voraussetzung seiner Analyse in allen<br />
drei Bänden <strong>des</strong> "<strong>Kapitals</strong>" die allgemeine und ausschließliche Herrschaft der kapitalistischen<br />
Produktionsweise annimmt. Unter diesen Bedingungen gibt es freilich, wie im Schema, keine anderen<br />
Gesellschaftsklassen als Kapitalisten und Arbeiter - alle "dritten Personen" der kapitalistischen<br />
Gesellschaft: Beamte, liberale Berufe, Geistliche usw., sind als Konsumenten jenen beiden Klassen und<br />
vorzugsweise der Kapitalistenklasse zuzuzählen. <strong>Die</strong>se Voraussetzung ist theoretischer Notbehelf - in<br />
Wirklichkeit gab und gibt es nirgends eine sich selbst genügende kapitalistische Gesellschaft mit<br />
ausschließlicher Herrschaft der kapitalistischen Produktion. Sie ist aber ein vollkommen zulässiger<br />
theoretischer Notbehelf dort, wo sie die Bedingungen <strong>des</strong> Problems selbst nicht alteriert, sondern sie bloß<br />
in ihrer Reinheit darstellen hilft. So bei der Analyse der einfachen Reproduktion <strong>des</strong> gesellschaftlichen<br />
Gesamtkapitals. Hier beruht das Problem selbst auf folgender Fiktion: In einer kapitalistisch<br />
produzierenden, also Mehrwert erzeugenden Gesellschaft wird der ganze Mehrwert von seinen<br />
Aneignern, der Kapitalistenklasse, konsumiert. Es ist darzustellen, wie sich unter diesen Bedingungen die<br />
gesellschaftliche Produktion und Reproduktion gestalten muß. Hier setzt die Stellung <strong>des</strong> Problems selbst<br />
voraus, daß die Produktion keine anderen Konsumenten als Kapitalisten und Arbeiter kennt, sie befindet<br />
sich also in völliger Übereinstimmung mit der Marxschen Voraussetzung: allgemeine und<br />
ausschließliche Herrschaft der kapitalistischen Produktionsweise. <strong>Die</strong> eine Fiktion deckt sich theoretisch<br />
mit der anderen. Ebenso zulässig ist die Annahme der absoluten Herrschaft <strong>des</strong> Kapitalismus bei der<br />
Analyse der <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Ein</strong>zelkapitals, wie sie im ersten Bande <strong>des</strong> "<strong>Kapitals</strong>" gegeben ist. <strong>Die</strong><br />
Reproduktion <strong>des</strong> <strong>Ein</strong>zelkapitals ist das Element der gesellschaftlichen Gesamtreproduktion. Aber ein<br />
Element, <strong>des</strong>sen Bewegung selbständig verläuft, im Widerspruch mit den Bewegungen der übrigen, und<br />
wobei die Gesamtbewegung <strong>des</strong> gesellschaftlichen <strong>Kapitals</strong> nicht etwa eine mechanische Summe der<br />
<strong>Ein</strong>zelbewegungen der Kapitale, sondern ein eigenartig verschobenes Resultat ergibt. Stimmt auch die<br />
file:///C|/DOKUME~1/peter1/LOKALE~1/Temp/Rar$DR96.187/lu/lu05/lu05_296.htm (1 of 16) [19.07.2004 21:13:29]
file:///C|/DOKUME~1/peter1/LOKALE~1/Temp/Rar$DR96.187/lu/lu05/lu05_296.htm<br />
Wertsumme der <strong>Ein</strong>zelkapitale sowie ihrer respektiven Teile: konstantes Kapital, variables Kapital und<br />
Mehrwert, mit der Wertgröße <strong>des</strong> gesellschaftlichen Gesamtkapitals, seiner beiden Bestandteile und <strong>des</strong><br />
Gesamtmehrwerts aufs genaueste über- ein, so fällt doch die sachliche Darstellung dieser<br />
Wertgröße in den respektiven Teilen <strong>des</strong> gesellschaftlichen Produkts mit der Sachverkörperung der<br />
Wertverhältnisse der <strong>Ein</strong>zelkapitale völlig auseinander. <strong>Die</strong> Reproduktionsverhältnisse der <strong>Ein</strong>zelkapitale<br />
decken sich somit in ihrer sachlichen Gestalt weder miteinander noch mit denen <strong>des</strong> Gesamtkapitals.<br />
Je<strong>des</strong> <strong>Ein</strong>zelkapital macht seine Zirkulation, also auch <strong>Akkumulation</strong> völlig auf eigene Faust durch und<br />
ist darin - bei normalem Verlauf <strong>des</strong> Zirkulationsprozesses - nur soweit von anderen abhängig, als es sein<br />
Produkt überhaupt realisieren und die für seine individuelle Betätigung erforderlichen Produktionsmittel<br />
vorfinden muß. Ob jene Realisierung und diese Produktionsmittel selbst an kapitalistisch produzierende<br />
Kreise gebunden sind oder nicht, ist für das <strong>Ein</strong>zelkapital völlig gleichgültig. Umgekehrt ist die<br />
günstigste theoretische Voraussetzung für die Analyse der <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Ein</strong>zelkapitals die<br />
Annahme, daß die kapitalistische Produktion das einzige Milieu dieses Prozesses darstellt, d.h.<br />
allgemeine und ausschließliche Herrschaft erreicht hat.(1)<br />
Nun entsteht aber die Frage, ob wir die Voraussetzungen, die für das <strong>Ein</strong>zelkapital maßgebend sind, auch<br />
bei dem Gesamtkapital als zulässig betrachten dürfen.<br />
Daß Marx tatsächlich die <strong>Akkumulation</strong>sbedingungen <strong>des</strong> Gesamtkapitals mit denen <strong>des</strong> <strong>Ein</strong>zelkapitals<br />
identifizierte, bestätigt er selbst ausdrücklich an folgender Stelle:<br />
"<strong>Die</strong> Frage ist jetzt so zu formulieren: Allgemeine <strong>Akkumulation</strong> vorausgesetzt, d.h. vorausgesetzt, daß in<br />
allen tra<strong>des</strong> das Kapital mehr oder minder akkumuliert, was in fact Bedingung der kapitalistischen<br />
Produktion und was ebensosehr der Trieb <strong>des</strong> Kapitalisten als Kapitalisten, wie es der Trieb <strong>des</strong><br />
Schatzbildners, Geld aufzuhäufen (aber auch notwendig ist, damit die kapitalistische Produktion<br />
vorangehe) - was sind die Bedingungen dieser allgemeinen <strong>Akkumulation</strong>, worin löst sie sich auf?"<br />
Und er antwortet: "<strong>Die</strong> Bedingungen für die <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong> also ganz dieselben, wie für<br />
seine ursprüngliche Produktion oder Reproduktion überhaupt.<br />
<strong>Die</strong>se Bedingungen aber waren, daß mit einem Teil <strong>des</strong> Gel<strong>des</strong> Arbeit gekauft wurde, mit dem<br />
andern Waren (Rohmaterial und Maschinerie etc.)." "<strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> von neuem Kapital kann also<br />
nur unter denselben Bedingungen vor sich gehn wie die Reproduktion <strong>des</strong> schon vorhandnen<br />
<strong>Kapitals</strong>."(2)<br />
In Wirklichkeit sind die realen Bedingungen bei der <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> Gesamtkapitals ganz andere als<br />
bei dem <strong>Ein</strong>zelkapital und als bei der einfachen Reproduktion. Das Problem beruht auf folgendem: Wie<br />
gestaltet sich die gesellschaftliche Reproduktion unter der Bedingung, daß ein wachsender Teil <strong>des</strong><br />
Mehrwerts nicht von den Kapitalisten konsumiert, sondern zur Erweiterung der Produktion verwendet<br />
wird? Das Draufgehen <strong>des</strong> gesellschaftlichen Produkts, abgesehen von dem Ersatz <strong>des</strong> konstanten<br />
<strong>Kapitals</strong>, in der Konsumtion der Arbeiter und Kapitalisten ist hier von vornherein ausgeschlossen, und<br />
dieser Umstand ist das wesentlichste Moment <strong>des</strong> Problems. Damit ist aber auch ausgeschlossen, daß die<br />
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Arbeiter und die Kapitalisten selbst das Gesamtprodukt realisieren können. Sie können stets nur das<br />
variable Kapital, den verbrauchten Teil <strong>des</strong> konstanten <strong>Kapitals</strong> und den konsumierten Teil <strong>des</strong><br />
Mehrwerts selbst realisieren, auf diese Weise aber nur die Bedingungen für die Erneuerung der<br />
Produktion in früherem Umfang sichern. Der zu kapitalisierende Teil <strong>des</strong> Mehrwerts hingegen kann<br />
unmöglich von den Arbeitern und Kapitalisten selbst realisiert werden. <strong>Die</strong> Realisierung <strong>des</strong> Mehrwerts<br />
zu Zwecken der <strong>Akkumulation</strong> ist also in einer Gesellschaft, die nur aus Arbeitern und Kapitalisten<br />
besteht, eine unlösbare Aufgabe. Merkwürdigerweise gingen sämtliche Theoretiker, die das Problem der<br />
<strong>Akkumulation</strong> analysierten, von Ricardo und Sismondi bis Marx, gerade von dieser Voraussetzung aus,<br />
die die Lösung <strong>des</strong> Problems unmöglich machte. Das richtige Gefühl für die Notwendigkeit "dritter<br />
Personen", d.h. Konsumenten außerhalb der unmittelbaren Agenten der kapitalistischen Produktion: der<br />
Arbeiter und Kapitalisten, zur Realisierung <strong>des</strong> Mehrwerts, führte zu allerlei Ausflüchten: zu der<br />
"unproduktiven Konsumtion", die bei Malthus in der Person <strong>des</strong> feudalen Grundbesitzers, bei Woronzow<br />
in dem Militarismus, bei Struve in den "liberalen Berufen" und sonstigem Anhang der Kapitalistenklasse<br />
verkörpert ist, ferner zur Heranziehung <strong>des</strong> auswärtigen Handels, der bei allen Skeptikern der<br />
<strong>Akkumulation</strong> von Sismondi bis Nikolai-on als Sicherheitsventil eine hervorragende Rolle spielte. Zum<br />
andern Teil führte die Unlösbarkeit der Aufgabe zum Verzicht auf die <strong>Akkumulation</strong>, wie bei v.<br />
Kirchmann und Rodbertus, oder wenigstens zur angeblichen Notwendigkeit, die <strong>Akkumulation</strong><br />
möglichst zu dämpfen, wie bei Sismondi und <strong>des</strong>sen russischen Epigonen, den "Volkstümlern".<br />
Doch erst die tiefere Analyse und die exakte schematische Darstellung <strong>des</strong> Prozesses der<br />
Gesamtproduktion durch Marx, namentlich seine geniale Darstellung <strong>des</strong> Problems der einfachen<br />
Reproduktion, konnte den springenden Punkt <strong>des</strong> <strong>Akkumulation</strong>sproblems und die wunde Stelle der<br />
früheren Versuche seiner Lösung bloßlegen. <strong>Die</strong> Analyse der <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> Gesamtkapitals, die bei<br />
Marx abbricht, kaum daß sie begonnen hat, und die obendrein, wie erwähnt, durch die dem Problem<br />
ungünstige Polemik gegen die Smithsche Analyse beherrscht ist, hat direkt keine fertige Lösung<br />
gegeben, sie vielmehr gleichfalls durch die Voraussetzung von der Alleinherrschaft der kapitalistischen<br />
Produktionsweise erschwert. Aber gerade die ganze Analyse der einfachen Reproduktion bei Marx sowie<br />
die Charakteristik <strong>des</strong> kapitalistischen Gesamtprozesses mit <strong>des</strong>sen inneren Widersprüchen und ihrer<br />
Entfaltung (im dritten Bande <strong>des</strong> "<strong>Kapitals</strong>") enthalten implicite eine Auflösung <strong>des</strong><br />
<strong>Akkumulation</strong>sproblems, die sich mit den übrigen Teilen der Marxschen Lehre wie mit der historischen<br />
Erfahrung und der täglichen Praxis <strong>des</strong> Kapitalismus in <strong>Ein</strong>klang befindet, und geben somit die<br />
Möglichkeit, das Unzureichende <strong>des</strong> Schemas zu ergänzen. Das Schema der erweiterten Reproduktion<br />
weist bei näherem Zusehen selbst in allen seinen Beziehungen über sich hinaus auf Verhältnisse, die<br />
außerhalb der kapitalistischen Produktion und <strong>Akkumulation</strong> liegen.<br />
Wir haben bis jetzt die erweiterte Reproduktion nur von einer Seite betrachtet, nämlich von der Frage<br />
aus: Wie wird der Mehrwert realisiert? <strong>Die</strong>s war die Schwierigkeit, mit der sich die Skeptiker bis jetzt<br />
ausschließlich beschäftigten. <strong>Die</strong> Realisierung <strong>des</strong> Mehrwerts ist in der Tat die Lebensfrage der<br />
kapitalistischen <strong>Akkumulation</strong>. Sehen wir der <strong>Ein</strong>fachheit halber ganz von dem Konsumtionsfonds der<br />
Kapitalisten ab, so erfordert die Realisierung <strong>des</strong> Mehrwerts als erste Bedingung einen Kreis von<br />
Abnehmern außerhalb der kapitalistischen Gesellschaft. Wir sagen: von Abnehmern und nicht: von<br />
Konsumenten. Denn die Realisierung <strong>des</strong> Mehrwerts besagt von vornherein gar nichts über die<br />
Sachgestalt <strong>des</strong> Mehrwerts. Das Entscheidende ist, daß der Mehrwert weder durch Arbeiter noch durch<br />
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Kapitalisten realisiert werden kann, sondern durch Gesellschaftsschichten oder Gesellschaften, die selbst<br />
nicht kapitalistisch produzieren. Es sind dabei zwei verschiedene Fälle denkbar. <strong>Die</strong> kapitalistische<br />
Produktion liefert Konsumtionsmittel über den eigenen (der Arbeiter und Kapitalisten) Bedarf<br />
hinaus, deren Abnehmer nichtkapitalistische Schichten und Länder sind. Z.B. die englische<br />
Baumwollindustrie lieferte während der ersten zwei Drittel <strong>des</strong> 19. Jahrhunderts (und liefert zum Teil<br />
jetzt) Baumwollstoffe an das Bauerntum und städtische Kleinbürgertum auf dem europäischen<br />
Kontinent, ferner an das Bauerntum in Indien, Amerika, Afrika usw. Hier war es die Konsumtion<br />
nichtkapitalistischer Schichten und Länder, die für die enorme Erweiterung der Baumwollindustrie in<br />
England die Basis bildete.(3) Für diese Baumwollindustrie aber entwickelte sich in England selbst eine<br />
ausgedehnte Maschinenindustrie, die Spindeln und Webstühle lieferte, ferner im Anschluß daran die<br />
Metall und Kohlenindustrie usw. In diesem Fall realisierte die Abteilung II (Konsumtionsmittel) in<br />
steigendem Maße ihre Produkte in außerkapitalistischen Gesellschaftsschichten, wobei sie ihrerseits<br />
durch die eigene <strong>Akkumulation</strong> eine steigende Nachfrage nach den einheimischen Produkten der<br />
Abteilung I (Produktionsmittel) schuf und dadurch dieser Abteilung zur Realisierung <strong>des</strong> Mehrwerts und<br />
zur steigenden <strong>Akkumulation</strong> verhalf.<br />
Nehmen wir den umgekehrten Fall. <strong>Die</strong> kapitalistische Produktion liefert Produktionsmittel über den<br />
eigenen Bedarf hinaus und findet Abnehmer in nichtkapitalistischen Ländern. Z.B. die englische<br />
Industrie lieferte in der ersten Hälfte <strong>des</strong> 19. Jahrhunderts Konstruktionsmaterial zum Eisenbahnbau in<br />
den amerikanischen und australischen Staaten. Der Eisenbahnbau bedeutet an sich noch lange nicht die<br />
Herrschaft der kapitalistischen Produktionsweise in einem Lande. Tatsächlich waren die Eisenbahnen<br />
selbst in diesen Fällen nur eine der ersten Voraussetzungen für den <strong>Ein</strong>zug der kapitalistischen<br />
Produktion. Oder die deutsche chemische Industrie liefert Produktionsmittel, wie Farbstoffe, die<br />
massenhaft Absatz finden in nicht kapitalistisch produzierenden Ländern in Asien, Afrika usw.(4)<br />
Hier realisiert die Abteilung I der kapitalistischen Produktion ihre Produkte in außerkapitalistischen<br />
Kreisen. <strong>Die</strong> daraus entstehende fortschreitende Erweiterung der Abteilung I ruft im Lande der<br />
kapitalistischen Produktion eine entsprechende Erweiterung der Abteilung II hervor, die für die<br />
wachsende Armee der Arbeiter der Abteilung I Konsumtionsmittel liefert.<br />
Jeder dieser Fälle unterscheidet sich von dem Marxschen Schema. In dem einen Fall übersteigt das<br />
Produkt der Abteilung II die Bedürfnisse der beiden Abteilungen, gemessen an variablem Kapital und<br />
dem konsumierten Teil <strong>des</strong> Mehrwerts beider; im zweiten Fall übersteigt das Produkt der Abteilung I die<br />
Größe <strong>des</strong> konstanten <strong>Kapitals</strong> beider Abteilungen, auch unter Berücksichtigung seiner Vergrößerung zu<br />
Zwecken der Erweiterung der Produktion. In beiden Fällen kommt der Mehrwert nicht in der<br />
Naturalgestalt zur Welt, die seine Kapitalisierung innerhalb einer der beiden Abteilungen ermöglichen<br />
und bedingen würde. - In Wirklichkeit kreuzen sich die beiden typischen Fälle auf jedem Schritte,<br />
ergänzen einander und schlagen ineinander um.<br />
<strong>Ein</strong> Punkt scheint dabei unklar. Wenn z.B. ein Überschuß an Konsummitteln, sagen wir<br />
Baumwollstoffen, in nichtkapitalistischen Kreisen abgesetzt wird, so ist es klar, daß diese<br />
Baumwollstoffe als kapitalistische Ware nicht bloß Mehrwert, sondern konstantes und variables Kapital<br />
repräsentieren. Es scheint ganz willkürlich anzunehmen, gerade diese außerhalb der kapitalistischen<br />
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Gesellschaftskreise abgesetzten Waren repräsentieren nichts als Mehrwert. Andererseits stellt sich<br />
heraus, daß in diesem Falle auch die andere Abteilung (I) nicht bloß ihren Mehrwert realisiert, sondern<br />
auch akkumulieren kann, ohne jedoch ihr Produkt außerhalb der beiden Abteilungen der kapitalistischen<br />
Produktion abzusetzen. Beide <strong>Ein</strong>wände sind in<strong>des</strong> nur scheinbar, sie erledigen sich durch die<br />
proportionelle Wertdarstellung der Produktmasse in ihren entsprechenden Teilen. Unter der<br />
kapitalistischen Produktion enthält nicht bloß das Gesamtprodukt, sondern auch jede einzelne Ware<br />
Mehrwert. Das hindert aber nicht, daß, wie der <strong>Ein</strong>zelkapitalist beim sukzessiven Verkauf seiner<br />
speziellen Warenmasse, erst den Ersatz seines ausgelegten konstanten <strong>Kapitals</strong>, dann <strong>des</strong> variablen<br />
<strong>Kapitals</strong> (oder unrichtiger, aber der Praxis entsprechend: erst seines fixen, dann seines zirkulierenden<br />
<strong>Kapitals</strong>) berechnet, um den Resterlös als seinen Profit zu buchen, auch das gesellschaftliche<br />
Gesamtprodukt in drei proportionelle Teile abgesondert werden kann, die ihrem Werte nach dem<br />
in der Gesellschaft verbrauchten konstanten Kapital, dem variablen Kapital und dem ausgepreßten<br />
Mehrwert entsprechen. Bei der einfachen Reproduktion entspricht diesen Wertproportionen auch die<br />
sachliche Gestalt <strong>des</strong> Gesamtprodukts: Das konstante Kapital erscheint in Gestalt von Produktionsmitteln<br />
wieder, das variable in Gestalt von Lebensmitteln für Arbeiter, der Mehrwert in Gestalt von<br />
Lebensmitteln für Kapitalisten. In<strong>des</strong> ist die einfache Reproduktion in diesem kategorischen Sinne -<br />
Verzehr <strong>des</strong> ganzen Mehrwerts durch die Kapitalisten -, wie wir wissen, theoretische Fiktion. Was die<br />
erweiterte Reproduktion oder <strong>Akkumulation</strong> betrifft, so besteht nach dem Marxschen Schema auch hier<br />
eine strenge Proportionalität zwischen der Wertzusammensetzung <strong>des</strong> gesellschaftlichen Produkts und<br />
seiner sachlichen Gestalt: Der Mehrwert kommt in seinem zur Kapitalisierung bestimmten Teil von<br />
vornherein in der proportionellen <strong>Ein</strong>teilung von sachlichen Produktionsmitteln und Lebensmitteln für<br />
Arbeiter zur Welt, die der Erweiterung der Produktion auf gegebener technischer Basis entsprechen.<br />
<strong>Die</strong>se Auffassung, die auf der Selbstgenügsamkeit und Isoliertheit der kapitalistischen Produktion fußt,<br />
scheitert jedoch, wie wir gesehen, schon an der Realisierung <strong>des</strong> Mehrwerts. Nehmen wir aber an, der<br />
Mehrwert werde außerhalb der kapitalistischen Produktion realisiert, so ist damit gegeben, daß seine<br />
sachliche Gestalt mit den Bedürfnissen der kapitalistischen Produktion selbst nichts zu tun hat. Seine<br />
sachliche Gestalt entspricht den Bedürfnissen jener nichtkapitalistischen Kreise, die ihn realisieren<br />
helfen. Der kapitalistische Mehrwert kann <strong>des</strong>halb - je nachdem in Form von Konsumtionsmitteln, so<br />
z.B. als Baumwollstoffe, oder in Form von Produktionsmitteln, so z.B. als Eisenbahnmaterial, zur Welt<br />
kommen. Daß dabei dieser in Gestalt von Produkten der einen Abteilung realisierte Mehrwert bei der<br />
darauffolgenden Produktionserweiterung auch den Mehrwert der anderen Abteilung realisieren hilft,<br />
ändert nichts an der Tatsache, daß der gesellschaftliche Mehrwert als Ganzes zum Teil direkt, zum Teil<br />
indirekt außerhalb der beiden Abteilungen realisiert worden ist. <strong>Die</strong>se Tatsache fällt unter denselben<br />
Gesichtspunkt unter dem der <strong>Ein</strong>zelkapitalist seinen Mehrwert realisieren kann, auch wenn seine ganze<br />
Ware nur erst das variable oder das konstante Kapital eines anderen Kapitalisten ersetzt.<br />
<strong>Die</strong> Realisierung <strong>des</strong> Mehrwerts ist in<strong>des</strong> nicht das einzige Moment der Reproduktion, auf das es<br />
ankommt. Nehmen wir an, die Abteilung I habe den Mehrwert auswärts (außerhalb der beiden<br />
Abteilungen) abgesetzt und könnte die <strong>Akkumulation</strong> ins Werk setzen. Nehmen wir ferner an, sie <br />
habe Aussicht auf neue Vergrößerung <strong>des</strong> Absatzes in jenen Kreisen. Damit ist jedoch erst die Hälfte der<br />
Bedingungen zur <strong>Akkumulation</strong> gegeben. Zwischen Lipp' und Kelchesrand kann noch manches<br />
passieren. Jetzt stellt sich nämlich als zweite Voraussetzung der <strong>Akkumulation</strong> die Notwendigkeit ein,<br />
entsprechende sachliche Elemente der Produktionserweiterung vorzufinden. Wo nehmen wir die her, da<br />
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wir soeben das Mehrprodukt gerade in Gestalt der Produkte I, d.h. als Produktionsmittel, in Geld<br />
verwandelt, und zwar außerhalb der kapitalistischen Produktion abgesetzt haben? <strong>Die</strong> Transaktion, die<br />
uns zur Realisierung <strong>des</strong> Mehrwerts verholfen, hat uns gleichsam durch die andere Tür die<br />
Voraussetzungen zur Verwandlung dieses realisierten Mehrwerts in die Gestalt <strong>des</strong> produktiven <strong>Kapitals</strong><br />
entführt. Und so scheint es, daß wir vom Regen in die Traufe gekommen sind. Sehen wir näher zu.<br />
Wir operieren hier mit dem c sowohl in der Abteilung I wie in der Abteilung II, wie wenn es der gesamte<br />
konstante Kapitalteil der Produktion wäre. <strong>Die</strong>s ist aber, wie wir wissen, falsch. Nur der <strong>Ein</strong>fachheit <strong>des</strong><br />
Schemas halber ist hier davon abgesehen worden, daß das c, welches in der I. und II. Abteilung <strong>des</strong><br />
Schemas figuriert, bloß ein Teil <strong>des</strong> gesamten konstanten <strong>Kapitals</strong> ist, nämlich der jährlich zirkulierende,<br />
in der Produktionsperiode aufgezehrte, auf die Produkte übertragene Teil. Es wäre aber total absurd,<br />
anzunehmen, die kapitalistische Produktion (und auch jede beliebige) würde in jeder Produktionsperiode<br />
ihr gesamtes konstantes Kapital aufbrauchen und es in jeder Periode von neuem schaffen. Im Gegenteil,<br />
im Hintergrund der Produktion, wie sie im Schema dargestellt, ist die ganze große Masse von<br />
Produktionsmitteln vorausgesetzt, deren periodische Gesamterneuerung im Schema durch die jährliche<br />
Erneuerung <strong>des</strong> aufgebrauchten Teils angedeutet ist. Mit der Steigerung der Produktivität der Arbeit und<br />
der Erweiterung <strong>des</strong> Produktionsumfangs wächst diese Masse nicht nur absolut, sondern auch relativ zu<br />
dem Teil, der jeweilig in der Produktion konsumiert wird. Damit wächst aber auch die potentielle<br />
Wirksamkeit <strong>des</strong> konstanten <strong>Kapitals</strong>. Für die Erweiterung der Produktion kommt zunächst die stärkere<br />
Anspannung dieses Teils <strong>des</strong> konstanten <strong>Kapitals</strong> ohne <strong>des</strong>sen direkte Wertvergrößerung in Betracht.<br />
"In der extraktiven Industrie, den Bergwerken z.B., bilden die Rohstoffe keinen Bestandteil <strong>des</strong><br />
Kapitalvorschusses. Der Arbeitsgegenstand ist hier nicht Produkt vorhergegangner Arbeit, sondern von<br />
der Natur gratis geschenkt. So Metallerz, Minerale, Steinkohlen, Steine etc. Hier besteht das konstante<br />
Kapital fast ausschließlich in Arbeitsmitteln, die ein vermehrtes Arbeitsquantum sehr gut vertragen<br />
können (Tag- und Nacht- schicht von Arbeitern z.B.). Alle andern Umstände gleichgesetzt, wird<br />
aber Masse und Wert <strong>des</strong> Produkts steigen in direktem Verhältnis der angewandten Arbeit. Wie am<br />
ersten Tag der Produktion, gehn hier die ursprünglichen Produktionsbildner, daher auch die Bildner der<br />
stofflichen Elemente <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, Mensch und Natur, zusammen. Dank der Elastizität der Arbeitskraft<br />
hat sich das Gebiet der <strong>Akkumulation</strong> erweitert ohne vorherige Vergrößerung <strong>des</strong> konstanten <strong>Kapitals</strong>.<br />
In der Agrikultur kann man das bebaute Land nicht ausdehnen ohne Vorschuß von zusätzlichem Samen<br />
und Dünger. Aber dieser Vorschuß einmal gemacht, übt selbst die rein mechanische Bearbeitung <strong>des</strong><br />
Bodens eine wundertätige Wirkung auf die Massenhaftigkeit <strong>des</strong> Produkts. <strong>Ein</strong>e größere Arbeitsmenge,<br />
geleistet von der bisherigen Anzahl Arbeiter, steigert so die Fruchtbarkeit, ohne neuen Vorschuß an<br />
Arbeitsmitteln zu erfordern. Es ist wieder direkte Wirkung <strong>des</strong> Menschen auf die Natur, welche zur<br />
unmittelbaren Quelle gesteigerter <strong>Akkumulation</strong> wird, ohne Dazwischenkunft eines neuen <strong>Kapitals</strong>.<br />
Endlich in der eigentlichen Industrie setzt jede zusätzliche Ausgabe an Arbeit eine entsprechende<br />
Zusatzausgabe an Rohstoffen voraus, aber nicht notwendig auch an Arbeitsmitteln. Und da die extraktive<br />
Industrie und Agrikultur der fabrizierenden Industrie ihre eignen Rohstoffe und die ihrer Arbeitsmittel<br />
liefern, kommt dieser auch der Produktenzuschuß zugute, den jene ohne zusätzlichen Kapitalzuschuß<br />
erzeugt haben.<br />
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Allgemeines Resultat: Indem das Kapital sich die beiden Urbildner <strong>des</strong> Reichtums, Arbeitskraft und<br />
Erde, einverleibt, erwirbt es eine Expansionskraft, die ihm erlaubt, die Elemente seiner <strong>Akkumulation</strong><br />
auszudehnen jenseits der scheinbar durch seine eigne Größe gesteckten Grenzen, gesteckt durch den<br />
Wert und die Masse der bereits produzierten Produktionsmittel, in denen es sein Dasein hat."(5)<br />
Ferner aber ist es gar nicht einzusehen, weshalb alle erforderlichen Produktionsmittel und Konsummittel<br />
nur kapitalistisch hergestellt werden müßten. Gerade diese Annahme liegt zwar dem Marxschen Schema<br />
der <strong>Akkumulation</strong> zugrunde, sie entspricht aber weder der täglichen Praxis und der Geschichte <strong>des</strong><br />
<strong>Kapitals</strong> noch dem spezifischen Charakter dieser Produktionsweise. In der ersten Hälfte <strong>des</strong> 19.<br />
Jahrhunderts kam der Mehrwert in England zu einem großen Teil in Gestalt von Baumwollstoffen aus<br />
dem Produktionsprozeß hervor. <strong>Die</strong> sachlichen Elemente seiner Kapitalisierung aber stellten ihrerseits als<br />
Rohbaumwolle aus den Sklavenstaaten der amerikanischen Union oder als Getreide (Lebensmittel<br />
für die englischen Arbeiter) aus den Gefilden <strong>des</strong> leibeigenen Rußlands zwar sicher Mehrprodukt, aber<br />
durchaus nicht kapitalistischen Mehrwert dar. Wie sehr die kapitalistische <strong>Akkumulation</strong> von diesen<br />
nichtkapitalistisch produzierten Produktionsmitteln abhängig ist, beweist die Baumwollkrisis in England<br />
infolge der Unterbrechung der Plantagenkultur durch den amerikanischen Sezessionskrieg oder die Krisis<br />
in der europäischen Leinwandweberei infolge der Unterbrechung der Zufuhr von Flachs aus dem<br />
leibeigenen Rußland durch den Orientkrieg. Man braucht sich im übrigen nur an die Rolle zu erinnern,<br />
welche die Zufuhr <strong>des</strong> bäuerlichen, also nicht kapitalistisch produzierten Getrei<strong>des</strong> für die Ernährung der<br />
Masse der Industriearbeiter in Europa (d.h. als Element <strong>des</strong> variablen <strong>Kapitals</strong>) spielt, um einzusehen,<br />
wie sehr die Kapitalakkumulation in ihren sachlichen Elementen tatsächlich an nichtkapitalistische<br />
Kreise gebunden ist.<br />
Der Charakter selbst der kapitalistischen Produktion schließt übrigens die Beschränkung auf<br />
kapitalistisch produzierte Produktionsmittel aus. <strong>Ein</strong> wesentliches Mittel im Drange <strong>des</strong> <strong>Ein</strong>zelkapitals<br />
nach Erhöhung der Profitrate ist das Bestreben nach Verbilligung der Elemente <strong>des</strong> konstanten <strong>Kapitals</strong>.<br />
<strong>Die</strong> unaufhörliche Steigerung der Produktivität der Arbeit andererseits als die wichtigste Methode zur<br />
Steigerung der Mehrwertrate schließt die schrankenlose Nutzbarmachung aller von der Natur und der<br />
Erde zur Verfügung gestellten Stoffe und Bedingungen ein und ist an eine solche gebunden. Das Kapital<br />
verträgt in dieser Hinsicht seinem Wesen und seiner Daseinsweise nach keine <strong>Ein</strong>schränkung. <strong>Die</strong><br />
kapitalistische Produktionsweise als solche umfaßt bis jetzt, nach mehreren Jahrhunderten ihrer<br />
Entwicklung, erst noch einen Bruchteil der Gesamtproduktion der Erde, ihr Sitz ist bisher vorzugsweise<br />
das kleine Europa, in dem sie auch noch ganzer Gebiete - wie der bäuerlichen Landwirtschaft, <strong>des</strong><br />
selbständigen Handwerks - und großer Landstrecken nicht Herr geworden ist, ferner große Teile<br />
Nordamerikas und einzelne Strecken auf dem Kontinent der übrigen Weltteile. Im allgemeinen ist die<br />
kapitalistische Produktionsweise bisher vorwiegend auf das Gewerbe in den Ländern der <br />
gemäßigten Zone beschränkt, während sie z.B. im Orient und im Süden verhältnismäßig geringe<br />
Fortschritte gemacht hat. Wäre sie demnach ausschließlich auf die in diesen engen Grenzen erreichbaren<br />
Produktionselemente angewiesen, dann wäre ihre jetzige Höhe, ja ihre Entwicklung überhaupt eine<br />
Unmöglichkeit gewesen. <strong>Die</strong> kapitalistische Produktion ist von Anbeginn in ihren Bewegungsformen<br />
und -gesetzen auf die gesamte Erde als Schatzkammer der Produktivkräfte berechnet. In seinem Drange<br />
nach Aneignung der Produktivkräfte zu Zwecken der Ausbeutung durchstöbert das Kapital die ganze<br />
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Welt, verschafft sich Produktionsmittel aus allen Winkeln der Erde, errafft oder erwirbt sie von allen<br />
Kulturstufen und Gesellschaftsformen. <strong>Die</strong> Frage nach den sachlichen Elementen der<br />
Kapitalakkumulation, weit entfernt, durch die sachliche Gestalt <strong>des</strong> kapitalistisch produzierten<br />
Mehrwerts bereits gelöst zu sein, verwandelt sich vielmehr in eine ganz andere Frage: Zur produktiven<br />
Verwendung <strong>des</strong> realisierten Mehrwerts ist erforderlich, daß das Kapital fortschreitend immer mehr den<br />
gesamten Erdball zur Verfügung hat, um in seinen Produktionsmitteln quantitativ und qualitativ<br />
unumschränkte Auswahl zu haben.<br />
Plötzliche Inangriffnahme neuer Rohstoffgebiete in unumschränktem Maße, sowohl um allen eventuellen<br />
Wechselfällen und Unterbrechungen in der Zufuhr der Rohstoffe aus alten Quellen wie allen plötzlichen<br />
Erweiterungen <strong>des</strong> gesellschaftlichen Bedarfs gewachsen zu sein, ist eine der unumgänglichsten<br />
Vorbedingungen <strong>des</strong> <strong>Akkumulation</strong>sprozesses in seiner Elastizität und Sprunghaftigkeit. Als der<br />
Sezessionskrieg die Zufuhr der amerikanischen Baumwolle nach England unterbrochen und im Distrikte<br />
Lancashire den berühmten "Baumwollhunger" hervorgerufen hatte, entstanden wie durch Zauber in<br />
kürzester Zeit neue gewaltige Baumwollplantagen in Ägypten. Hier war es die orientalische Despotie,<br />
verbunden mit dem uralten Fronverhältnis, die dem europäischen Kapital das Wirkungsgebiet geschaffen<br />
hatte. Nur das Kapital mit seinen technischen Mitteln vermag solche wunderbaren Umwälzungen in so<br />
kurzer Frist hervorzuzaubern. Aber nur auf vorkapitalistischem Boden primitiverer sozialer Verhältnisse<br />
vermag es solche Kommandogewalt über sachliche und menschliche Produktivkräfte zu entfalten, die zu<br />
jenen Wundern gehören. <strong>Ein</strong> anderes Beispiel dieser Art ist die enorme Steigerung <strong>des</strong> Weltverbrauchs<br />
an Kautschuk, der gegenwärtig einer regelmäßigen Lieferung von Rohgummi im Werte von einer<br />
Milliarde Mark jährlich gleichkommt. <strong>Die</strong> wirtschaftliche Basis dieser Rohstofferzeugung sind die vom<br />
europäischen Kapital praktizierten primitiven Ausbeutungssysteme in den afrikanischen Kolonien<br />
sowie in Amerika, die verschiedene Kombinationen von Sklaverei und Fronverhältnis darstellen.(6)<br />
Wohlgemerkt muß hervorgehoben werden, daß, wenn wir oben annahmen, die erste oder die zweite<br />
Abteilung realisiere im nichtkapitalistischen Milieu nur ihr Mehrprodukt, wir dabei den für die<br />
Nachprüfung <strong>des</strong> Marxschen Schemas günstigsten Fall nahmen, der die Beziehungen der Reproduktion<br />
in ihrer Reinheit zeigt. In Wirklichkeit zwingt uns nichts zu der Annahme, daß nicht auch ein Teil <strong>des</strong><br />
konstanten und variablen <strong>Kapitals</strong> im Produkt der entsprechenden Abteilung außerhalb der<br />
kapitalistischen Kreise realisiert wird. Hintennach mag sowohl die Erweiterung der Produktion wie auch<br />
zum Teil die Erneuerung der verbrauchten Produktionselemente in ihrer Sachgestalt durch Produkte<br />
nichtkapitalistischer Kreise vorgenommen werden. Was durch die obigen Beispiele klargemacht werden<br />
sollte, ist die Tatsache, daß zum min<strong>des</strong>ten der zu kapitalisierende Mehrwert und der ihm entsprechende<br />
Teil der kapitalistischen Produktenmasse unmöglich innerhalb der kapitalistischen Kreise realisiert<br />
werden kann und unbedingt außerhalb dieser Kreise, in nichtkapitalistisch produzierenden<br />
Gesellschaftsschichten und -formen, seine Abnehmer suchen muß.<br />
So liegen zwischen je einer Produktionsperiode, in der Mehrwert produziert, und der darauffolgenden<br />
<strong>Akkumulation</strong>, in der er kapitalisiert wird, zwei verschiedene Transaktionen - die Verwandlung <strong>des</strong><br />
Mehrwerts in seine reine Wertform, die Realisierung, und die Verwandlung dieser reinen Wertgestalt in<br />
produktive Kapitalgestalt -, die beide zwischen der kapitalistischen Produktion und der sie umgebenden<br />
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nichtkapitalistischen Welt vor sich gehen. So ist von beiden Standpunkten: der Realisierung <strong>des</strong><br />
Mehrwerts wie der Beschaffung der Elemente <strong>des</strong> konstanten <strong>Kapitals</strong>, von vornherein der Weltverkehr<br />
eine historische Existenzbedingung <strong>des</strong> Kapitalismus, Weltverkehr der in den gegebenen konkreten<br />
Verhältnissen wesentlich ein Austausch zwischen der kapitalistischen und den nichtkapitalistischen<br />
Produktionsformen ist.<br />
Bis jetzt haben wir die <strong>Akkumulation</strong> nur vom Standpunkt <strong>des</strong> Mehrwerts und <strong>des</strong> konstanten <strong>Kapitals</strong><br />
betrachtet. Das dritte grundlegende Moment der <strong>Akkumulation</strong> ist das variable Kapital. <strong>Die</strong><br />
fortschreitende <strong>Akkumulation</strong> ist begleitet von zunehmendem variablem Kapital. Im Marxschen Schema<br />
erscheint als seine entsprechende sachliche Gestalt im gesellschaftlichen Produkt eine wachsende Menge<br />
von Lebensmitteln für die Arbeiter. Das wirkliche variable Kapital sind aber nicht die Lebensmittel der<br />
Arbeiter, sondern die lebendige Arbeitskraft, für deren Reproduktion die Lebensmittel notwendig sind.<br />
Zu den Grundbedingungen der <strong>Akkumulation</strong> gehört also eine ihren Bedürfnissen angepaßte Zufuhr<br />
lebendiger Arbeit, die vom Kapital in Bewegung gesetzt wird. Zum Teil wird die Vergrößerung dieser<br />
Menge - soweit die Verhältnisse erlauben - durch Verlängerung <strong>des</strong> Arbeitstages und Intensivierung der<br />
Arbeit erreicht. Allein in beiden Fällen äußert sich diese Vermehrung der lebendigen Arbeit nicht oder<br />
nur in geringem Maße (als Überstundenlohn) im Wachstum <strong>des</strong> variablen <strong>Kapitals</strong>. Beide Methoden<br />
linden außerdem teils in natürlichen, teils in sozialen Widerständen ihre bestimmten, ziemlich engen<br />
Schranken, über die sie nicht hinausgehen können. Das fortschreitende Wachstum <strong>des</strong> variablen <strong>Kapitals</strong>,<br />
das die <strong>Akkumulation</strong> begleitet, muß also in einer zunehmenden Zahl beschäftigter Arbeitskräfte<br />
Ausdruck finden. Wo kommen diese zuschüssigen Arbeitskräfte her?<br />
Bei der Analyse der <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Ein</strong>zelkapitals beantwortet Marx die Frage folgendermaßen: "Um<br />
nun diese Bestandteile tatsächlich als Kapital fungieren zu lassen, bedarf die Kapitalistenklasse eines<br />
Zuschusses von Arbeit. Soll nicht die Ausbeutung der schon beschäftigten Arbeiter extensiv oder<br />
intensiv wachsen, so müssen zusätzliche Arbeitskräfte eingestellt werden. Dafür hat der Mechanismus<br />
der kapitalistischen Produktion ebenfalls schon gesorgt, indem er die Arbeiterklasse reproduziert als vom<br />
Arbeitslohn abhängige Klasse, deren gewöhnlicher Lohn hinreicht, nicht nur ihre Erhaltung zu sichern,<br />
sondern auch ihre Vermehrung. <strong>Die</strong>se ihm durch die Arbeiterklasse auf verschiednen Altersstufen<br />
jährlich gelieferten zuschüssigen Arbeitskräfte braucht das Kapital nur noch den in der Jahresproduktion<br />
schon enthaltnen zuschüssigen Produktionsmitteln einzuverleiben, und die Verwandlung <strong>des</strong> Mehrwerts<br />
in Kapital ist fertig."(7) Hier wird der Zuwachs <strong>des</strong> variablen <strong>Kapitals</strong> lediglich und direkt auf die<br />
natürliche Vermehrung der bereits vom Kapital kommandierten Arbeiterklasse durch Fortpflanzung<br />
reduziert. <strong>Die</strong>s entspricht auch genau dem Schema der erweiterten Reproduktion, das nach der<br />
Marxschen Voraussetzung die Kapitalisten und Arbeiter als einzige Gesellschaftsklassen, die<br />
kapitalistische Produktion als einzige und absolute Produktionsweise kennt. Unter diesen<br />
Voraussetzungen ist die natürliche Fortpflanzung der Arbeiterklasse die einzige Quelle der Vermehrung<br />
der vorhandenen Arbeitskräfte unter dem Kommando <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>. In<strong>des</strong> widerspricht diese Auffassung<br />
den Bewegungsgesetzen der <strong>Akkumulation</strong>. <strong>Die</strong> natürliche Fortpflanzung der Arbeiter steht weder<br />
zeitlich noch quantitativ im Verhältnis zu den Bedürfnissen <strong>des</strong> akkumulierenden <strong>Kapitals</strong>. Insbesondere<br />
vermag sie nicht, wie Marx das selbst glänzend dargelegt hat, mit den plötzlichen<br />
Expansionsbedürfnissen <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong> Schritt zu halten. <strong>Die</strong> natürliche Fortpflanzung der Arbeiterklasse<br />
als einzige Basis der Bewegungen <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong> würde den Fortgang der <strong>Akkumulation</strong> in periodischem<br />
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Wechsel der Überspannung und der Ermattung sowie in sprungweiser Ausdehnung <strong>des</strong><br />
Produktionsfel<strong>des</strong> ausschließen und damit die <strong>Akkumulation</strong> selbst unmöglich machen. Letztere<br />
erfordert ebenso schrankenlose Bewegungsfreiheit in bezug auf das Wachstum <strong>des</strong> variablen <strong>Kapitals</strong><br />
wie in bezug auf die Elemente <strong>des</strong> konstanten <strong>Kapitals</strong>, also schrankenlose Verfügungsmöglichkeit über<br />
die Zufuhr von Arbeitskraft. Nach der Marxschen Analyse findet dieses Erfordernis einen exakten<br />
Ausdruck in der Bildung der "industriellen Reservearmee der Arbeiter". Das Marxsche Schema der<br />
erweiterten Reproduktion kennt freilich eine solche nicht und läßt auch keinen Raum für sie übrig. <strong>Die</strong><br />
industrielle Reservearmee kann nämlich durch die natürliche Fortpflanzung <strong>des</strong> kapitalistischen<br />
Lohnproletariats nicht gebildet werden. Sie muß andere soziale Reservoirs haben, aus denen ihr die<br />
Arbeitskraft zufließt - Arbeitskraft, die bis dahin noch nicht unter dem Kommando <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong> stand<br />
und erst nach Bedarf dem Lohnproletariat zugefügt wird. <strong>Die</strong>se zuschüssigen Arbeitskräfte kann die<br />
kapitalistische Produktion nur aus nichtkapitalistischen Schichten und Ländern ständig beziehen. In<br />
seiner Analyse der industriellen Re- servearmee (Das Kapital, Band I, Kapitel 23, 3) [Karl Marx:<br />
Das Kapital, Erster Band. In: Karl Marx/Friedrich Engels: Werke, Bd. 23, S.650-677.] berücksichtigt<br />
Marx freilich nur 1. die Verdrängung älterer Arbeiter durch die Maschinerie, 2. den Zuzug ländlicher<br />
Arbeiter in die Stadt als Folge der Herrschaft der kapitalistischen Produktion in der Agrikultur, 3. die von<br />
der Industrie ausrangierten Arbeitskräfte mit unregelmäßiger Beschäftigung, endlich 4. als den tiefsten<br />
Niederschlag der relativen Übervölkerung - den Pauperismus. Alle diese Kategorien stellen in<br />
verschiedener Form selbst schon Ausscheidungsprodukte der kapitalistischen Produktion dar, in dieser<br />
oder jener Form verbrauchte und überzählig gemachte Lohnproletarier. Auch die in die Stadt ständig<br />
ziehenden Landarbeiter sind bei Marx Lohnproletarier, die früher schon unter dem Kommando <strong>des</strong><br />
agrikolen <strong>Kapitals</strong> standen und nunmehr bloß unter die Botmäßigkeit <strong>des</strong> industriellen <strong>Kapitals</strong> kommen.<br />
Marx hatte dabei augenscheinlich englische Verhältnisse auf hoher Stufe der kapitalistischen<br />
Entwicklung im Auge. Hingegen behandelt er in diesem Zusammenhang nicht die Frage, woher dieses<br />
städtische und ländliche Proletariat beständig zufließt, berücksichtigt nicht die in den europäischen<br />
Verhältnissen <strong>des</strong> Kontinents wichtigste Quelle dieses Zuflusses: die ständige Proletarisierung der<br />
ländlichen und städtischen Mittelschichten, den Verfall der bäuerlichen Wirtschaft und <strong>des</strong><br />
handwerksmäßigen Kleingewerbes, also gerade den ständigen Übergang der Arbeitskräfte aus<br />
nichtkapitalistischen Verhältnissen in kapitalistische, als Ausscheidungsprodukt nicht der<br />
kapitalistischen, sondern vorkapitalistischer Produktionsweisen in dem fortschreitenden Prozeß ihres<br />
Zusammenbruchs und ihrer Auflösung. Hierher gehört aber nicht bloß die Zersetzung der europäischen<br />
Bauernwirtschaft und <strong>des</strong> Handwerks, sondern auch die Zersetzung der verschiedensten primitiven<br />
Produktions- und Gesellschaftsformen in außereuropäischen Ländern.<br />
Sowenig die kapitalistische Produktion sich auf die Naturschätze und Produktivkräfte der gemäßigten<br />
Zone beschränken kann, vielmehr zu ihrer Entfaltung der Verfügungsmöglichkeit über alle Erdstriche<br />
und Klimate bedarf, sowenig kann sie mit der Arbeitskraft der weißen Rasse allein auskommen. Das<br />
Kapital braucht zur Nutzbarmachung von Erdstrichen, in denen die weiße Rasse arbeitsunfähig ist,<br />
andere Rassen, es braucht überhaupt die unumschränkte Verfügungsmöglichkeit über alle Arbeitskräfte<br />
<strong>des</strong> Erdrunds, um mit ihnen alle Produktivkräfte der Erde - soweit dies in den Schranken der<br />
Mehrwertproduktion möglich - mobil zu machen. <strong>Die</strong>se Arbeitskräfte findet es aber meist in festen<br />
Banden überkommener vorkapitalistischer Produktionsverhältnisse, aus denen sie erst "befreit" <br />
werden müssen, um in die tätige Armee <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong> enrolliert zu werden. Der Prozeß der Ausscheidung<br />
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der Arbeitskräfte aus primitiven sozialen Verhältnissen und ihr Aufsaugen durch das kapitalistische<br />
Lohnsystem ist eine der unumgänglichen historischen Grundlagen <strong>des</strong> Kapitalismus. <strong>Die</strong> englische<br />
Baumwollindustrie als erster echt kapitalistischer Produktionszweig wäre unmöglich nicht bloß ohne die<br />
Baumwolle der Südstaaten der nordamerikanischen Union, sondern auch ohne die Millionen<br />
Afrikaneger, die nach Amerika verpflanzt wurden, um die Arbeitskräfte für die Plantagen zu liefern, und<br />
nach dem Sezessionskriege als freies Proletariat der kapitalistischen Lohnarbeiterklasse zugewachsen<br />
sind.(8) <strong>Die</strong> Wichtigkeit <strong>des</strong> Bezuges von erforderlichen Arbeitskräften aus nichtkapitalistischen<br />
Gesellschaften wird dem Kapital sehr fühlbar in der Form der sogenannten Arbeiterfrage in den<br />
Kolonien. Der Lösung dieser Frage dienen alle möglichen Methoden der "sanften Gewalt", um die<br />
anderen sozialen Autoritäten und Produktionsbedingungen untergeordneten Arbeitskräfte von diesen<br />
loszulösen und dem Kommando <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong> zu unterstellen. Aus diesem Bestreben ergeben sich in den<br />
Kolonialländern die seltsamsten Mischformen zwischen modernem Lohnsystem und primitiven<br />
Herrschaftsverhältnissen.(9) <strong>Die</strong>se illustrieren handgreiflich die Tat- sache, daß die kapitalistische<br />
Produktion ohne Arbeitskräfte aus anderen sozialen Formationen nicht auszukommen vermag.<br />
Marx behandelt freilich eingehend sowohl den Prozeß der Aneignung nichtkapitalistischer<br />
Produktionsmittel wie den Prozeß der Verwandlung <strong>des</strong> Bauerntums in kapitalistisches Proletariat. Das<br />
ganze 24. Kapitel im ersten Band <strong>des</strong> "<strong>Kapitals</strong>" ist der Schilderung der Entstehung <strong>des</strong> englischen<br />
Proletariats, der agrikolen kapitalistischen Pächterklasse sowie <strong>des</strong> industriellen <strong>Kapitals</strong> gewidmet. <strong>Ein</strong>e<br />
hervorragende Rolle im letzteren Vorgang spielt in der Marxschen Schilderung die Ausplünderung der<br />
Kolonialländer durch das europäische Kapital. <strong>Die</strong>s alles aber wohlgemerkt nur unter dem<br />
Gesichtswinkel der sogenannten "primitiven <strong>Akkumulation</strong>". <strong>Die</strong> angegebenen Prozesse illustrieren bei<br />
Marx nur die Genesis, die Geburtsstunde <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, sie bezeichnen die Geburtswehen bei dem<br />
Heraustreten der kapitalistischen Produktionsweise aus dem Schoße der feudalen Gesellschaft. Sobald er<br />
die theoretische Analyse <strong>des</strong> Kapitalprozesses gibt - Produktion wie Zirkulation -, kehrt er ständig zu<br />
seiner Voraussetzung: allgemeine und ausschließliche Herrschaft der kapitalistischen Produktion, zurück.<br />
Wir sehen jedoch, daß der Kapitalismus auch in seiner vollen Reife in jeder Beziehung auf die<br />
gleichzeitige Existenz nichtkapitalistischer Schichten und Gesellschaften angewiesen ist. <strong>Die</strong>ses<br />
Verhältnis erschöpft sich nicht durch die nackte Frage <strong>des</strong> Absatzmarktes für das "überschüssige<br />
Produkt", wie das Problem von Sismondi und den späteren Kritikern und Zweiflern der kapitalistischen<br />
<strong>Akkumulation</strong> gestellt wurde. Der <strong>Akkumulation</strong>sprozeß <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong> ist durch alle seine<br />
Wertbeziehungen und Sachbeziehungen: konstantes Kapital, variables Kapital und Mehrwert an<br />
nichtkapitalistische Produktionsformen gebunden. Letztere bilden das gegebene historische Milieu jenes<br />
Prozesses. <strong>Die</strong> Kapitalakkumulation kann so wenig unter der Voraussetzung der ausschließlichen und<br />
absoluten Herrschaft der kapitalistischen Produktionsweise dargestellt werden, daß sie vielmehr ohne das<br />
nichtkapitalistische Milieu in jeder Hinsicht undenkbar ist. Freilich zeigten Sismondi und seine<br />
Nachfolger einen richtigen Instinkt für die Daseinsbedingungen der <strong>Akkumulation</strong>, wenn sie deren<br />
Schwierigkeiten einzig und allein auf die Realisierung <strong>des</strong> Mehrwerts reduzierten. Zwischen den<br />
Bedingungen dieser letzteren und den Bedingungen der Erweiterung <strong>des</strong> konstanten und <strong>des</strong> variablen<br />
<strong>Kapitals</strong> in ihrer Sachgestalt besteht ein wichtiger Unterschied. Das Kapital kann ohne die<br />
Produktionsmittel und die Arbeitskräfte <strong>des</strong> gesamten Erdballes nicht auskommen, zur ungehinderten<br />
Entfaltung seiner <strong>Akkumulation</strong>sbewegung braucht es die Naturschätze und die Arbeitskräfte aller<br />
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Erdstriche. Da diese sich tatsächlich in überwiegender Mehrzahl in den Banden vorkapitalistischer<br />
Produktionsformen befinden - dies das geschichtliche Milieu der Kapitalakkumulation -, so ergibt sich<br />
daraus der ungestüme Drang <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, sich jener Erdstriche und Gesellschaften zu bemächtigen. An<br />
sich wäre der kapitalistischen Produktion z.B. auch mit kapitalistisch betriebenen Kautschukplantagen,<br />
wie sie z.B. in Indien bereits angelegt sind, gedient. Aber die tatsächliche Vorherrschaft<br />
nichtkapitalistischer Gesellschaftsverhältnisse in den Ländern jener Produktionszweige ergibt für das<br />
Kapital die Bestrebung, jene Länder und Gesellschaften unter seine Botmäßigkeit zu bringen, wobei die<br />
primitiven Verhältnisse allerdings so außerordentlich rasche und gewaltsame Griffe der <strong>Akkumulation</strong><br />
ermöglichen, wie sie unter rein kapitalistischen Gesellschaftsverhältnissen ganz undenkbar wären.<br />
Anders die Realisierung <strong>des</strong> Mehrwerts. <strong>Die</strong>se ist von vornherein an nichtkapitalistische Produzenten<br />
und Konsumenten als solche gebunden. <strong>Die</strong> Existenz nichtkapitalistischer Abnehmer <strong>des</strong> Mehrwerts ist<br />
also direkte Lebensbedingung für das Kapital und seine <strong>Akkumulation</strong>, insofern also der entscheidende<br />
Punkt im Problem der Kapitalakkumulation.<br />
Ob aber so oder anders, faktisch ist die Kapitalakkumulation als geschichtlicher Prozeß in allen<br />
ihren Beziehungen auf nichtkapitalistische Gesellschaftsschichten und -formen angewiesen.<br />
<strong>Die</strong> Lösung <strong>des</strong> Problems, um das sich die Kontroverse in der Nationalökonomie fast über ein ganzes<br />
Jahrhundert zieht, liegt also zwischen den beiden Extremen: zwischen der kleinbürgerlichen Skepsis der<br />
Sismondi, v. Kirchmann, Woronzow, Nikolai-on, die die <strong>Akkumulation</strong> für unmöglich erklärten, und<br />
dem rohen Optimismus Ricardo-Say-Tugan-Baranowskis, für die der Kapitalismus sich selbst<br />
schrankenlos befruchten kann, ergo - was nur eine logische Konsequenz - von ewiger Dauer ist. <strong>Die</strong><br />
Lösung liegt, im Sinne der Marxschen Lehre, in dem dialektischen Widerspruch, daß die kapitalistische<br />
<strong>Akkumulation</strong> zu ihrer Bewegung nichtkapitalistischer sozialer Formationen als ihrer Umgebung bedarf,<br />
in ständigem Stoffwechsel mit ihnen vorwärtsschreitet und nur so lange existieren kann, als sie dieses<br />
Milieu vorfindet.<br />
Von hier aus können die Begriffe <strong>des</strong> inneren und auswärtigen Absatzmarktes, die im theoretischen Streit<br />
um das Problem der <strong>Akkumulation</strong> eine so hervorragende Rolle gespielt haben, revidiert werden. Innerer<br />
und äußerer Markt spielen gewiß eine große und grundverschiedene Rolle im Gang der kapitalistischen<br />
Entwicklung, jedoch nicht als Begriffe der politischen Geographie, sondern als die der sozialen<br />
Ökonomie. Innerer Markt vom Standpunkt der kapitalistischen Produktion ist kapitalistischer Markt, ist<br />
diese Produktion selbst als Abnehmerin ihrer eigenen Produkte und Bezugsquelle ihrer eigenen<br />
Produktionselemente. Äußerer Markt für das Kapital ist die nichtkapitalistische soziale Umgebung, die<br />
seine Produkte absorbiert und ihm Produktionselemente und Arbeitskräfte liefert. Von diesem<br />
Standpunkt, ökonomisch, sind Deutschland und England in ihrem gegenseitigen Warenaustausch<br />
füreinander meist innerer, kapitalistischer Markt, während der Austausch zwischen der deutschen<br />
Industrie und den deutschen bäuerlichen Konsumenten wie Produzenten für das deutsche Kapital<br />
auswärtige Marktbeziehungen darstellt. Wie aus dem Schema der Reproduktion ersichtlich, sind dies<br />
strenge, exakte Begriffe. Im innern kapitalistischen Verkehr können im besten Fall nur bestimmte<br />
Wertteile <strong>des</strong> gesellschaftlichen Gesamtprodukts realisiert werden: das verbrauchte konstante Kapital,<br />
das variable Kapital und der konsumierte Teil <strong>des</strong> Mehrwerts; hingegen muß der zur Kapitalisierung<br />
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bestimmte Teil <strong>des</strong> Mehrwerts "auswärts" realisiert werden. Ist die Kapitalisierung <strong>des</strong> Mehrwerts der<br />
eigentliche Zweck und das treibende Motiv der Produktion, so ist andererseits die Erneuerung <strong>des</strong><br />
konstanten und variablen <strong>Kapitals</strong> (so- wie <strong>des</strong> konsumierten Teils <strong>des</strong> Mehrwerts) die breite<br />
Basis und die Vorbedingung jener. Und wird mit der internationalen Entwicklung <strong>des</strong> Kapitalismus die<br />
Kapitalisierung <strong>des</strong> Mehrwerts immer dringender und prekärer, so wird die breite Basis <strong>des</strong> konstanten<br />
und variablen <strong>Kapitals</strong> als Masse absolut und im Verhältnis zum Mehrwert immer gewaltiger. Daher die<br />
widerspruchsvolle Erscheinung, daß die alten kapitalistischen Länder füreinander immer größeren<br />
Absatzmarkt darstellen, füreinander immer unentbehrlicher werden und zugleich einander immer<br />
eifersüchtiger als Konkurrenten in Beziehungen mit nichtkapitalistischen Ländern bekämpfen.(10) <strong>Die</strong><br />
Bedingungen der Kapitalisierung <strong>des</strong> Mehrwerts und die Bedingungen der Erneuerung <strong>des</strong><br />
Gesamtkapitals treten miteinander immer mehr in Widerspruch, der übrigens nur ein Reflex <strong>des</strong><br />
widerspruchsvollen Gesetzes der fallenden Profitrate ist.<br />
Fußnoten von <strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong><br />
(1) "Je größer das Kapital, je entwickelter die Produktivität der Arbeit, überhaupt die Stufenleiter der<br />
kapitalistischen Produktion, um so größer auch die Masse der Waren, die sich in dem Übergang aus der<br />
Produktion in die Konsumtion (individuelle und industrielle), in Zirkulation, auf dem Markt befinden,<br />
und um so größer die Sicherheit für je<strong>des</strong> besondre Kapital, seine Reproduktionsbedingungen fertig auf<br />
dem Markt vorzufinden." (Marx: Theorien über den Mehrwert, Bd. II, Teil 2, S. 251.) [Karl Marx:<br />
Theorien über den Mehrwert, Zweiter Teil. In: Karl Marx/Friedrich Engels: Werke, Bd. 26.2, S. 484.]
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<strong>Die</strong> Länge der 1898 exportierten Baumwollstückware betrug 5 1/4 Milliarden Yards, vor denen 2 1/4<br />
Milliarden nach Vorderindien gingen. (E. Jaffé: <strong>Die</strong> englische Baumwollindustrie und die Organisation<br />
<strong>des</strong> Exporthandels. In: Schmollers Jahrbücher [Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und<br />
Volkswirtschaft], XXIV. Jg., S. 1033.)<br />
1908 betrug die britische Ausfuhr an Baumwollgarn allein 262 Mill. Mark. (Statistisches Jahrbuch für<br />
das Deutsche Reich, 1910.)
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Baumwolle Sklaven<br />
1800 5,2 Mill. Doll. 893.041<br />
1810 15,1 Mill. Doll. 1.191.364<br />
1820 26,3 Mill. Doll. 1.543.688<br />
1830 34,1 Mill. Doll. 2.009.053<br />
1840 74,6 Mill. Doll. 2.487.255<br />
1850 111,8 Mill. Doll. 3.179.509<br />
1851 137,3 Mill. Doll. 3.200.300<br />
(Simons: Klassenkämpfe in der Geschichte Amerikas. Ergänzungsheft der "Neuen Zeit", Nr. 7, S. 39.)<br />
file:///C|/DOKUME~1/peter1/LOKALE~1/Temp/Rar$DR96.187/lu/lu05/lu05_296.htm<br />
seltsamen Negerretorte ein Dutzend Sprachen hören, wenn man von Gruppe zu Gruppe geht." <strong>Die</strong> Neger<br />
pflegen nach mehreren Monaten Arbeit mit ihrem aufgesparten Lohn das Bergwerk zu verlassen, um zu<br />
ihrem Stamme zurückzukehren, sich für das Geld eine Frau zu kaufen und wieder in ihren hergebrachten<br />
Verhältnissen zu leben. (James Bryce: Impressions of South Africa, 1897, deutsche Ausgabe 1900, S.<br />
206.) Ebenda siehe auch die recht lebendige Schilderung der Methoden wie man in Südafrika die<br />
"Arbeiterfrage" löst. Wir erfahren da, daß man die Neger zur Arbeit in den Bergwerken und Plantagen in<br />
Kimberley, in Witwatersrand, in Natal, im Matabeleland zwingt dadurch, daß man ihnen alles Land und<br />
alles Vieh, d.h. die Existenzmittel nimmt, sie proletarisiert, sie auch mit Branntwein demoralisiert<br />
(später, als sie schon in der "<strong>Ein</strong>friedung" <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong> sind, werden ihnen, die an Alkohol erst gewöhnt<br />
worden, "geistige Getränke" streng verboten: Das Ausbeutungsobjekt muß in brauchbarem Zustand<br />
erhalten werden.), schließlich einfach mit Gewalt, Gefängnis, Auspeitschung in das "Lohnsystem" <strong>des</strong><br />
<strong>Kapitals</strong> preßt.
<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 27. Kapitel<br />
26. Kapitel | Inhalt | 28. Kapitel<br />
<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - Gesammelte Werke. Herausgegeben vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Band<br />
5. <strong>Berlin</strong>/DDR. 1975. "<strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>", S. 316-333.<br />
1. Korrektur.<br />
Erstellt am 20.10.1998<br />
Siebenundzwanzigstes Kapitel<br />
Der Kampf gegen die Naturalwirtschaft<br />
Der Kapitalismus kommt zur Welt und entwickelt sich historisch in einem nichtkapitalistischen<br />
sozialen Milieu. In den westeuropäischen Ländern umgibt ihn zuerst das feudale Milieu, aus <strong>des</strong>sen<br />
Schoß er hervorgeht - die Fronwirtschaft auf dem platten Lande, das Zunfthandwerk in der Stadt -, dann,<br />
nach Abstreifung <strong>des</strong> Feudalismus, ein vorwiegend bäuerlich-handwerksmäßiges Milieu, als einfache<br />
Warenproduktion in der Landwirtschaft wie im Gewerbe. Außerdem umgibt den europäischen<br />
Kapitalismus ein gewaltiges Terrain außereuropäischer Kulturen, welches die ganze Skala von<br />
Entwicklungsstufen von den primitivsten kommunistischen Horden wandernder Jäger und Sammler bis<br />
zur bäuerlichen und handwerksmäßigen Warenproduktion darbietet. Mitten in diesem Milieu arbeitet<br />
sich der Prozeß der Kapitalakkumulation vorwärts.<br />
Es sind dabei drei Phasen zu unterscheiden: der Kampf <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong> mit der Naturalwirtschaft, der<br />
Kampf mit der Warenwirtschaft und der Konkurrenzkampf <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong> auf der Weltbühne um die Reste<br />
der <strong>Akkumulation</strong>sbedingungen.<br />
Der Kapitalismus bedarf zu seiner Existenz und Fortentwicklung nichtkapitalistischer Produktionsformen<br />
als seiner Umgebung. Aber nicht mit jeder dieser Formen ist ihm gedient. Er braucht nichtkapitalistische<br />
soziale Schichten als Absatzmarkt für seinen Mehrwert, als Bezugsquellen seiner <br />
Produktionsmittel und als Reservoirs der Arbeitskräfte für sein Lohnsystem. Zu allen diesen Zwecken<br />
kann das Kapital mit naturalwirtschaftlichen Produktionsformen nichts anfangen. In allen<br />
naturalwirtschaftlichen Formationen - ob es sich um primitive Bauerngemeinden mit Gemeineigentum an<br />
Grund und Boden, feudale Fronverhältnisse oder dergleichen handelt - ist die Produktion für den<br />
Selbstbedarf das Ausschlaggebende der Wirtschaft, daher kein oder geringer Bedarf nach fremden Waren<br />
und in der Regel auch kein Überfluß an eigenen Produkten oder zum min<strong>des</strong>ten kein dringen<strong>des</strong><br />
Bedürfnis, überschüssige Produkte loszuwerden. Was das wichtigste jedoch: Alle naturalwirtschaftlichen<br />
Produktionsformen beruhen auf dieser oder jener Art Gebundenheit sowohl der Produktionsmittel wie<br />
der Arbeitskräfte. <strong>Die</strong> kommunistische Bauerngemeinde so gut wie der feudale Fronhof und dergleichen<br />
stützen sich in ihrer wirtschaftlichen Organisation auf die Fesselung <strong>des</strong> wichtigsten Produktionsmittels -<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 27. Kapitel<br />
<strong>des</strong> Grund und Bodens - sowie der Arbeitskräfte durch Recht und Herkommen. <strong>Die</strong> Naturalwirtschaft<br />
setzt somit den Bedürfnissen <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong> in jeder Hinsicht starre Schranken entgegen. Der Kapitalismus<br />
führt <strong>des</strong>halb vor allem stets und überall einen Vernichtungskampf gegen die Naturalwirtschaft in<br />
jeglicher historischer Form, auf die er stößt, gegen die Sklavenwirtschaft, gegen den Feudalismus, gegen<br />
den primitiven Kommunismus, gegen die patriarchalische Bauernwirtschaft. In diesem Kampfe bilden<br />
politische Gewalt (Revolution, Krieg), staatlicher Steuerdruck und Billigkeit der Waren die<br />
Hauptmethoden, die teils nebeneinander laufen, teils einander folgen und sich gegenseitig unterstützen.<br />
Äußerte sich die Gewalt im Kampfe gegen den Feudalismus in Europa in revolutionärer Gestalt (die<br />
bürgerlichen Revolutionen <strong>des</strong> 17., 18. und 19. Jahrhunderts gehören in letzter Linie hierher), so in<br />
außereuropäischen Ländern - im Kampfe gegen primitivere soziale Formen - in der Gestalt der<br />
Kolonialpolitik. Das hier praktizierte Steuersystem wie der Handel, namentlich mit primitiven<br />
Gemeinwesen, stellen ein Gemisch dar, in dem politische Gewalt und ökonomische Faktoren eng<br />
ineinandergreifen.<br />
<strong>Die</strong> ökonomischen Zwecke <strong>des</strong> Kapitalismus im Kampfe mit naturalwirtschaftlichen Gesellschaften sind<br />
im einzelnen:<br />
1. sich wichtiger Quellen von Produktivkräften direkt zu bemächtigen, wie Grund und Boden, Wild der<br />
Urwälder, Mineralien, Edelsteine und Erze, Erzeugnisse exotischer Pflanzenwelt, wie Kautschuk usw.;<br />
2. Arbeitskräfte "frei" zu machen und zur Arbeit für das Kapital zu zwingen;<br />
3. die Warenwirtschaft einzuführen;<br />
4. Landwirtschaft von Gewerbe zu trennen.<br />
Bei der primitiven <strong>Akkumulation</strong>, d.h. in den ersten geschichtlichen Anfängen <strong>des</strong> Kapitalismus in<br />
Europa am Ausgang <strong>des</strong> Mittelalters und bis ins 19. Jahrhundert hinein, bildete das Bauernlegen in<br />
England und auf dem Kontinent das großartigste Mittel zur massenhaften Verwandlung der<br />
Produktionsmittel und Arbeitskräfte in Kapital. In<strong>des</strong> dieselbe Aufgabe wird bis auf den heutigen Tag<br />
durch das herrschende Kapital in ganz anders großartigem Maßstab ausgeführt - in der modernen<br />
Kolonialpolitik. Es ist eine Illusion, zu hoffen, der Kapitalismus würde sich je nur mit<br />
Produktionsmitteln begnügen, die er auf dem Wege <strong>des</strong> Warenhandels erstehen kann. <strong>Die</strong> Schwierigkeit<br />
für das Kapital besteht in dieser Hinsicht schon darin, daß auf gewaltigen Strecken der exploitierbaren<br />
Erdoberfläche die Produktivkräfte sich im Besitz von gesellschaftlichen Formationen befinden, die<br />
entweder zum Warenhandel nicht neigen oder aber gerade die wichtigsten Produktionsmittel, auf die es<br />
dem Kapital ankommt, überhaupt nicht feilbieten, weil die Eigentumsformen wie die ganze soziale<br />
Struktur dies von vornherein ausschließen. Dahin gehören vor allem Grund und Boden mit dem ganzen<br />
Reichtum an mineralischem Gehalt im Innern sowie mit dem Wiesen-, Wälder- und Wasserbestand an<br />
der Oberfläche, ferner Viehherden bei viehzüchtenden primitiven Völkern. Sich hier auf den Prozeß der<br />
langsamen auf Jahrhunderte berechneten inneren Zersetzung dieser naturalwirtschaftlichen Gebilde<br />
verlassen und ihre Resultate erst abwarten, bis sie zur Entäußerung der wichtigsten Produktionsmittel auf<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 27. Kapitel<br />
dem Wege <strong>des</strong> Warenhandels führen, würde für das Kapital soviel bedeuten, wie überhaupt auf die<br />
Produktivkräfte jener Gebiete verzichten. Daraus folgert der Kapitalismus gegenüber den<br />
Kolonialländern die gewaltsame Aneignung der wichtigsten Produktionsmittel als eine Lebensfrage für<br />
sich. Da aber gerade die primitiven sozialen Verbände der <strong>Ein</strong>geborenen der stärkste Schutzwall der<br />
Gesellschaft wie ihrer materiellen Existensbasis sind, so erfolgt als einleitende Methode <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong> die<br />
systematische, planmäßige Zerstörung und Vernichtung der nichtkapitalistischen sozialen Verbände, auf<br />
die es in seiner Ausbreitung stößt. Hier haben wir es nicht mehr mit der primitiven <strong>Akkumulation</strong> zu tun,<br />
der Prozeß dauert fort bis auf den heutigen Tag. Jede neue Kolonialerweiterung wird naturgemäß von<br />
diesem hartnäckigen Krieg <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong> gegen die sozialen und ökonomischen Zusammenhänge<br />
der <strong>Ein</strong>geborenen begleitet sowie von dem gewaltsamen Raub ihrer Produktionsmittel und ihrer<br />
Arbeitskräfte. <strong>Die</strong> Hoffnung, den Kapitalismus ausschließlich auf den "friedlichen Wettbewerb", d.h. auf<br />
den regelrechten Warenhandel, wie er zwischen kapitalistisch produzierenden Ländern geführt wird, als<br />
die einzige Grundlage seiner <strong>Akkumulation</strong> verweisen zu können, beruht auf der doktrinären Täuschung,<br />
als ob die Kapitalakkumulation ohne die Produktivkräfte und die Nachfrage primitiverer Gebilde<br />
auskommen, sich auf den langsamen inneren Zersetzungsprozeß der Naturalwirtschaft verlassen könnte.<br />
Sowenig die Kapitalakkumulation in ihrer sprunghaften Ausdehnungstätigkeit auf den natürlichen<br />
Zuwachs der Arbeiterbevölkerung zu warten und mit ihm auszukommen vermag, sowenig wird sie auch<br />
die natürliche langsame Zersetzung der nichtkapitalistischen Formen und ihren Übergang zur<br />
Warenwirtschaft abwarten und sich mit ihm begnügen. Das Kapital kennt keine andere Lösung der Frage<br />
als Gewalt, die eine ständige Methode der Kapitalakkumulation als geschichtlicher Prozeß ist, nicht bloß<br />
bei der Genesis, sondern bis auf den heutigen Tag. Für die primitiven Gesellschaften aber gibt es, da es<br />
sich in jedem solchen Falle um Sein oder Nichtsein handelt, kein anderes Verhalten als Widerstand und<br />
Kampf auf Tod und Leben, bis zur völligen Erschöpfung oder bis zur Ausrottung. Daher die ständige<br />
militärische Besetzung der Kolonien, die Aufstände der <strong>Ein</strong>geborenen und die Kolonialexpeditionen zu<br />
ihrer Niederwerfung als permanente Erscheinungen auf der Tagesordnung <strong>des</strong> Kolonialregimes. <strong>Die</strong><br />
gewaltsame Methode ist hier die direkte Folge <strong>des</strong> Zusammenpralls <strong>des</strong> Kapitalismus mit<br />
naturalwirtschaftlichen Formationen, die seiner <strong>Akkumulation</strong> Schranken setzen. Ohne ihre<br />
Produktionsmittel und Arbeitskräfte kann er nicht auskommen, sowenig wie ohne ihre Nachfrage nach<br />
seinem Mehrprodukt. Um ihnen aber Produktionsmittel und Arbeitskräfte zu entnehmen, um sie in<br />
Warenabnehmer zu verwandeln, strebt er zielbewußt danach, sie als selbständige soziale Gebilde zu<br />
vernichten. <strong>Die</strong>se Methode ist vom Standpunkt <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong> die zweckmäßigste, weil sie zugleich die<br />
rascheste und profitabelste ist. Ihre andere Seite ist nämlich der wachsende Militarismus, über <strong>des</strong>sen<br />
Bedeutung für die <strong>Akkumulation</strong> in anderem Zusammenhang weiter unten. <strong>Die</strong> klassischen Beispiele der<br />
Anwendung dieser Methoden <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong> in den Kolonien bieten die Politik der Engländer in Indien und<br />
die der Franzosen in Algier.<br />
<strong>Die</strong> uralte Wirtschaftsorganisation der Inder - die kommunistische Dorfgemeinde - hatte sich in ihren<br />
verschiedenen Formen durch Jahr- tausende erhalten und eine lange innere Geschichte<br />
durchgemacht, trotz aller Stürme "in den politischen Wolkenregionen". Im 6. Jahrhundert vor der<br />
christlichen Ära drangen in das Indusgebiet die Perser und unterwarfen sich einen Teil <strong>des</strong> Lan<strong>des</strong>. Zwei<br />
Jahrhunderte später zogen die Griechen ein und hinterließen als Ableger einer ganz fremden Kultur die<br />
alexandrinischen Kolonien. <strong>Die</strong> wilden Skythen machten eine Invasion ins Land. Jahrhundertelang<br />
herrschten die Araber in Indien. Später kamen von den Höhen <strong>des</strong> Iran die Afghanen, bis auch diese<br />
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durch den ungestümen Ansturm der Tatarenhorden aus Transoxanien vertrieben wurden. Schrecken und<br />
Vernichtung bezeichneten den Weg, auf dem die Mongolen vorüberzogen, ganze Dörfer wurden<br />
niedergemetzelt, und die friedlichen Fluren mit den zarten Reishalmen färbten sich purpurn von Strömen<br />
vergossenen Blutes. Aber die indische Dorfgemeinde hat alles überdauert. Denn alle mohammedanischen<br />
Eroberer, die einander ablösten, ließen schließlich das innere soziale Leben der Bauernmasse und seine<br />
überlieferte Struktur unangetastet. Sie setzten bloß in den Provinzen ihre Statthalter ein, die die<br />
militärische Organisation überwachten und Abgaben von der Bevölkerung einsammelten. Alle Eroberer<br />
gingen auf die Beherrschung und Ausbeutung <strong>des</strong> Lan<strong>des</strong> aus, keiner hatte ein Interesse daran, dem<br />
Volke seine Produktivkräfte zu rauben und seine soziale Organisation zu vernichten. Der Bauer mußte<br />
im Reiche <strong>des</strong> Großmoguls jährlich seinen Tribut in Naturalien an die Fremdherrschaft entrichten, aber<br />
er konnte in seinem Dorf ungeschoren leben und auf seiner Sholgura wie seine Urväter Reis bauen. Dann<br />
kamen die Engländer, und der Pesthauch der kapitalistischen Zivilisation vollbrachte in kurzer Zeit, was<br />
Jahrtausende nicht vermocht und was das Schwert der Nogaier nicht fertiggebracht hatte: die ganze<br />
soziale Organisation <strong>des</strong> Volkes zu zertrümmern. Der Zweck <strong>des</strong> englischen <strong>Kapitals</strong> war in letzter Linie,<br />
die Existenzbasis selbst der indischen Gemeinde: den Grund und Boden, in die eigene Macht zu kriegen.<br />
Zu diesem Zwecke diente vor allem die bei den europäischen Kolonisatoren seit jeher beliebte Fiktion,<br />
wonach alles Land in der Kolonie Eigentum der politischen Herrscher wäre. <strong>Die</strong> Engländer schenkten<br />
nachträglich ganz Indien als Privatbesitz dem Großmogul und seinen Statthaltern, um es als deren<br />
"rechtmäßige" Nachfolger zu erben. <strong>Die</strong> angesehensten Gelehrten der Nationalökonomie, wie James<br />
Mill, stützten diese Fiktion diensteifrig mit "wissenschaftlichen" Gründen, so namentlich mit dem<br />
famosen Schluß: man müsse annehmen, daß das Grundeigentum in Indien dem Herrscher gehörte, "denn<br />
wollten wir annehmen, daß nicht er der Grundeigentümer war, so wären wir nicht imstande zu<br />
sagen: Wer war denn Bjgentümer?"(1) Demgemäß verwandelten die Engländer schon 1793 in Bengalen<br />
alle Samindars, d.h. die vorgefundenen mohammedanischen Steuerpächter oder auch die erblichen<br />
Marktvorsteher in ihren Bezirken in Grundbesitzer dieser Bezirke, um sich auf diese Weise einen starken<br />
Anhang im Lande bei ihrem Feldzuge gegen die Bauernmasse zu schaffen. Genauso verfuhren sie auch<br />
später bei neuen Eroberungen, in der Provinz Agra, in Audh, in den Zentralprovinzen. <strong>Die</strong> Folge war<br />
eine Reihe von stürmischen Bauernaufständen, bei denen die Steuereinnehmer häufig vertrieben wurden.<br />
In der allgemeinen Verwirrung und Anarchie, die dabei entstand, wußten englische Kapitalisten einen<br />
ansehnlichen Teil der Ländereien in ihre Hände zu bringen.<br />
Ferner wurde die Steuerlast so rücksichtslos erhöht, daß sie fast die ge- samte Frucht der Arbeit<br />
der Bevölkerung verschlang. Es kam so weit, daß (nach dem offiziellen Zeugnis der englischen<br />
Steuerbehörde aus dem Jahre 1854) in den Distrikten Delhi und Allahabad die Bauern es vorteilhaft<br />
fanden, ihre Landanteile lediglich gegen die als Steuer auf sie entfallende Summe zu verpachten und zu<br />
verpfänden. Auf dem Boden dieses Steuersystems zog der Wucher in das indische Dorf ein und setzte<br />
sich in ihm fest, wie ein Krebs von innen die soziale Organisation zerfressend.(2) Zur Beschleunigung<br />
<strong>des</strong> Prozesses führten die Engländer ein Gesetz ein, das allen Traditionen und Rechtsbegriffen der<br />
Dorfgemeinde ins Gesicht schlug: die zwangsweise Veräußerlichkeit der Dorffelder wegen<br />
Steuerrückständen. Der alte Geschlechtsverband suchte sich dagegen vergeblich durch das Vorkaufsrecht<br />
der Gesamtmark und der verwandten Marken zu schützen. <strong>Die</strong> Auflösung war im vollen Gange.<br />
Zwangsversteigerungen, Austritte einzelner aus der Mark, Verschuldung und Enteignung der Bauern<br />
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waren an der Tagesordnung.<br />
<strong>Die</strong> Engländer suchten sich dabei, wie es ihre Taktik in den Kolonien stets war, den Anschein zu geben,<br />
als sei ihre Gewaltpolitik, die völlige Unsicherheit der Grundbesitzverhältnisse und den Zusammenbruch<br />
der Bauernwirtschaft der Hindus herbeigeführt hatte, gerade im Interesse <strong>des</strong> Bauerntums und zu seinem<br />
Schutze gegen die eingeborenen Tyrannen und Ausbeuter notwendig gewesen.(3) Erst schuf England<br />
künstlich eine Landaristokratie in Indien auf Kosten uralter Eigentumsrechte der <br />
Bauerngemeinden, um hinterdrein die Bauern gegen diese Bedrücker zu schützen und das<br />
"widerrechtlich usurpierte Land" in die Hände englischer Kapitalisten zu bringen.<br />
So entstand in Indien in kurzer Zeit der Großgrundbesitz, während die Bauern auf enormen Strecken in<br />
eine verarmte, proletarisierte Masse kleiner Pächter mit kurzen Pachtfristen verwandelt wurden.<br />
Endlich kam noch in einem markanten Umstand die spezifische Kapitalmethode der Kolonisation zum<br />
Ausdruck. <strong>Die</strong> Engländer waren die ersten Eroberer Indiens, die eine rohe Gleichgültigkeit für die<br />
öffentlichen Kulturwerke wirtschaftlichen Charakters mitbrachten. Araber, Afghanen wie Mongolen<br />
leiteten und unterstützten in Indien großartige Kanalanlagen, durchzogen das Land mit Straßen,<br />
überspannten Flüsse mit Brücken, ließen wasserspendende Brunnen graben. Der Ahne der<br />
Mongolendynastie in Indien, Timur oder Tamerlan, trug Sorge für die Bodenkultur, Bewässerung,<br />
Sicherheit der Wege und Verpflegung der Reisenden.(4) "<strong>Die</strong> primitiven Radschas Indiens, die<br />
afghanischen oder mongolischen Eroberer, zuweilen grausam für die Individuen, bezeichneten<br />
wenigstens ihre Herrschaft durch jene wunderbaren Konstruktionen, die man heute auf jedem Schritt<br />
findet und die das Werk einer Rasse von Riesen zu sein scheinen ... <strong>Die</strong> Kompanie (die englische<br />
Ostindische Kompanie, die bis 1858 in Indien herrschte - R. L.) hat nicht eine Quelle geöffnet, nicht<br />
einen Brunnen gegraben, nicht einen Kanal gebaut, nicht eine Brücke zum Nutzen der Inder errichtet."(5)<br />
<strong>Ein</strong> anderer Zeuge, der Engländer James Wilson, sagt: "In der Provinz von Madras wird jedermann<br />
unwillkürlich durch die grandiosen altertümlichen Bewässerungsanlagen frappiert, deren Spuren sich bis<br />
auf unsere Zeit erhalten haben. Stausysteme die die Flüsse stauten, bildeten ganze Seen, aus denen<br />
Kanäle auf 60 und 70 Meilen im Umkreis Wasser ver- breiteten. Auf großen Flüssen gab es<br />
solcher Schleusen 30-40 Stück ... Das Regenwasser, das von den Bergen hinabfloß, wurde in besonders<br />
zu diesem Behufe gebauten Teichen gesammelt, von denen viele bis jetzt 15 bis 25 Meilen im Umkreis<br />
haben. <strong>Die</strong>se gigantischen Konstruktionen waren fast alle vor dem Jahre 1750 vollendet. In der Epoche<br />
der Kriege der Kompanie mit den mongolischen Herrschern und, wir müssen hinzufügen, während der<br />
ganzen Periode unserer Herrschaft in Indien sind sie in großen Verfall geraten."(6)<br />
Ganz natürlich: Für das englische Kapital kam es nicht darauf an, die indischen Gemeinwesen<br />
lebensfähig zu erhalten und wirtschaftlich zu stützen, sondern im Gegenteil, sie zu zerstören, ihnen die<br />
Produktivkräfte zu entreißen. <strong>Die</strong> rasch zugreifende ungestüme Gier der <strong>Akkumulation</strong>, die ihrem ganzen<br />
Wesen nach von "Konjunkturen" lebt und nicht an den morgigen Tag zu denken imstande ist, kann den<br />
Wert der alten wirtschaftlichen Kulturwerke von weitsichtigerem Standpunkt nicht einschätzen. In<br />
Ägypten zerbrachen sich kürzlich die englischen Ingenieure, als sie für die Zwecke <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong> am Nil<br />
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Riesenstauwerke errichten sollten, den Kopf, um die Spuren jener antiken Kanalsysteme aufzudecken,<br />
die sie in ihren indischen Provinzen mit der stupiden Sorglosigkeit von Botokuden hatten gänzlich<br />
verfallen lassen. <strong>Die</strong> Engländer haben das edle Werk ihrer Hände erst einigermaßen zu würdigen gelernt,<br />
als die furchtbare Hungersnot, die im Distrikt Orissa allein in einem Jahre eine Million Menschenleben<br />
dahingerafft hatte, im Jahre 1867 eine Untersuchung über die Ursachen der Notlage vom englischen<br />
Parlament erzwungen hat. Gegenwärtig sucht die englische Regierung die Bauern auf administrativem<br />
Wege vor dem Wucher zu retten. <strong>Die</strong> Punjab Alienation Act (1900) verbietet die Veräußerung oder<br />
Belastung <strong>des</strong> Bauernlan<strong>des</strong> zugunsten von Angehörigen anderer Kasten als die landbautreibende und<br />
macht Ausnahmen im <strong>Ein</strong>zelfalle von der Genehmigung <strong>des</strong> Steuereinnehmers abhängig.(7) Nachdem<br />
sie die schützenden Bande der uralten sozialen Verbände der Hindus planmäßig zerrissen und einen<br />
Wucher großgezogen haben, bei dem ein Zinsfuß von 15 Prozent eine gewöhnliche Erscheinung ist,<br />
stellen die Engländer den ruinierten und verelendeten indischen Bauer unter die Vormundschaft <strong>des</strong><br />
Fiskus und seiner Beamten, d.h. unter den "Schutz" seiner unmittelbaren Blutsauger.<br />
Neben dem Martyrium Britisch-Indiens beansprucht in der kapitalistischen Kolonialwirtschaft die<br />
Geschichte der französischen Politik in Algerien einen Ehrenplatz. Als die Franzosen Algerien eroberten,<br />
herrschten unter der Masse der arabisch-kabylischen Bevölkerung die uralten sozialen und<br />
wirtschaftlichen <strong>Ein</strong>richtungen, die sich trotz der langen und bewegten Geschichte <strong>des</strong> Lan<strong>des</strong> bis ins 19.<br />
Jahrhundert, ja zum Teil bis heute erhalten haben.<br />
Mochte in den Städten, unter den Mauren und Juden, unter Kaufleuten, Handwerkern und Wucherern<br />
Privateigentum herrschen und auf dem flachen Lande bereits große Strecken von der türkischen<br />
Vasallenherrschaft her als staatliche Domänen usurpiert sein, immerhin gehörte noch fast die Hälfte <strong>des</strong><br />
benutzten Lan<strong>des</strong> in ungeteiltem Eigentum den arabisch-kabylischen Stämmen, und hier herrschten noch<br />
uralte, patriarchalische Sitten. Dasselbe Nomadenleben, nur dem oberflächlichen Blick unstet und<br />
regellos, in Wirklichkeit streng geregelt und höchst eintönig, führte wie seit jeher noch im 19.<br />
Jahrhundert viele arabische Geschlechter mit Männern, Weibern und Kindern, mit Herden und Zelten<br />
jeden Sommer an den von Meereswinden angefächelten kühleren Küstenteil Tell und jeden Winter<br />
wieder in die schützende Wärme der Wüste zurück. Jeder Stamm und je<strong>des</strong> Geschlecht hatte seine<br />
bestimmten Wanderungsstrecken und bestimmte Sommer- und Winterstationen, wo sie ihre Zelte<br />
aufschlugen. <strong>Die</strong> ackerbautreibenden Araber besaßen das Land gleichfalls vielfach noch im<br />
Gemeineigentum der Geschlechter. Und ebenso patriarchalisch nach althergebrachten Regeln lebte die<br />
kabylische Großfamilie unter der Leitung ihrer gewählten Oberhäupter.<br />
<strong>Die</strong> Hauswirtschaft dieses großen Familienkreises war ungeteilt von dem ältesten weiblichen Mitglied<br />
geleitet, jedoch gleichfalls auf Grund der Wahl der Familie, oder aber von den Frauen der Reihe nach.<br />
<strong>Die</strong> kabylische Großfamilie, die in dieser Organisation am Saum der afrikanischen Wüste ein<br />
eigentümliches Seitenstück zu der berühmten südslawischen "Zadruga" darbot, war Eigentümerin nicht<br />
bloß <strong>des</strong> Grund und Bodens, sondern auch aller Werkzeuge, Waffen und Gelder, die zum Betrieb <strong>des</strong><br />
Berufs aller Mitglieder erforderlich waren und von ihnen er- worben wurden. Als Privateigentum<br />
gehörte jedem Mann nur ein Anzug und jeder Frau nur die Kleidungsstücke und die Schmucksachen, die<br />
sie als Brautgeschenk erhalten hatte. Alle kostbareren Gewänder aber und Juwelen galten als ungeteiltes<br />
Familieneigentum und durften von einzelnen nur mit <strong>Ein</strong>willigung aller gebraucht werden. War die<br />
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Familie nicht zu zahlreich, so nahm sie ihre Mahlzeiten an einem gemeinsamen Tische ein, wobei alle<br />
Frauen nach der Reihe kochten, die ältesten aber die Verteilung besorgten. War der Kreis der Personen<br />
zu groß, dann wurden allmonatlich die Nahrungsmittel vom Vorstand in rohem Zustand bei Beobachtung<br />
strenger Gleichheit unter die <strong>Ein</strong>zelfamilien verteilt und von diesen zubereitet. Engste Bande der<br />
Solidarität, gegenseitiger Hilfe und Gleichheit umspannten diese Gemeinwesen, und die Patriarchen<br />
pflegten sterbend den Söhnen das treue Festhalten am Familienverband als letztes Vermächtnis ans Herz<br />
zu legen.(8)<br />
Schon die türkische Herrschaft, die sich im 16. Jahrhundert in Algerien etablierte, hatte ernste <strong>Ein</strong>griffe<br />
in diese sozialen Verhältnisse gemacht. Freilich war es nur eine später von den Franzosen erfundene<br />
Fabel, daß die Türken sämtlichen Grund und Boden für den Fiskus konfisziert hätten. <strong>Die</strong>se wilde<br />
Phantasie, die nur den Europäern einfallen konnte, befand sich im Widerspruch mit der ganzen<br />
ökonomischen Grundlage <strong>des</strong> Islams und seiner Bekenner. Im Gegenteil, die Grundbesitzverhältnisse der<br />
Dorfgemeinden und der Großfamilien wurden von den Türken im allgemeinen nicht angetastet. Nur ein<br />
großer Teil unbebauter Ländereien wurde von ihnen als Staatsdomäne den Geschlechtern gestohlen und<br />
unter den türkischen Lokalverwaltern in Beyliks verwandelt, die zum Teil direkt von Staats wegen mit<br />
eingeborenen Arbeitskräften bewirtschaftet, zum Teil gegen Zins oder Naturalleistungen in Pacht<br />
gegeben wurden. Daneben benutzten die Türken jede Meuterei der unterworfenen Geschlechter und jede<br />
Verwirrung im Lande, um durch umfassende Landkonfiskationen die fiskalischen Besitzungen zu<br />
vergrößern und darauf Militärkolonien zu gründen oder die konfiszierten Guter öffentlich zu versteigern,<br />
wobei sie meist in die Hände von türkischen und anderen Wucherern gerieten. Um den Konfiskationen<br />
und dem Steuerdruck zu ent- gehen, begaben sich viele Bauern, genau wie in Deutschland im<br />
Mittelalter, unter den Schutz der Kirche, die auf diese Weise zum obersten Grundherrn über ansehnliche<br />
Strecken Lan<strong>des</strong> wurde. Schließlich stellten die Besitzverhältnisse Algeriens nach all diesen<br />
wechselvollen Geschicken zur Zeit der französischen Eroberung das folgende Bild dar: 1.500.000 Hektar<br />
Land umfaßten die Domänen, 3.000.000 Hektar unbenutztes Land waren gleichfalls dem Staate<br />
unterstellt als "Gemeineigentum aller Rechtgläubigen" (Bled-el-Islam); das Privateigentum umfaßte<br />
3.000.000 Hektar, die sich noch von römischen Zeiten her im Besitze der Berber befanden, und<br />
1.500.000 Hektar, die unter der türkischen Herrschaft in Privathände übergegangen waren. In<br />
ungeteiltem Gemeineigentum der arabischen Geschlechter verblieben danach nur noch 5.000.000 Hektar<br />
Land. Was die Sahara betrifft, so befanden sich darin zirka 3.000.000 Hektar brauchbaren Lan<strong>des</strong> im<br />
Bereiche der Oasen teils in ungeteiltem Großfamilienbesitz, teils in Privatbesitz. <strong>Die</strong> übrigen 23.000.000<br />
Hektar stellten meist Ödland dar.<br />
<strong>Die</strong> Franzosen begannen, nachdem sie Algerien in ihre Kolonie verwandelt hatten, mit großem Tamtam<br />
ihr Werk der Zivilisierung. War doch Algerien, nachdem es anfangs <strong>des</strong> 18. Jahrhunderts die<br />
Abhängigkeit von der Türkei abgestreift hatte, ein freies Seeräubernest geworden, welches das<br />
Mittelmeer unsicher machte und Sklavenhandel mit Christen trieb. Gegen diese Ruchlosigkeiten der<br />
Mohammedaner erklärten namentlich Spanien und die nordamerikanische Union, die selbst im<br />
Sklavenhandel zu jener Zeit Erkleckliches leisteten, unerbittlichen Krieg. Auch während der Großen<br />
Französischen Revolution wurde ein Kreuzzug gegen die Anarchie in Algerien proklamiert. <strong>Die</strong><br />
Unterwerfung Algeriens durch Frankreich war also unter den Losungen der Bekämpfung der Sklaverei<br />
und der <strong>Ein</strong>führung geordneter, zivilisierter Zustände durchgeführt. <strong>Die</strong> Praxis sollte bald zeigen, was<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 27. Kapitel<br />
dahinter steckte. In den vierzig Jahren, die seit der Unterwerfung Algeriens verflossen waren, hat<br />
bekanntlich kein europäischer Staat so häufigen Wechsel <strong>des</strong> politischen Systems durchgemacht wie<br />
Frankreich. Auf die Restauration war die Julirevolution und das Bürgerkönigtum gefolgt, auf diese die<br />
Februarrevolution, die Zweite Republik, das Zweite Kaiserreich, endlich das Debakel <strong>des</strong> Jahres 1870<br />
und die Dritte Republik. Adel, Hochfinanz, Kleinbürgertum, die breite Schicht der Mittelbourgeoisie<br />
lösten einander in der politischen Herrschaft ab. Aber ein ruhender Pol in dieser Erscheinungen Flucht<br />
war die Politik Frankreichs in Algerien, die von Anfang bis Ende auf ein und dasselbe Ziel gerichtet war<br />
und am Saum der afrikanischen Wüste am besten ver- riet, daß sich sämtliche Staatsumwälzungen<br />
Frankreichs im 19. Jahrhundert um ein und dasselbe Grundinteresse: um die Herrschaft der<br />
kapitalistischen Bourgeoisie und ihrer Eigentumsform, drehten.<br />
"<strong>Die</strong> Ihrem Studium unterbreitete Gesetzesvorlage", sagte der Abgeordnete Humbert am 30. Juni 1873 in<br />
der Sitzung der französischen Nationalversammlung als Berichterstatter der Kommission zur Ordnung<br />
der Agrarverhältnisse in Algerien, "ist nicht mehr als die Krönung <strong>des</strong> Gebäu<strong>des</strong>, <strong>des</strong>sen Fundament<br />
durch eine ganze Reihe von Ordonnanzen, Dekreten, Gesetzen und Senatuskonsulten gelegt war, die alle<br />
zusammen und je<strong>des</strong> insbesondere ein und dasselbe Ziel verfolgen: die Etablierung <strong>des</strong> Privateigentums<br />
bei den Arabern." <strong>Die</strong> planmäßige, bewußte Vernichtung und Aufteilung <strong>des</strong> Gemeineigentums, das war<br />
der unverrückbare Pol, nach dem sich der Kompaß der französischen Kolonialpolitik ungeachtet aller<br />
Stürme im inneren Staatsleben während eines halben Jahrhunderts richtete, und zwar aus dem folgenden<br />
klar erkannten Doppelinteresse. <strong>Die</strong> Vernichtung <strong>des</strong> Gemeineigentums sollte vor allem die Macht der<br />
arabischen Geschlechter als sozialer Verbände zertrümmern und damit ihren hartnäckigen Widerstand<br />
gegen das französische Joch brechen, der sich trotz aller Militärübermacht Frankreichs in unaufhörlichen<br />
Rebellionen der Stämme kundtat und einen unaufhörlichen Kriegszustand in der Kolonie zur Folge<br />
hatte.(9) Ferner war der Ruin <strong>des</strong> Gemeineigentums eine Vorbedingung, um in den wirtschaftlichen<br />
Genuß <strong>des</strong> eroberten Lan<strong>des</strong> zu treten, d.h. den seit einem Jahrtausend von den Arabern besessenen<br />
Grund und Boden ihren Händen zu entreißen und in die Hände französischer Kapitalisten zu bringen. Zu<br />
diesem Behufe diente vor allem dieselbe uns schon bekannte Fiktion, wonach der gesamte Grund und<br />
Boden nach muselmännischem Gesetz Eigentum <strong>des</strong> jeweiligen Herrschers wäre. Genau wie die<br />
Engländer in Britisch-Indien erklärten die Gouverneure Louis-Philippes in Algerien die Existenz eines<br />
Gemeineigentums ganzer Geschlechter für eine "Unmöglichkeit" Auf Grund dieser Fiktion wurden die<br />
meisten unbebauten Ländereien, namentlich aber die Almenden, Wälder und Wiesen für Staatseigentum<br />
erklärt und zu Kolonisationszwecken verwendet. Es kam ein ganzes System der Ansiedelungen, die sog.<br />
Cantonnements, auf, bei dem inmitten der Geschlechterländereien französische Kolonisten gesetzt, die<br />
Stämme selbst aber auf einem minimalen Gebiet zusammengepfercht werden sollten. Durch Er- <br />
lasse vom Jahre 1830, 1831,1840, 1844, 1845, 1846 wurden diese <strong>Die</strong>bstähle an arabischen<br />
Geschlechterländereien "gesetzlich" begründet. <strong>Die</strong>ses Ansiedelungssystem führte aber in Wirklichkeit<br />
gar nicht zur Kolonisation, es hat bloß zügellose Spekulation und Wucher großgezogen. <strong>Die</strong> Araber<br />
verstanden in den meisten Fällen, die ihnen weggenommenen Ländereien zurückzukaufen, wobei sie<br />
freilich tief in Schulden gerieten. Der französische Steuerdruck wirkte nach derselben Richtung.<br />
Namentlich aber hat das Gesetz vom 16. Juni 1851, das alle Forsten zum Staatseigentum erklärte und so<br />
2,4 Millionen Hektar halb Weide, halb Gestrüpp den <strong>Ein</strong>geborenen stahl, der Viehzucht die<br />
Existenzbasis entzogen. Unter dem Platzregen all dieser Gesetze, Ordonnanzen und Maßnahmen<br />
entstand in den Eigentumsverhältnissen <strong>des</strong> Lan<strong>des</strong> eine unbeschreibliche Verwirrung. Zur Ausnutzung<br />
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der herrschenden fieberhaften Bodenspekulation und in der Hoffnung auf baldige Zurückgewinnung <strong>des</strong><br />
Bodens veräußerten viele <strong>Ein</strong>geborene ihre Grundstücke an Franzosen, wobei sie häufig an zwei und drei<br />
Käufer zugleich dasselbe Grundstück verkauften, das sich obendrein gar nicht als ihr Eigentum, sondern<br />
als unveräußerliches Geschlechtereigentum herausstellte. So glaubte eine Spekulantengesellschaft aus<br />
Rouen 20.000 Hektar gekauft zu haben, während sie im Resultat nur 1.370 Hektar strittigen Gebietes ihr<br />
eigen nennen durfte. In einem anderen Falle stellte sich ein verkauftes Gebiet von 1.230 Hektar nach der<br />
Aufteilung als 2 Hektar aus. Es folgte eine unendliche Reihe von Prozessen, wobei die französischen<br />
Gerichte prinzipiell alle Aufteilungen und Ansprüche der Käufer unterstützten. Unsicherheit der<br />
Verhältnisse, Spekulation, Wucher und Anarchie wurden allgemein. Aber der Plan der französischen<br />
Regierung, sich mitten in der arabischen Bevölkerung eine starke Stütze in einer französischen<br />
Kolonistenmasse zu schaffen, hat elend Schiffbruch gelitten. Deshalb nimmt die französische Politik<br />
unter dem Zweiten Kaiserreich eine andere Wendung: <strong>Die</strong> Regierung, die sich nach 30 Jahren<br />
hartnäckigen Leugnens <strong>des</strong> Gemeineigentums in ihrer europäischen Borniertheit eines Besseren hat<br />
belehren lassen müssen, erkannte endlich offiziell die Existenz <strong>des</strong> ungeteilten Geschlechtereigentums<br />
an, doch nur, um im gleichen Atem die Notwendigkeit seiner gewaltsamen Aufteilung zu proklamieren.<br />
<strong>Die</strong>sen Doppelsinn hat der Senatuskonsult vom 22. April 1863. "<strong>Die</strong> Regierung", erklärte General Allard<br />
im Staatsrat, "verliert nicht aus dem Auge, daß das allgemeine Ziel ihrer Politik dies ist, den <strong>Ein</strong>fluß der<br />
Geschlechtervorsteher zu schwächen und die Geschlechter aufzulösen. Auf diese Weise wird es die<br />
letzten Reste <strong>des</strong> Feudalismus (!) beseitigen, als <strong>des</strong>sen Verteidiger die Gegner der Regierungs- <br />
vorlage auftreten. <strong>Die</strong> Herstellung <strong>des</strong> Privateigentums, die Ansiedelung europäischer Kolonisten<br />
inmitten der arabischen Geschlechter ..., das werden die sichersten Mittel zur Beschleunigung <strong>des</strong><br />
Auflösungsprozesses der Geschlechtsverbände sein."(10) Das Gesetz vom Jahre 1863 schuf zum Zwecke<br />
der Aufteilung der Ländereien besondere Kommissionen, die folgendermaßen zusammengesetzt waren:<br />
ein Brigadegeneral oder Hauptmann als Vorsitzender, ferner ein Unterpräfekt, ein Beamter der<br />
arabischen Militärbehörden und ein Beamter der Domänenverwaltung. <strong>Die</strong>sen geborenen Kennern<br />
wirtschaftlicher und sozialer Verhältnisse Afrikas wurde die dreifache Aufgabe gestellt: erst die Grenzen<br />
der Geschlechtergebiete genau abzustecken, dann das Gebiet je<strong>des</strong> einzelnen Geschlechts unter seine<br />
einzelnen Zweige oder Großfamilien aufzuteilen und endlich auch diese Großfamilienländereien in<br />
einzelne Privatparzellen zu zerschlagen. Der Feldzug der Brigadegeneräle ins Innere Algeriens wurde<br />
pünktlich ausgeführt, die Kommissionen begaben sich an Ort und Stelle, wobei sie Feldmesser,<br />
Landaufteiler und obendrein Richter in allen Landstreitigkeiten in einer Person waren. Der<br />
Generalgouverneur von Algerien sollte die Aufteilungspläne in letzter Instanz bestätigen. Nachdem die<br />
Kommissionen 10 Jahre lang im Schweiße ihres Angesichts gearbeitet hatten, war das Resultat<br />
folgen<strong>des</strong>: Von 1863 bis 1873 wurden von den 700 arabischen Geschlechtergebieten zirka 400 unter die<br />
Großfamilien aufgeteilt. Schon hier wurde zur künftigen Ungleichheit, zum Großgrundbesitz und zur<br />
kleinen Parzelle der Grund gelegt. Denn je nach der Größe <strong>des</strong> Gebietes und der Zahl der Mitglieder<br />
eines Geschlechts entfiel pro Mitglied bald 1 bis 4 Hektar, bald 100 und selbst 180 Hektar Land. <strong>Die</strong><br />
Aufteilung blieb jedoch bei den Großfamilien stehen. <strong>Die</strong> Aufteilung <strong>des</strong> Familiengebietes begegnete<br />
trotz aller Brigadegeneräle unüberwindlichen Schwierigkeiten in den Sitten der Araber. Der Zweck der<br />
französischen Politik: die Schaffung <strong>des</strong> individuellen Eigentums und <strong>des</strong>sen Überführung in den Besitz<br />
der Franzosen, war also wieder einmal im großen und ganzen gescheitert.<br />
Erst die Dritte Republik, das unumwundene Regiment der Bourgeoisie, hat den Mut und den Zynismus<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 27. Kapitel<br />
gefunden, alle Umschweife auf die Seite zu legen und ohne die vorbereitenden Schritte <strong>des</strong> Zweiten<br />
Kaiserreichs die Sache vom anderen Ende anzugreifen. <strong>Die</strong> direkte Aufteilung der Gebiete aller 700<br />
arabischen Geschlechter in individuelle Anteile, eine parforce <strong>Ein</strong>führung <strong>des</strong> Privateigentums in<br />
kürzester Zeit, das war der offen ausgesprochene Zweck <strong>des</strong> Gesetzes, den die Nationalversammlung im<br />
Jahre 1873 ausgearbeitet hat. Den Vorwand dazu boten die verzweifelten Zustände der Kolonie. Genau<br />
wie erst die große Hungersnot in Indien 1866 der Öffentlichkeit in England die schönen Resultate der<br />
englischen Kolonialpolitik drastisch vor die Augen geführt und eine parlamentarische Kommission zur<br />
Untersuchung der Mißstände veranlaßt hatte, so wurde Europa zu Ende der sechziger Jahre durch den<br />
Notschrei aus Algerien alarmiert, wo massenhafte Hungersnot und außerordentliche Sterblichkeit unter<br />
den Arabern über 40 Jahre französischer Herrschaft quittierten. Zur Untersuchung der Ursachen und zur<br />
Beglückung der Araber durch neue gesetzliche Maßnahmen wurde eine Kommission eingesetzt, die zu<br />
dem einstimmigen Beschlusse kam, daß den Arabern als Rettungsanker nur eins helfen könne - das<br />
Privateigentum. Dann erst würde nämlich jeder Araber in der Lage sein, sein Grundstück zu verkaufen<br />
oder darauf Hypotheken aufzunehmen und sich so vor der Not zu schützen. Um also der Notlage der<br />
Araber abzuhelfen, die durch teilweise von den Franzosen bereits ausgeführte <strong>Die</strong>bereien an algerischem<br />
Grund und Boden wie durch die von ihnen geschaffene Steuerlast und damit verbundene Verschuldung<br />
der Araber entstanden war, erklärte man als einziges Mittel: die vollständige Auslieferung der Araber in<br />
die Krallen <strong>des</strong> Wuchers. <strong>Die</strong>se Possenreißerei wurde vor der Nationalversammlung mit völlig ernstem<br />
Gesicht Vorgetragen und von der würdigen Körperschaft mit ebensolchem Ernst aufgenommen. <strong>Die</strong><br />
Schamlosigkeit der "Sieger" über die Pariser Kommune feierte Orgien.<br />
Zwei Argumente dienten besonders in der Nationalversammlung zur Stütze <strong>des</strong> neuen Gesetzes. <strong>Die</strong><br />
Araber selbst wünschen dringend die <strong>Ein</strong>führung <strong>des</strong> Privateigentums, betonten immer wieder die<br />
Verteidiger der Regierungsvorlage. In der Tat, sie wünschten es, nämlich die Bodenspekulanten und die<br />
Wucherer in Algerien, die ein dringen<strong>des</strong> Interesse daran hatten, ihre Opfer aus den schützenden Banden<br />
der Geschlechter und ihrer Solidarität zu "befreien". Solange nämlich das muselmännische Recht in<br />
Algerien galt, fand die Verpfändung <strong>des</strong> Grund und Bodens an der Nichtveräußerlichkeit <strong>des</strong> Gentil- und<br />
Familienbesitzes eine unüberwindliche Schranke. Erst das Gesetz von 1863 hatte darin eine Bresche<br />
geschlagen. Es galt, das Hindernis ganz wegzuräumen, um dem Wucher freien Spielraum zu lassen. Das<br />
zweite Argument war ein "wissenschaftliches". Es stammte aus demselben geistigen Arsenal, aus dem<br />
der ehrwürdige James Mill seine Verständnislosigkeit für die Eigentumsverhältnisse Indiens schöpfte:<br />
aus der englischen klassischen Nationalökonomie. Das Privateigentum ist die notwendige<br />
Vorbedingung jeder intensiveren, besseren Bodenbebauung in Algerien, die Hungersnöten vorbeugen<br />
würde, denn es ist klar, daß niemand Kapital oder intensive Arbeit in einen Boden stecken will, der nicht<br />
sein individuelles Eigentum ist und <strong>des</strong>sen Früchte nicht ausschließlich von ihm genossen werden -<br />
deklamierten mit Emphase die wissenschaftlich gebildeten Jünger Smith-Ricardos. <strong>Die</strong> Tatsachen<br />
freilich redeten eine andere Sprache. Sie zeigten, daß die französischen Spekulanten das von ihnen in<br />
Algerien geschaffene Privateigentum zu allem anderen gebrauchten, nur nicht zur intensiveren und<br />
höheren Bodenbebauung. Von den 400.000 Hektar Lan<strong>des</strong>, die im Jahre 1873 den Franzosen gehörten,<br />
befanden sich 120.000 Hektar in den Händen der beiden kapitalistischen Gesellschaften, der Algerischen<br />
und der Setif-Kompanie, die ihre Ländereien überhaupt nicht selbst bewirtschafteten, sondern den<br />
<strong>Ein</strong>geborenen in Pacht zurückgaben, die sie ihrerseits in althergebrachter Weise bebauten. <strong>Ein</strong> Viertel der<br />
übrigen französischen Eigentümer befaßte sich ebensowenig mit Landwirtschaft. <strong>Die</strong> Kapitaleinlagen<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 27. Kapitel<br />
und intensive Bodenbebauung ließen sich eben hier sowenig wie die kapitalistischen Verhältnisse<br />
überhaupt künstlich aus dem Boden stampften. <strong>Die</strong>se bestanden nur in der profitgierigen Phantasie der<br />
französischen Spekulanten und in der doktrinären Nebelwelt ihrer wissenschaftlichen Ideologen aus der<br />
Nationalökonomie. Es handelte sich einfach, wenn man die Vorwände und die Floskeln in der<br />
Begründung <strong>des</strong> Gesetzes von 1873 auf die Seite schiebt, um den nackten Wunsch, den Arabern ihre<br />
Existenzbasis, den Grund und Boden, zu entreißen. Und trotz aller Fadenscheinigkeit der Argumentation,<br />
trotz offensichtlicher Verlogenheit seiner Begründung wurde das Gesetz, das der Bevölkerung Algeriens<br />
und ihrem materiellen Wohlstand den To<strong>des</strong>stoß versetzen sollte, am 26. Juli 1873 fast einstimmig<br />
angenommen.<br />
Doch das Fiasko <strong>des</strong> Gewaltstreiches ließ nicht lange auf sich warten. <strong>Die</strong> Politik der Dritten Republik<br />
scheiterte an der Schwierigkeit, das bürgerliche Privateigentum in uralten kommunistischen<br />
Großfamilienverbänden mit einem Schlage einzuführen, genauso, wie die Politik <strong>des</strong> Zweiten<br />
Kaiserreichs daran gescheitert war. Das Gesetz vom 26. Juli 1873, das durch ein zweites Gesetz vom 28.<br />
April 1887 ergänzt wurde, ergab nach 17jähriger Wirkung das folgende Resultat: Bis 1890 waren 14<br />
Millionen Franc für ein Bereinigungsverfahren von 1,6 Millionen Hektar ausgegeben. Man berechnete,<br />
daß die Fortsetzung <strong>des</strong> Verfahrens bis 1950 hätte dauern und weitere 60 Millionen Franc kosten müssen.<br />
Das Ziel jedoch, den Großfamilienkommunismus zu beseitigen, war dabei immer noch nicht<br />
erreicht. Das einzige, was wirklich und unzweifelhaft bei alledem erreicht wurde, war eine tolle<br />
Bodenspekulation, ein üppig gedeihender Wucher und der wirtschaftliche Ruin der <strong>Ein</strong>geborenen.<br />
Das Fiasko der gewaltsamen <strong>Ein</strong>führung <strong>des</strong> Privateigentums führte darauf zu einem neuen Experiment.<br />
Obwohl das algerische Generalgouvernement schon 1890 eine Kommission eingesetzt hatte, die die<br />
Gesetze von 1873 und 188 nachgeprüft und verurteilt hat, dauerte es noch 7 Jahre, bis die Herren<br />
Gesetzgeber an der Seine sich zu einer Reform im Interesse <strong>des</strong> ruinierten Lan<strong>des</strong> aufrafften. Bei der<br />
neuen Schwenkung hat man von der zwangsweisen <strong>Ein</strong>führung <strong>des</strong> Privateigentums von Staats wegen im<br />
Prinzip abgesehen. Das Gesetz vom 27. Februar 1897 sowie die Instruktion <strong>des</strong> algerischen<br />
Generalgouverneurs vom 7. März 1898 sehen hauptsächlich die <strong>Ein</strong>führung <strong>des</strong> Privateigentums auf<br />
freiwilligen Antrag der Eigentümer oder der Erwerber vor.(11) Da jedoch bestimmte Klauseln auch die<br />
<strong>Ein</strong>führung <strong>des</strong> Privateigentums auf Antrag eines Eigentümers ohne Zustimmung der übrigen<br />
Miteigentümer <strong>des</strong> Grund und Bodens für zulässig erklären und da ferner ein "freiwilliger" Antrag der<br />
verschuldeten Besitzer unter dem Drucke <strong>des</strong> Wucherers jeden Augenblick nach Wunsch herbeigeführt<br />
werden kann, so öffnet auch das neue Gesetz der weiteren Zernagung und Ausplünderung der<br />
Stammesländereien und der Großfamilienbesitzungen durch französische und eingeborene Kapitalisten<br />
Tür und Tor.<br />
<strong>Die</strong> achtzigjährige Vivisektion an Algerien findet namentlich in der letzten Zeit um so schwächeren<br />
Widerstand, als die Araber durch die Unterwerfung einerseits Tunesiens 1881, anderseits neuerdings<br />
Marokkos von dem französischen Kapital immer mehr eingekreist und ihm rettungslos preisgegeben<br />
werden. Das jüngste Ergebnis <strong>des</strong> französischen Regimes in Algerien ist die Massenauswanderung der<br />
Araber nach der asiatischen Türkei. (12)<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 27. Kapitel<br />
Fußnoten von <strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong><br />
(1) Nachdem er in seiner Geschichte Britisch-Indiens die Zeugnisse aus den verschiedensten Quellen, aus<br />
Mungo Park, Herodot, Volney, Acosta, Garcilaso de la Vega, Abbé Grosier, Barrow, Diodorus, Strabo<br />
u.a., wahllos und kritiklos zusammengeschleppt hat, um den Satz zu konstruieren, daß in primitiven<br />
Verhältnissen der Grund und Boden stets und überall Eigentum <strong>des</strong> Herrschers war, zieht Mill durch<br />
Analogie auch für Indien den folgenden Schluß: "From these facts only one conclusion can be drawn,<br />
that the property of the soil resided in the sovereign, for if it did not reside in him, it will be impossible to<br />
show to whom it belonged." (James Mill: The History of British-India, Bd. I, 4. Aufl., 1840. S. 311) Zu<br />
dieser klassischen Schlußfolgerung <strong>des</strong> bürgerlichen Ökonomen gibt sein Herausgeber H. H. Wilson, der<br />
als Professor <strong>des</strong> Sanskrit an der Universität in Oxford genauer Kenner der altindischen<br />
Rechtsverhältnisse war, einen interessanten Kommentar. Nachdem er schon in der Vorrede seinen Autor<br />
als einen Parteigänger charakterisiert, der die ganze Geschichte Britisch-Indiens zur Rechtfertigung der<br />
theoretical views of Mr. Bentham zurechtgestutzt und dabei mit zweifelhaftesten Mitteln ein Zerrbild <strong>des</strong><br />
Hinduvolkes gezeichnet hätte (a portrait of the Hindus which has no resemblance whereever to the<br />
original, and which almost outrages humanity), macht er die folgende Fußnote: "The greater part of the<br />
text and of the notes here is wholly irrelevant. The illustrations drawn from Mahometans practice,<br />
supposing them to be correct, have nothing to do with the laws and rights of the Hindus. They are not,<br />
however, even accurate, and Mr. Mill's gui<strong>des</strong> have misled him." Wilson bestreitet dann rundweg<br />
speziell in bezug auf Indien die Theorie von dem Eigentumsrecht <strong>des</strong> Souveräns auf Grund und Boden.<br />
(Siehe l.c., S. 305, Fußnote.) Auch Henry Maine meint, daß die Engländer ihren anfänglichen Anspruch<br />
auf den gesamten Grundbesitz in Indien, den Maine wohl als grundfalsch erkennt, von ihren<br />
muselmanischen Vorgängern übernommen hätten: "The assumption which the English first made was<br />
one which they inherited from their Mahometan predecessors. It was, that all the soil belonged in<br />
absolute property to the sovereign, and that all private property in land existed by his sufferance. The<br />
Mahometan theory and the corresponding Mahometan practice had put out of sight the ancient view of<br />
the sovereign's rights, which though it assigned to him a far larger share of the produce of the land than<br />
any western ruler has ever claimed, yet in nowise denied the existence of private property in land"<br />
(Village communities in the East and West, 5. Aufl., 1890. 104). Maxim Kowalewski hat demgegenüber<br />
gründlich nachgewiesen, daß die angebliche "muselmännische Theorie und Praxis" bloß eine englische<br />
Fabel war. (Siehe seine ausgezeichnete Studie in russischer Sprache: Das Gemeineigentum an Grund und<br />
Boden. Ursachen, Verlauf und Folgen seiner Zersetzung. Teil I, Moskau 1879.) <strong>Die</strong> englischen Gelehrten<br />
wie übrigens auch ihre französischen Kollegen halten jetzt zum Beispiel an einer analogen Fabel in<br />
bezug auf China fest, indem sie behaupten, alles Land sei dort Eigentum <strong>des</strong> Kaisers gewesen. Siehe die<br />
Widerlegung dieser Legende bei Dr. O. Franke: <strong>Die</strong> Rechtsverhältnisse am Grundeigentum in China.<br />
1903.)
<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 27. Kapitel<br />
langjährigen Vertreter der englischen Macht in Indien, Lord Roberts of Kandahar, der zur Erklärung <strong>des</strong><br />
Sepoyaufstan<strong>des</strong> nichts anderes anzuführen weiß als lauter "Mißverständnisse" über die väterlichen<br />
Absichten der englischen Regenten: "Der Siedelungskommission warf man fälschlicherweise<br />
Ungerechtigkeit vor, wenn sie, wie es ihre Pflicht war, die Berechtigung von Landbesitz und auch die<br />
Führung von damit verbundenen Titeln kontrollierte, um dann den rechtmäßigen Besitzer eines<br />
Grundstücks zur Grundsteuer heranzuziehen ... Nachdem Frieden und Ordnung hergestellt war, mußte<br />
der Landbesitz, welcher teilweise durch Raub und Gewalt erlangt war, wie das unter den eingeborenen<br />
Regenten und Dynastien die Gewohnheit ist, geprüft werden. Unter diesen Gesichtspunkten wurden<br />
Erörterungen angestellt in bezug auf Besitzrecht usw. Das Resultat dieser Untersuchungen war, daß viele<br />
Familien von Rang und <strong>Ein</strong>fluß sich einfach das Eigentum ihrer weniger angesehenen Nachbarn<br />
angeeignet hatten oder sie zu einer Steuer heranzogen, die ihrem Landbesitz entsprach. Das wurde in<br />
gerechter Weise abgeändert. Obwohl diese Maßregel mit großer Rücksicht und in der besten Meinung<br />
getroffen wurde, war sie doch den höheren Klassen äußerst unangenehm, während es nicht gelang, die<br />
Massen zu versöhnen. <strong>Die</strong> regierenden Familien nahmen uns die Versuche, eine gerechte Verteilung der<br />
Rechte und gleichmäßige Besteuerung <strong>des</strong> Landbesitzes herbeizuführen, gehörig übel ... Obwohl auf der<br />
anderen Seite die Landbevölkerung durch unsere Regierung bessergestellt wurde, kam sie doch nicht zur<br />
Erkenntnis, daß wir beabsichtigten, durch alle diese Maßregeln ihre Lage zu bessern." (Forty one years in<br />
India, Bd. I, deutsche Ausgabe 1904, S. 307.)
<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 27. Kapitel<br />
(7) Siehe Victor v. Leyden: Agrarverfassung und Grundsteuer in Britisch-Ostindien In: Jahrbuch für<br />
Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft, XXXVI. Jg., Heft 4, S. 1855.
<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 28. Kapitel<br />
27. Kapitel | Inhalt | 29. Kapitel<br />
<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - Gesammelte Werke. Herausgegeben vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Band<br />
5. <strong>Berlin</strong>/DDR. 1975. "<strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>", S. 334-342.<br />
1. Korrektur.<br />
Erstellt am 20.10.1998<br />
Achtundzwanzigstes Kapitel<br />
<strong>Die</strong> <strong>Ein</strong>führung der Warenwirtschaft<br />
<strong>Die</strong> zweite wichtigste Vorbedingung, sowohl zur Erwerbung von Produktionsmitteln wie zur<br />
Realisierung <strong>des</strong> Mehrwerts, ist die Hineinbeziehung der naturalwirtschaftlichen Verbände, nachdem und<br />
indem sie zerstört werden, in den Warenverkehr und in die Warenwirtschaft. Alle nichtkapitalistischen<br />
Schichten und Gesellschaften müssen für das Kapital zu Warenabnehmern werden und müssen ihm ihre<br />
Produkte verkaufen. Es scheint, daß hier wenigstens der "Friede" und die "Gleichheit" beginnen, das do<br />
ut <strong>des</strong>, die Gegenseitigkeit der Interessen, der "friedliche Wettbewerb" und die "Kultureinflüsse". Kann<br />
das Kapital mit Gewalt fremden sozialen Verbänden Produktionsmittel entreißen und die Arbeitenden<br />
mit Gewalt zwingen, Objekte der kapitalistischen Ausbeutung zu werden, so kann es sie doch nicht mit<br />
Gewalt zu Abnehmern seiner Waren machen, es kann sie nicht zwingen, seinen Mehrwert zu realisieren.<br />
Was diese Annahme zu. bestätigen scheint, ist der Umstand, daß Transportmittel - Eisenbahnen,<br />
Schiffahrt, Kanäle - die unumgängliche Vorbedingung der Verbreitung der Warenwirtschaft in<br />
naturalwirtschaftlichen Gebieten darstellen. Der Eroberungszug der Warenwirtschaft beginnt meist mit<br />
großartigen Kulturwerken modernen Verkehrs, wie Eisenbahnlinien, die Urwälder durchschneiden und<br />
Gebirge durchstechen, Telegraphendrähte, die Wüsten überspannen, Ozeandampfer, die in weltfremde<br />
Häfen einlaufen. Doch ist die Friedlichkeit dieser Umwälzungen bloßer Schein. <strong>Die</strong> Handelsbeziehungen<br />
der ostindischen Kompanien mit den Gewürzländern waren so gut Raub, Erpressung und grober<br />
Schwindel unter der Flagge <strong>des</strong> Handels wie heute die Beziehungen der amerikanischen Kapitalisten zu<br />
den Indianern in Kanada, denen sie Pelze abkaufen, oder der deutschen Händler zu den Afrikanegern.<br />
Das klassische Beispiel <strong>des</strong> "sanften" und "friedliebenden" Warenhandels mit rückständigen<br />
Gesellschaften ist die moderne Geschichte Chinas, durch die sich wie ein roter Faden seit Beginn der<br />
vierziger Jahre, das ganze 19. Jahrhundert hin- durch die Kriege der Europäer ziehen, deren<br />
Zweck war, China gewaltsam dem Warenverkehr zu erschließen. Durch Missionare provozierte<br />
Christenverfolgungen, von Europäern angezettelte Tumulte, periodische blutige Kriegsgemetzel, in<br />
denen sich die völlige Hilflosigkeit eines friedlichen Ackerbauervolkes mit der modernsten<br />
kapitalistischen Kriegstechnik der vereinigten europäischen Großmächte messen sollte, schwere<br />
Kriegskontributionen mit dem ganzen System von öffentlicher Schuld, europäischen Anleihen,<br />
europäischer Kontrolle der Finanzen und europäischer Besetzung der Festungen im Gefolge, erzwungene<br />
Eröffnung von Freihäfen und erpreßte Konzessionen zu Eisenbahnbauten an europäische Kapitalisten -<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 28. Kapitel<br />
das waren die Geburtshelfer <strong>des</strong> Warenhandels in China von Anfang der vierziger Jahre <strong>des</strong> vorigen<br />
Jahrhunderts bis zum Ausbruch der chinesischen Revolution.<br />
<strong>Die</strong> Periode der Erschließung Chinas für die europäische Kultur, d.h. für den Warenaustausch mit dem<br />
europäischen Kapital, wird durch den Opiumkrieg inauguriert, in dem China gezwungen wird, das Gift<br />
aus den indischen Plantagen abzunehmen, um es für die englischen Kapitalisten zu Geld zu machen. Im<br />
17. Jahrhundert war die Kultur <strong>des</strong> Opiums durch die englische Ostindische Kompanie in Bengalen<br />
eingeführt und durch ihre Zweigniederlassung in Kanton der Gebrauch <strong>des</strong> Gifts in China verbreitet. Zu<br />
Beginn <strong>des</strong> 19. Jahrhunderts fiel das Opium so stark im Preise, daß es rapid zum "Volksgenußmittel"<br />
wurde. Noch im Jahre 1821 betrug die <strong>Ein</strong>fuhr <strong>des</strong> Opium nach China 4.628 Kisten zum Preise von<br />
durchschnittlich 1.325 Dollar, dann fiel der Preis auf die Hälfte, und 1825 stieg die chinesische <strong>Ein</strong>fuhr<br />
auf 9.62l Kisten, 1830 auf 26.670 Kisten.(1) <strong>Die</strong> verheerenden Wirkungen <strong>des</strong> Gifts, namentlich der<br />
billigsten von der armen Bevölkerung gebrauchten Sorten, gestalteten sich zur öffentlichen Kalamität<br />
und riefen als Notwehr seitens Chinas ein Verbot der <strong>Ein</strong>fuhr hervor. Bereits 1828 hatte der Vizekönig<br />
von Kanton den Import von Opium verboten, was aber den Handel nur in andere Hafenstädte lenkte.<br />
<strong>Ein</strong>er der Pekinger Zensoren wurde mit der Untersuchung der Frage beauftragt und gab folgen<strong>des</strong><br />
Gutachten ab:<br />
"Ich habe in Erfahrung gebracht, daß die Opiumraucher nach diesem schädlichen Medikament ein so<br />
heftiges Verlangen haben, daß sie alles aufbieten, um sich <strong>des</strong>sen Genuß zu verschaffen. Wenn sie das<br />
Opium nicht zur gewohnten Stunde erhalten, fangen ihre Glieder an zu zittern, dicke Schweißtropfen<br />
fließen ihnen von der Stirn und über das Gesicht, und sie sind unfähig, die geringste Beschäftigung<br />
vorzunehmen. Bringt man ihnen aber eine Pfeife mit Opium, atmen sie einige Züge davon ein und sind<br />
sogleich geheilt.<br />
Das Opium ist daher für alle, die es rauchen, ein notwendiges Bedürfnis geworden, und man darf sich gar<br />
nicht wundern, daß sie, wenn sie von der Ortsbehörde zur Verantwortung gezogen werden, weit lieber<br />
jede Züchtigung ertragen als den Namen <strong>des</strong>jenigen offenbaren, der ihnen das Opium liefert. Zuweilen<br />
erhalten die Ortsbehörden auch Geschenke, um dieses Übel zu dulden oder um eine eingeleitete<br />
Untersuchung aufzuhalten. <strong>Die</strong> meisten Kaufleute, die Handelsartikel nach Kanton bringen, verkaufen<br />
auch Opium als Schmuggelware.<br />
Ich bin der Ansicht, daß Opium ein weit größeres Übel ist als das Spiel und daß man daher den<br />
Opiumrauchern keine geringere Strafe auferlegen sollte als den Spielern."<br />
Der Zensor schlug vor, daß jeder überführte Opiumraucher zu 80 Bambushieben, einer, der den<br />
Verkäufer nicht angeben wolle, zu 100 Hieben und dreijähriger Verbannung verurteilt werden sollte.<br />
Und mit einer für europäische Behörden unerhörten Offenherzigkeit schloß der bezopfte Cato von<br />
Peking sein Gutachten: "Es scheint, daß das Opium zumeist durch unwürdige Beamte von außerhalb<br />
eingeführt wird, die im <strong>Ein</strong>verständnis mit gewinnsüchtigen Kaufleuten es ins Innere <strong>des</strong> Lan<strong>des</strong><br />
befördern, wo zuerst junge Leute aus guter Familie, reiche Private und Kaufleute sich dem Genuß<br />
zuwenden, der sich endlich auch bei dem gemeinen Manne verbreitet. Ich habe in Erfahrung gebracht.<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 28. Kapitel<br />
daß sich in allen Provinzen nicht allein unter den Zivilbeamten, sondern auch in der Armee<br />
Opiumraucher befinden. Während die Beamten der verschiedenen Bezirke durch Edikte das gesetzliche<br />
Verbot <strong>des</strong> Verkaufs <strong>des</strong> Opium von neuem einschärfen, rauchen ihre Eltern, Verwandten, Untergebenen<br />
und <strong>Die</strong>ner nach wie vor, und die Kaufleute benutzen das Verbot, den Preis zu steigern. Selbst die<br />
Polizei, die ebenfalls dafür eingenommen ist, kauft diesen Artikel, statt zu seiner Unterdrückung<br />
beizutragen. und dies ist auch der Grund, weshalb alle Verbote und Verfügungen unberücksichtigt blei-<br />
ben."(2) Daraufhin wurde 1833 ein verschärftes Gesetz erlassen, das für jeden Opiumraucher<br />
hundert Hiebe und zweimonatige Ausstellung am Pranger festsetzte. <strong>Die</strong> Gouverneure der Provinzen<br />
wurden verpflichtet, in ihren Jahresberichten die Erfolge <strong>des</strong> Kampfes mit dem Opium zu<br />
berücksichtigen. Der doppelte Erfolg dieses Kampfes lief freilich darauf hinaus, daß einerseits im Innern<br />
Chinas. namentlich in den Provinzen Honan, Setschuan und Kweitschou, Mohnkulturen im großen<br />
Maßstab angelegt wurden und daß andererseits England China den Krieg erklärte, um es zur Freigabe der<br />
<strong>Ein</strong>fuhr zu zwingen. Nun begann die glorreiche "Erschließung" Chinas für die europäische Kultur in<br />
Gestalt der Opiumpfeife.<br />
Der erste Angriff erfolgte auf Kanton. <strong>Die</strong> Befestigung der Stadt am Haupteingang <strong>des</strong> Perlflusses war<br />
denkbar primitiv. Ihr Hauptstück bestand in einer Sperre von eisernen Ketten, die täglich bei<br />
Sonnenuntergang in verschiedenen Abständen an verankerten Holzflößen befestigt wurden. Man muß<br />
noch berücksichtigen, daß die chinesischen Geschütze ohne jedwede Vorrichtung zum Höher- und<br />
Niedrigerstellen, also beim Gebrauch ganz harmlos waren. Mit dieser primitiven Befestigung, die gerade<br />
imstande war, ein paar Handelsschiffe an der <strong>Ein</strong>fahrt zu verhindern, begegneten die Chinesen dem<br />
englischen Angriff. Zwei englische Kriegsschiffe genügten denn auch, um am 7. September 1839 die<br />
Durchfahrt zu erzwingen. <strong>Die</strong> sechzehn Kriegsdschunken und dreizehn Brander, mit denen die Chinesen<br />
sich widersetzten, wurden in dreiviertel Stunden zusammengeschossen und zerstreut. Nach diesem ersten<br />
Siege verstärkten die Engländer ihre Kriegsflotte bedeutend und gingen zu Beginn 1841 zum erneuten<br />
Angriff über. <strong>Die</strong>smal erfolgte der Angriff gleichzeitig gegen die Flotte und gegen die Forts. <strong>Die</strong><br />
chinesische Flotte bestand in einer Anzahl Kriegsdschunken. Schon die erste Brandrakete drang durch<br />
die Planken in die Pulverkammer einer Dschunke, so daß diese mit der ganzen Mannschaft in die Luft<br />
flog. Nach kurzer Zeit waren elf Dschunken einschließlich <strong>des</strong> Admiralschiffes zerstört, der Rest suchte<br />
in wilder Flucht sein Heil. <strong>Die</strong> Aktion zu Lande nahm einige Stunden mehr in Anspruch. Bei der<br />
gänzlichen Untauglichkeit der chinesischen Geschütze schritten die Engländer mitten durch die<br />
Befestigungen, erklommen einen wichtigen Punkt. der ganz unbesetzt geblieben war, und metzelten die<br />
wehrlosen Chinesen von oben nieder. <strong>Die</strong> Schlußrechnung der Schlacht war: auf chinesischer Seite 600<br />
Tote, auf englischer - 1 Toter und 30 Verwundete, wovon mehr als die Hälfte durch das zufällige<br />
Auffliegen eines Pulver- magazins Schaden erlitt. <strong>Ein</strong>ige Wochen später lieferten die Engländer<br />
ein neues Heldenstück. Es galt, die Forts von Anunghoi und Nord-Wantong zu nehmen. Hierzu standen<br />
auf englischer Seite nicht weniger als 12 Linienschiffe in voller Ausrüstung zur Verfügung. Außerdem<br />
hatten die Chinesen wieder die Hauptsache vergessen, nämlich die Insel Süd-Wantong zu befestigen. <strong>Die</strong><br />
Engländer landeten also dort in aller Seelenruhe eine Haubitzenbatterie und beschossen das Fort von<br />
einer Seite, während die Kriegsschiffe es von der anderen unter Feuer nahmen. Wenige Minuten<br />
genügten, um die Chinesen aus den Forts zu verjagen und die Landung ohne Widerstand zu<br />
bewerkstelligen. <strong>Die</strong> unmenschliche Szene, welche nun folgte - so sagt ein englischer Bericht -, wird<br />
stets ein Gegenstand tiefen Bedauerns für die englischen Offiziere bleiben. <strong>Die</strong> Chinesen waren nämlich,<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 28. Kapitel<br />
als sie aus den Verschanzungen fliehen wollten, in die Gräben gefallen, so daß diese mit hilflosen, um<br />
Gnade flehenden Soldaten buchstäblich angefüllt waren. Auf diese liegende Masse menschlicher Leiber<br />
wurde nun von den Sepoys - angeblich entgegen dem Befehl der Offiziere - unablässig gefeuert. So<br />
wurde Kanton dem Warenhandel erschlossen.<br />
Ebenso erging es den anderen Häfen. Am 4. Juli 1841 erschienen drei englische Kriegsschiffe mit 120<br />
Kanonen bei den Inseln am <strong>Ein</strong>gang zur Stadt Ningpo. Andere Kriegsschiffe trafen am folgenden Tage<br />
ein. Am Abend sandte der englische Admiral eine Botschaft an den chinesischen Gouverneur mit der<br />
Forderung, die Inseln zu übergeben. Der Gouverneur erklärte, daß es ihm zum Widerstande an Macht<br />
fehle, daß er jedoch ohne Befehle aus Peking die Übergabe nicht vornehmen dürfe und daher um<br />
Aufschub bäte. <strong>Die</strong>ser wurde ihm nicht gewährt, und um 2 1/2 Uhr morgens begannen die Engländer den<br />
Sturm auf die wehrlose Insel. In neun Minuten waren Fort und Häuser am Strand ein rauchender<br />
Schutthaufen. <strong>Die</strong> Truppen landeten an der verlassenen Küste, die mit zerbrochenen Spießen, Säbeln,<br />
Schilden, Flinten und einigen Toten bedeckt war, und zogen vor die Wälle der Inselstadt Ting-hai, um sie<br />
einzunehmen. Durch die Mannschaften der inzwischen eingetroffenen weiteren Schiffe verstärkt, legten<br />
sie am nächsten Morgen Sturmleitern gegen die kaum verteidigten Mauern und waren nach wenigen<br />
Minuten Herren der Stadt. <strong>Die</strong>ser glorreiche Sieg wurde von den Engländern mit folgender bescheidener<br />
Meldung verkündet: "Den Morgen <strong>des</strong> 5. Juli 1841 hatte das Geschick als denkwürdigen Tag bezeichnet,<br />
an dem zuerst die Fahne Ihrer Majestät von England über der schönsten Insel <strong>des</strong> himmlischen Reiches<br />
der Mitte weben sollte, das erste europäische Banner, welches siegreich über diesen blühenden<br />
Fluren stand."(3) Am 25. August 1841 erschienen die Engländer vor der Stadt Amoy, deren Forts mit<br />
mehreren hundert Kanonen größten chinesischen Kalibers armiert waren. Bei der fast gänzlichen<br />
Untauglichkeit dieser Geschütze sowie der Unbeholfenheit der Kommandierenden war die <strong>Ein</strong>nahme <strong>des</strong><br />
Hafens wieder ein Kinderspiel. <strong>Die</strong> englischen Schiffe näherten sich unter fortgesetztem Feuern den<br />
Wällen von Kulangsu, dann landeten die Seesoldaten und vertrieben nach kurzem Widerstand die<br />
chinesischen Truppen. <strong>Die</strong> Engländer erbeuteten dabei im Hafen 26 Kriegsdschunken mit 128<br />
Geschützen, die von der Mannschaft verlassen waren. Bei einer Batterie leisteten die Tataren dem<br />
vereinigten Feuer von fünf englischen Schiffen heldenhaften Widerstand, die gelandeten Engländer<br />
fielen ihnen aber in den Rücken und richteten unter ihnen ein vernichten<strong>des</strong> Blutbad an.<br />
So endete der glorreiche Opiumkrieg. Im Friedensschluß vom 27. August 1842 bekamen die Engländer<br />
die Insel Hongkong, ferner mußten Kanton, Amoy, Fu-Tschou, Ningpo und Schanghai dem Handel<br />
erschlossen werden. Fünfzehn Jahre später erfolgte der zweite Krieg gegen China, wobei diesmal die<br />
Engländer gemeinsam mit Franzosen vorgingen, 1857 wurde Kanton durch die verbündete Flotte ebenso<br />
heldenhaft wie im ersten Kriege erstürmt. Im Frieden von Tientsin 1858 wurde der Opiumeinfuhr, dem<br />
europäischen Handel und den Missionen Zutritt ins Innere <strong>des</strong> Lan<strong>des</strong> gewährt. Schon 1859 eröffneten<br />
die Engländer von neuem die Feindseligkeiten und beschlossen, die Befestigungen der Chinesen am Peiho<br />
zu zerstören, wurden aber nach einer mörderischen Schlacht mit 464 Toten und Verwundeten<br />
zurückgeschlagen.(4) Jetzt operierten England und Frankreich wieder zusammen. Mit 12.600<br />
Mann englischer und 7.500 französischer Truppen unter General Cousin-Montauban nahmen sie Ende<br />
August 1860 zunächst die Takuforts ohne einen Schuß, dann drangen sie bis Tientsin und weiter nach<br />
Peking vor. Unterwegs kam es am 21. September 1860 zu der blutigen Schlacht bei Palikao, die Peking<br />
den europäischen Mächten preisgab. <strong>Die</strong> Sieger, die in die fast menschenleere und gar nicht verteidigte<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 28. Kapitel<br />
Stadt einzogen, plünderten zunächst den kaiserlichen Palast, woran sich General Cousin, der spätere<br />
Marschall "Graf von Palikao", mit Eifer persönlich beteiligte, Lord Elgin aber ließ den Palast "zur<br />
Sühne" in Flammen aufgehen.(5)<br />
Jetzt wurde den europäischen Mächten zugestanden, Gesandte in Peking zu halten, Tientsin und andere<br />
Städte wurden dem Handel eröffnet. Während in England die Antiopiumliga gegen die Verbreitung <strong>des</strong><br />
Giftes in London, Manchester und anderen Industriebezirken arbeitete und eine vom Parlament ernannte<br />
Kommission den Genuß <strong>des</strong> Opiums für höchst schädlich erklärte, wurde der Opiumeinfuhr nach China<br />
noch in der Tschi-fu-Konvention 1876 die Freiheit gesichert. Gleichzeitig sicherten alle Staatsverträge<br />
mit China den Europäern - Kaufleuten wie Missionen - das Recht auf Landerwerb zu. Hierbei half neben<br />
dem Feuer der Geschütze auch bewußter Betrug kräftig mit. Nicht nur bot die Zweideutigkeit der<br />
Vertragstexte eine bequeme Handhabe zur stufenweisen Ausdehnung der vom europäischen<br />
Kapital in den Vertragshäfen besetzten Gebiete. Auf Grund der bekannten frechen Fälschung im<br />
chinesischen Text der französischen Zusatzkonvention vom Jahre 1860, den der katholische Missionar<br />
Abbé Delamarre als Dolmetscher ausgefertigt hatte, wurde der chinesischen Regierung in der Folge das<br />
Zugeständnis abgepreßt, den Missionen nicht bloß in den Vertragshäfen, sondern in allen Provinzen <strong>des</strong><br />
Reiches Landerwerb zu gestatten. <strong>Die</strong> französische Diplomatie wie namentlich die protestantischen<br />
Missionen waren einig in der Verurteilung der raffinierten Schwindelei <strong>des</strong> katholischen Paters, was sie<br />
jedoch nicht hinderte, auf der Anwendung der so eingeschmuggelten Rechtserweiterung der<br />
französischen Missionen energisch zu bestehen und sie 1887 ausdrücklich auch auf die protestantischen<br />
Missionen ausdehnen zu lassen.(6)<br />
<strong>Die</strong> Erschließung Chinas für den Warenhandel, die mit dem Opiumkriege begonnen war, wurde mit der<br />
Serie der "Pachtungen" und der Chinaexpedition <strong>des</strong> Jahres 1900 besiegelt, in der die Handelsinteressen<br />
<strong>des</strong> europäischen <strong>Kapitals</strong> offen in internationalen Landraub umschlugen. Fein kehrt diesen Widerspruch<br />
zwischen der anfänglichen Theorie und der schließlichen Praxis der europäischen "Kulturträger" in<br />
China die Depesche der Kaiserin-Witwe hervor, die nach der <strong>Ein</strong>nahme der Takuforts an die Königin<br />
Victoria schrieb:<br />
"Ew. Majestät einen Gruß! - In allen Verhandlungen Englands mit dem chinesischen Reiche, seit<br />
Beziehungen zwischen uns angeknüpft wurden, ist auf seiten Großbritanniens niemals die Rede von<br />
Vergrößerung <strong>des</strong> Landbesitzes gewesen, sondern nur von dem eifrigen Wunsch, die Interessen seines<br />
Handels zu fördern. <strong>Die</strong> Tatsache erwägend, daß unser Land nunmehr in einen entsetzlichen<br />
Kriegszustand gestürzt ist, erinnern wir uns daran, daß ein großer Teil von Chinas Handel, 70 oder 80<br />
Prozent, mit England abgeschlossen wird. Außerdem sind Eure Seezölle die niedrigsten in der Welt und<br />
wenig Beschränkungen in Euren Seehäfen auf fremde <strong>Ein</strong>fuhr gelegt. Aus diesen Gründen haben unsere<br />
freundlichen Beziehungen mit britischen Kaufleuten in unseren Vertragshäfen ununterbrochen während<br />
<strong>des</strong> letzten halben Jahrhunderts zu unserem wechsel- seitigen Vorteil bestanden. Aber ein<br />
plötzlicher Wechsel ist nun eingetreten, und ein allgemeiner Verdacht hat sich gegen uns erhoben. Wir<br />
möchten Euch daher bitten, zu überlegen, wenn durch eine gewisse Kombination der Umstände die<br />
Unabhängigkeit unseres Reiches verlorengehen sollte und die Mächte sich einigen, ihren längst gehegten<br />
Plan, sich unseres Gebietes zu bemächtigen, durchzuführen (in einer gleichzeitigen Depesche an den<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 28. Kapitel<br />
Kaiser von Japan spricht die temperamentvolle Tsi Hsi offen von den "landhungrigen Mächten <strong>des</strong><br />
Westens, deren gefräßige Tigeraugen in unsere Richtung hin schielen" - R. L.), so würde das Ergebnis<br />
unglücklich und verhängnisvoll auf Euren Handel wirken. Zur Zeit bemüht sich unser Reich auf das<br />
äußerste, ein Heer und Mittel aufzubringen, die seinen Schutz verbürgen. Inzwischen verlassen wir uns<br />
auf Eure guten <strong>Die</strong>nste als Zwischenträger und erwarten dringend Eure Entschließung."(7)<br />
Zwischendurch laufen in jedem Kriege Plünderung und <strong>Die</strong>bstahl en gros der europäischen Kulturträger<br />
in den chinesischen Kaiserpalästen, öffentlichen Gebäuden, an altertümlichen Kulturdenkmälern, so gut<br />
im Jahre 1860, wo der Palast <strong>des</strong> Kaisers mit seinen märchenhaften Schätzen von Franzosen geplündert<br />
wurde, wie 1900, wo "alle Nationen" öffentliches und privates Gut um die Wette stahlen. Rauchende<br />
Trümmer größter und ältester Städte, Verfall der Ackerkultur auf großen Strecken platten Lan<strong>des</strong>,<br />
unerträglicher Steuerdruck zur Erschwingung der Kriegskontributionen waren die Begleiter je<strong>des</strong><br />
europäischen Vorstoßes, Hand in Hand mit den Fortschritten <strong>des</strong> Warenhandels. Von den mehr als 40<br />
chinesischen Treaty ports ist jeder mit Blutströmen, Gemetzel und Ruin erkauft worden.<br />
Fußnoten von <strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong><br />
(1) 1854 wurden 77.379 Kisten eingeführt. Später geht die <strong>Ein</strong>fuhr angesichts der Ausbreitung der<br />
heimischen Produktion ein wenig zurück. Trotzdem bleibt China der Hauptabnehmer der indischen<br />
Plantagen. 1873/1874 wurden in Indien 6,4 Millionen Kilogramm Opium produziert, davon 6,1<br />
Millionen Kilogramm an die Chinesen abgesetzt. Jetzt noch werden von Indien jährlich 4,8 Kilogramm<br />
im Werte von 150 Millionen Mark fast ausschließlich nach China und dem Malaiischen Archipel<br />
ausgeführt.
<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 28. Kapitel<br />
wegen <strong>des</strong> vorgeschlagenen Handelsvertrages zu begeben, und haben sogar <strong>des</strong>sen Ratifikation als<br />
Zeichen unserer bona fi<strong>des</strong> verstattet.<br />
Dessen nicht geachtet, entwickelte der Barbarenführer Bruce neuerdings eine Halsstrarrigkeit<br />
unvernünftigster Art und erschien im 8. Monde mit einem Geschwader von Kriegsschiffen auf der<br />
Takureede. Daraufhin griff ihn Seng Ko Liu Ch'in heftig an und zwang ihn so schleunigem Rückzug.<br />
Aus allem diesem geht hervor, daß China keinen Vertrauensbruch begangen hat und daß die Barbaren im<br />
Unrecht gewesen sind. Im laufenden Jahre sind nun die Barbarenchefs Elgin und Gros neuerlich an<br />
unseren Küsten erschienen, aber China, unlustig, zu äußersten Maßregeln zu greifen, gestattete ihnen die<br />
Landung und ihren Besuch in Peking zwecks Ratifikation <strong>des</strong> Vertages.<br />
Wer hätte es glauben können, daß während dieser ganzer Zeit die Barbaren nichts als Ränke gesponnen<br />
haben, daß sie ein Heer von Soldaten und Artillerie mir sich führten, mit denen sie die Takuforts von<br />
rückwärts angegriffen haben und nach Vertreibung der Besatzung auf Tientsin marschiert sind!" (China<br />
unter der Kaiserin-Wltwe, <strong>Berlin</strong> 1912, S. 25. Vgl. auch in dem genannten Werk das ganze Kapitel "<strong>Die</strong><br />
Flucht nach Jehol".)
<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 29. Kapitel<br />
28. Kapitel | Inhalt | 30. Kapitel<br />
<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - Gesammelte Werke. Herausgegeben vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Band<br />
5. <strong>Berlin</strong>/DDR. 1975. "<strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>", S. 342-365.<br />
1. Korrektur.<br />
Erstellt am 20.10.1998<br />
Neunundzwanzigstes Kapitel<br />
Der Kampf gegen die Bauernwirtschaft<br />
<strong>Ein</strong> wichtiges Abschlußkapitel <strong>des</strong> Kampfes mit der Naturalwirtschaft ist die Trennung der<br />
Landwirtschaft vom Gewerbe, die Verdrängung der ländlichen Gewerbe aus der Bauernwirtschaft. Das<br />
Handwerk kommt geschichtlich als eine landwirtschaftliche Nebenbeschäftigung zur Welt, bei den<br />
ansässigen Kulturvölkern als Anhängsel <strong>des</strong> Ackerbaus. <strong>Die</strong> Geschichte <strong>des</strong> europäischen Handwerks im<br />
Mittelalter ist die Geschichte seiner Emanzipation von der Landwirtschaft, seiner Loslösung vom<br />
Fronhof, seiner Spezialisierung und Entwicklung zur zunftmäßigen städtischen Warenproduktion.<br />
Trotzdem die gewerbliche Produktion weiter vom Handwerk über Manufaktur zur großindustriellen<br />
kapitalistischen Fabrik vorgeschritten war, blieb auf dem Lande in der bäuerlichen Wirtschaft das<br />
Handwerk noch zäh an der Landwirtschaft haften. Als häusliche Nebenproduktion in der vom Ackerbau<br />
freien Zeit spielte das Handwerk zum Selbstbedarf in der bäuerlichen Wirtschaft eine hervorragende<br />
Rolle.(1) <strong>Die</strong> Entwicklung der kapitalistischen Produktion entreißt der bäuerlichen Wirtschaft immer<br />
einen Zweig <strong>des</strong> Gewerbes nach dem anderen, um sie zur fabrikmäßigen Massenproduktion zu<br />
konzentrieren. <strong>Die</strong> Geschichte der Textilindustrie ist dafür ein typisches Beispiel. Dasselbe vollzieht sich<br />
aber, weniger auffällig, mit allen anderen Handwerkszweigen der Landwirtschaft. Um die Bauernmasse<br />
zur Abnehmerin seiner Waren zu machen, ist das Kapital bestrebt, die bäuerliche Wirtschaft zunächst auf<br />
den einen Zweig zu reduzieren, <strong>des</strong>sen es sich nicht sofort - und in europäischen Eigentumsverhältnissen<br />
überhaupt nicht ohne Schwierigkeit - bemächtigen kann: auf die Landwirtschaft.(2) Hier scheint<br />
äußerlich alles ganz friedlich abzugehen. Der Prozeß ist unmerklich und gleichsam von rein<br />
ökonomischen Faktoren bewirkt. <strong>Die</strong> technische Überlegenheit der fabrikmäßigen Massenproduktion mit<br />
ihrer Spezialisierung, mit ihrer wissenschaftlichen Analyse und Kombination <strong>des</strong> Produktionsprozesses,<br />
mit ihren Bezugsquellen der Rohstoffe vom Weltmarkt und ihren vervollkommneten Werkzeugen steht<br />
im Vergleich mit dem primitiven bäuerlichen Gewerbe außer jedem Zweifel. In Wirklichkeit sind bei<br />
diesem Prozeß der Trennung der bäuerlichen Landwirtschaft vom Gewerbe Faktoren wie Steuerdruck,<br />
Krieg, Verschleuderung und Monopolisierung <strong>des</strong> nationalen Grund und Bodens wirksam, die<br />
gleichermaßen in das Gebiet der Nationalökonomie, der politischen Gewalt und <strong>des</strong> Strafkodex fallen.<br />
Nirgends ist dieser Prozeß so gründlich durchgeführt wie in den Vereinigten Staaten von Amerika.<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 29. Kapitel<br />
Eisenbahnen, d.h. europäisches, hauptsächlich englisches Kapital, führten den amerikanischen<br />
Farmer Schritt für Schritt über die unermeßlichen Gefilde <strong>des</strong> Ostens und Westens der Union, wo er die<br />
Indianer mit Feuerwaffen, Bluthunden, Schnaps und Syphilis vertilgte und gewaltsam vom Osten nach<br />
dem Westen verpflanzte, um sich ihren Grund und Boden als "freies Land" anzueignen, zu roden und<br />
unter Kultur zu setzen. Der amerikanische Farmer, der "Hinterwäldler" der guten alten Zeit vor dem<br />
Sezessionskrieg, war ein ganz anderer Kerl als der heutige. Er konnte so ziemlich alles, und er kam auf<br />
seiner abgeschiedenen Farm beinahe ohne die Außenwelt ganz gut aus. "Der heutige amerikanische<br />
Farmer", schrieb zu Beginn der 90er Jahre Senator Peffer, einer von den Leitern der Farmers Alliance,<br />
"ist ein ganz anderer Mensch als sein Ahne vor fünfzig oder hundert Jahren. Viele von den heute<br />
Lebenden erinnern sich an die Zeit, wo sich die Farmer in bedeutendem Maße mit Gewerbe befaßten,<br />
d.h., wo sie selbst einen bedeutenden Teil <strong>des</strong>sen verfertigten, was sie für ihren eigenen Bedarf<br />
brauchten. Jeder Farmer hatte eine Kollektion Werkzeuge, mit deren Hilfe er aus Holz Gerätschaften<br />
verfertigte, wie z.B. Heugabel und Harke, Stiele zum Spaten und Pflug, Deichseln für den Wagen und<br />
eine Menge anderer Holzgeräte. Ferner produzierte der Farmer Flachs und Hanf, Schafwolle und<br />
Baumwolle. <strong>Die</strong>se Textilstoffe wurden auf der Farm verarbeitet: Sie wurden im Hause versponnen und<br />
gewoben, ebenso wurden im Hause Kleider, Wäsche und dergleichen verfertigt, und alles dies wurde von<br />
ihm selbst verbraucht. Bei jeder Farm gab es eine kleine Werkstatt für Zimmermann-, Tischler- und<br />
Schlosserarbeit, im Hause selbst aber eine Wollkratze und einen Webstuhl; es wurden Teppiche, Decken<br />
und anderes Bettzeug gewoben; auf jeder Farm wurden Gänse gehalten, mit deren Daunen und Federn<br />
man die Kissen und Federbetten füllte; der Überfluß wurde auf dem Markt der nächsten Stadt verkauft.<br />
Im Winter wurden Weizen, Mehl, Mais in großen mit 6 oder 8 Pferden bespannten Wagen zum Markt<br />
gefahren, hundert oder zweihundert Meilen weit, dort kaufte man für das nächste Jahr Kolonialwaren,<br />
gewisse Stoffe und dergleichen ein. Man konnte auch unter den Farmern verschiedene Handwerker<br />
finden. <strong>Ein</strong> Wagen wurde auf der Farm während der Dauer von einem oder zwei Jahren hergestellt. Das<br />
Material dazu fand man in der Nähe: die Art <strong>des</strong> zu benutzenden Bauholzes wurde im Vertrag mit dem<br />
Nachbar genau festgesetzt; es mußte in einer bestimmten Zeit geliefert und dann eine bestimmte Zeit<br />
lang getrocknet werden, so daß, wenn der Wagen fertig war, beide Parteien <strong>des</strong> Vertrages wußten, woher<br />
je<strong>des</strong> Holzstück kam und wie lange es getrocknet wurde. In der Winterszeit verfertigte der<br />
Zimmermann aus der Nachbarschaft Fensterkreuze, Decken, Türen, Simse und Gebälke für die nächste<br />
Saison. Waren die Herbstfröste gekommen. dann saß der Schuhmacher in der Wohnung <strong>des</strong> Farmers im<br />
Winkel und verfertigte für die Familie Schuhe. Alles dies wurde zu Hause gemacht, und ein großer Teil<br />
der Ausgaben wurde mit Produkten der Farm bezahlt. Wenn der Winter kam, war es Zeit, sich mit<br />
Fleisch zu versehen; dieses wurde zubereitet und geräuchert aufbewahrt. Der Obstgarten lieferte Obst<br />
zum Most, zum Apfelmus und zu allerlei Konserven, vollauf genügend für den Bedarf der Familie<br />
während <strong>des</strong> Jahres und darüber hinaus. Der Weizen wurde allmählich nach Bedarf gedroschen, gerade<br />
soviel, wie man Bargeld brauchte. Alles wurde aufbewahrt und verbraucht. <strong>Ein</strong>e der Folgen derartiger<br />
Wirtschaftsweise war, daß man verhältnismäßig wenig Geld brauchte, um das Geschäft zu führen. Im<br />
Durchschnitt dürften hundert Dollar für die größte Farm genügt haben, um Knechte zu dingen,<br />
Ackergeräte zu reparieren und andere zufällige Ausgaben zu decken.(3)<br />
<strong>Die</strong>ses Idyll sollte nach dem Sezessionskriege ein jähes Ende finden. <strong>Die</strong> enorme Staatsschuld von 6<br />
Milliarden Dollar, die er der Union aufgebürdet hatte, zog eine starke Erhöhung der Steuerlasten nach<br />
sich. Namentlich beginnt aber seit dem Kriege eine fieberhafte Entwicklung <strong>des</strong> modernen<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 29. Kapitel<br />
Verkehrswesens, der Industrie, besonders der Maschinenindustrie, unter Beihilfe <strong>des</strong> steigenden<br />
Schutzzolls. Zur Ermunterung <strong>des</strong> Eisenbahnbaus und der Besiedelung <strong>des</strong> Lan<strong>des</strong> mit Farmern wurden<br />
den Eisenbahngesellschaften großartige Schenkungen aus nationalen Ländereien gemacht. 1867 allein<br />
haben sie über 74 Millionen Hektar Lan<strong>des</strong> bekommen. Das Eisenbahnnetz wuchs denn auch in<br />
beispielloser Weise. 1860 betrug es noch nicht 50.000 Kilometer, 1870 über 85.000, 1880 aber mehr als<br />
150.000 (in derselben Zeit, von 1870 bis 1880, wuchs das gesamte Eisenbahnnetz Europas von 130.000<br />
auf 169.000 Kilometer). <strong>Die</strong> Eisenbahnen und die Bodenspekulanten riefen eine massenhafte<br />
<strong>Ein</strong>wanderung aus Europa nach den Vereinigten Staaten herbei. <strong>Die</strong> <strong>Ein</strong>wanderung betrug in den 23<br />
Jahren 1869 bis 1892 mehr als 4 1/2 Millionen Menschen. Im Zusammenhang damit emanzipierte sich die<br />
Union nach und nach von der europäischen, hauptsächlich englischen Industrie und schuf eigene<br />
Manufakturen, eine eigene Textil Eisen-, Stahl- und Maschinenindustrie. Am raschesten wurde die<br />
Landwirtschaft revolutioniert. Bereits in den ersten Jahren nach dem Bürgerkriege wurden die<br />
Plantagenbesitzer der Südstaaten durch die Emanzipation der Neger gezwungen, den Dampfpflug<br />
einzuführen. Besonders aber wurden die im Westen im Anschluß an den Eisenbahnbau frisch<br />
entstehenden Farmen von vornherein auf die modernste Maschinentechnik gestellt. "Zur selben Zeit",<br />
schrieb der Bericht der landwirtschaftlichen Kommission der Vereinigten Staaten im Jahre 1867,<br />
"während die Anwendung der Maschinerie den Landbau im Westen revolutioniert und das Verhältnis der<br />
angewandten menschlichen Arbeit auf das niedrigste bisher erreichte Maß herabdrückt, ... widmen sich<br />
hervorragende administrative und organisatorische Talente der Landwirtschaft. Farmen von mehreren<br />
tausend Hektar werden mit mehr Geschick geleitet, mit einer zweckmäßigeren und ökonomischeren<br />
Ausnutzung der vorhandenen Mittel und einem höheren Ertrag als Farmen von 40 Hektar."(4)<br />
Gleichzeitig stieg die Last der direkten wie der indirekten Steuern enorm. Mitten im Bürgerkriege wurde<br />
ein neues Finanzgesetz geschaffen. Der Kriegstarif vom 30. Juni 1864, der die Hauptgrundlage <strong>des</strong> noch<br />
heute geltenden Systems bildet, erhöhte die Verbrauchssteuern und die <strong>Ein</strong>kommenssteuern in<br />
außerordentlichem Maße. Hand in Hand damit begann eine wahre Orgie der Schutzzöllnerei, die jene<br />
hohen Kriegssteuern als Vorwand nahm, um die Belastung der einheimischen Produktion durch Zölle<br />
auszugleichen.(5) <strong>Die</strong> Mr. Morrill, Stevens und die anderen Gentlemen, die den Krieg benutzten, um mit<br />
ihrem protektionistischen Programm Sturm zu laufen, haben das System begründet, wonach die<br />
Zollpolitik offen und zynisch zum Werkzeug jeglicher Privatinteressen der Plusmacherei gemacht wurde.<br />
Jeder einheimische Produzent, der vor dem gesetzgebenden Kongreß erschien, um irgendeinen speziellen<br />
Zoll zu verlangen, damit er seine Taschen füllen konnte, sah sein Verlangen in willfähriger Weise erfüllt.<br />
<strong>Die</strong> Zollsätze wurden so hoch hinaufgeschraubt, wie nur irgend jemand es forderte. "Der Krieg", schreibt<br />
der Amerikaner Taussig, "hatte in mancher Hinsicht auf unser Nationalleben erfrischend und veredelnd<br />
gewirkt, aber seine unmittelbare Wirkung auf das Geschäftsleben und auf die ganze Gesetzgebung<br />
betreffend Geldinteressen war eine de- moralisierende. <strong>Die</strong> Grenzlinie zwischen öffentlicher<br />
Pflicht und Privatinteressen war von den Gesetzgebern oft aus dem Auge verloren. Große Vermögen<br />
wurden gemacht durch Gesetzesveränderungen, die von denselben Leuten verlangt und durchgesetzt<br />
wurden, die die Nutznießer der neuen Gesetze waren, und das Land sah mit Bedauern, daß die Ehre und<br />
die Ehrlichkeit der Männer der Politik nicht unangetastet blieben." Und dieser Tarif, der eine ganze<br />
Umwälzung im ökonomischen Leben <strong>des</strong> Lan<strong>des</strong> bedeutete, der zwanzig Jahre lang unverändert gelten<br />
sollte und im Grunde genommen bis jetzt die Basis der zollpolitischen Gesetzgebung der Vereinigten<br />
Staaten bildet, wurde buchstäblich in 3 Tagen im Kongreß und in 2 Tagen im Senat durchgepeitscht -<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 29. Kapitel<br />
ohne Kritik, ohne Debatte, ohne jede Opposition.(6)<br />
Mit diesem Umschwung in der Finanzpolitik der Vereinigten Staaten begann die schamlose<br />
parlamentarische Korruption der Union, der offene und skrupellose Gebrauch der Wahlen, der<br />
Gesetzgebung und der Presse als Werkzeuge nackter Tascheninteressen <strong>des</strong> Großkapitals. Das<br />
Enrichissez-vous wurde zur Losung <strong>des</strong> öffentlichen Lebens seit dem "edlen Kriege" um die Befreiung<br />
der Menschheit vom "Schandfleck der Sklaverei"; der Negerbefreier-Yankee feierte Orgien als<br />
Glücksritter der Spekulation an der Börse, schenkte sich selbst als Gesetzgeber nationale Ländereien,<br />
bereicherte sich selbst durch Zölle und Steuern, durch Monopole, Schwindelaktien, <strong>Die</strong>bstahl <strong>des</strong><br />
öffentlichen Vermögens. <strong>Die</strong> Industrie kam in Blüte. Jetzt waren die Zeiten vorbei, wo der kleine und<br />
mittlere Farmer fast ohne Bargeld auskommen und seinen Weizenvorrat noch nach Bedarf hie und da<br />
dreschen konnte, um ihn zu Geld zu machen. Jetzt mußte der Farmer immer Geld, recht viel Geld haben,<br />
um seine Steuern zu zahlen, er mußte bald alles, was er hervorbrachte, verkaufen, um wieder alles, was<br />
er brauchte, aus der Hand der Manufakturisten als Ware zu erwerben. "Wenn wir uns der Gegenwart<br />
zuwenden", schreibt Peffer, "so finden wir, daß sich fast alles verändert hat. Im ganzen Westen besonders<br />
dreschen alle Farmer ihren Weizen gleichzeitig, sie verkaufen ihn ebenfalls auf einmal. Der Farmer<br />
verkauft sein Vieh und kauft irisches Fleisch oder Speck, er verkauft seine Schweine und kauft Schinken<br />
und Schweinefleisch, er verkauft sein Gemüse und Obst und kauft sie wieder in Form der Konserven.<br />
Wenn er überhaupt Flachs baut, so drischt er den Flachs, anstatt ihn zu verspinnen, sodann Leinwand<br />
daraus zu weben und Wäsche für seine Kinder zu verfertigen, wie das vor 50 Jahren gemacht<br />
wurde, verkauft den Samen, das Stroh aber verbrennt er. Von fünfzig Farmern züchtet jetzt kaum einer<br />
Schafe; er rechnet auf die großen Zuchtfarmen und bezieht seinerseits die Wolle schon in fertiger Gestalt<br />
als Tuch oder Kleid. Sein Anzug wird nicht mehr zu Hause genäht, sondern in der Stadt gekauft. Anstatt<br />
selbst die nötigen Gerätschaften, Gabeln, Harke usw., anzufertigen, begibt er sich nach der Stadt, um das<br />
Heft zum Beil oder den Stiel zum Hammer zu kauten; er kauft Taue und Schnüre und allerlei Faserzeug,<br />
er kauft Kleiderstoffe oder selbst Kleider, er kauft konservierte Früchte, er kauft Speck und Fleisch und<br />
Schinken, er kauft heute fast alles, was er einst selbst produzierte, und er braucht zu alledem Geld. Außer<br />
alledem und was seltsamer scheint als alles andere, ist folgen<strong>des</strong>: Während früher die Heimstätte <strong>des</strong><br />
Amerikaners frei und unverschuldet blieb - nicht in einem Fall auf tausend war eine Heimstätte mit<br />
Hypotheken belastet, um eine Geldanleihe zu sichern - und während bei dem geringen Bedarf an Geld<br />
zur Führung <strong>des</strong> Betriebes stets Geld genug unter den Farmern vorhanden war, ist jetzt, wo zehnmal<br />
soviel Geld benötigt wird, nur wenig oder gar keines zu haben. Etwa die Hälfte der Farmen haben<br />
Hypothekenschulden, die ihren ganzen Wert verschlingen, und die Zinsen sind exorbitant. <strong>Die</strong> Ursache<br />
dieses merkwürdigen Umschwungs liegt in dem Manufakturisten mit seinen Wollen- und<br />
Leinenfabriken, Holzbearbeitungsfabriken, Baumwollspinnereien und Webereien, mit seinen Fleisch-<br />
und Obstkonservenfabriken usw. usw.; die kleinen Farmwerkstätten haben den großen städtischen<br />
Werken den Platz geräumt. <strong>Die</strong> nachbarliche Wagnerwerkstatt hat dem enormen städtischen Werk Platz<br />
gemacht, wo hundert oder zweihundert Wagen pro Woche hergestellt werden; an Stelle der<br />
Schusterwerkstatt ist die große städtische Fabrik getreten, wo der größte Teil der Arbeit vermittels der<br />
Maschinen gemacht wird."(7) Und endlich ist auch die landwirtschaftliche Arbeit <strong>des</strong> Farmers selbst zur<br />
Maschinenarbeit geworden. "Jetzt pflügt, sät und schneidet der Farmer mit Maschinen. <strong>Die</strong> Maschine<br />
schneidet, bindet Garben, und mit Hilfe <strong>des</strong> Dampfes wird gedroschen. Der Farmer kann beim Pflügen<br />
seine Morgenzeitung lesen, und er sitzt auf gedecktem Sitz der Maschine, während er schneidet."(8)<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 29. Kapitel<br />
<strong>Die</strong>se Umwälzung in der amerikanischen Landwirtschart seit dem "großen Kriege" war aber nicht das<br />
Ende, sondern der Anfang <strong>des</strong> Strudels, in den der Farmer hineingeraten war. Seine Geschichte<br />
leitet von selbst zur zweiten Phase der Entwicklung der kapitalistischen <strong>Akkumulation</strong> über, die sie<br />
gleichfalls trefflich illustriert. Der Kapitalismus bekämpft und verdrängt überall die Naturalwirtschaft,<br />
die Produktion für den Selbstbedarf, die Kombinierung der Landwirtschaft mit dem Handwerk, um an<br />
ihre Stelle die einfache Warenwirtschaft zu setzen. Er braucht die Warenwirtschaft als Absatz für den<br />
eigenen Mehrwert. <strong>Die</strong> Warenproduktion ist die allgemeine Form, in der der Kapitalismus erst gedeihen<br />
kann. Hat sich aber auf den Ruinen der Naturalwirtschaft bereits die einfache Warenproduktion<br />
ausgebreitet, dann beginnt alsbald der Kampf <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong> gegen diese. Mit der Warenwirtschaft tritt der<br />
Kapitalismus in ein Konkurrenzverhältnis; nachdem er sie ins Leben gerufen. macht er ihr die<br />
Produktionsmittel streitig, die Arbeitskräfte und den Absatz. Zuerst war der Zweck die Isolierung <strong>des</strong><br />
Produzenten, seine Trennung von der schützenden Gebundenheit <strong>des</strong> Gemeinwesens, dann die Trennung<br />
der Landwirtschaft vom Handwerk, jetzt ist die Trennung <strong>des</strong> kleinen Warenproduzenten von seinen<br />
Produktionsmitteln die Aufgabe.<br />
Wir haben gesehen, daß der "große Krieg" in der amerikanischen Union eine Ära der grandiosen<br />
Plünderung der nationalen Ländereien durch monopolistische Kapitalgesellschaften und einzelne<br />
Spekulanten eröffnet hatte. Im Anschluß an den riesenhaften Eisenbahnbau und noch mehr die<br />
Eisenbahnspekulation entstand eine tolle Bodenspekulation, bei der riesige Vermögen, ganze<br />
Herzogtümer, zur Beute von einzelnen Glücksrittern und Kompanien wurden. Von hier aus wurde durch<br />
einen Heuschreckenschwarm von Agenten, durch alle Mittel einer marktschreierischen skrupellosen<br />
Reklame, durch allerlei Vortäuschungen und Vorspiegelungen der gewaltige Strom der Immigration aus<br />
Europa nach den Vereinigten Staaten geleitet. <strong>Die</strong>ser Strom setzte sich zunächst in den östlichen Staaten<br />
an der atlantischen Küste ab. Je mehr aber hier die Industrie wuchs, um so mehr verschob sich die<br />
Landwirtschaft nach dem Westen. Das "Weizenzentrum", das sich 1850 bei Columbus in Ohio befand,<br />
wanderte in den folgenden 50 Jahren weiter und verschob sich um 99 Meilen nach Norden und 680<br />
Meilen nach Westen. 1850 lieferten die atlantischen Staaten 51,4 Prozent der gesamten Weizenernte, im<br />
Jahre 1880 nur noch 13.6 Prozent, während die nordzentralen Staaten 1880 71,7 Prozent, die westlichen<br />
9,4 Prozent lieferten.<br />
1825 hatte der Kongreß der Union unter Monroe beschlossen, die Indianer vom Osten <strong>des</strong> Mississippi<br />
nach dem Westen zu verpflanzen. <strong>Die</strong> Rothäute wehrten sich verzweifelt, wurden aber - wenigstens der<br />
Rest, der von den Gemetzeln der 40 Indianerkriegen noch verschont geblieben war - wie lästiger<br />
Plunder weggeräumt, wie Büffelherden nach dem Westen getrieben, um hier wie das Wild im Gatter der<br />
"Reservationen" eingepfercht zu werden. Der Indianer mußte dem Farmer weichen; jetzt kam die Reihe<br />
an den Farmer, der dem Kapital weichen mußte und selbst jenseits <strong>des</strong> Mississippi geschoben wurde.<br />
Den Eisenbahnen nach zog der amerikanische Farmer nach dem Westen und Nordwesten in das gelobte<br />
Land, das ihm die Agenten der großen Bodenspekulanten vorgaukelten. Aber die fruchtbarsten,<br />
bestgelegenen Ländereien wurden von den Gesellschaften zu großen rein kapitalistisch betriebenen<br />
Wirtschaften verwendet. Neben dem in die Wildnis geschleppten Farmer erstand als seine gefährliche<br />
Konkurrentin und Todfeindin die "Bonanzafarm", der großkapitalistische Landwirtschaftsbetrieb, wie er<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 29. Kapitel<br />
bis dahin in der Alten und Neuen Welt unbekannt war. Hier wurde die Mehrwertproduktion mit allen<br />
Hilfsmitteln der modernen Wissenschaft und Technik betrieben. "Olivier Dairymple, <strong>des</strong>sen Name heute<br />
auf beiden Seiten <strong>des</strong> Atlantischen Ozeans bekannt ist", schrieb Lafargue 1885, "kann als der beste<br />
Repräsentant der Finanzlandwirtschaft betrachtet werden. Seit 1874 leitet er gleichzeitig eine<br />
Dampferlinie auf dem Roten Flusse und sechs Farmen, die einer Gesellschaft von Finanzleuten gehören,<br />
mit einem Gesamtumfang von 30.000 Hektar. Er teilte dieselben in Abteilungen von je 800 Hektar, deren<br />
jede wieder in drei Unterabteilungen von je 267 Hektar zerfiel. <strong>Die</strong>se stehen unter Werkführern und<br />
Unterwerkführern. Auf jeder Sektion sind Baracken errichtet, in denen sich Unterkunft für fünfzig<br />
Menschen und Ställe für ebensoviel Pferde und Maultiere befinden, sowie Küchen, Magazine für<br />
Lebensmittel für Menschen und Vieh, Schuppen zum Unterbringen der Maschinen, endlich Schmiede-<br />
und Schlosserwerkstätten. Jede Sektion hat ihr vollständiges Inventar: 20 Paar Pferde, 8 Doppelpflüge,<br />
12 Sämaschinen, die vom Pferde aus dirigiert werden, 12 Eggen mit Stahlzähnen, 12 Schneide- und<br />
Garbenbindemaschinen, 2 Dreschmaschinen und 16 Wagen; alle Maßregeln sind getroffen, daß<br />
Maschinen und Arbeitstiere (Menschen, Pferde, Maultiere) in gutem Zustand und fähig sind, die<br />
größtmögliche Summe von Arbeit zu leisten. Alle Sektionen stehen untereinander und mit der<br />
Zentralleitung in telephonischer Verbindung.<br />
<strong>Die</strong> sechs Farmen von 30.000 Hektar werden von einer Armee von 600 Arbeitern bestellt, welche<br />
militärisch organisiert sind; zur Zeit der Ernte wirbt die Zentralleitung noch 500 bis 600 Hilfsarbeiter an,<br />
welche sie unter die Sektionen verteilt. Sind die Arbeiten im Herbst beendigt, dann werden die Arbeiter<br />
entlassen, mit Ausnahme der Werkführer und von zehn Mann per Sektion. Auf manchen Farmen Dakotas<br />
und Minnesotas überwintern die Pferde und Maultiere nicht am Arbeitsorte. Sobald die Stoppeln<br />
umgepflügt sind, treibt man sie in Herden von 100 bis 200 Paaren 1.000 bis 1.500 Kilometer weit nach<br />
dem Süden, von wo sie erst im Frühjahr wieder zurückkehren.<br />
Mechaniker zu Pferde folgen den Pflüge-, Sä- und Erntemaschinen bei der Arbeit; sobald etwas in<br />
Unordnung gerät, galoppieren sie zur betreffenden Maschine, um sie unverzüglich zu reparieren und<br />
wieder in Gang zu bringen. Das geerntete Getreide wird zu den Dreschmaschinen geschafft, die Tag und<br />
Nacht ununterbrochen arbeiten; diese werden mit Strohbündeln geheizt, welche durch Röhren von<br />
Eisenblech in den Feuerherd geschoben werden. Das Korn wird durch Maschinen gedroschen, geworfelt,<br />
gewogen und in Säcke gefüllt, worauf man es zur Bahn bringt, die an der Farm entlang führt; von da geht<br />
es nach Duluth oder Buffalo. Je<strong>des</strong> Jahr vermehrt Dalrymple sein Saatland um 2.000 Hektar. 1880 betrug<br />
es 10.000 Hektar."(9) Es gab schon Ende der 70er Jahre einzelne Kapitalisten und Gesellschaften, die<br />
Gebiete von 14.000 bis 18.000 Hektar unter Weizen ihr eigen nannten. Seit Lafargue dies geschrieben,<br />
haben die technischen Fortschritte in der amerikanischen großkapitalistischen Landwirtschaft und die<br />
Maschinenanwendung noch ganz gewaltig zugenommen.(1)<br />
Mit solchen kapitalistischen Unternehmungen konnte der amerikanische Farmer die Konkurrenz<br />
nicht bestehen. In derselben Zeit. wo ihn die allgemeine Umwälzung in den Verhältnissen: den Finanzen,<br />
der Produktion und dem Transportwesen der Union, zwang, jede Produktion für den Selbstbedarf<br />
aufzugeben und alles für den Markt zu produzieren, wurden die Preise der landwirtschaftlichen Produkte<br />
durch die kolossale Ausbreitung der Ackerkultur außerordentlich herabgedrückt. Und in derselben Zeit,<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 29. Kapitel<br />
wo die Masse der Farmer in ihren Schicksalen an den Markt gekettet wurde, verwandelte sich der<br />
landwirtschaftliche Markt der Union plötzlich aus dem lokalen Absatzgebiet in den Weltmarkt, auf dem<br />
wenige Riesenkapitale und deren Spekulation ihr wil<strong>des</strong> Spiel begannen.<br />
Mit dem in der Geschichte der europäischen wie der amerikanischen Agrarverhältnisse denkwürdigen<br />
Jahre 1879 beginnt der Massenexport <strong>des</strong> Weizens der Union nach Europa.(11)<br />
<strong>Die</strong> Vorteile dieser Erweiterung <strong>des</strong> Absatzgebietes wurden selbstverständlich von dem<br />
Großkapital monopolisiert: <strong>Ein</strong>erseits wuchsen die Riesenfarmen, die den kleinen Farmer mit ihrer<br />
Konkurrenz erdrückten, andererseits wurde er zum Opfer der Spekulanten, die ihm sein Getreide<br />
aufkauften, um damit auf den Weltmarkt einen Druck auszuüben. Hilflos den gewaltigen Mächten <strong>des</strong><br />
<strong>Kapitals</strong> preisgegeben, verfiel der Farmer in Schulden - die typische Form <strong>des</strong> Unterganges der<br />
Bauernwirtschaft. <strong>Die</strong> Verschuldung der Farmen wurde bald zur öffentlichen Kalamität. Im Jahre 1890<br />
schrieb der Landwirtschaftsminister der Union, Rusk in einem speziellen Rundschreiben aus Anlaß der<br />
verzweifelten Lage der Farmer: "<strong>Die</strong> Last der Hypotheken auf den Farmen, den Häusern und dem Boden<br />
nimmt zweifellos höchst beunruhigende Dimensionen an; wiewohl in einzelnen Fällen die Anleihen<br />
zweifellos übereilig aufgenommen wurden, so führte dazu nichts<strong>des</strong>toweniger in der beträchtlichen<br />
Mehrzahl der Fälle die Notwendigkeit ... <strong>Die</strong>se Anleihen, die auf hohe Prozente aufgenommen wurden,<br />
sind infolge <strong>des</strong> Preisfalls der landwirtschaftlichen Produkte höchst drückend geworden und bedrohen<br />
den Farmer in vielen Fällen mit dem Verlust <strong>des</strong> Hauses und <strong>des</strong> Bodens. Das ist eine äußerst schwierige<br />
Frage für alle diejenigen, die die Übel zu kurieren bestrebt sind, an denen die Farmer leiden. Es stellt sich<br />
heraus, daß bei den gegenwärtigen Preisen der Farmer, um einen Dollar zu bekommen, mit dem er seine<br />
Schuld bezahlt, viel mehr Produkte verkaufen muß als damals, wo er diesen Dollar lieh. <strong>Die</strong> Prozente<br />
wachsen, während die Tilgung der Schuld offenbar eine ganz hoffnungslose Sache geworden, angesichts<br />
dieser gedrückten Lage aber, von der wir reden, ist die Erneuerung der Hypothekenaufnahme äußerst<br />
schwierig."(12) <strong>Die</strong> allgemeine Verschuldung <strong>des</strong> Bodens erstreckte sich nach dem Zensus vom 29. Mai<br />
1891 auf 2,5 Millionen Wirtschaften, davon zwei Drittel Betriebe der Farmereigentümer, die Höhe der<br />
Schuld dieser letzteren auf nahezu 2,2 Milliarden Dollar. "Auf diese Weise", schließt Peffer, "ist die<br />
Lage der Farmer höchst kritisch (farmers are passing through the "valley and shadow of death"); die<br />
Farm ist eine gewinnlose Sache geworden; der Preis der landwirtschaftlichen Produkte ist seit<br />
dem großen Kriege um 50 Prozent gefallen, der Wert der Farmen ist im letzten Jahrzehnt um 25 bis 50<br />
Prozent gesunken; die Farmer stecken bis über die Ohren in Schulden, die durch Hypotheken auf ihren<br />
Betrieben gesichert sind, ohne in vielen Fällen imstande zu sein, die Anleihe zu erneuern, da die<br />
Hypothek selbst immer mehr entwertet wird; viele Farmer gehen ihrer Betriebe verlustig, und die<br />
Mühlsteine der Verschuldung fahren fort, sie zu zermalmen. Wir befinden uns in den Händen einer<br />
erbarmungslosen Macht; die Farm geht zugrunde."(13)<br />
Dem verschuldeten und ruinierten Farmer blieb nichts anderes übrig, als entweder in Nebenverdiensten<br />
als Lohnarbeiter sein Heil zu suchen oder seine Wirtschaft ganz zu verlassen und den Staub <strong>des</strong><br />
"gelobten Lan<strong>des</strong>" <strong>des</strong> "Weizenparadieses", das für ihn zur Hölle geworden, von seinen Pantoffeln zu<br />
schütteln, vorausgesetzt, daß seine Farm nicht schon wegen Zahlungsunfähigkeit in die Krallen <strong>des</strong><br />
Gläubigers geriet, was mit Tausenden der Farmen der Fall war. Verlassene und verfallende Farmen<br />
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konnte man massenhaft um die Mitte der 80er Jahre beobachten. "Kann der Farmer zu den festgesetzten<br />
Terminen seine Schulden nicht bezahlen", schrieb Sering 1887 "so steigt der von ihm zu entrichtende<br />
Zins auf 12, 15, ja 20 Prozent. <strong>Die</strong> Bank, der Maschinenhändler, der Krämer drängen auf ihn ein und<br />
berauben ihn der Früchte seiner harten Arbeit ... Der Betreffende bleibt dann entweder als Pächter auf der<br />
Farm, oder er zieht weiter fort gegen Westen, um sein Glück von neuem zu versuchen. Nirgendwo in<br />
Nordamerika habe ich in der Tat so viele verschuldete, enttäuschte und mißvergnügte Farm er getroffen<br />
wie in den Weizendistrikten der nordwestlichen Prärien, keinen einzigen Farmer habe ich in Dakota<br />
gesprochen, der nicht bereit gewesen wäre, seine Farm zu verkaufen."(14) Der Kommissar der<br />
Landwirtschaft in Vermont teilte 1889 über die weit verbreitete Tatsache <strong>des</strong> Verlassens der Farmen mit:<br />
"In diesem Staate", schrieb er, "kann man große Strecken unbebauten, aber zum Anbau geeigneten<br />
Bodens finden, den man zu Preisen kaufen kann, die sich denjenigen in den Weststaaten nähern, dazu in<br />
der Nähe von Schulen und Kirchen und obendrein mit den Bequemlichkeiten der nahegelegenen<br />
Eisenbahn. Der Kommissar hat nicht alle Bezirke <strong>des</strong> Staates besucht, über die berichtet wird, er hat aber<br />
genug besucht, um sich zu überzeugen, daß ein bedeuten<strong>des</strong> Gebiet verlassenen, früher aber bebauten<br />
Lan<strong>des</strong> jetzt zu Ödland geworden ist, obwohl ein bedeutender Teil davon der tüchtigen Arbeit ein gutes<br />
<strong>Ein</strong>kommen liefern könnte."<br />
Der Kommissar <strong>des</strong> Staates New Hampshire veröffentlichte 1890 eine Schrift, in der 67 Seiten<br />
mit der Beschreibung von Farmen gefüllt sind, die zu den billigsten Preisen zu haben waren. Es sind<br />
darin 1.442 verlassene Farmen mit Wohngebäuden beschrieben, die erst vor kurzem aufgegeben wurden.<br />
Dasselbe auch in anderen Gegenden. Tausende von Acres Weizen- und Maiskulturen lagen brach und<br />
wurden zu Ödland. Um das verlassene Land wieder zu bevölkern, trieben die Bodenspekulanten eine<br />
raffinierte Reklame, und sie zogen neue Scharen <strong>Ein</strong>wanderer, neue Opfer ins Land, die dem Schicksal<br />
ihrer Vorgänger nur noch rascher anheimfielen.(15)<br />
"In der Nähe der Eisenbahnen und Absatzmärkte", hieß es in einem Privatbrief, "gibt es nirgends mehr<br />
staatliches Land, es ist ganz in den Händen der Spekulanten. Der Ansiedler übernimmt freies Land und<br />
zählt als Farmer. Aber seine Wirtschaft als Farm sichert ihm kaum die Existenz, und er kann unmöglich<br />
dem großen Farmer Konkurrenz machen. Er bebaut den gesetzlich vorgeschriebenen Pflichtteil seiner<br />
Farm, aber zur Unterstützung seines Wohlstan<strong>des</strong> muß er einen Nebenerwerb außerhalb der<br />
Landwirtschaft suchen. In Oregon z.B. habe ich einen Ansiedler getroffen, der während fünf Jahren<br />
Eigentümer von 160 Acres war, zur Sommerzeit aber, Ende Juni, am Wegebau arbeitete, 12 Stunden<br />
täglich für 1 Dollar Tageslohn. Auch dieser figurierte natürlich als <strong>Ein</strong>heit unter den 5 Millionen<br />
Farmern, die vom Zensus 1890 gezählt worden sind. Oder in Eldorado County sah ich z.B. viele Farmer,<br />
die den Boden nur in dem Umfang bebauten, um sich selbst und das Vieh zu ernähren, nicht aber für den<br />
Markt, denn das wäre unvorteilhaft; ihr Haupterwerb aber besteht im Goldgraben, Holzfällen und<br />
Holzverkauf usw. <strong>Die</strong>se Leute leben im Wohlstand, aber ihr Wohlstand rührt nicht von der<br />
Landwirtschaft her. Vor zwei Jahren arbeiteten wir in Long Cañon, Eldorado County, und wohnten die<br />
ganze Zeit in einer cabin auf einer Parzelle, deren Eigentümer nur einmal im Jahr für einige Tage nach<br />
Hause kam, die übrige Zeit aber in Sacramento an der Eisenbahn arbeitete, Seine Parzelle wurde gar<br />
nicht bebaut. Vor einigen Jahren wurde ein kleiner Teil davon angebaut, um dem Gesetz Genüge zu tun,<br />
einige Acres sind mit Drahtzaun eingezäunt, eine log cabin und ein Schuppen sind errichtet. Aber in den<br />
letzten Jahren steht das alles leer: Der Schlüssel von der Hütte befindet sich beim Nachbar, der uns auch<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 29. Kapitel<br />
die Hütte zur Verfügung gestellt hatte. Im Verlaufe unserer Wanderungen haben wir viele verlassene<br />
Parzellen gesehen, auf denen Versuche gemacht waren, die Wirtschaft zu führen. Vor drei Jahren wurde<br />
mir der Vorschlag gemacht, eine Farm mit Wohnhaus für 100 Dollar zu übernehmen. Später ist<br />
das leere Haus unter der Last <strong>des</strong> Schnees zusammengebrochen. In Oregon sahen wir viele verlassene<br />
Farmen mit Wohnhäuschen und Gemüsegärtchen. <strong>Ein</strong>s davon, das wir besucht haben, war ausgezeichnet<br />
gebaut: ein kräftiges von Meisterhand zusammengefügtes Blockhaus mit einigen Gerätschaften. Und<br />
alles das war vom Farmer verlassen. Jedermann konnte alles unentgeltlich in Besitz nehmen."(16)<br />
Wohin wendet sich der ruinierte Farmer der Union? - Er zieht mit seinem Wanderstab dem<br />
"Weizenzentrum" und den Eisenbahnen nach. Das Weizenparadies verschiebt sich zum Teil nach Kanada<br />
an den Saskatschewan und den Mackenziefluß, wo Weizen noch unter dem 62. Grad nördlicher Breite<br />
gedeiht. Ihm folgt ein Teil der Farmer der Union (17), um nach einiger Zeit in Kanada noch einmal<br />
dasselbe Schicksal durchzumachen. Kanada ist in den letzten Jahren auf dem Weltmarkt in die Reihe der<br />
Weizenausfuhrländer eingetreten, dort wird aber die Landwirtschaft noch mehr vom Großkapital<br />
beherrscht.(18)<br />
<strong>Die</strong> Verschleuderung der öffentlichen Ländereien an privatkapitalistische Gesellschaften ist in Kanada<br />
noch ungeheuerlicher betrieben worden als in den Vereinigten Staaten. Der Charter und Landgrant der<br />
kanadischen Pazifikbahngesellschaft ist etwas Beispielloses an öffentlichem Raub durch das<br />
Privatkapital. Der Gesellschaft war nicht bloß das Monopol auf den Eisenbahnbau für 20 Jahre gesichert,<br />
die ganze zu bebauende Strecke von etwa 713 englischen Meilen im Werte von zirka 35 Millionen Dollar<br />
gratis zur Verfügung gestellt, nicht bloß hatte der Staat auf 10 Jahre eine Zinsgarantie für 3<br />
Prozent auf das Aktienkapital von 100 Millionen Dollar übernommen und ein bares Darlehen von 27 1/2<br />
Millionen Dollar gewährt. Außer alledem ist der Gesellschaft ein Landgebiet von 25 Millionen Acres<br />
geschenkt worden. und zwar zur beliebigen Auswahl unter den fruchtbarsten und bestgelegenen<br />
Ländereien auch außerhalb <strong>des</strong> unmittelbar die Bahn begleitenden Gürtels. Alle die künftigen Ansiedler<br />
auf der<br />
ungeheuren Fläche waren so von vornherein dem Eisenbahnkapital auf Gnade und Ungnade<br />
überantwortet. <strong>Die</strong> Eisenbahnkompanie hat ihrerseits 5 Millionen Acres, um sie möglichst rasch zu Geld<br />
zu machen, gleich weiter an die Nordwest-Landkompanie, d.h. an eine Vereinigung von englischen<br />
Kapitalisten unter Führung <strong>des</strong> Herzogs von Manchester verschleudert. <strong>Die</strong> zweite Kapitalgruppe, an die<br />
öffentliche Ländereien mit vollen Händen verschenkt wurden, ist die Hudsonbaikompanie, die für den<br />
Verzicht auf ihre Privilegien im Nordwesten einen Anspruch auf nicht weniger als ein Zwanzigstel allen<br />
Lan<strong>des</strong> in dem ganzen Gebiet zwischen dem Lake Winnipeg, der Grenze der Vereinigten Staaten, den<br />
Rocky Mountains und dem nördlichen Saskatschewan erhielt. <strong>Die</strong> zwei Kapitalgruppen haben so<br />
zusammen fünf Neuntel <strong>des</strong> besiedelungsfähigen Lan<strong>des</strong> in ihre Hände bekommen. Von den übrigen<br />
Ländereien hatte der Staat einen bedeutenden Teil 26 kapitalistischen "Kolonisationsgesellschaften"<br />
zugewiesen.(19) So befindet sich der Farmer in Kanada fast von allen Seiten in den Netzen <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong><br />
und seiner Spekulation. Und trotzdem die Masseneinwanderung nicht nur aus Europa, sondern auch aus<br />
den Vereinigten Staaten!<br />
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<strong>Die</strong>s sind die Züge der <strong>Kapitals</strong>herrschaft auf der Weltbühne: Aus England trieb sie den Bauern,<br />
nachdem sie ihn vom Boden verdrängt hatte, nach dem Osten der Vereinigten Staaten, vom Osten nach<br />
dem Westen, um aus ihm auf den Trümmern der Indianerwirtschaft wieder einen kleinen<br />
Warenproduzenten zu machen, vom Westen treibt sie ihn, abermals ruiniert, nach dem Norden - die<br />
Eisenbahnen voran und den Ruin hinterher, d.h. das Kapital als Führer vor sich und das Kapital als<br />
Totschläger hinter sich. <strong>Die</strong> allgemeine zunehmende Teuerung der landwirtschaftlichen Produkte ist<br />
wieder an Stelle <strong>des</strong> tiefen Preisfalls der 90er Jahre getreten, aber der amerikanische kleine Farmer hat<br />
davon sowenig Nutzen wie der europäische Bauer.<br />
<strong>Die</strong> Anzahl der Farmen wächst freilich unaufhörlich. Im letzten Jahrzehnt <strong>des</strong> vorigen Jahrhunderts ist<br />
sie von 4,6 Millionen auf 5,7 Millionen gewachsen, und auch im letzten Jahrzehnt ist sie absolut<br />
gestiegen. Gleichzeitig stieg der Gesamtwert der Farmen; während der letzten zehn Jahre ist er von 751,2<br />
Millionen Dollar auf 1.652,8 Millionen Dollar gewachsen.(20) <strong>Die</strong> allgemeine Steigerung der Preise für<br />
Bodenprodukte hätte dem Farmer anscheinend auf einen grünen Zweig verhelfen sollen. Trotzdem sehen<br />
wir, daß die Zahl der Pächter unter den Farmern noch rascher wächst als die Zahl der Farmer im ganzen.<br />
<strong>Die</strong> Pächter bildeten im Verhältnis zur Gesamtzahl der Farmer der Union<br />
1880 25,5%<br />
1890 28,4%<br />
1900 35,3%<br />
1910 37,2%<br />
Trotz der Steigerung der Preise für Bodenprodukte machen die Farmereigentümer relativ immer mehr<br />
den Pächtern Platz. <strong>Die</strong>se aber, die jetzt schon weit über ein Drittel aller Farmer der Union darstellen,<br />
sind in den Vereinigten Staaten die unseren europäischen Landarbeitern entsprechende Schicht, die<br />
richtigen Lohnsklaven <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, das beständig fluktuierende Element, das unter äußerster<br />
Anspannung der Kräfte für das Kapital Reichtümer schafft, ohne für sich selbst etwas anderes als eine<br />
elende und unsichere Existenz herausschlagen zu können.<br />
Derselbe Prozeß in einem ganz anderen historischen Rahmen - in Südafrika - zeigt noch deutlicher die<br />
"friedlichen Methoden" <strong>des</strong> kapitalistischen Wettbewerbs mit dem kleinen Warenproduzenten.<br />
Bis zu den 60er Jahren <strong>des</strong> vorigen Jahrhunderts herrschten in der Kapkolonie und in den<br />
Burenrepubliken rein bäuerliche Verhältnisse. <strong>Die</strong> Buren führten lange Zeit das Leben nomadisierender<br />
Viehzüchter, indem sie den Hottentotten und Kaffern die besten Weideplätze wegnahmen, sie selbst nach<br />
Kräften ausrotteten oder verdrängten. Im 18. Jahrhundert leistete ihnen die von den Schiffen der<br />
Ostindischen Kompanie verschleppte Pest treffliche <strong>Die</strong>nste, indem sie wiederholt ganze<br />
Hottentottenstämme dahinraffte und so für die holländischen <strong>Ein</strong>wanderer den Boden frei machte. Durch<br />
ihre Ausbreitung nach dem Osten prallten sie mit den Bantustämmen zusammen und eröffneten die lange<br />
Periode der furchtbaren Kaffernkriege. <strong>Die</strong> frommen und bibelfesten Holländer, die sich auf ihre<br />
altmodische puritanische Sittenstrenge und ihre Kenntnis <strong>des</strong> Alten Testaments als "auserwähltes Volk"<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 29. Kapitel<br />
nicht wenig zugute taten, begnügten sich jedoch nicht mit dem Raub der Ländereien der<br />
<strong>Ein</strong>geborenen, sondern sie richteten ihre bäuerliche Wirtschaft wie Parasiten auf eiern Rücken der Neger<br />
ein, die sie zur Sklavenarbeit für sich zwangen und zu diesem Behufe systematisch und zielbewußt<br />
korrumpierten und entnervten. Der Branntwein spielte dabei eine so wesentliche Rolle, daß das<br />
Branntweinverbot der englischen Regierung in der Kapkolonie an dem Widerstand der Puritaner<br />
scheiterte. Im allgemeinen blieb die Wirtschaft der Buren bis in die 60er Jahre vorwiegend<br />
patriarchalisch und naturalwirtschaftlich. Wurde doch erst 1859 die erste Eisenbahn in Südafrika gebaut.<br />
Der patriarchalische Charakter verhinderte freilich keineswegs die äußerste Härte und Roheit der Buren.<br />
Livingstone beklagte sich bekanntlich viel mehr über die Buren als über die Kaffern. <strong>Die</strong> Neger schienen<br />
ihnen ein so von Gott und Natur zur Sklavenarbeit für sie bestimmtes Objekt, eine so unentbehrliche<br />
Grundlage der Bauernwirtschaft zu sein, daß sie die Aufhebung der Sklaverei in den englischen Kolonien<br />
im Jahre 1836, trotz der Abfindung der Eigentümer hier mit 3 Millionen Pfund Sterling, mit dem "großen<br />
Treck" beantworteten. <strong>Die</strong> Buren wanderten aus der Kapkolonie über den Oranje und Vaal aus, trieben<br />
dabei die Matabeles nach Norden über den Limpopo und hetzten sie den Makalakas auf den Hals. Wie<br />
der amerikanische Farmer unter den Streichen der <strong>Kapitals</strong>wirtschaft die Indianer vor sich her nach dem<br />
Westen, so trieb der Bur die Neger nach dem Norden. <strong>Die</strong> "freien Republiken" zwischen Oranje und<br />
Limpopo entstanden so als Protest gegen den Anschlag der englischen Bourgeoisie auf das geheiligte<br />
Recht der Sklaverei. <strong>Die</strong> winzigen Bauernrepubliken lagen im ständigen Guerillakrieg mit den<br />
Bantunegern. Auf dem Rücken der Neger wurde nun der jahrzehntelange Kampf zwischen den Buren<br />
und der englischen Regierung ausgefochten. Als Vorwand zum Konflikt zwischen England und den<br />
Republiken diente die Negerfrage, nämlich die angeblich von der englischen Bourgeoisie angestrebte<br />
Emanzipation der Neger. In Wirklichkeit traten hier die Bauernwirtschaft und die großkapitalistische<br />
Kolonialpolitik in Konkurrenzkampf miteinander um die Hottentotten und Kaffern, d.h. um ihr Land und<br />
ihre Arbeitskraft. Das Ziel beider Konkurrenten war genau dasselbe: Niederwerfung, Verdrängung oder<br />
Ausrottung der Farbigen, Zerstörung ihrer sozialen Organisation, Aneignung ihres Grund und Bodens<br />
und Erzwingung ihrer Arbeit im <strong>Die</strong>nste der Ausbeutung. Nur die Methoden waren grundverschieden.<br />
<strong>Die</strong> Buren vertraten die veraltete Sklaverei im kleinen als Grundlage einer patriarchalischen<br />
Bauernwirtschaft, die englische Bourgeoisie - die moderne großangelegte kapitalistische Ausbeutung <strong>des</strong><br />
Lan<strong>des</strong> und der <strong>Ein</strong>geborenen. Das Grundgesetz der Transvaalrepublik erklärte mit bornierter<br />
Schroffheit: "Das Volk duldet keine Gleichheit zwischen Weißen und Schwarzen weder im Staat noch in<br />
der Kirche." In Oranje und in Transvaal durfte kein Neger Land besitzen und ohne Paß reisen oder sich<br />
bei Dunkelheit auf der Straße sehen lassen. Bryce erzählt einen Fall, wo ein Bauer (und zwar ein<br />
Engländer) im östlichen Kapland seinen Kaffer zu Tode gepeitscht hatte. Als der Bauer, vor Gericht<br />
gestellt, freigesprochen wurde, brachten ihn seine Nachbarn mit Musik nach Haus. Häufig suchten sich<br />
die Weißen auch der Löhnung an freie eingeborene Arbeiter dadurch zu entziehen, daß sie sie nach<br />
getaner Arbeit durch Mißhandlungen zur Flucht zwangen.<br />
<strong>Die</strong> englische Regierung befolgte die gerade entgegengesetzte Taktik. Sie trat lange Zeit als die<br />
Beschützerin der <strong>Ein</strong>geborenen auf, umschmeichelte namentlich die Häuptlinge, stützte ihre Autorität<br />
und suchte ihnen das Recht der Disposition über Ländereien zu oktroyieren. Ja, sie machte die<br />
Häuptlinge, soweit es ging, nach bewährter Methode zu Eigentümern <strong>des</strong> Stammlan<strong>des</strong>, obwohl dies dem<br />
Herkommen und den tatsächlichen sozialen Verhältnissen der Neger ins Gesicht schlug. Das Land war<br />
nämlich bei sämtlichen Stämmen Gemeineigentum, und selbst die grausamsten, <strong>des</strong>potischsten<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 29. Kapitel<br />
Herrscher, wie der Matabelehäuptling Lobengula, hatten nur das Recht und die Pflicht, jeder Familie eine<br />
Parzelle zum Anbau anzuweisen, die auch nur so lange im Besitze der Familie blieb, wie sie tatsächlich<br />
bearbeitet wurde. Der Endzweck der englischen Politik war klar: Sie bereitete von langer Hand den<br />
Landraub im großen Stil vor, wobei sie die Häuptlinge der <strong>Ein</strong>geborenen selbst zu ihren Werkzeugen<br />
machte. Vorerst beschränkte sie sich auf die "Pazifizierung" der Neger durch große militärische<br />
Aktionen. Neun blutige Kaffernkriege wurden bis 1879 durchgeführt, um den Widerstand der Bantus zu<br />
brechen.<br />
Offen und mit aller Energie rückte das englische Kapital mit seinen eigentlichen Absichten erst heraus,<br />
als zwei wichtige Ereignisse: die Entdeckung der Diamantfelder Kimberleys 1867/70 und die<br />
Entdeckung der Goldminen Transvaals 1882/83 eine neue Epoche in der Geschichte Südafrikas<br />
eröffneten. Bald trat die Britisch-Südafrikanische Gesellschaft, d.h. Cecil Rho<strong>des</strong> in Aktion. In der<br />
öffentlichen Meinung Englands vollzog sich ein rapider Umschwung. <strong>Die</strong> Gier nach den<br />
südafrikanischen Schätzen trieb die englische Regierung zu energischen Schritten an. Keine <br />
Kosten und keine Blutopfer schienen der englischen Bourgeoisie zu groß, um sich der Länder in<br />
Südafrika zu bemächtigen. Hierher ergoß sich plötzlich ein gewaltiger Strom der <strong>Ein</strong>wanderung. Bis<br />
dahin war sie gering; die Vereinigten Staaten lenkten die europäische Emigration von Afrika ab. Seit den<br />
Entdeckungen der Diamant- und Goldfelder wuchs die Anzahl der Weißen in den südafrikanischen<br />
Kolonien sprunghaft: 1885-1895 waren 100.000 Engländer am Witwatersrand allein eingewandert. <strong>Die</strong><br />
bescheidene Bauernwirtschaft wurde nun in den Hintergrund geschoben, der Bergbau rückte an die erste<br />
Stelle und mit ihm das Grubenkapital.<br />
<strong>Die</strong> englische Regierung machte nun einen schroffen Frontwechsel in ihrer Politik. In den 50er Jahren<br />
hatte England durch den Sand-River-Vertrag und durch den Bloemfontein-Vertrag die Burenrepubliken<br />
anerkannt. Jetzt begann die politische <strong>Ein</strong>kreisung der Bauernstaaten durch die Okkupation aller Gebiete<br />
um die winzigen Republiken herum, um ihnen jede Ausdehnung abzuschneiden, gleichzeitig wurden die<br />
lange beschützten und begönnerten Neger geschluckt. Schlag auf Schlag rückte das englische Kapital<br />
vor. 1868 nahm England das Basutoland - natürlich auf "wiederholtes Flehen" der <strong>Ein</strong>geborenen – unter<br />
seine Herrschaft.(21) 1871 wurden die Diamantfelder am Witwatersrand als "Westgriqualand" dem<br />
Oranjestaat entrissen und zur Kronkolonie gemacht, 1879 wurde das Zululand unterworfen, um später<br />
der Kolonie Natal einverleibt zu werden, 1885 wurde das Betschuanaland unterworfen und nachher der<br />
Kapkolonie angegliedert, 1888 unterwarf sich England die Matabele und das Maschonaland; 1889 bekam<br />
die Britisch-Südafrikanische Gesellschaft den Charter auf beide Gebiete - auch dies natürlich nur aus<br />
Gefälligkeit für die <strong>Ein</strong>geborenen und auf ihre inständigen Bitten (22), 1884 und 1887 wurde die St.-<br />
Lucia-Bai und die ganze Ostküste bis zum portugiesischen Besitz von England annektiert; 1894 nahm<br />
England das Tongaland in Besitz. <strong>Die</strong> Matabele und Maschona rafften sich noch zu einem<br />
Verzweiflungskampf auf, aber die Gesellschaft, mit Rho<strong>des</strong> an der Spitze, erstickte den Aufstand erst im<br />
Blute, um dann das probate Mittel der Zivilisierung und Pazifizierung der <strong>Ein</strong>geborenen anzuwenden:<br />
zwei große Eisenbahnen wurden im aufrührerischen Gebiet gebaut.<br />
Den Burenrepubliken wurde in dieser plötzlichen Umklammerung immer schwüler. Aber auch im Innern<br />
ging alles drunter und drüber. Der mächtige Strom der <strong>Ein</strong>wanderung und die Wellen der neuen<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 29. Kapitel<br />
fieberhaften <strong>Kapitals</strong>wirtschaft drohten alsbald die Schranken der kleinen Bauernstaaten zu sprengen.<br />
Der Widerspruch zwischen der Bauernwirtschaft auf dem Felde wie im Staate und den Anforderungen<br />
und Bedürfnissen der Kapitalakkumulation war in der Tat ein schreiender. Auf Schritt und Tritt<br />
versagten die Republiken gegenüber den neuen Aufgaben. Unbeholfenheit und Primitivität der<br />
Administration, die ständige Kafferngefahr, die wohl von England nicht mit scheelen Blicken angesehen<br />
war, Korruption, die sich in den Volksrand eingeschlichen hatte und durch Bestechung den Willen der<br />
Großkapitalisten durchsetzte, das Fehlen der Sicherheitspolizei, um die zuchtlose Gesellschaft der<br />
Glücksritter im Zaume zu halten, Mangel an Wasserzufuhr und Verkehrsmitteln zur Versorgung einer<br />
plötzlich aufgeschossenen Kolonie von 100.000 <strong>Ein</strong>wanderern, mangelnde Arbeitergesetze, um die<br />
Ausbeutung der Neger im Bergbau zu regeln und zu sichern, hohe Schutzzölle, die den Kapitalisten die<br />
Arbeitskraft verteuerten, hohe Frachten für Kohle - alles das fügte sich zu einem plötzlichen und<br />
betäubenden Bankrott der Bauernrepubliken zusammen.<br />
In ihrer plumpen Borniertheit wehrten sie sich gegen die Schlamm- und Lavaflut <strong>des</strong> Kapitalismus, die<br />
sie verschlang, durch das denkbar primitivste Mittel, das nur im Arsenal der dickköpfigen und starren<br />
Bauern zu finden war: Sie schlossen die Masse der "Uitlander", die sie an Zahl weitaus übertraf und<br />
ihnen gegenüber das Kapital, die Macht, den Zug der Zeit vertrat, von jeglichen politischen Rechten aus.<br />
Aber das war nur ein schlechter Spaß, und die Zeiten waren ernst. <strong>Die</strong> Dividenden litten empfindlich<br />
unter der bäuerlich-republikanischen Mißwirtschaft und konnten sie nicht länger dulden. Das<br />
Grubenkapital revoltierte. <strong>Die</strong> Britisch-Südafrikanische Gesellschaft baute Eisenbahnen, warf Kaffern<br />
nieder, organisierte Aufstände der Uitlander, provozierte endlich den Burenkrieg. <strong>Die</strong> Stunde der<br />
Bauernwirtschaft hatte geschlagen. In den Vereinig- ten Staaten war der Krieg Ausgangspunkt der<br />
Umwälzung, in Südafrika war er ihr Abschluß. Das Ergebnis war dasselbe: der Sieg <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong> über die<br />
kleine Bauernwirtschaft, die ihrerseits auf den Trümmern der primitiven naturalwirtschaftlichen<br />
Organisation der <strong>Ein</strong>geborenen erstanden war. Der Widerstand der Burenrepubliken gegen England war<br />
ebenso aussichtslos wie der Widerstand <strong>des</strong> amerikanischen Farmers gegen die <strong>Kapitals</strong>herrschaft in den<br />
Vereinigten Staaten. In der neuen Südafrikanischen Union, die, eine Verwirklichung <strong>des</strong><br />
imperialistischen Programms Cecil Rho<strong>des</strong>', an Stelle der kleinen Bauernrepubliken einen modernen<br />
Großstaat setzt, hat nunmehr das Kapital offiziell das Kommando übernommen. Der alte Gegensatz<br />
zwischen Engländern und Holländern ist in dem neuen Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit ertränkt<br />
worden:<br />
Beide Nationen haben ihre rührende Verbrüderung in der Union mit der bürgerlichen und politischen<br />
Entrechtung von 5 Millionen farbiger Arbeiterbevölkerung durch eine Million weißer Ausbeuter<br />
besiegelt. Dabei sind nicht bloß die Neger der Burenrepubliken leer ausgegangen, sondern den Negern<br />
der Kapkolonie, die von der englischen Regierung ehemals politische Gleichberechtigung erhalten<br />
hatten, ihre Rechte zum Teil genommen worden. Und dieses edle Werk, das die imperialistische Politik<br />
der Konservativen durch einen schamlosen Gewaltstreich gekrönt hat, sollte gerade von der liberalen<br />
Partei vollendet werden - unter dem frenetischen Beifall "der liberalen Kretins Europas", die mit Stolz<br />
und Rührung in der völligen Selbstverwaltung und Freiheit, die England der Handvoll Weißer in<br />
Südafrika schenkte, den Beweis feierten, welche schöpferische Macht und Größe doch noch dem<br />
Liberalismus in England innewohne.<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 29. Kapitel<br />
Der Ruin <strong>des</strong> selbständigen Handwerks durch die Konkurrenz <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong> ist ein Kapitel für sich, das<br />
weniger geräuschvoll, aber nicht minder qualvoll ist. <strong>Die</strong> kapitalistische Hausindustrie ist der dunkelste<br />
Abschnitt dieses Kapitels. Es erübrigt sich hier, auf diese Erscheinungen näher einzugehen.<br />
Allgemeines Resultat <strong>des</strong> Kampfes zwischen Kapitalismus und einfacher Warenwirtschaft ist dies: Das<br />
Kapital tritt selbst an Stelle der einfachen Warenwirtschaft, nachdem es die Warenwirtschaft an Stelle<br />
der Naturalwirtschaft gesetzt hatte. Wenn der Kapitalismus also von nichtkapitalistischen Formationen<br />
lebt, so lebt er, genauer gesprochen, von dem Ruin dieser Formationen, und wenn er <strong>des</strong><br />
nichtkapitalistischen Milieus zur <strong>Akkumulation</strong> unbedingt bedarf, so braucht er es als Nährboden, auf<br />
<strong>des</strong>sen Kosten, durch <strong>des</strong>sen Aufsaugung die <strong>Akkumulation</strong> sich vollzieht. Historisch aufgefaßt.<br />
ist die Kapitalakkumulation ein Prozeß <strong>des</strong> Stoffwechsels, der sich zwischen der kapitalistischen und den<br />
vorkapitalistischen Produktionsweisen vollzieht. Ohne sie kann die <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong> nicht vor<br />
sich gehen, die <strong>Akkumulation</strong> besteht aber, von dieser Seite genommen, im Zernagen und im<br />
Assimilieren jener. <strong>Die</strong> Kapitalakkumulation kann demnach sowenig ohne die nichtkapitalistischen<br />
Formationen existieren, wie jene neben ihr zu existieren vermögen. Nur im ständigen fortschreitenden<br />
Zerbröckeln jener sind die Daseinsbedingungen der Kapitalakkumulation gegeben.<br />
Das, was Marx als die Voraussetzung seines Schemas der <strong>Akkumulation</strong> angenommen hat, entspricht<br />
also nur der objektiven geschichtlichen Tendenz der <strong>Akkumulation</strong>sbewegung und ihrem theoretischen<br />
Endresultat. Der <strong>Akkumulation</strong>sprozeß hat die Bestrebung, überall an Stelle der Naturalwirtschaft die<br />
einfache Warenwirtschaft, an Stelle der einfachen Warenwirtschaft die kapitalistische Wirtschaft zu<br />
setzen, die Kapitalproduktion als die einzige und ausschließliche Produktionsweise in sämtlichen<br />
Ländern und Zweigen zur absoluten Herrschaft zu bringen.<br />
Hier beginnt aber die Sackgasse. Das Endresultat einmal erreicht - was jedoch nur theoretische<br />
Konstruktion bleibt -, wird die <strong>Akkumulation</strong> zur Unmöglichkeit: <strong>Die</strong> Realisierung und Kapitalisierung<br />
<strong>des</strong> Mehrwerts verwandelt sich in eine unlösbare Aufgabe. In dem Moment, wo das Marxsche Schema<br />
der erweiterten Reproduktion der Wirklichkeit entspricht, zeigt es den Ausgang, die historische Schranke<br />
der <strong>Akkumulation</strong>sbewegung an, also das Ende der kapitalistischen Produktion. <strong>Die</strong> Unmöglichkeit der<br />
<strong>Akkumulation</strong> bedeutet kapitalistisch die Unmöglichkeit der weiteren Entfaltung der Produktivkräfte und<br />
damit die objektive geschichtliche Notwendigkeit <strong>des</strong> Untergangs <strong>des</strong> Kapitalismus. Daraus ergibt sich<br />
die widerspruchsvolle Bewegung der letzten, imperialistischen Phase als der Schlußperiode in der<br />
geschichtlichen Laufbahn <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>.<br />
Das Marxsche Schema der erweiterten Reproduktion entspricht somit nicht den Bedingungen der<br />
<strong>Akkumulation</strong>, solange diese fortschreitet; sie läßt sich nicht in die festen Wechselbeziehungen und<br />
Abhängigkeiten zwischen den beiden großen Abteilungen der gesellschaftlichen Produktion (Abteilung<br />
der Produktionsmittel und Abteilung der Konsumtionsmittel) bannen, die das Schema formuliert. <strong>Die</strong><br />
<strong>Akkumulation</strong> ist nicht bloß ein inneres Verhältnis zwischen den Zweigen der kapitalistischen<br />
Wirtschaft, sondern vor allem ein Verhältnis zwischen Kapital und dem nichtkapitalistischen Milieu, in<br />
dem jeder der beiden großen Zweige der Produktion den <strong>Akkumulation</strong>sprozeß zum Teil auf<br />
eigene Faust unabhängig vom anderen durchmachen kann, wobei sich die Bewegung beider wieder auf<br />
Schritt und Tritt kreuzt und ineinander verschlingt. <strong>Die</strong> sich daraus ergebenden komplizierten<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 29. Kapitel<br />
Beziehungen, die Verschiedenheit <strong>des</strong> Tempos und der Richtung im Gang der <strong>Akkumulation</strong> beider<br />
Abteilungen, ihre sachlichen und Wertzusammenhänge mit nichtkapitalistischen Produktionsformen,<br />
lassen sich nicht unter einen exakten schematischen Ausdruck bringen. Das Marxsche Schema der<br />
<strong>Akkumulation</strong> ist nur der theoretische Ausdruck für denjenigen Moment, wo die <strong>Kapitals</strong>herrschaft ihre<br />
letzte Schranke erreicht haben wird, und insofern ist es ebenso wissenschaftliche Fiktion wie sein<br />
Schema der einfachen Reproduktion, das den Ausgangspunkt der kapitalistischen Produktion theoretisch<br />
formuliert. Aber zwischen diesen beiden Fiktionen allein ist die exakte Erkenntnis der<br />
Kapitalakkumulation und ihrer Gesetze eingeschlossen.<br />
Fußnoten von <strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong><br />
(1) In China hat sich das häusliche Gewerbe bis in die jüngste Zeit sogar beim Bürgertum in weitem<br />
Maße erhalten, selbst in so großen und alten Handelsstädten, wie z.B. Ningpo mit seinen 300.000<br />
<strong>Ein</strong>wohnern. "Noch vor einem Menschenalter machten die Frauen selbst Schuhe, Hüte, Hemden und<br />
sonstiges für ihre Männer und für sich. Es erregte damals in Ningpo viel Aufsehen. wenn eine junge Frau<br />
irgend etwas bei einem Händler einkaufte, was sie durch den Fleiß ihrer Hände selbst hätte herstellen<br />
können." (Nyok-Ching Tsur: <strong>Die</strong> gewerblichen Betriebsformen der Stadt Ningpo. Tübingen 1909. S. 51.)<br />
<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 29. Kapitel<br />
(6) "The necessity of the Situation, the critical state of the country, the urgent need of revenue, may have<br />
justified this haste, which, it is safe to say, is unexampled in the history of civilized countries." (Taussig:<br />
l.c., S. 168.)
<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 29. Kapitel<br />
1874/75 71,8<br />
1879/80 153,2<br />
1885/86 57,7<br />
1890/91 55,1<br />
1899/1900 101,9<br />
(Juratcheks Übersichten der Weltwirtschaft, Bd. VII, Abt. I. S. 32.<br />
Gleichzeitig ging der Preis pro Bushel Weizen loco Farm in Cents folgendermaßen herunter:<br />
1870/79 105<br />
1880/89 83<br />
1895 51<br />
1896 73<br />
1887 81<br />
1898 58<br />
Seit 1883, wo er den Tiefstand von 58 Cents pro Bushel erreicht hat, bewegt sich der Preis wieder<br />
aufwärts:<br />
1900 62<br />
1901 62<br />
1902 63<br />
1903 70<br />
1904 92<br />
(Juraschek: l.c., S. 18.)<br />
Nach den "Monatlichen Nachweisen über den auswärtigen Handel" stand der Preis pro 1.000 Kilogramm<br />
im Juni 1912 in Mark:<br />
<strong>Berlin</strong><br />
Weizen<br />
227,82<br />
Mannheim 247,93<br />
O<strong>des</strong>sa 173,94<br />
New York 178,08<br />
London 170,96<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 29. Kapitel<br />
Paris 243,69<br />
(12) Zit. bei: Peffer: l.c., Teil I: Where we are, Kapitel II: Progress of Agriculture, S. 30/31.
<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 29. Kapitel<br />
(21) "Moshesh, the great Basuto leader, tho whose courage and statesmanship the Basutos owed their<br />
very existence as a people, was still alive at the time, but constant war with the Boers of the Orange Free<br />
State had brought him and his followers to the last stage of distress. Two thousand Basuto warriors had<br />
been killed, cattle had been carried off, native homes had been broken up and crops <strong>des</strong>troyed. The tribe<br />
was reduced to the position of starving refugees, and nothing could save them but the protection of the<br />
British Government, which they had repeatedly implored." (C. P. Lucas: A Historical Geography of the<br />
British Colonies, Oxford, Bd. IV, S. 60.)
<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 30. Kapitel<br />
29. Kapitel | Inhalt | 31. Kapitel<br />
<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - Gesammelte Werke. Herausgegeben vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Band<br />
5. <strong>Berlin</strong>/DDR. 1975. "<strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>", S. 365-391.<br />
1. Korrektur.<br />
Erstellt am 20.10.1998<br />
Dreißigstes Kapitel<br />
<strong>Die</strong> internationale Anleihe<br />
<strong>Die</strong> imperialistische Phase der Kapitalakkumulation oder die Phase der Weltkonkurrenz <strong>des</strong><br />
<strong>Kapitals</strong> umfaßt die Industrialisierung und kapitalistische Emanzipation der früheren Hinterländer <strong>des</strong><br />
<strong>Kapitals</strong>, in denen es die Realisierung seines Mehrwerts vollzog. <strong>Die</strong> spezifischen Operationsmethoden<br />
dieser Phase sind: auswärtige Anleihen, Eisenbahnbauten, Revolutionen und Kriege. Das letzte<br />
Jahrzehnt, 1900-1910, ist besonders charakteristisch für die imperialistische Weltbewegung <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>,<br />
namentlich in Asien und dem an Asien angrenzenden Teil Europas: Rußland, Türkei, Persien, Indien,<br />
Japan, China, sowie in Nordafrika. Wie die Ausbreitung der Warenwirtschaft an Stelle der<br />
Naturalwirtschaft und der Kapitalproduktion an Stelle der einfachen Warenproduktion sich durch Kriege,<br />
soziale Krisen und Vernichtung ganzer sozialer Formationen durchsetzte, so setzt sich gegenwärtig die<br />
kapitalistische Verselbständigung der ökonomischen Hinterländer und Kolonien inmitten von<br />
Revolutionen und Kriegen durch. <strong>Die</strong> Revolution ist in dem Prozeß der kapitalistischen Emanzipation<br />
der Hinterländer notwendig, um die aus den Zeiten der Naturalwirtschaft und der einfachen<br />
Warenwirtschaft übernommene, <strong>des</strong>halb veraltete Staatsform zu sprengen und einen für die Zwecke der<br />
kapitalistischen Produktion zugeschnittenen modernen Staatsapparat zu schaffen. Dahin gehören die<br />
russische, die türkische und die chinesische Revolution. Daß diese Revolutionen, wie namentlich<br />
die russische und die chinesische, gleichzeitig mit den direkten politischen Anforderungen der<br />
<strong>Kapitals</strong>herrschaft teils allerlei veraltete vorkapitalistische Rechnungen, teils ganz neue, sich bereits<br />
gegen die <strong>Kapitals</strong>herrschaft richtende Gegensätze aufnehmen und an die Oberfläche zerren, bedingt ihre<br />
Tiefe und ihre gewaltige Tragkraft, erschwert aber und verzögert zugleich ihren siegreichen Verlauf. Der<br />
Krieg ist gewöhnlich die Methode eines jungen kapitalistischen Staates, um die Vormundschaft der alten<br />
abzustreifen, die Feuertaufe und Probe der kapitalistischen Selbständigkeit eines modernen Staates,<br />
weshalb die Militärreform und mit ihr die Finanzreform überall die <strong>Ein</strong>leitung zur wirtschaftlichen<br />
Verselbständigung bilden.<br />
<strong>Die</strong> Entwicklung <strong>des</strong> Eisenbahnnetzes widerspiegelt ungefähr das Vordringen <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>. Das<br />
Eisenbahnnetz wuchs am raschesten in den 40er Jahren in Europa, in den 50er Jahren in Amerika, in den<br />
60er Jahren in Asien, in den 70er und 80er Jahren in Australien, in den 90er Jahren in Afrika.(1)<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 30. Kapitel<br />
<strong>Die</strong> mit dem Eisenbahnbau wie mit den Militärrüstungen verknüpfte öffentliche Anleihe begleitet alle<br />
Stadien der Kapitalakkumulation: die <strong>Ein</strong>führung der Warenwirtschaft, die Industrialisierung der Länder<br />
und kapitalistische Revolutionierung der Landwirtschaft wie auch die Emanzipation der jungen<br />
kapitalistischen Staaten. <strong>Die</strong> Funktionen der Anleihe in der Kapitalakkumulation sind mannigfache:<br />
Verwandlung von Geld nichtkapitalistischer Schichten, Geld als Warenäquivalent (Ersparnisse <strong>des</strong><br />
kleinen Mittelstan<strong>des</strong>) oder Geld als Konsumtionsfonds <strong>des</strong> Anhanges der Kapitalistenklasse in<br />
Kapital, Verwandlung von Geldkapital in produktives Kapital vermittelst staatlicher Eisenbahnbauten<br />
und Militärlieferungen, Übertragung akkumulierten <strong>Kapitals</strong> aus alten kapitalistischen Ländern in junge.<br />
<strong>Die</strong> Anleihe übertrug im 16. und 17. Jahrhundert das Kapital aus den italienischen Städten nach England,<br />
im 18. Jahrhundert aus Holland nach England, im 19. Jahrhundert aus England nach den amerikanischen<br />
Republiken und nach Australien, aus Frankreich, Deutschland und Belgien nach Rußland, gegenwärtig<br />
aus Deutschland nach der Türkei, aus England, Deutschland, Frankreich nach China und unter<br />
Vermittlung Rußlands nach Persien.<br />
In der imperialistischen Periode spielt die äußere Anleihe die hervorragendste Rolle als Mittel der<br />
Verselbständigung junger kapitalistischer Staaten. Das Widerspruchsvolle der imperialistischen Phase<br />
äußert sich handgreiflich in den Widersprüchen <strong>des</strong> modernen Systems der äußeren Anleihen. <strong>Die</strong>se sind<br />
unentbehrlich zur Emanzipation der aufstrebenden kapitalistischen Staaten und zugleich das sicherste<br />
Mittel für alte kapitalistische Staaten, die jungen zu bevormunden, die Kontrolle ihrer Finanzen und den<br />
Druck auf ihre auswärtige Politik, Zoll- und Handelspolitik auszuüben. Sie sind das hervorragendste<br />
Mittel, dem akkumulierten Kapital alter Länder neue Anlagesphären zu eröffnen und zugleich jenen<br />
Ländern neue Konkurrenten zu schaffen, den Spielraum der Kapitalakkumulation im ganzen zu erweitern<br />
und ihn gleichzeitig einzuengen.<br />
<strong>Die</strong>se Widersprüche <strong>des</strong> internationalen Anleihesystems sind ein klassischer Beleg dafür, wie sehr die<br />
Bedingungen der Realisierung und die der Kapitalisierung <strong>des</strong> Mehrwerts zeitlich und örtlich<br />
auseinanderfallen. <strong>Die</strong> Realisierung <strong>des</strong> Mehrwerts erfordert nur die allgemeine Verbreitung der<br />
Warenproduktion, seine Kapitalisierung hingegen erfordert die fortschreitende Verdrängung der<br />
einfachen Warenproduktion durch die Kapitalproduktion, wodurch sowohl die Realisierung wie die<br />
Kapitalisierung <strong>des</strong> Mehrwerts in immer engere Schranken eingezwängt werden. <strong>Die</strong> Verwendung <strong>des</strong><br />
internationalen <strong>Kapitals</strong> zum Ausbau <strong>des</strong> Welteisenbahnnetzes widerspiegelt diese Verschiebung. In den<br />
30er bis 60er Jahren <strong>des</strong> 19. Jahrhunderts dienten die Eisenbahnbauten und die hierfür aufgenommenen<br />
Anleihen hauptsächlich der Verdrängung der Naturalwirtschaft und der Ausbreitung der<br />
Warenwirtschaft. So die mit europäischem Kapital errichteten nordamerikanischen Eisenbahnen, so die<br />
russischen Eisenbahnanleihen der 60er Jahre. Hingegen dient der Eisenbahnbau in Asien seit zirka 20<br />
Jahren sowie in Afrika fast ausschließlich den Zwecken der imperialistischen Politik, der<br />
wirtschaftlichen Monopolisierung und der politischen Unterwerfung der Hinterländer. So die<br />
ostasiatischen und zentralasiatischen Eisenbahnbauten Rußlands. <strong>Die</strong> militärische Besetzung der<br />
Mandschurei durch Rußland war bekanntlich durch die Truppensendungen zur Sicherung der russischen<br />
Ingenieure bei ihren Arbeiten an der Mandschurischen Bahn vorbereitet worden. Denselben Charakter<br />
tragen die Rußland gesicherten Eisenbahnkonzessionen in Persien, die deutschen<br />
Eisenbahnunternehmungen in Kleinasien und Mesopotamien, die englischen und deutschen in Afrika.<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 30. Kapitel<br />
Hier muß auf ein Mißverständnis eingegangen werden, das die Anlage von Kapitalien in fremden<br />
Ländern und die Nachfrage aus diesen Ländern betrifft. <strong>Die</strong> Ausfuhr englischen <strong>Kapitals</strong> nach Amerika<br />
spielte schon zu Beginn der 20er Jahre <strong>des</strong> vorigen Jahrhunderts eine enorme Rolle und hat die erste<br />
echte Industrie- und Handelskrise Englands im Jahre 1825 in hohem Maße verschuldet. Seit 1824 wurde<br />
die Londoner Börse von südamerikanischen Wertpapieren überschwemmt. 1824-1825 haben die<br />
neugebildeten Staaten von Süd- und Zentralamerika für mehr als 20 Millionen Pfund Sterling<br />
Staatsanleihen in London aufgenommen. Außerdem wurden hier enorme Mengen südamerikanischer<br />
Industrieaktien und dergleichen angebracht. Der plötzliche Aufschwung und die Eröffnung der<br />
südamerikanischen Märkte haben ihrerseits eine starke Erhöhung der Ausfuhr englischer Waren nach den<br />
südamerikanischen und zentralamerikanischen Staaten hervorgerufen. <strong>Die</strong> Ausfuhr britischer Waren<br />
nach jenen Ländern betrug 1821 2,9 Millionen Pfund Sterling, 1825 6,4 Millionen Pfund Sterling.<br />
Den wichtigsten Gegenstand dieser Ausfuhr bildeten Baumwollgewebe. Unter dem Anstoß der starken<br />
Nachfrage wurde die englische Baumwollproduktion rasch erweitert, viele neue Fabriken gegründet. <strong>Die</strong><br />
in England verarbeitete Rohbaumwolle belief sich 1821 auf 129 Millionen Pfund Sterling, 1825 auf 167<br />
Millionen Pfund Sterling.<br />
So waren alle Elemente der Krise vorbereitet. Tugan-Baranowski wirft nun die Frage auf: "Woher haben<br />
aber die südamerikanischen Länder die Mittel genommen, um im Jahre 1825 zweimal soviel Waren zu<br />
kaufen als im Jahre 1821? <strong>Die</strong>se Mittel sind von den Engländern selbst geliefert worden. <strong>Die</strong> Anleihen,<br />
die auf der Londoner Börse aufgenommen worden sind, dienten zur Bezahlung für die eingeführten<br />
Waren. <strong>Die</strong> englischen Fabrikanten wurden durch die von ihnen selbst geschaffene Nach- frage<br />
getäuscht und mußten sich bald durch eigene Erfahrung überzeugen lassen, wie unbegründet ihre<br />
übertriebenen Hoffnungen waren."(2)<br />
Hier wird die Tatsache, daß die südamerikanische Nachfrage nach englischen Waren durch englisches<br />
Kapital hervorgerufen worden war, als eine "Täuschung", ein ungesun<strong>des</strong>, abnormes ökonomisches<br />
Verhältnis aufgefaßt. Tugan übernimmt hier unbesehen Ansichten von einem Theoretiker, mit dem er<br />
sonst nichts gemein haben will. <strong>Die</strong> Auffassung, daß die englische Krise <strong>des</strong> Jahres 1825 durch die<br />
"seltsame" Entwicklung <strong>des</strong> Verhältnisses zwischen dem englischen Kapital und der südamerikanischen<br />
Nachfrage zu erklären wäre, war zur Zeit jener Krise selbst aufgetaucht, und kein anderer als Sismondi<br />
stellte bereits dieselbe Frage wie Tugan-Baranowski und beschrieb in der zweiten Auflage seiner "Neuen<br />
Grundsätze" die Vorgänge mit aller Genauigkeit:<br />
"<strong>Die</strong> Eröffnung <strong>des</strong> ungeheuren Marktes, den das spanische Amerika den Produkten der Industrie darbot,<br />
scheint mir am wesentlichsten auf die Wiedererstarkung der englischen Manufakturen gewirkt zu haben.<br />
<strong>Die</strong> Regierung Englands war derselben Ansicht, und eine bis dahin unbekannte Tatkraft ist in den 7<br />
Jahren seit der Krisis vom Jahre 1818 geübt worden, um den englischen Handel in die entlegensten<br />
Gebiete Mexikos, Columbias, Brasiliens, Rio de la Platas, Chiles und Perus zu tragen. Ehe das<br />
Ministerium sich schlüssig gemacht hatte, diese neuen Staaten anzuerkennen, hatte es schon Vorsorge<br />
getroffen, den englischen Handel durch Schiffsstationen, die dauernd mit Linienschiffen besetzt waren,<br />
zu schützen, deren Befehlshaber mehr diplomatische als militärische Befugnisse hatten. Es hat dem<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 30. Kapitel<br />
Geschrei der Heiligen Allianz getrotzt und die neuen Republiken anerkannt in demselben Augenblick, als<br />
ganz Europa ihre Vernichtung beschloß. Aber wie groß auch die Absatzquellen waren, die das freie<br />
Amerika darbot, sie hätten doch nicht zugereicht, um alle Waren, die England über die Bedürfnisse <strong>des</strong><br />
Verbrauchs produziert hatte, aufzunehmen, wenn die Anleihen der neuen Republiken nicht plötzlich<br />
ohne Maß ihre Mittel, englische Waren zu kaufen, vermehrt hätten. Jeder Staat Amerikas entlieh von den<br />
Engländern eine Summe, um seine Regierung zu befestigen, und obgleich dies ein Kapital war,<br />
verausgabte er sie unmittelbar in demselben Jahre wie ein <strong>Ein</strong>kommen, d.h., er verbrauchte sie gänzlich,<br />
um englische Waren für öffentliche Rechnung zu kaufen oder die zu bezahlen, die für Rechnung von<br />
Privatleuten abgesandt worden waren. Zahlreiche Gesellschaften wurden zu gleicher Zeit gegründet mit<br />
ungeheueren Kapitalien, um alle amerikanischen Minen auszu- beuten, aber alles Geld, das sie<br />
ausgegeben haben, wurde zugleich in England <strong>Ein</strong>nahme, um die Maschinen zu bezahlen, die sie<br />
unmittelbar gebrauchten, oder die Waren, die nach den Orten gesandt waren, an denen die Maschinen<br />
arbeiten sollten. Solange dieser seltsame Handel angedauert hat, in dem die Engländer von den<br />
Amerikanern nur verlangten, daß sie mit dem englischen Kapital englische Waren kauften, schien der<br />
Gang der englischen Manufakturen glänzend zu sein. Nicht mehr das <strong>Ein</strong>kommen, sondern das englische<br />
Kapital hat den Verbrauch bewirkt, die Engländer, die ihre eigenen Waren, die sie nach Amerika<br />
schickten, selbst kauften und bezahlten, haben sich nur das Vergnügen entzogen, sie selbst zu<br />
genießen."(3) Sismondi zieht daraus den ihm eigenen Schluß, daß nur das <strong>Ein</strong>kommen, d.h. die<br />
persönliche Konsumtion, die wirkliche Schranke für den kapitalistischen Absatz bilde, und benutzt auch<br />
dieses Beispiel, um ein übriges Mal vor der <strong>Akkumulation</strong> zu warnen.<br />
In Wirklichkeit ist der Vorgang, der der Krise <strong>des</strong> Jahres 1825 voraufgegangen war, typisch geblieben<br />
für die Aufschwungsperiode und Expansion <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong> bis auf den heutigen Tag, und das "seltsame"<br />
Verhältnis bildet eine der wichtigsten Grundlagen der Kapitalakkumulation. Speziell in der Geschichte<br />
<strong>des</strong> englischen <strong>Kapitals</strong> wiederholt sich das Verhältnis regelmäßig vor jeder Krise, wie Tugan-<br />
Baranowski dies selbst durch folgende Zahlen und Tatsachen belegt. <strong>Die</strong> unmittelbare Ursache der Krise<br />
von 1836 war die Überfüllung der Märkte in den Vereinigten Staaten mit englischen Waren. Aber auch<br />
hier wurden diese Waren mit englischem Geld bezahlt. 1834 übertraf die Wareneinfuhr der Vereinigten<br />
Staaten ihre Ausfuhr um 6 Millionen Dollar, zugleich aber übertraf die <strong>Ein</strong>fuhr der Edelmetalle nach den<br />
Vereinigten Staaten die Ausfuhr fast um 16 Millionen Dollar. Noch im Krisenjahr selbst, 1836, belief<br />
sich der Überschuß der Wareneinfuhr auf 52 Millionen Dollar, und doch betrug der Überschuß der<br />
<strong>Ein</strong>fuhr an Edelmetall noch 9 Millionen Dollar. <strong>Die</strong>ser Geldstrom kam, so wie der Warenstrom auch, in<br />
der Hauptsache aus England, wo Eisenbahnaktien der Vereinigten Staaten massenhaft gekauft wurden.<br />
1835-1836 wurden in den Vereinigten Staaten 61 neue Banken mit 52 Millionen Dollar Kapital -<br />
vorwiegend englischen Ursprungs - gegründet. Also bezahlten die Engländer auch diesmal ihre Ausfuhr<br />
selbst. Genauso wurde der beispiellose industrielle Aufschwung im Norden der Vereinigten Staaten Ende<br />
der 50er Jahre, der in seinem Schlußergebnis zum Bürgerkrieg führte, mit englischem Kapital bestritten.<br />
<strong>Die</strong>ses Kapital schuf wieder in den Vereinigten Staaten den erweiterten Markt für die englische<br />
Industrie.<br />
Und nicht nur das englische, auch das übrige europäische Kapital beteiligte sich nach Kräften an dem<br />
"seltsamen Handel"; nach einer Äußerung Schäffles waren in den 5 Jahren 1849-1854 min<strong>des</strong>tens eine<br />
Milliarde Gulden an den verschiedenen europäischen Börsen in amerikanischen Wertpapieren angelegt.<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 30. Kapitel<br />
<strong>Die</strong> gleichzeitig hervorgerufene Belebung der Weltindustrie mündete auch in den Weltkrach 1857. In den<br />
60er Jahren beeilt sich das englische Kapital, außer in den Vereinigten Staaten dasselbe Verhältnis in<br />
Asien zu schaffen. Es fließt massenhaft nach Kleinasien und nach Ostindien, unternimmt hier großartige<br />
Eisenbahnbauten - das Eisenbahnnetz Britisch-Indiens betrug 1860 1.350, 1870 7.683, 1880 14.977,<br />
1890 27.000 Kilometer -, daraus ergibt sich sofort eine gesteigerte Nachfrage nach englischen Waten.<br />
Aber gleichzeitig strömt das englische Kapital, kaum daß der Sezessionskrieg beendet war, wieder nach<br />
den Vereinigten Staaten. Der enorme Eisenbahnbau der amerikanischen Union in den 60er und 70er<br />
Jahren - das Eisenbahnnetz betrug 1850 14.151, 1860 49.292, 1870 85.139, 1880 150.717, 1890 268.409<br />
Kilometer - wurde wiederum in der Hauptsache mit englischem Kapital bestritten. Zugleich bezogen aber<br />
diese Eisenbahnen ihr Material gleichfalls aus England, was eine der Hauptursachen der sprunghaften<br />
Entwicklung der englischen Kohlen- und Eisenindustrie und der Erschütterung dieser Zweige durch die<br />
amerikanischen Krisen 1866, 1873, 1884 war. Hier stimmte es also wörtlich, was Sismondi als ein<br />
augenscheinlicher Wahnwitz erschien: <strong>Die</strong> Engländer errichteten in den Vereinigten Staaten mit eigenem<br />
Eisen und sonstigem Material die Eisenbahnen, zahlten sich mit eigenem Kapital dafür und enthielten<br />
sich nur <strong>des</strong> "Genusses" dieser Eisenbahnen. <strong>Die</strong>ser Wahnwitz mundete jedoch dem europäischen<br />
Kapital trotz aller periodischen Krisen so gut, daß um die Mitte der 70er Jahre die Londoner Börse von<br />
einem förmlichen Fieber nach ausländischen Anleihen erfaßt wurde. 1870-1875 wurden in London<br />
solcher Anleihen für 260 Millionen Pfund Sterling aufgenommen - ihre unmittelbare Folge war eine<br />
rasch steigende Ausfuhr englischer Waren nach den exotischen Ländern; das Kapital floß massenhaft<br />
dahin, obgleich diese exotischen Staaten zeitweise bankrott wurden. Ende der 70er Jahre haben die<br />
Zinsenzahlung ganz oder teil- weise eingestellt: die Türkei, Ägypten, Griechenland, Bolivien,<br />
Costa Rica, Ecuador, Honduras, Mexiko, Paraguay, Peru, St. Domingo, Uruguay, Venezuela. Trotzdem<br />
wiederholt sich Ende der 80er Jahre das Fieber nach exotischen Staatsanleihen: südamerikanische<br />
Staaten, südafrikanische Kolonien nehmen gewaltige Quantitäten europäischen <strong>Kapitals</strong> auf. <strong>Die</strong><br />
Anleihen der argentinischen Republik z.B. betrugen 1874 10 Millionen Pfund Sterling, 1890 59,1<br />
Millionen Pfund Sterling.<br />
Auch hier baut England Eisenbahnen mit eigenem Eisen und eigener Kohle und bezahlt dafür mit<br />
eigenem Kapital. Das argentinische Eisenbahnnetz betrug 1883 3.123 Kilometer, 1893 13.691 Kilometer.<br />
Zugleich stieg die englische Ausfuhr in<br />
1886 1890<br />
Eisen 21,8 Mill. Pfd.Sterl. 31,6 Mill. Pfd.Sterl.<br />
Maschinen 10,1 Mill. Pfd.Sterl. 16,4 Mill. Pfd.Sterl.<br />
Kohle 9,8 Mill. Pfd.Sterl. 19,0 Mill. Pfd.Sterl.<br />
Speziell nach Argentinien belief sich die englische Gesamtausfuhr 1885 auf 4,7 Millionen Pfund<br />
Sterling, vier Jahre später schon auf 10,7 Millionen Pfund Sterling.<br />
Gleichzeitig fließt das englische Kapital vermittelst Staatsanleihen nach Australien. <strong>Die</strong> Anleihen der 3<br />
Kolonien Victoria, Neusüdwales und Tasmania betrugen Ende der 80er Jahre 112 Millionen Pfund<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 30. Kapitel<br />
Sterling, davon wurden 81 Millionen im Eisenbahnbau angelegt. <strong>Die</strong> Eisenbahnen Australiens umfaßten<br />
1880 4.900 Meilen, 1895 15.600 Meilen.<br />
Auch hier lieferte England zugleich das Kapital und die Materialien zum Bau der Eisenbahnen. Deshalb<br />
wurde es auch mitgerissen in den Strudel durch die Krisen 1890 in Argentinien, Transvaal, Mexiko,<br />
Uruguay wie 1893 in Australien.<br />
In den letzten zwei Jahrzehnten ist in dieser Beziehung nur der Unterschied eingetreten, daß neben<br />
englischem sich in hervorragendem Maße deutsches, französisches und belgisches Kapital in auswärtigen<br />
Anlagen und insbesondere in Anleihen betätigt. Der Eisenbahnbau in Kleinasien wurde seit den 50er und<br />
bis Ende der 80er Jahre vom englischen Kapital ausgeführt. Seitdem hat sich das deutsche Kapital<br />
Kleinasiens bemächtigt und führt den großen Plan der Anatolischen und der Bagdadbahn aus.<br />
<strong>Die</strong> Anlage <strong>des</strong> deutschen <strong>Kapitals</strong> in der Türkei ruft eine gesteigerte Ausfuhr deutscher Waren<br />
nach diesem Lande hervor.<br />
<strong>Die</strong> deutsche Ausfuhr nach der Türkei betrug 1896 28 Millionen Mark, 1911 113 Millionen Mark,<br />
speziell nach der asiatischen Türkei 1901 12 Millionen, 1911 37 Millionen Mark. Auch in diesem Falle<br />
werden die eingeführten deutschen Waren zu einem beträchtlichen Teil mit deutschem Kapital bezahlt,<br />
und die Deutschen enthalten sich nur - nach dem Sismondischen Ausdruck - <strong>des</strong> Vergnügens, ihre<br />
eigenen Erzeugnisse zu genießen.<br />
Sehen wir näher zu.<br />
Realisierter Mehrwert, der in England oder Deutschland nicht kapitalisiert werden kann und brachliegt,<br />
wird in Argentinien, Australien, Kapland oder Mesopotamien in Eisenbahnbau, Wasserwerke,<br />
Bergwerke usw. gesteckt. Maschinen, Material und dergleichen werden aus dem Ursprungslande <strong>des</strong><br />
<strong>Kapitals</strong> bezogen und mit demselben Kapital bezahlt. Aber so wird es auch im Lande selbst unter<br />
kapitalistischer Produktion gemacht: Das Kapital muß selbst seine Produktionselemente kaufen, sich in<br />
ihnen verkörpern, ehe es sich betätigen kann. Freilich - der Genuß der Produkte bleibt dann dem Lande,<br />
während er im ersteren Falle den Ausländern überlassen wird. Aber Zweck der kapitalistischen<br />
Produktion ist nicht Genuß der Produkte, sondern Mehrwert, <strong>Akkumulation</strong>. Das müßige Kapital hatte<br />
im Lande keine Möglichkeit zu akkumulieren, da kein Bedarf nach zuschüssigem Produkt vorhanden<br />
war. Im Auslande aber, wo noch keine kapitalistische Produktion entwickelt ist, ist eine neue Nachfrage<br />
in nichtkapitalistischen Schichten entstanden, oder sie wird gewaltsam geschaffen. Gerade daß der<br />
"Genuß" der Produkte auf andere übertragen wird, ist für das Kapital entscheidend. Denn der Genuß der<br />
eigenen Klassen: Kapitalisten und Arbeiter, kommt für die Zwecke der <strong>Akkumulation</strong> nicht in Betracht.<br />
Der "Genuß" der Produkte muß von den neuen Konsumenten allerdings realisiert, bezahlt werden. Dazu<br />
müssen die neuen Konsumenten Geldmittel haben. <strong>Die</strong>se liefert ihnen zum Teil der gleichzeitig<br />
entstehende Warenaustausch. An den Eisenbahnbau wie an den Bergbau (Goldgruben usw.) knüpft sich<br />
unmittelbar ein reger Warenhandel. <strong>Die</strong>ser realisiert allmählich das im Eisenbahnbau oder Bergbau<br />
vorgeschossene Kapital mitsamt dem Mehrwert. Ob das in dieser Weise ins Ausland fließende Kapital<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 30. Kapitel<br />
auf eigene Faust als Aktienkapital sich ein Arbeitsfeld sucht oder durch die Vermittelung <strong>des</strong> fremden<br />
Staates, als äußere Anleihe aufgenommen, die neue Betätigung in Industrie oder Verkehr findet, ob im<br />
ersteren Falle die Aktiengründungen vielfach als Schwindelgründungen bald verkrachen oder im<br />
letzteren Falle der borgende Staat schließlich bankrott wird und das Kapital auf diese oder jene Weise<br />
den Eigentümern manchmal teilweise verlorengeht, dies alles ändert nichts an der Sache im ganzen. So<br />
geht vielfach das <strong>Ein</strong>zelkapital auch im Ursprungslande bei Krisen verloren. <strong>Die</strong> Hauptsache ist, das<br />
akkumulierte Kapital <strong>des</strong> alten Lan<strong>des</strong> findet im neuen eine neue Möglichkeit, Mehrwert zu erzeugen<br />
und ihn zu realisieren, d.h. die <strong>Akkumulation</strong> fortzusetzen. <strong>Die</strong> neuen Länder umfassen neue große<br />
Gebiete naturalwirtschaftlicher Verhältnisse, die in warenwirtschaftliche umgewandelt, oder<br />
warenwirtschaftlicher, die vom Kapital verdrängt werden. Der für die Anlage <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong> alter<br />
kapitalistischer Länder in jungen charakteristische Eisenbahnbau und Bergbau (namentlich Goldgruben)<br />
hat in hervorragendem Maße die Eigenschaft, in bis dahin naturalwirtschaftlichen Verhältnissen plötzlich<br />
einen regen Warenhandel hervorzurufen; beide sind bezeichnend in der Wirtschaftsgeschichte als<br />
Marksteine der raschen Auflösung alter ökonomischer Formationen, sozialer Krisen, <strong>des</strong> Aufkommens<br />
moderner Verhältnisse, d.h. vor allem der Warenwirtschaft und dann der Kapitalproduktion.<br />
<strong>Die</strong> Rolle der äußeren Anleihen wie der Investierung <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong> in ausländischen Eisenbahn- und<br />
Minenaktien ist <strong>des</strong>halb die beste kritische Illustration zu dem Marxschen Schema der <strong>Akkumulation</strong>. In<br />
diesen Fällen ist die erweiterte Reproduktion <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong> eine Kapitalisierung <strong>des</strong> früher realisierten<br />
Mehrwerts (sofern die Anleihen oder die ausländischen Aktien nicht von kleinbürgerlichen oder<br />
halbproletarischen Ersparnissen gedeckt werden). Der Moment, die Umstände und die Form, worin das<br />
jetzt ins Neuland fließende Kapital der alten Länder realisiert war, haben nichts gemein mit seinem<br />
gegenwärtigen <strong>Akkumulation</strong>sfeld. Das englische Kapital, das nach Argentinien in den Eisenbahnbau<br />
floß, mag selbst früher indisches in China realisiertes Opium gewesen sein. Ferner: Das englische<br />
Kapital, das in Argentinien Eisenbahnen baut, ist nicht nur in seiner reinen Wertgestalt, als Geldkapital,<br />
englischer Provenienz, sondern auch seine sachliche Gestalt: Eisen, Kohle, Maschinen usw., stammt aus<br />
England, d.h., auch die Gebrauchsform <strong>des</strong> Mehrwerts kommt hier in England von vornherein in der für<br />
Zwecke der <strong>Akkumulation</strong> geeigneten Gestalt zur Welt. <strong>Die</strong> Arbeitskraft, die eigentliche<br />
Gebrauchsgestalt <strong>des</strong> variablen <strong>Kapitals</strong>, ist meist fremd; es sind eingeborene Arbeitskräfte, die in den<br />
neuen Ländern vom Kapital der alten als neue Objekte der Ausbeutung unterworfen werden. Wir können<br />
jedoch der Reinheit der Untersuchung halber annehmen, selbst die Arbeitskräfte sind <strong>des</strong>selben <br />
Ursprungs wie das Kapital. In der Tat rufen z.B. neuentdeckte Goldgruben - namentlich in der ersten Zeit<br />
- massenhafte <strong>Ein</strong>wanderung aus alten kapitalistischen Ländern hervor und werden in hohem Maße mit<br />
Arbeitskräften dieser Länder betrieben. Wir können also den Fall setzen, wo in einem neuen Lande<br />
Geldkapital, Produktionsmittel und Arbeitskräfte zugleich aus einem alten kapitalistischen Lande, sagen<br />
wir aus England, stammen. In England waren somit alle materiellen Voraussetzungen der <strong>Akkumulation</strong>:<br />
realisierter Mehrwert als Geldkapital, Mehrprodukt in produktiver Gestalt, endlich Reserven von<br />
Arbeitern vorhanden. Und doch konnte die <strong>Akkumulation</strong> in England nicht vonstatten gehen: England<br />
und seine bisherigen Abnehmer brauchten keine Eisenbahnen und keine Erweiterung der Industrie. Erst<br />
das Auftreten eines neuen Gebietes mit großen Strecken nichtkapitalistischer Kultur schuf den<br />
erweiterten Konsumtionskreis für das Kapital und ermöglichte ihm die erweiterte Reproduktion, d.h. die<br />
<strong>Akkumulation</strong>.<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 30. Kapitel<br />
Wer sind nun eigentlich diese neuen Konsumenten? Wer zahlt in letzter Linie die äußere Anleihe und<br />
realisiert den Mehrwert der mit ihr gegründeten Kapitalunternehmungen? In klassischer Weise<br />
beantwortet diese Frage die Geschichte der internationalen Anleihe in Ägypten.<br />
Drei Reihen von Tatsachen, die sich ineinander verschlingen, charakterisieren die innere Geschichte<br />
Ägyptens in der zweiten Hälfte <strong>des</strong> 19. Jahrhunderts: moderne Kapitalunternehmungen größten Stils, ein<br />
lawinenartiges Anwachsen der Staatsschuld und der Zusammenbruch der Bauernwirtschaft. In Ägypten<br />
bestand bis in die neueste Zeit Fronarbeit und die ungenierteste Gewaltpolitik <strong>des</strong> Wali und nachher <strong>des</strong><br />
Khediven in bezug auf die Grundbesitzverhältnisse. Aber gerade diese primitiven Verhältnisse boten<br />
einen unvergleichlich üppigen Boden für die Operationen <strong>des</strong> europäischen <strong>Kapitals</strong>. Ökonomisch<br />
konnte es sich vorerst nur darum handeln, Bedingungen für die Geldwirtschaft zu schaffen. <strong>Die</strong>se wurden<br />
denn auch mit direkten Gewaltmitteln <strong>des</strong> Staates geschaffen. Mehemed Ali, der Schöpfer <strong>des</strong> modernen<br />
Ägyptens, wandte hierin bis in die 30er Jahre eine Methode von patriarchalischer <strong>Ein</strong>fachheit an: Er<br />
"kaufte" den Fellachen je<strong>des</strong> Jahr von Staats wegen ihre gesamte Ernte ab, um ihnen davon nachher zu<br />
erhöhten Preisen das Minimum zu verkaufen, das zu ihrer Existenz und zur Aussaat notwendig war.<br />
Ferner verschrieb er Baum- wolle aus Ostindien, Zuckerrohr aus Amerika, Indigo und Pfeffer und<br />
schrieb den Fellachen von Staats wegen vor, was und wieviel sie von jedem zu pflanzen hätten, wobei<br />
Baumwolle und Indigo wiederum als Monopol der Regierung erklärt und nur an sie verkauft, also auch<br />
von ihr wiederverkauft werden durften. Durch solche Methoden wurde der Warenhandel in Ägypten<br />
eingeführt. Freilich tat Mehemed Ali auch für die Hebung der Produktivität der Arbeit nicht wenig. Er<br />
ließ alte Kanäle ausheben, Brunnen graben, vor allem begann er mit dem grandiosen Nilstauwerk bei<br />
Kaliub, das die Serie der großen Kapitalunternehmungen in Ägypten eröffnete. <strong>Die</strong>se erstrecken sich<br />
später auf vier große Gebiete: Bewässerungsanlagen, unter denen das Werk bei Kaliub, das von 1845 bis<br />
1853 gebaut wurde und außer der unbezahlten Fronarbeit 50 Millionen Mark verschlungen hatte - um<br />
sich übrigens zunächst als unbrauchbar zu erweisen -, den ersten Platz einnimmt; ferner Verkehrsstraßen,<br />
unter denen der Suezkanal die wichtigste und für die Schicksale Ägyptens fatalste Unternehmung war;<br />
sodann Baumwollbau und Zuckerproduktion. Mit dem Bau <strong>des</strong> Suezkanals hatte Ägypten bereits den<br />
Kopf in die Schlinge <strong>des</strong> europäischen <strong>Kapitals</strong> gesteckt, aus der es ihn nicht mehr herausziehen sollte.<br />
Den Anfang machte das französische Kapital, dem das englische alsbald auf dem Fuße folgte; der<br />
Konkurrenzkampf beider spielt durch die ganzen inneren Wirren in Ägypten während der folgenden 20<br />
Jahre. <strong>Die</strong> Operationen <strong>des</strong> französischen <strong>Kapitals</strong>, das sowohl das große Nilstauwerk in seiner<br />
Unbrauchbarkeit wie den Suezkanal ausführte, waren vielleicht die eigenartigsten Muster der<br />
europäischen Kapitalakkumulation auf Kosten primitiver Verhältnisse. Für die Wohltat <strong>des</strong><br />
Kanaldurchstichs, der Ägypten den europäisch-asiatischen Handel an der Nase vorbei ableiten und so<br />
den eigenen Anteil Ägyptens daran ganz empfindlich treffen sollte, verpflichtete sich das Land erstens<br />
zur Lieferung der Gratisarbeit von 20.000 Fronbauern auf Jahre hinaus, zweitens zur Übernahme von 70<br />
Millionen Mark Aktien gleich 40 Prozent <strong>des</strong> Gesamtkapitals der Suezkompanie. <strong>Die</strong>se 70 Millionen<br />
wurden zur Grundlage der riesigen Staatsschuld Ägyptens, die zwanzig Jahre später die militärische<br />
Okkupation Ägyptens durch England zur Folge hatte. In den Bewässerungsanlagen wurde eine plötzliche<br />
Umwälzung angebahnt, die uralten Sakiji, d.h. mit Ochsen betriebene Schöpfwerke, deren im Delta allein<br />
50.000 durch sieben Monate im Jahre in Bewegung waren, wurden zum Teil durch gewaltige<br />
Dampfpumpen ersetzt. Den Verkehr auf dem Nil zwischen Kairo und Assuan besorgten nunmehr<br />
moderne Dampfer. <strong>Die</strong> größte Umwälzung in den Wirtschaftsverhältnissen Ägyptens brachte aber<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 30. Kapitel<br />
der Baumwollbau mit sich. Als Folge <strong>des</strong> amerikanischen Sezessionskrieges und <strong>des</strong> englischen<br />
Baumwollhungers, der den Preis der Baumwolle von 60 bis 80 Pf pro Kilo auf 4 bis 5 M hinaufgetrieben<br />
hatte, wurde auch Ägypten von einem Fieber <strong>des</strong> Baumwollbaus ergriffen. Alles baute Baumwolle, vor<br />
allem aber die vizekönigliche Familie. Landraub in größtem Maßstab, Konfiskation, erzwungener "Kauf"<br />
oder einfacher <strong>Die</strong>bstahl vergrößerten rasch die vizeköniglichen Ländereien ungeheuer. Zahllose Dörfer<br />
verwandelten sich plötzlich in königliches Privateigentum, ohne daß jemand den rechtlichen Grund<br />
hierfür zu erklären wüßte. Und dieser gewaltige Güterkomplex sollte in kürzester Frist zu<br />
Baumwollplantagen verwendet werden. <strong>Die</strong>s stellte aber die ganze Technik <strong>des</strong> traditionellen<br />
ägyptischen Landhaus auf den Kopf. <strong>Ein</strong>dämmung <strong>des</strong> Lan<strong>des</strong>, um die Baumwollfelder vor der<br />
regelmäßigen Nilüberschwemmung zu schützen, dafür reichliches und geregeltes künstliches Bewässern<br />
tiefes und unermüdliches Pflügen, das dem mit dem Pflug aus den Pharaonenzeiten seinen Boden leicht<br />
kratzenden Fellah ganz unbekannt war, endlich die intensive Arbeit bei der Ernte - alles dies stellte<br />
enorme Anforderungen an die Arbeitskraft Ägyptens. <strong>Die</strong>se Arbeitskraft war aber immer dieselbe<br />
Fronbauernschaft, über die der Staat unumschränktes Verfügungsrecht sich anmaßte. <strong>Die</strong> Fellachen<br />
waren schon zu Tausenden auf die Fron bei dem Stauwerk von Kaliub getrieben, bei dem Suezkanal,<br />
jetzt wurden sie beansprucht für Dammbauten, Kanalarbeiten und Plantagen auf den vizeköniglichen<br />
Gütern. Jetzt brauchte der Khedive die 20.000 Sklaven, die er der Suezgesellschaft zur Verfügung<br />
gestellt hatte, für sich, woraus sich der erste Konflikt mit dem französischen Kapital ergab. <strong>Ein</strong><br />
Schiedsrichterspruch Napoleons III. erkannte der Suezgesellschaft eine Abfindungssumme von 67<br />
Millionen Mark zu, in die der Khedive um so leichteren Herzens einwilligen konnte, als sie doch<br />
schließlich aus denselben Fellachen herausgeschunden werden sollte, um deren Arbeitskraft sich der<br />
Streit drehte. Nun ging es an Bewässerungsarbeiten. Hierzu wurden massenhaft Dampfmaschinen aus<br />
England und Frankreich bezogen, Zentrifugalpumpen und Lokomobilen. Viele Hunderte davon<br />
wanderten aus England nach Alexandrien und weiter auf Dampfschiffen, Nilbooten und Kamelrücken<br />
nach allen Richtungen ins Land. Zur Bodenbearbeitung wurden Dampfpflüge benötigt, zumal 1864 eine<br />
Rinderpest sämtliches Vieh weggerafft hatte. Auch diese Maschinen kamen meist aus England. Das<br />
Fowlersche Unternehmen wurde speziell für den Bedarf <strong>des</strong> Vizekönigs auf Kosten Ägyptens<br />
plötzlich enorm erweitert.(4)<br />
<strong>Ein</strong>e dritte Art Maschinen, die Ägypten plötzlich in Massen benötigte, waren die Apparate zum<br />
Entkörnen und die Pressen zum Packen von Baumwolle. <strong>Die</strong>se Ginanlagen wurden zu Dutzenden in den<br />
Städten <strong>des</strong> Deltas eingerichtet. Sagasik, Tanta, Samanud und andere begannen zu rauchen wie englische<br />
Fabrikstädte. Große Vermögen rollten durch die Banken von Alexandrien und Kairo.<br />
Der Zusammenbruch der Baumwollspekulation kam schon im nächsten Jahr, als nach dem<br />
Friedensschluß in der amerikanischen Union der Preis der Baumwolle in wenigen Tagen von 27 Pence<br />
das Pfund auf 15, 12 und schließlich auf 6 Pence fiel. - Im nächsten Jahre warf sich Ismail Pascha auf<br />
eine neue Spekulation: die Rohrzuckerproduktion. Es galt jetzt den Südstaaten der Union, die ihre<br />
Sklaven verloren hatten, mit der Fronarbeit <strong>des</strong> ägyptischen Fellahs Konkurrenz zu machen. <strong>Die</strong><br />
ägyptische Landwirtschaft wurde zum zweitenmal auf den Kopf gestellt. Französische und englische<br />
Kapitalisten fanden ein neues Feld der raschesten <strong>Akkumulation</strong>. 1868 und 1869 wurden achtzehn riesige<br />
Zuckerfabriken bestellt mit einer Leistungsfähigkeit von je 200.000 Kilogramm Zucker täg- lich,<br />
also einer vierfachen Leistungsfähigkeit der größten bis dahin gekannten Anlagen. Sechs davon wurden<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 30. Kapitel<br />
in England, zwölf in Frankreich bestellt, doch ging infolge <strong>des</strong> Deutsch-Französischen Krieges der<br />
größte Teil <strong>des</strong> Auftrags nach England. Alle 10 Kilometer sollte den Nil entlang eine dieser Fabriken<br />
errichtet werden, als Mittelpunkt eines Distrikts von 10 Quadratkilometern, der das Zuckerrohr zu liefern<br />
hatte. Jede Fabrik benötigte täglich zum vollen Betrieb 2.000 Tonnen Zuckerrohr. Während hundert alte<br />
Dampfpflüge aus der Baumwollperiode zerbrochen umherlagen, wurden hundert neue für Zuckerrohrbau<br />
bestellt. Fellachen wurden zu Tausenden auf die Plantagen getrieben, während andere Tausende an dem<br />
Bau <strong>des</strong> Ibrahimiyehkanals fronten. Stock und Nilpferdpeitsche sausten in voller Tätigkeit. Bald entstand<br />
die Transportfrage: Um die Rohrmassen nach den Fabriken zu schaffen, mußten schleunigst ein Netz von<br />
Eisenbahnen um jede Fabrik, transportable Feldbahnen, fliegende Drahtseile, Straßenlokomotiven<br />
herbeigeschafft werden. Auch diese enormen Bestellungen fielen dem englischen Kapital zu. 1872 wurde<br />
die erste Riesenfabrik eröffnet. Viertausend Kamele besorgten provisorisch den Transport. Aber die<br />
Lieferung der erforderlichen Menge Rohr für den Betrieb erwies sich als bare Unmöglichkeit. Das<br />
Arbeitspersonal war völlig ungeeignet, der Fronfellah konnte mit der Karbatsche nicht plötzlich in einen<br />
modernen Industriearbeiter verwandelt werden. Das Unternehmen brach zusammen, viele bestellte<br />
Maschinen wurden gar nicht aufgestellt. Mit der Zuckerspekulation schließt 1873 die Periode der<br />
gewaltigen Kapitalunternehmungen Ägyptens.<br />
Wer lieferte das Kapital zu diesen Unternehmungen? <strong>Die</strong> internationalen Anleihen. Said Pascha nahm<br />
ein Jahr vor seinem Tode (1863) die erste Anleihe auf, die nominell 66 Millionen Mark, tatsächlich, nach<br />
Abzug von Provisionen, Diskont usw., 50 Millionen Mark in bar eintrug. Er vermachte auf Ismail diese<br />
Schuld und den Suezvertrag, der Ägypten schließlich eine Last von 340 Millionen Mark aufbürdete.<br />
1864 kam die erste Anleihe Ismails zustande, die nominell 114 Millionen zu 7 Prozent, in bar 9<br />
Millionen zu 8 1/4 Prozent betrug. <strong>Die</strong>se Anleihe wurde in einem Jahr verbraucht, wobei allerdings 67<br />
Millionen als Abfindungssumme an die Suezgesellschaft abgingen, der Rest wohl meist durch die<br />
Baumwollepisode verschlungen war. 1865 erfolgte durch die Anglo-Ägyptische Bank das erste<br />
sogenannte Daira-Anlehen, bei dem der Privatgrundbesitz <strong>des</strong> Khediven als Pfand diente; es betrug<br />
nominell 68 Millionen zu 9 Prozent, in Wirklichkeit 50 Millionen zu 12 Prozent. 1866 wurde durch<br />
Frühling und Göschen eine neue Anleihe von nominell 60 Millionen, in bar 52 Mil- lionen<br />
aufgenommen, 1867 eine neue durch die Ottomanische Bank von nominell 40, in Wirklichkeit 34<br />
Millionen. <strong>Die</strong> schwebende Schuld betrug um jene Zeit 600 Millionen. Zur Konsolidierung eines Teils<br />
derselben wurde 1868 eine große Anleihe durch das Bankhaus Oppenheim und Neffen aufgenommen<br />
von nominell 238 Millionen zu 7 Prozent, in Wirklichkeit kriegte Ismail nur 142 Millionen zu 13 1/2<br />
Prozent in die Hand. Damit konnten aber das prunkvolle Fest der Eröffnung <strong>des</strong> Suezkanals vor den<br />
versammelten Spitzen dar europäischen Hof-, Finanz und Halbwelt und die dabei entfaltete wahnwitzige<br />
Verschwendung bestritten sowie ein neuer Backschisch von 20 Millionen dem türkischen Oberherrn,<br />
dem Sultan, in die Hand gedrückt werden. 1870 folgte die Anleihe durch die Firma Bischoffsheim u.<br />
Goldschmidt im Betrage von nominell 142 Millionen zu 7<br />
Prozent, in Wirklichkeit 100 Millionen zu 13 Prozent. Sie diente dazu, die Kosten der Zuckerepisode zu<br />
decken. 1872 und 1873 folgten zwei Anleihen durch Oppenheim, eine kleine von 80 Millionen zu 14<br />
Prozent und eine große von nominell 640 Millionen zu 8 Prozent, die aber, da die von den europäischen<br />
Bankhäusern aufgekauften Wechsel zu <strong>Ein</strong>zahlungen benutzt wurden, in Wirklichkeit nur 220 Millionen<br />
in bar und die Reduktion der schwebenden Schuld auf die Hälfte einbrachte.<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 30. Kapitel<br />
1874 wurde noch der Versuch einer Lan<strong>des</strong>anleihe von 1.000 Millionen Mark gegen eine Jahresrente von<br />
9 Prozent gemacht, der aber nur 68 Millionen ergab. <strong>Die</strong> ägyptischen Papiere standen auf 54 Prozent<br />
ihres Nennwerts. <strong>Die</strong> öffentliche Schuld war im ganzen seit Said Paschas Tode binnen 13 Jahren von<br />
3.293.000 Pfund Sterling auf 94.110.000 Millionen Pfund Sterling, d.h. auf zirka 2 Milliarden Mark<br />
gewachsen.(5) Der Zusammenbruch stand vor der Tür.<br />
Auf den ersten Blick stellen diese Kapitaloperationen den Gipfel <strong>des</strong> Wahnwitzes dar. <strong>Ein</strong>e Anleihe jagte<br />
die andere, die Zinsen alter Anleihen wurden mit neuen Anleihen gedeckt, und riesige<br />
Industriebestellungen bei dem englischen und französischen Industriekapital wurden mit englischem und<br />
französischem geborgtem Kapital bezahlt.<br />
In Wirklichkeit machte das europäische Kapital, unter allgemeinem Kopfschütteln und Stöhnen Europas<br />
über die tolle Wirtschaft Ismails, beispiellose, märchenhafte Geschäfte in Ägypten, Geschäfte, die dem<br />
Kapital in seiner weltgeschichtlichen Laufbahn nur einmal als eine phantastische, modernisierte Auflage<br />
der biblischen fetten ägyptischen Kühe gelingen sollten. Vor allem bedeutete jede Anleihe eine<br />
wucherische Operation, bei der ein Fünftel bis ein Drittel und darüber hinaus der angeblich geliehenen<br />
Summe an den Fingern der europäischen Bankiers kleben blieb. <strong>Die</strong> wucherischen Zinsen mußten<br />
aber so oder anders schließlich bezahlt werden. Wo flossen die Mittel dazu her? Sie mußten in Ägypten<br />
selbst ihre Quelle haben, und diese Quelle war der ägyptische Fellah, die Bauernwirtschaft. <strong>Die</strong>se lieferte<br />
in letzter Linie alle wichtigsten Elemente der grandiosen Kapitalunternehmungen. Sie lieferte den Grund<br />
und Boden, da die in kürzester Zeit zu Riesendimensionen angewachsenen sogenannten<br />
Privatbesitzungen <strong>des</strong> Khediven, die die Grundlage der Bewässerungspläne, der Baumwoll- wie der<br />
Zuckerspekulation bildeten, durch Raub und Erpressung aus zahllosen Dörfern zusammengeschlagen<br />
wurden. <strong>Die</strong> Bauernwirtschaft lieferte auch die Arbeitskraft, und zwar umsonst, wobei die Erhaltung<br />
dieser Arbeitskraft während ihrer Ausbeutung ihre eigene Sorge war. <strong>Die</strong> Fronarbeit der Fellachen war<br />
die Grundlage der technischen Wunder, die europäische Ingenieure und europäische Maschinen in<br />
Bewässerungsanlagen, Verkehrsmitteln, in Landbau und Industrie Ägyptens schufen. Am Nilstauwerk<br />
bei Kaliub wie am Suezkanal, beim Eisenbahnbau wie bei der Errichtung der Dämme, auf den<br />
Baumwollplantagen wie in den Zuckerfabriken arbeiteten unübersehbare Scharen von Fronbauern, sie<br />
wurden nach Bedarf von einer Arbeit zur anderen geworfen und maßlos ausgebeutet. Mußte sich auch<br />
auf Schritt und ritt die technische Schranke der fronenden Arbeitskraft in ihrer Verwendbarkeit für<br />
moderne Kapitalzwecke zeigen, so war dies auf der anderen Seite reichlich wettgemacht durch das<br />
unbegrenzte Kommando über Masse, Dauer der Ausbeutung, Lebens- und Arbeitsbedingungen der<br />
Arbeitskraft, das hier dem Kapital in die Hand gegeben war.<br />
<strong>Die</strong> Bauernwirtschaft lieferte aber nicht nur Grund und Boden und Arbeitskraft, sondern auch Geld.<br />
Dazu diente das Steuersystem, das unter der <strong>Ein</strong>wirkung der <strong>Kapitals</strong>wirtschaft dem Fellah<br />
Daumenschrauben anlegte. <strong>Die</strong> Grundsteuer auf bäuerliche Ländereien, die immer wieder erhöht wurde,<br />
betrug Ende der 60er Jahre 55 M pro Hektar, während der Großgrundbesitz 18 M pro Hektar, die<br />
königliche Familie aber von ihren enormen Privatländereien gar nichts zahlte. Dazu kamen immer neue<br />
spezielle Abgaben, so zur Erhaltung der Bewässerungsanlagen, die fast ausschließlich den<br />
vizeköniglichen Besitzungen zugute kamen, 2,50 M pro Hektar. Für jeden Dattelbaum mußte der Fellah<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 30. Kapitel<br />
1,35 M, für jede Lehmhütte, die er bewohnte, 75 Pf zahlen Ferner kam die Kopfsteuer für jeden Mann<br />
über zehn Jahre im Betrage von 6,50 M hinzu. In Summa entrichteten die Fellachen unter Mehemed Ali<br />
50 Millionen, unter Said 100 Millionen, unter Ismail 163 Millionen Mark.<br />
Je mehr die Verschuldung bei dem europäischen Kapital wuchs, um so mehr mußte aus der<br />
Bauernwirtschaft herausgeschlagen werden.(6) 1869 wurden sämtliche Steuern um 10 Prozent erhöht<br />
und für 1870 im voraus erhoben. 1870 wurde die Grundsteuer um 8 M pro Hektar erhöht. <strong>Die</strong> Dörfer in<br />
Oberägypten begannen sich zu entvölkern, Hütten wurden eingerissen, man ließ das Land unbebaut, um<br />
Steuern zu entgehen. 1876 wurde die Steuer auf Dattelbäume um 50 Pf erhöht. Ganze Dörfer zogen aus,<br />
um ihre Dattelbäume umzuhauen, und mußten mit Gewehrsalven davon abgehalten werden. 1879 sollen<br />
10.000 Fellachen oberhalb Siuts vor Hunger umgekommen sein, da sie die Steuer für die Bewässerung<br />
ihrer Felder nicht mehr erschwingen konnten und ihr Vieh getötet hatten, um der Viehsteuer zu<br />
entgehen.(7)<br />
Jetzt war der Fellah bis auf den letzten Blutstropfen ausgesogen. Der ägyptische Staat hatte seine<br />
Funktion als Saugapparat in den Händen <strong>des</strong> europäischen <strong>Kapitals</strong> vollendet und ward überflüssig. Der<br />
Khedive Ismail wurde verabschiedet. Das Kapital konnte die Liquidation antreten.<br />
1875 hatte England 172.000 Suezkanalaktien für 80 Millionen M gekauft, wofür ihm Ägypten jetzt noch<br />
394.000 ägyptische Pfund Sterling an Zinsen zahlen muß. Englische Kommissionen zur "Ordnung" der<br />
Finanzen Ägyptens traten nun in Aktion. Merkwürdigerweise erbot sich das europäische Kapital, durch<br />
den verzweifelten Zustand <strong>des</strong> bankrotten Lan<strong>des</strong> gar nicht abgeschreckt, zu seiner "Rettung" immer<br />
neue Riesenanleihen zu gewähren. Cave und Stokes schlugen zur Umwandlung aller Schulden eine<br />
Anleihe von 1.520 Millionen Mark zu 7 Prozent vor, Rivers Wilson hielt 2.060 Millionen Mark für<br />
erforderlich. Der Crédit Foncier kaufte Millionen schwebender Wechsel auf und versuchte mit einer<br />
Anleihe von 1.820 Millionen Mark die Gesamtschuld zu konsolidieren, was jedoch fehlschlug. Aber je<br />
verzweifelter und unrettbarer die Finanzlage war, um so näher und unentrinnbarer der Augenblick, wo<br />
das ganze Land mit all seinen Produktivkräften dem europäischen Kapital in die Krallen fallen <br />
mußte. Im Oktober 1878 landeten die Vertreter der europäischen Gläubiger in Alexandrien. <strong>Ein</strong>e<br />
Doppelkontrolle der Finanzen durch das englische und französische Kapital wurde eingesetzt. Jetzt<br />
wurden im Namen der Doppelkontrolle neue Steuern erfunden, die Bauern geprügelt und gepreßt, so daß<br />
die 1876 zeitweilig eingestellten Zinsenzahlungen 1877 wieder aufgenommen werden konnten.(8) Nun<br />
wurden die Forderungsrechte <strong>des</strong> europäischen <strong>Kapitals</strong> zum Mittelpunkt <strong>des</strong> Wirtschaftslebens und zum<br />
einzigen Gesichtspunkt <strong>des</strong> Finanzsystems. 1878 kam eine neue Kommission und ein halbeuropäisches<br />
Ministerium zustande. 1879 kamen die ägyptischen Finanzen unter dauernde Kontrolle <strong>des</strong> europäischen<br />
<strong>Kapitals</strong> in der Person der Commission de la Dette Publique Egyptienne in Kairo. 1878 wurden die<br />
Tschifliks, die Ländereien der vizeköniglichen Familie im Umfange von 431.000 Acres, in<br />
Staatsdomänen verwandelt und den europäischen Kapitalisten für die Staatsschuld verpfändet, ebenso die<br />
Daira-Ländereien, das Privatgut <strong>des</strong> Khediven, das meist in Oberägypten gelegen war und 485.131 Acres<br />
umfaßte; es ist später an ein Konsortium verkauft worden. <strong>Ein</strong> großer Teil <strong>des</strong> sonstigen Grundbesitzes<br />
kam in die Hände von kapitalistischen Gesellschaften, namentlich an die Suezkompanie. <strong>Die</strong> geistlichen<br />
Ländereien der Moscheen und der Schulen hat England für die Kosten der Okkupation beschlagnahmt.<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 30. Kapitel<br />
<strong>Ein</strong>e Militärrevolte der ägyptischen Armee, die von der europäischen Finanzkontrolle ausgehungert<br />
wurde, während die europäischen Beamten glänzende Gehälter bezogen, und ein provoziertet Aufstand<br />
der geweißbluteten Massen in Alexandrien gaben den erwünschten Vorwand zum entscheidenden<br />
Schlag. 1882 rückte englisches Militär in Ägypten ein, um es nicht wieder zu verlassen und die<br />
Unterwerfung <strong>des</strong> Lan<strong>des</strong> zum Ergebnis der grandiosen Kapitaloperationen in Ägypten seit zwanzig<br />
Jahren und zum Abschluß der Liquidation der ägyptischen Bauernwirtschaft durch das europäische<br />
Kapital zu machen.(9) - Hier zeigte sich, daß der bei oberflächlicher Betrach- tung<br />
abgeschmackten Transaktion zwischen dem europäischen Leihkapital und dem europäischen<br />
Industriekapital, das die Bestellungen aus Ägypten mit jenem Leibkapital bezahlt, wobei die Zinsen der<br />
einen Anleihe durch das Kapital der anderen Anleihe gedeckt wurden, ein vom Standpunkt der<br />
Kapitalakkumulation sehr rationelles und "gesun<strong>des</strong>" Verhältnis zugrunde lag. <strong>Die</strong>ses läuft, nach<br />
Weglassung aller maskierenden Zwischenglieder, auf die einfache Tatsache hinaus, daß die ägyptische<br />
Bauernwirtschaft in gewaltigem Umfang vom europäischen Kapital aufgezehrt wurde: Enorme Strecken<br />
Grund und Boden, zahllose Arbeitskräfte und eine Masse Arbeitsprodukte, die als Steuern an den Staat<br />
entrichtet wurden, sind in letzter Linie in europäisches Kapital verwandelt und akkumuliert worden. Es<br />
ist klar, daß diese Transaktion, die den normalen Verlauf einer jahrhundertelangen geschichtlichen<br />
Entwicklung auf zwei bis drei Jahrzehnte zusammenpreßte, nur durch die Nilpferdpeitsche ermöglicht<br />
worden war und daß gerade die Primitivität der sozialen Verhältnisse Ägyptens die unvergleichliche<br />
Operationsbasis für die Kapitalakkumulation geschaffen hatte. Gegenüber dem märchenhaften<br />
Anschwellen <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong> auf der einen Seite erscheint hier als ökonomisches Resultat auf der anderen<br />
neben dem Ruin der Bauernwirtschaft das Aufkommen <strong>des</strong> Warenverkehrs und die Herstellung seiner<br />
Bedingungen in der Anspannung der Produktivkräfte <strong>des</strong> Lan<strong>des</strong>. Das bebaute und eingedämmte Land<br />
Ägyptens wuchs unter Ismails Regierung von 2 auf 2,7 Millionen Hektar, das Kanalnetz von 73.000 auf<br />
87.000 Kilometer, das Eisenbahnnetz von 410 auf 2.020 Kilometer. In Suez und Alexandrien wurden<br />
Docks, in Alexandrien großartige Hafenanlagen gebaut, ein Seedampferdienst für die Mekkapilger auf<br />
dem Roten Meer und entlang der syrischen und kleinasiatischen Küste eingeführt. <strong>Die</strong> Ausfuhr<br />
Ägyptens, die 1861 89 Millionen Mark betrug, schnellte 1864 auf 288 Millionen, die <strong>Ein</strong>fuhr, die unter<br />
Said Pascha 24 Millionen ausmachte, stieg unter Ismail auf 100 bis 110 Millionen Mark. Der Handel, der<br />
sich nach der Eröffnung <strong>des</strong> Suezkanals erst in den 80er Jahren erholt hat, betrug 1890 an <strong>Ein</strong>fuhr 163,<br />
an Ausfuhr 249 Millionen Mark, dagegen 1900 an <strong>Ein</strong>fuhr 238 Millionen, an Ausfuhr 355 Millionen<br />
Mark und 1911 an <strong>Ein</strong>fuhr 557, an Ausfuhr 593 Millionen Mark. Ägypten selbst ist freilich bei dieser<br />
sprunghaften Entwicklung der Warenwirtschaft mit Hilfe <strong>des</strong> europäischen <strong>Kapitals</strong> zu <strong>des</strong>sen Eigentum<br />
geworden. Wie in China, wie jüngst wieder in Marokko, hatte es sich schon in Ägypten gezeigt,<br />
daß hinter internationaler Anleihe, Eisenbahnbau, Wasseranlagen und dergleichen Kulturwerken der<br />
Militarismus als Vollstrecker der Kapitalakkumulation lauert. Während die orientalischen Staaten mit<br />
fieberhafter Hast ihre Entwicklung von der Naturalwirtschaft zur Warenwirtschaft und von dieser zur<br />
kapitalistischen durchmachen, werden sie vom internationalen Kapital verspeist, denn ohne sich diesem<br />
zu verschreiben, können sie die Umwälzung nicht vollziehen.<br />
<strong>Ein</strong> anderes gutes Beispiel aus der jüngsten Zeit bilden die Geschäfte <strong>des</strong> deutschen <strong>Kapitals</strong> in der<br />
asiatischen Türkei. Schon früh hatte sich das europäische, namentlich das englische Kapital dieses<br />
Gebietes, das auf der uralten Route <strong>des</strong> Welthandels zwischen Europa und Asien liegt, zu bemächtigen<br />
gesucht.(10)<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 30. Kapitel<br />
In den 50er und 60er Jahren sind vom englischen Kapital die Eisenbahnlinien Smyrna-Aidin-Diner und<br />
Smyrna-Kassaba-Alaschehr ausgeführt sowie die Konzession für die Weiterführung der Linie bis Afiun<br />
Karahissar erlangt, endlich auch die erste Strecke der Anatolischen Bahn Haidar-Pascha-Ismid gepachtet<br />
worden. Daneben bemächtigte sich das französische Kapital eines Teils <strong>des</strong> Eisenbahnbaus. 1888 tritt das<br />
deutsche Kapital auf den Plan. Durch Unterhandlung namentlich mit der französischen durch die Banque<br />
Ottomane vertretenen Kapitalgruppe kam eine internationale Interessenfusion zustande, wobei an dem<br />
großen Anatolischen und Bagdadbahnunternehmen die deutsche Finanzgruppe sich mit 60 Prozent, das<br />
internationale Kapital mit 40 Prozent beteiligen sollte.(11) <strong>Die</strong> Anatolische Eisenbahngesellschaft, hinter<br />
der hauptsächlich die Deutsche Bank steht, wurde als türkische Gesellschaft am 14. Redscheb <strong>des</strong> Jahres<br />
1306, d.h. am 4. März 1889, zur Übernahme der seit Anfang der 70er Jahre im Betrieb befindlichen Linie<br />
von Haidar-Pascha bis Ismid und zur Ausführung der Konzession der Bahnstrecke Ismid-Eski-Schehr-<br />
Angora (845 Kilometer) gegründet. <strong>Die</strong> Gesellschaft ist auch berechtigt, die Bahn Haidar-Pascha-<br />
Skutari und Zweigbahnen nach Brussa auszuführen. ferner durch die Konzession von 1893 ein<br />
Ergänzungsnetz Eski-Schehr-Konia (zirka 445 Kilometer) zu errichten, endlich die Strecke Angora-<br />
Kaisarie (425 Kilometer). <strong>Die</strong> türkische Regierung leistete der Gesellschaft die folgende Staatsgarantie:<br />
Bruttoeinnahme 10.300 Franc pro Jahr und Kilometer für die Strecke Haidar-Pascha-Ismid und 15.000<br />
Franc für die Strecke Ismid-Angora. Zu diesem Zweck hat die Regierung der Administration de la Dette<br />
Publique Ottomane die aus der Verpachtung der Zehnten der Sandschaks Ismid, Ertogrul, Kutahia und<br />
Angora eingehenden <strong>Ein</strong>nahmen zur direkten <strong>Ein</strong>ziehung überwiesen. <strong>Die</strong> Administration de la Dette<br />
Publique Ottomane soll aus diesen <strong>Ein</strong>nahmen der Bahngesellschaft so viel zahlen wie zur Erfüllung der<br />
von der Regierung garantierten Bruttoeinnahme erforderlich ist. Für die Strecke Angora-Kaisarie<br />
garantiert die Regierung eine Bruttoeinnahme in Gold von 775 türkischen Pfund = 17.800 Franc in Gold<br />
pro Kilometer und Jahr und für Eski-Schehr-Konia 604 türkische Pfund = 13.741 Franc, im letzteren<br />
Falle nur bis zum Höchstbetrage <strong>des</strong> Zuschusses von 219 türkischen Pfund = 4.995 Franc pro Kilometer<br />
und Jahr. Falls dagegen die Bruttoeinnahme die garantierte Höhe übersteigt, erhält die Regierung 25<br />
Prozent <strong>des</strong> Überschusses. <strong>Die</strong> Zehnten der Sandschaks Trebisond und Gümüschchane werden direkt an<br />
die Administration de la Dette Publique Ottomane bezahlt werden, die ihrerseits die erforderlichen<br />
Garantiezuschüsse an die Bahngesellschaft leistet. Alle Zehnten, die zur Erfüllung der von der Regierung<br />
gewährten Garantie bestimmt sind, bilden ein Ganzes. 1898 wurde die Garantie für Eski-Schehr-Konia<br />
von 219 türkischen Pfund auf 296 erhöht.<br />
1899 erwarb die Gesellschaft eine Konzession zum Bau und Betrieb eines Hafens nebst Anlagen in<br />
Haidar-Pascha, zur Warrantausgabe, zum Bau von Elevatoren für Getreide und Depots für Waren aller<br />
Art, ferner das Recht, alle <strong>Ein</strong>- und Ausladungen durch eigenes Personal vornehmen zu lassen, endlich<br />
auf dem Gebiete <strong>des</strong> Zollwesens die <strong>Ein</strong>richtung einer Art Freihafen.<br />
1901 erlangte die Gesellschaft die Konzession für die Bagdadbahn Konia-Bagdad-Basra-Persischer Golf<br />
(2.400 Kilometer), die sich mit der Strecke Konia-Eregli-Bulgurlu an die anatolische Strecke anschließt.<br />
Zur Ausführung der Konzession wurde von der alten eine neue Aktiengesellschaft gegründet, die den<br />
Bau der Linie zunächst bis Bulgurlu an eine in Frankfurt a.M. gegründete Baugesellschaft vergehen hat.<br />
Von 1893 bis 1910 hat die türkische Regierung an Zuschuß geleistet: für die Bahn Haidar-Pascha-<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 30. Kapitel<br />
Angora 48,7 Millionen Franc, für die Eski-Schehr-Konia-Strecke 1,8 Millionen türkische Pfund,<br />
zusammen also zirka 90,3 Millionen Franc.(12) Endlich durch die Konzession von 1907 sind der<br />
Gesellschaft die Arbeiten für die Trockenlegung <strong>des</strong> Sees von Karaviran und die Bewässerung der<br />
Koniaebene übertragen worden. <strong>Die</strong>se Arbeiten sind für die Rechnung der Regierung innerhalb sechs<br />
Jahren auszuführen. <strong>Die</strong>smal streckt die Gesellschaft der Regierung die erforderlichen Kapitalien vor bis<br />
zur Höhe von 19,5 Millionen Franc, mit 5 Prozent Verzinsung und Rückzahlung binnen 36 Jahren. Dafür<br />
hat die türkische Regierung verpfändet: 1. 25.000 türkische Pfund pro Jahr aus den Überschüssen der für<br />
den <strong>Die</strong>nst der Kilometergarantien und verschiedener Anleihen verpfändeten Zehnten, die unter der<br />
Verwaltung der Administration de la Dette Publique Ottomane stehen: 2. die auf den bewässerten<br />
Ländereien erzielten Mehrerträgnisse an Zehnten im Vergleich zu dem in den letzten fünf Jahren vor der<br />
Konzession erbrachten Durchschnittserträge; 3. die aus dem Betriebe der Irrigationsanlagen sich<br />
ergebenden Nettoeinnahmen; 4. den Ertrag <strong>des</strong> Verkaufs der trockengelegten oder bewässerten<br />
Ländereien. Zur Ausführung der Anlagen hat die Gesellschaft in Frankfurt a.M. eine Baugesellschaft "für<br />
die Bewässerung der Koniaebene" mit einem Kapital von 135 Millionen Franc gegründet.<br />
1908 erhielt die Gesellschaft eine Konzession für die Verlängerung der Koniabahn bis Bagdad und zum<br />
Persischen Golf, wieder mit Kilometergarantie.<br />
<strong>Die</strong> 4prozentige Bagdadbahnanleihe in drei Serien (54, 108 und 119 Millionen Franc), die als Zahlung<br />
für den Kilometerzuschuß aufgenommen wurde, ist sichergestellt durch die Verpfändung der Zehnten der<br />
Wilajets Aidin, Bagdad, Mossul, Diarbekr, Urfa und Aleppo, durch die Verpfändung der Hammelsteuer<br />
der Wilajets Konia, Adana und Aleppo u.a.(13)<br />
Hier tritt die Grundlage der <strong>Akkumulation</strong> ganz klar zutage. Das deutsche Kapital baut in der<br />
asiatischen Türkei Eisenbahnen. Häfen, Bewässerungsanlagen. Es preßt bei all diesen Unternehmungen<br />
aus den Asiaten, die es als Arbeitskraft verwendet, neuen Mehrwert aus. <strong>Die</strong>ser Mehrwert muß aber<br />
mitsamt den in der Produktion verwendeten Produktionsmitteln aus Deutschland (Eisenbahnmaterial,<br />
Maschinen usw.) realisiert werden. Wer hilft sie realisieren? Zum Teil der durch die Eisenbahnen,<br />
Hafenanlagen usw. hervorgerufene Warenverkehr, der inmitten der naturalwirtschaftlichen Verhältnisse<br />
Kleinasiens großgezogen wird. Zum Teil, sofern der Warenverkehr für die Realisierungsbedürfnisse <strong>des</strong><br />
<strong>Kapitals</strong> nicht rasch genug wächst, werden Naturaleinkünfte der Bevölkerung vermittels der<br />
Staatsmaschinerie gewaltsam in Ware verwandelt, zu Geld gemacht und zur Realisierung <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong><br />
samt Mehrwert verwendet. Das ist der Sinn der "Kilometergarantie" für Bruttoeinnahmen bei<br />
selbständigen Unternehmungen <strong>des</strong> fremden <strong>Kapitals</strong> sowie der Pfandbürgschaften bei Anleihen. <strong>Die</strong> in<br />
beiden Fällen in unendlichen Variationen verpfändeten sogenannten "Zehnten" (Üschür) sind<br />
Naturalabgaben der türkischen Bauern, die nach und nach ungefähr auf 12 bis 12 1/2 Prozent erhöht<br />
worden sind. Der Bauer in den asiatischen Wilajets muß "Zehnten" zahlen, weil sie ihm sonst mit Hilfe<br />
der Gendarmen und der Staats- und Ortsbeamten einfach abgepreßt werden. <strong>Die</strong> "Zehnten", die hier<br />
selbst eine uralte Äußerung der auf Naturalwirtschaft gegründeten asiatischen Despotie sind, werden von<br />
der türkischen Regierung nicht direkt, sondern durch Pächter in der Art der Steuereinnehmer <strong>des</strong><br />
Ancien régime eingestrichen, denen der Staat den voraussichtlichen Ertrag der Abgabe im Wege der<br />
Auktion für je<strong>des</strong> Wilajet (Provinz) einzeln verkauft. Ist der Zehnt einer Provinz von einem einzelnen<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 30. Kapitel<br />
Spekulanten oder einem Konsortium erstanden, so verkaufen diese den Zehnten je<strong>des</strong> einzelnen<br />
Sandschaks (Kreises) an andere Spekulanten, die ihren Anteil wiederum einer ganzen Reihe kleinerer<br />
Agenten abtreten. Da jeder seine Spesen decken und soviel Gewinn als möglich einstreichen will, so<br />
wächst der Zehnt in dem Maße, wie er sich den Bauern nähert, lawinenartig. Hat sich der Pächter in<br />
seinen Berechnungen geirrt, so sucht er sich auf Kosten <strong>des</strong> Bauern zu entschädigen. <strong>Die</strong>ser wartet, fast<br />
immer verschuldet, mit Ungeduld auf den Augenblick, seine Ernte verkaufen zu können; wenn er aber<br />
sein Getreide geschnitten hat, muß er mit dem Dreschen oft wochenlang Warten, bis es dem<br />
Zehntpächter beliebt, sich den ihm gebührenden Teil zu nehmen. Der Zehntpächter, der gewöhnlich<br />
Getreidehändler ist, benutzt diese Lage <strong>des</strong> Bauern, dem die ganze Ernte auf dem Felde zu verfaulen<br />
droht, um ihn zu zwingen, ihm die Ernte zu niedrigem Preise zu verkaufen, und weiß sich gegen<br />
Beschwerden Unzufriedener die Hilfe der Beamten und besonders der Muktars (Ortsvorsteher) zu<br />
sichern.(14)<br />
Dem internationalen Conseil d'Administration de la Dette Publique Ottomane, der u.a. die Steuern von<br />
Salz, Tabak, Spirituosen, den Seidenzehnt und die Fischereiabgaben direkt verwaltet, sind die Zehnten<br />
als Kilometergarantie oder als Anleihesicherheit mit der je<strong>des</strong>maligen Klausel verpfändet, daß der<br />
Conseil an der Stipulierung der Pachtkontrakte betreffs dieser Zehnten teilnimmt und daß die Erträgnisse<br />
der Zehnten von den Pächtern direkt in die Kassen und Kontore <strong>des</strong> Conseil in den Wilajets abgeführt<br />
werden. Falls es unmöglich ist, einen Pächter für die Zehnten zu finden, werden sie von der türkischen<br />
Regierung in natura in Magazinen aufgespeichert, deren Schlüssel dem Conseil eingehändigt wird, der<br />
den Verkauf der Zehnten für eigene Rechnung übernimmt.<br />
Der ökonomische Stoffwechsel zwischen der kleinasiatischen, syrischen und mesopotamischen<br />
Bauernschaft und dem deutschen Kapital vollzieht sich also auf folgenden Wegen. Das Korn kommt auf<br />
den Fluren der Wilajets Konia, Bagdad, Basra usw. als einfaches Gebrauchsprodukt der primitiven<br />
Bauernwirtschaft zur Welt und wandert sogleich als Staatstribut in die Hand <strong>des</strong> Steuerpächters. Erst in<br />
seiner Hand wird das Korn zur Ware und als Ware zu Geld, das in die Hand <strong>des</strong> Staates übergeht. <strong>Die</strong>ses<br />
Geld, das nur verwandelte Form <strong>des</strong> bäuerlichen Korns ist, welches nicht einmal als Ware<br />
produziert war, dient jetzt dazu, als Staatsgarantie den Eisenbahnbau und -betrieb zum Teil zu bezahlen,<br />
d.h. den Wert der darin verbrauchten Produktionsmittel sowie den beim Bau und Betrieb der Eisenbahn<br />
aus dem asiatischen Bauern und Proletarier ausgepreßten Mehrwert zu realisieren. Da ferner bei dem<br />
Eisenbahnbau in Deutschland hergestellte Produktionsmittel verwendet werden, dient das in Geld<br />
verwandelte asiatische Bauernkorn zugleich dazu, den bei der Herstellung jener Produktionsmittel aus<br />
deutschen Arbeitern ausgepreßten Mehrwert zu vergolden. Bei dieser Funktion wandert das Geld aus der<br />
Hand <strong>des</strong> türkischen Staates in die Kassen der Deutschen Bank, um hier als Gründergewinne, Tantiemen,<br />
Dividenden und Zinsen in den Taschen der Herren Gwinner, Siemens, ihrer Mitverwalter, der Aktionäre<br />
und Kunden der Deutschen Bank sowie <strong>des</strong> ganzen Schlingpflanzensystems ihrer Tochtergesellschaften<br />
als kapitalistischer Mehrwert akkumuliert zu werden. Fällt - wie es in den Konzessionen vorgesehen ist -<br />
der Steuerpächter weg, so reduziert sich die verwickelte Reihe der Metamorphosen auf ihre einfachste<br />
und klarste Form: Das bäuerliche Korn wandert direkt in die Hände der Administration de la Dette<br />
Publique Ottomane, d.h. der Vertretung <strong>des</strong> europäischen <strong>Kapitals</strong>, und wird hier schon in seiner<br />
Naturalgestalt <strong>Ein</strong>nahme <strong>des</strong> deutschen und sonstigen auswärtigen <strong>Kapitals</strong>, es vollzieht die<br />
<strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> europäischen <strong>Kapitals</strong>, selbst bevor es seine eigene bäuerlich-asiatische<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 30. Kapitel<br />
Gebrauchsgestalt abgestoßen hat, es realisiert den kapitalistischen Mehrwert, bevor es Ware geworden<br />
und den eigenen Wert realisiert hat. Der Stoffwechsel geht hier in seiner brutalen und unverblümten<br />
Form direkt zwischen dem europäischen Kapital und der asiatischen Bauernwirtschaft vor sich, während<br />
der türkische Staat auf seine wirkliche Rolle <strong>des</strong> politischen Apparats zur Auspressung der<br />
Bauernwirtschaft für die Zwecke <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong> - die eigentliche Funktion aller orientalischen Staaten in<br />
der Periode <strong>des</strong> kapitalistischen Imperialismus - reduziert wird. Das Geschäft, das äußerlich als eine<br />
abgeschmackte Tautologie als Bezahlen deutscher Waren mit deutschem Kapital in Asien erscheint, bei<br />
dem die braven Deutschen den schlauen Türken nur den "Genuß" der großen Kulturwerke überlassen, ist<br />
im Grunde genommen ein Austausch zwischen dem deutschen Kapital und der asiatischen<br />
Bauernwirtschaft, ein mit Zwangsmitteln <strong>des</strong> Staates durchgeführter Austausch. <strong>Die</strong> Resultate <strong>des</strong><br />
Geschäfts sind: auf der einen Seite die fortschreitende Kapitalakkumulation und eine wachsende<br />
"Interessensphäre" als Vorwand für die weitere politische und wirtschaftliche Expansion <strong>des</strong> deutschen<br />
<strong>Kapitals</strong> in der Türkei; auf der anderen Seite Eisenbahnen und Warenverkehr auf der Grundlage<br />
der rapiden Zersetzung, <strong>des</strong> Ruins und der Aussaugung der asiatischen Bauernwirtschaft durch den Staat<br />
sowie der wachsenden finanziellen und politischen Abhängigkeit <strong>des</strong> türkischen Staates vom<br />
europäischen Kapital.(15)<br />
Fußnoten von <strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong><br />
(1) Das Eisenbahnnetz betrug in Kilometern in<br />
Europa Amerika Asien Afrika Australien<br />
1840 2.925 4.754 - - -<br />
1850 23.504 15.064 - - -<br />
1860 51.862 53.935 1.393 455 367<br />
1870 104.914 93.139 8.185 1.786 1.765<br />
1880 168.983 174.666 16.287 4.646 7.847<br />
1890 223.869 331.417 33.724 9.386 18.889<br />
1900 283.878 402.171 60.301 20.114 24.014<br />
1910 333.848 526.382 101.916 36.854 31.014<br />
Demnach betrug der Zuwachs in<br />
Europa Amerika Asien Afrika Australien<br />
1840-50 710 Proz. 215 Proz. - - -<br />
1850-60 121 Proz. 257 Proz. - - -<br />
1860-70 102 Proz. 73 Proz. 486 Proz. 350 Proz. 350 Proz.<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 30. Kapitel<br />
1870-80 61 Proz. 88 Proz. 99 Proz. 156 Proz. 333 Proz.<br />
1880-90 32 Proz. 89 Proz. 107 Proz. 104 Proz. 142 Proz.<br />
1890-1900 27 Proz. 21 Proz. 79 Proz. 114 Proz. 27 Proz.<br />
<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 30. Kapitel<br />
Umweg über die Türkei an das europäische Kapital. <strong>Die</strong> türkischen Anleihen von 1854, 1855, 1871,<br />
1877 und 1886 sind auf den mehrmals erhöhten ägyptischen Tribut fundiert, der direkt an die Bank von<br />
England gezahlt wird.
<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 30. Kapitel<br />
Mesapotamien, Bd. II, S. 5 u. 36.)
<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 30. Kapitel<br />
einnehmen, und die Gesellschaften werden Millionen einstreichen. <strong>Die</strong> Regierung wird für die Linien<br />
Kassaba und Angora fast den ganzen Betrag der Kilometergarantie zahlen und wird nicht erhoffen<br />
dürfen, von dem ihr im Vertrag zugesicherten 25prozentigen Anteil an dem Überschuß über 15.000<br />
Franc Bruttoeinnahme je profitieren zu können." (l.c., S. 7.)
<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 31. Kapitel<br />
30. Kapitel | Inhalt | 32. Kapitel<br />
<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - Gesammelte Werke. Herausgegeben vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Band<br />
5. <strong>Berlin</strong>/DDR. 1975. "<strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>", S. 391-398.<br />
1. Korrektur.<br />
Erstellt am 20.10.1998<br />
<strong>Ein</strong>unddreißigstes Kapitel<br />
Schutzzoll und <strong>Akkumulation</strong><br />
Der Imperialismus ist der politische Ausdruck <strong>des</strong> Prozesses der Kapitalakkumulation in ihrem<br />
Konkurrenzkampf um die Reste <strong>des</strong> noch nicht mit Beschlag belegten nichtkapitalistischen Weltmilieus.<br />
Geographisch umfaßt dieses Milieu heute noch die weitesten Gebiete der Erde. Gemessen jedoch an der<br />
gewaltigen Masse <strong>des</strong> bereits akkumulierten <strong>Kapitals</strong> der alten kapitalistischen Länder, das um die<br />
Absatzmöglichkeiten für sein Mehrprodukt wie um Kapitalisierungsmöglichkeiten für seinen Mehrwert<br />
ringt, gemessen ferner an der Rapidität, mit der heute Gebiete vorkapitalistischer Kulturen in<br />
kapitalistische verwandelt werden, mit anderen Worten gemessen an dem bereits erreichten hohen Grad<br />
der Entfaltung der Produktivkräfte <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, erscheint das seiner Expansion noch verbleibende Feld<br />
als ein geringer Rest. Demgemäß gestaltet sich das internationale Vorgehen <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong> auf der<br />
Weltbühne. Bei der hohen Entwicklung und der immer heftigeren Konkurrenz der kapitalistischen<br />
Länder um die Erwerbung nichtkapitalistischer Gebiete nimmt der Imperialismus an Energie und an<br />
Gewalttätigkeit zu, sowohl in seinem aggressiven Vorgehen gegen die nichtkapitalistische Welt wie in<br />
der Verschärfung der Gegensätze zwischen den konkurrierenden kapitalistischen Ländern. Je<br />
gewalttätiger, energischer und gründlicher der Imperialismus aber den Untergang nichtkapitalistischer<br />
Kulturen besorgt, um so rascher entzieht er der Kapitalakkumulation den Boden unter den Füßen. Der<br />
Imperialismus ist ebensosehr eine geschichtliche Methode der Existenzverlängerung <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong> wie das<br />
sicherste Mittel, <strong>des</strong>sen Existenz auf kürzestem Wege objektiv ein Ziel zu setzen. Damit ist nicht gesagt,<br />
daß dieser Endpunkt pedantisch erreicht werden muß. Schon die Tendenz zu diesem Endziel der<br />
kapitalistischen Entwicklung äußert sich in Formen, die die Schlußphase <strong>des</strong> Kapitalismus zu einer<br />
Periode der Katastrophen gestalten.<br />
<strong>Die</strong> Hoffnung auf eine friedliche Entwicklung der Kapitalakkumulation, auf den "Handel und Gewerbe,<br />
die nur bei Frieden gedeihen", die ganze offiziöse manchesterliche Ideologie der Interessenharmonie<br />
zwischen den Handelsnationen der Welt - die andere Seite der Interessenharmonie zwischen Kapital und<br />
Arbeit - stammt aus der Sturm-und-Drang-Periode der klassischen Nationalökonomie und schien eine<br />
praktische Bestätigung zu finden in der kurzen Freihandelsära in Europa in den 60er und 70er Jahren. Sie<br />
hat zur Grundlage das falsche Dogma der englischen Freihandelsschule, als sei der Warenaustausch die<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 31. Kapitel<br />
einzige Voraussetzung und Bedingung der Kapitalakkumulation, als sei diese mit der Warenwirtschaft<br />
identisch. <strong>Die</strong> ganze Ricardoschule identifizierte, wie wir sahen, die Kapitalakkumulation und ihre<br />
Reproduktionsbedingungen mit der einfachen Warenproduktion und mit den Bedingungen der einfachen<br />
Warenzirkulation. Noch mehr tritt dies später bei dem praktischen Freihändler vulgaris zutage. <strong>Die</strong> ganze<br />
Beweisführung der Cobden-Liga war zugeschnitten auf die besonderen Interessen der exportierenden<br />
Baumwollfabrikanten von Lancashire. Ihr Hauptaugenmerk war darauf gerichtet, Käufer zu gewinnen,<br />
und ihr Glaubensartikel lautete: Wir müssen dem Auslande abkaufen, damit wir wiederum als Verkäufer<br />
der Industrieprodukte, will sagen: der Baumwollwaren, Abnehmer finden. Der Konsument, in <strong>des</strong>sen<br />
Interesse Cobden und Bright den Freihandel, namentlich die Verbilligung der Nahrungsmittel, forderten,<br />
war nicht der Arbeiter, der das Brot verzehrt, sondern der Kapitalist, der die Arbeitskraft verzehrt.<br />
<strong>Die</strong>ses Evangelium war nie der wirkliche Ausdruck der Interessen der Kapitalakkumulation im ganzen.<br />
In England selbst wurde es schon in den 40er Jahren durch die Opiumkriege Lügen gestraft, die mit<br />
Kanonendonner die Interessenharmonie der Handelsnationen in Ostasien proklamierten, um mit der<br />
Annexion von Hongkong in das Gegenteil, in das System der "Interessensphären" umzuschlagen.(1) Auf<br />
dem europäischen Kontinent war der Freihandel der 60er Jahre schon aus dem Grunde kein Ausdruck der<br />
Interessen <strong>des</strong> industriellen <strong>Kapitals</strong>, weil die führenden Freihandels- länder <strong>des</strong> Kontinents in<br />
jener Zeit noch vorwiegend agrarische Länder, ihre Großindustrie noch verhältnismäßig schwach<br />
entwickelt war. Das Freihandelssystem wurde vielmehr als Maßnahme der politischen Konstituierung der<br />
mitteleuropäischen Staaten durchgesetzt. In Deutschland war es in der Manteuffelschen und<br />
Bismarckschen Politik ein spezifisch preußisches Mittel, Österreich aus dem Bund und dem Zollverein<br />
herauszudrängen und das neue Deutsche Reich unter Preußens Führung zu konstituieren. Ökonomisch<br />
stützte sich der Freihandel hier nur auf die Interessen <strong>des</strong> Kaufmannskapitals namentlich <strong>des</strong> am<br />
Welthandel interessierten <strong>Kapitals</strong> der Hansastädte, und auf agrarische Konsumenteninteressen; von der<br />
eigentlichen Industrie ließ sich die Eisenproduktion nur mit Mühe um die Konzession der Abschaffung<br />
der Rheinzölle für den Freihandel gewinnen, die süddeutsche Baumwollindustrie aber blieb<br />
unversöhnlich in der schutzzöllnerischen Opposition. In Frankreich waren die<br />
Meistbegünstigungsverträge, die die Grundlage für das Freihandelssystem in ganz Europa gelegt haben,<br />
von Napoleon III. ohne und gegen die kompakte schutzöllnerische Mehrheit <strong>des</strong> Parlaments aus<br />
Industriellen und Agrariern abgeschlossen. Der Weg der Handelsverträge selbst wurde von der<br />
Regierung <strong>des</strong> Zweiten Kaiserreichs nur als ein Notbehelf eingeschlagen und von England als solcher<br />
akzeptiert, um die parlamentarische Opposition Frankreichs zu umgehen und hinter dem Rücken der<br />
gesetzgebenden Körperschaft auf internationalem Wege den Freihandel durchzusetzen. Mit dem ersten<br />
grundlegenden Vertrag zwischen Frankreich und England wurde die öffentliche Meinung in Frankreich<br />
einfach überrumpelt.(2) Das alte Schutzzollsystem Frankreichs wurde von 1853 bis 1862 durch 32<br />
kaiserliche Dekrete abgetragen, die dann 1863 in lässiger Beobachtung der Form insgesamt "auf<br />
gesetzgeberischem Wege" bestätigt wurden. In Italien war der Freihandel ein Requisit der Cavourschen<br />
Politik und ihres Anlehnungsbedürfnisses an Frankreich. Schon 1870 wurde unter dem Drängen der<br />
öffentlichen Meinung eine Enquete eröffnet, die den Mangel an Rückhalt für die freihändlerische Politik<br />
in den Interessentenkreisen bloßgelegt hat. Endlich in Rußland war die freihändlerische Tendenz der 60er<br />
Jahre nur erst eine <strong>Ein</strong>leitung zur Schaffung einer breiten Grundlage für die Warenwirtschaft und die<br />
Großindustrie: begleitete sie doch erst die Aufhebung der Leibeigenschaft und die Herstellung eines<br />
Eisenbahnnetzes.(3)<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 31. Kapitel<br />
So konnte der Freihandel als internationales System von vornherein nicht mehr als eine Episode in der<br />
Geschichte der Kapitalakkumulation bleiben. Schon aus diesem Grunde ist es verkehrt, die allgemeine<br />
Umkehr zum Schutzzoll seit Ende der 70er Jahre lediglich als eine Abwehrmaßregel gegen den<br />
englischen Freihandel erklären zu wollen.(4)<br />
Gegen diese Erklärung sprechen die Tatsachen, daß in Deutschland wie in Frankreich und Italien<br />
bei der Umkehr zum Schutzzoll die führende Rolle den agrarischen Interessen zufiel, die sich nicht gegen<br />
die Konkurrenz Englands, sondern gegen die der Vereinigten Staaten richteten, daß im übrigen das<br />
Schutzbedürfnis für die aufkommende einheimische Industrie in Rußland sich z.B. viel stärker gegen<br />
Deutschland, in Italien aber gegen Frankreich richtete als gegen England. <strong>Die</strong> allgemeine dauernde<br />
Depression auf dem Weltmarkt, die sich seit der Krise der 70er Jahre hinzog und die Stimmung für den<br />
Schutzzoll vorbereitet hatte, war ebensowenig mit Englands Monopol verbunden. <strong>Die</strong> allgemeine<br />
Ursache der schutzzöllnerischen Frontänderung lag denn auch tiefer. Der reine Standpunkt <strong>des</strong><br />
Warenaustausches, dem die freihändlerische Illusion der Interessenharmonie auf dem Weltmarkt<br />
entstammte, ist aufgegeben worden, sobald das großindustrielle Kapital in den wichtigsten Ländern <strong>des</strong><br />
europäischen Kontinents so weit Fuß gefaßt hatte, um sich auf seine <strong>Akkumulation</strong>sbedingungen zu<br />
besinnen. <strong>Die</strong>se aber schoben gegenüber der Gegenseitigkeit der Interessen der kapitalistischen Staaten<br />
ihren Antagonismus und die Konkurrenz im Kampfe um das nichtkapitalistische Milieu in den<br />
Vordergrund.<br />
Als die Freihandelsära anhub, wurde Ostasien erst durch die Chinakriege erschlossen, in Ägypten stellte<br />
das europäische Kapital die ersten Schritte. In den 80er Jahren setzt parallel mit dem Schutzzoll die<br />
Expanionspolitik mit zunehmender Energie ein: <strong>Die</strong> Okkupation Ägyptens durch England, die deutschen<br />
Kolonialeroberungen in Afrika, die französische Okkupation von Tunis und die Expedition nach<br />
Tonking, die Vorstöße Italiens in Assab und Massaua, der abessinische Krieg und die Bildung<br />
Eritreas, die englischen Eroberungen in Südafrika-, alle diese Schritte folgten sich in einer<br />
ununterbrochenen Kette die 80er Jahre hindurch. Der Konflikt zwischen Italien und Frankreich wegen<br />
der Interessensphäre in Tunis war das charakteristische Vorspiel zu dem franko-italienischen Zollkrieg<br />
sieben Jahre später, der als drastischer Epilog die freihändlerische Interessenharmonie auf dem<br />
europäischen Kontinent abgeschlossen hat. <strong>Die</strong> Monopolisierung der nichtkapitalistischen<br />
Expansionsgebiete im Innern der alten kapitalistischen Staaten wie draußen in den überseeischen<br />
Ländern wurde zur Losung <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, während der Freihandel, die Politik der "offenen Tür" zur<br />
spezifischen Form der Schutzlosigkeit nichtkapitalistischer Länder gegenüber dem internationalen<br />
Kapital und <strong>des</strong> Gleichgewichts dieses konkurrierenden <strong>Kapitals</strong> geworden ist, zum Vorstadium ihrer<br />
partiellen oder gänzlichen Okkupation als Kolonien oder Interessenssphären. Wenn England allein bisher<br />
dem Freihandel treu geblieben ist, so hängt das in erster Linie damit zusammen, daß es als ältestes<br />
Kolonialteich in seinem gewaltigen Besitz an nichtkapitalistischen Gebieten von Anfang an eine<br />
Operationsbasis fand, die seiner Kapitalakkumulation bis in die jüngste Zeit fast schrankenlose<br />
Aussichten bot und es tatsächlich außerhalb der Konkurrenz anderer kapitalistischen Länder stellte.<br />
Daher der allgemeine Drang der kapitalistischen Länder, sich voneinander durch Schutzzölle<br />
abzusperren, obwohl sie zugleich füreinander in immer höherem Maße Warenabnehmer, aufeinander bei<br />
der Erneuerung ihrer sachlichen Reproduktionsbedingungen immer mehr angewiesen sind und obwohl<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 31. Kapitel<br />
die Schutzzölle heute, vom Standpunkte der technischen Entwicklung der Produktivkräfte, völlig<br />
entbehrlich geworden sind, ja vielfach umgekehrt zur künstlichen Konservierung veralteter<br />
Produktionsweisen führen. Der innere Widerspruch der internationalen Schutzzollpolitik ist, gleich dem<br />
widerspruchsvollen Charakter <strong>des</strong> internationalen Anleihesystems, bloß ein Reflex <strong>des</strong> geschichtlichen<br />
Widerspruchs, in den die Interessen der <strong>Akkumulation</strong>, d.h. der Realisierung und Kapitalisierung<br />
<strong>des</strong> Mehrwerts, der Expansion, zu den reinen Standpunkten <strong>des</strong> Warenaustausches geraten sind.<br />
Letzteres findet namentlich darin seinen handgreiflichen Ausdruck, daß das moderne<br />
Hochschutzzollsystem - entsprechend der kolonialen Expansion und den verschärften Gegensätzen<br />
innerhalb <strong>des</strong> kapitalistischen Milieus - wesentlich auch als Grundlage der verstärkten Militärrüstungen<br />
inauguriert wurde. In Deutschland wie in Frankreich, Italien und Rußland wurde die Umkehr zum<br />
Schutzzoll Hand in Hand mit Heeresvergrößerungen und in deren <strong>Die</strong>nste durchgeführt, als Basis <strong>des</strong><br />
gleichzeitig begonnenen Systems <strong>des</strong> europäischen Wettrüstens erst zu Lande und dann auch zu Wasser.<br />
Der europäische Freihandel, dem das kontinentale Militärsystem mit dem Schwerpunkt im Landheer<br />
entsprach, hat dem Schutzzoll als der Basis und Ergänzung <strong>des</strong> imperialistischen Militärsystems, bei dem<br />
der Schwerpunkt immer mehr in der Flotte liegt, den Platz geräumt.<br />
<strong>Die</strong> kapitalistische <strong>Akkumulation</strong> hat somit als Ganzes, als konkreter geschichtlicher Prozeß, zwei<br />
verschiedene Seiten. <strong>Die</strong> eine vollzieht sich in der Produktionsstätte <strong>des</strong> Mehrwerts - in der Fabrik, im<br />
Bergwerk, auf dem landwirtschaftlichen Gut - und auf dem Warenmarkt. <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> ist, von<br />
dieser Seite allein betrachtet, ein rein ökonomischer Prozeß, <strong>des</strong>sen wichtigste Phase zwischen dem<br />
Kapitalisten und dem Lohnarbeiter sich abspielt, der sich aber in beiden Phasen: im Fabrikraum wie auf<br />
dem Markt, ausschließlich in den Schranken <strong>des</strong> Warenaustausches, <strong>des</strong> Austausches von Äquivalenten<br />
bewegt. Friede, Eigentum und Gleichheit herrschen hier als Form, und es bedurfte der scharfen Dialektik<br />
einer wissenschaftlichen Analyse, um zu enthüllen, wie bei der <strong>Akkumulation</strong> Eigentumsrecht in<br />
Aneignung fremden Eigentums, Warenaustausch in Ausbeutung, Gleichheit in Klassenherrschaft<br />
umschlagen.<br />
<strong>Die</strong> andere Seite der Kapitalakkumulation vollzieht sich zwischen dem Kapital und nichtkapitalistischen<br />
Produktionsformen. Ihr Schauplatz ist die Weltbühne. Hier herrschen als Methoden Kolonialpolitik,<br />
internationales Anleihesystem, Politik der Interessensphären, Kriege. Hier treten ganz unverhüllt und<br />
offen Gewalt, Betrug, Bedrückung, Plünderung zutage, und es kostet Mühe, unter diesem Wust der<br />
politischen Gewaltakte und Kraftproben die strengen Gesetze <strong>des</strong> ökonomischen Prozesses aufzufinden.<br />
<strong>Die</strong> bürgerlich-liberale Theorie faßt nur die eine Seite: die Domäne <strong>des</strong> "friedlichen Wettbewerbs", der<br />
technischen Wunderwerke und <strong>des</strong> reinen Warenhandels, ins Auge, um die andere Seite, das<br />
Gebiet der geräuschvollen Gewaltstreiche <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, als mehr oder minder zufällige Äußerungen der<br />
"auswärtigen Politik" von der ökonomischen Domäne <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong> zu trennen.<br />
In Wirklichkeit ist die politische Gewalt auch hier nur das Vehikel <strong>des</strong> ökonomischen Prozesses, die<br />
beiden Seiten der Kapitalakkumulation sind durch die Reproduktionsbedingungen <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong> selbst<br />
organisch miteinander verknüpft, erst zusammen ergeben sie die geschichtliche Laufbahn <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>.<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 31. Kapitel<br />
<strong>Die</strong>ses kommt nicht bloß "von Kopf bis Zeh, aus allen Poren blut- und schmutztriefend" zur Welt,<br />
sondern es setzt sich auch so Schritt für Schritt in der Welt durch und bereitet so, unter immer heftigeren<br />
konvulsivischen Zuckungen, seinen eigenen Untergang vor.<br />
Fußnoten von <strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong><br />
(1) Und nicht nur in England. "Schon 1859 hatte eine durch ganz Deutschland verbreitete Flugschrift, als<br />
deren Verfasser man den Fabrikanten <strong>Die</strong>rgardt aus Viersen bezeichnete, die eindringliche Mahnung an<br />
Deutschland gerichtet, sich <strong>des</strong> ostasiatischen Marktes rechtzeitig zu versichern. Es gab nur ein Mittel,<br />
um den Japanern, überhaupt den Ostasiaten gegenüber handelspolitisch etwas zu erreichen, das ist<br />
militärische Machtentfaltung. <strong>Die</strong> aus dem Sparpfennig <strong>des</strong> Volkes erbaute deutsche Flotte war ein<br />
Jugendtraum gewesen. Sie war längst durch Hannibal Fischer versteigert. Preußen hatte einige Schiffe,<br />
freilich keine imponierende Marinemacht. Man entschloß sich aber, ein Geschwader auszurüsten, um in<br />
Ostasien Handelsvertragsverhandlungen anzuknüpfen. <strong>Die</strong> Führung der Mission, welche auch<br />
wissenschaftliche Zwecke verfolgte, erhielt einer der fähigsten und besonnensten preußischen<br />
Staatsmänner, Graf zu Eulenburg. Derselbe führte seinen Auftrag unter den schwierigsten Verhältnissen<br />
mit großem Geschick durch. Auf den Plan, damals auch mit den Hawaiischen Inseln<br />
Vertragsbeziehungen anzuknüpfen, mußte man verzichten. Im übrigen erreichte die Expedition ihren<br />
Zweck. Trotzdem die <strong>Berlin</strong>er Presse damals alles besser wußte und bei jeder Nachricht über<br />
eingetretene Schwierigkeiten erklärte, das habe man längst vorausgesehen und alle solche Ausgaben für<br />
Flottendemonstrationen seien eine Verschwendung der Mittel der Steuerzahler, läßt sich das Ministerium<br />
der neuen Ära nicht irremachen. Den Nachfolgern wurde die Genugtuung <strong>des</strong> Erfolges zuteil." (W. Lotz:<br />
<strong>Die</strong> Ideen der deutschen Handelspolitik, S. 80.)
<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 31. Kapitel<br />
verflossenen 60 Jahre, von 1822 bis 1882, hat die größte Produzentin Rußlands, die Landwirtschaft,<br />
viermal unermeßlichen Schaden erleiden müssen, wodurch sie in eine äußerst kritische Lage gebracht<br />
wurde, und in allen vier Fällen lag die unmittelbare Ursache an maßlos hohen Zolltarifen. Umgekehrt ist<br />
die 32jährige Zeitperiode von 1845 bis 1877, während der gemäßigte Zölle bestanden, ohne solche<br />
Notstände abgelaufen, ungeachtet der drei Kriege und eines inneren Bürgerkrieges (gemeint ist der<br />
polnische Aufstand 1863 – R. L.), von denen jeder eine größere oder geringere Anspannung der<br />
Finanzkräfte <strong>des</strong> Staates bewirkte." (Memorandum der Kaiserl. Freien Ökonomischen Gesellschaft in<br />
Sachen der Revision <strong>des</strong> russischen Zolltarifs, Petersburg 1890, S. 148.) Wie wenig in Rußland bis in die<br />
jüngste Zeit die Verfechter <strong>des</strong> Freihandels oder wenigstens eines gemäßigten Schutzzolls als die<br />
Vertreter der Interessen <strong>des</strong> Industriekapitals betrachtet werden dürfen, beweist schon die Tatsache, daß<br />
die wissenschaftliche Stütze dieser freihändlerischen Bewegung, die genannte Freie Ökonomische<br />
Gesellschaft, noch in den 90er Jahren gegen den Schutzzoll gerade als gegen ein Mittel der "künstlichen<br />
Verpflanzung" der kapitalistischen Industrie nach Rußland eiferte und im Geiste reaktionärer<br />
"Volkstümler" den Kapitalismus als die Brutstätte <strong>des</strong> modernen Proletariats denunzierte, "jener Massen<br />
militärdienstuntauglicher, besitzloser und heimatloser Menschen, die nichts zu verlieren haben und die<br />
seit langer Zeit keinen guten Ruf genießen ...". (l.c., S. 171.) Vgl. auch K. Lodyshenski: Geschichte <strong>des</strong><br />
russischen Zolltarifs, Petersburg 1886, S. 239-258.
<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 32. Kapitel<br />
31. Kapitel | Inhalt<br />
<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - Gesammelte Werke. Herausgegeben vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Band<br />
5. <strong>Berlin</strong>/DDR. 1975. "<strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>", S. 398-411.<br />
1. Korrektur.<br />
Erstellt am 20.10.1998<br />
Zweiunddreißigstes Kapitel<br />
Der Militarismus auf dem Gebiet der Kapitalakkumulation<br />
Der Militarismus übt in der Geschichte <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong> eine ganz bestimmte Funktion aus. Er<br />
begleitet die Schritte der <strong>Akkumulation</strong> in allen ihren geschichtlichen Phasen. In der Periode der<br />
sogenannten "primitiven <strong>Akkumulation</strong>", d.h. in den Anfängen <strong>des</strong> europäischen <strong>Kapitals</strong>, spielt der<br />
Militarismus die entscheidende Rolle bei der Eroberung der Neuen Welt und der Gewürzländer Indiens,<br />
später bei der Eroberung der modernen Kolonien, Zerstörung der sozialen Verbände der primitiven<br />
Gesellschaften und Aneignung ihrer Produktionsmittel, bei der Erzwingung <strong>des</strong> Warenhandels in<br />
Ländern, deren soziale Struktur der Warenwirtschaft hinderlich ist, bei der gewaltsamen Proletarisierung<br />
der <strong>Ein</strong>geborenen und der Erzwingung der Lohnarbeit in den Kolonien, bei der Bildung und Ausdehnung<br />
von Interessensphären <strong>des</strong> europäischen <strong>Kapitals</strong> in außereuropäischen Gebieten, bei der Erzwingung von<br />
Eisenbahnkonzessionen in rückständigen Ländern und bei der Vollstreckung der Forderungsrechte <strong>des</strong><br />
europäischen <strong>Kapitals</strong> aus internationalen Anleihen, endlich als Mittel <strong>des</strong> Konkurrenzkampfes der<br />
kapitalistischen Länder untereinander um Gebiete nichtkapitalistischer Kultur.<br />
Dazu kommt noch eine andere wichtige Funktion. Der Militarismus erscheint auch rein ökonomisch für<br />
das Kapital als ein Mittel ersten Ranges zur Realisierung <strong>des</strong> Mehrwerts, d.h. als ein Gebiet der<br />
<strong>Akkumulation</strong>. Bei der Untersuchung der Frage, wer als Abnehmer der Produktenmasse in<br />
Betracht käme, in der der kapitalisierte Mehrwert steckt, haben wir mehrfach den Hinweis auf den Staat<br />
und seine Organe als Konsumenten abgelehnt. Wir haben sie als Vertreter abgeleiteter<br />
<strong>Ein</strong>kommenquellen in dieselbe Kategorie der Nutznießer <strong>des</strong> Mehrwerts (oder zum Teil <strong>des</strong> Arbeitslohns)<br />
eingereiht, der auch die Vertreter liberaler Berufe sowie allerlei Schmarotzerexistenzen der heutigen<br />
Gesellschaft ("König, Pfaff, Professor, Hure, Kriegsknecht") angehören. <strong>Die</strong>se Erledigung der Frage ist<br />
aber erschöpfend nur unter zwei Voraussetzungen: einmal, wenn wir, im Sinne <strong>des</strong> Marxschen Schemas<br />
der Reproduktion, annehmen, daß der Staat keine anderen Steuerquellen besitzt als den kapitalistischen<br />
Mehrwert und den kapitalistischen Arbeitslohn (1); und zweitens, wenn wir den Staat mit seinen Organen<br />
nur als Konsumenten ins Auge fassen. Handelt es sich nämlich um persönliche Konsumtion der<br />
Staatsbeamten (so auch <strong>des</strong> "Kriegsknechts"), so bedeutet das - sofern sie aus Arbeitermitteln bestritten<br />
wird - partielle Übertragung der Konsumtion von der Arbeiterklasse auf den Anhang der<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 32. Kapitel<br />
Kapitalistenklasse.<br />
Nehmen wir für einen Augenblick an, der gesamte den Arbeitern abgepreßte Betrag an indirekten<br />
Steuern, der einen Abzug an ihrer Konsumtion bedeutet, werde darauf verwendet, den Staatsbeamten<br />
Gehälter auszuzahlen und das stehende Heer mit Lebensmitteln zu verproviantieren. Dann wird in der<br />
Reproduktion <strong>des</strong> gesellschaftlichen Gesamtkapitals keine Verschiebung eintreten. Sowohl die Abteilung<br />
der Lebensmittel wie infolge<strong>des</strong>sen auch die Abteilung der Produktionsmittel bleiben unverändert, denn<br />
der Gesamtbedarf der Gesellschaft hat nach Art und Menge keinen Wechsel erlitten. Was jetzt verändert<br />
worden, ist bloß das Wertverhältnis zwischen v als Ware Arbeitskraft und den Produkten der Abteilung<br />
II, d.h. Lebensmitteln. Dasselbe v, derselbe Geldausdruck der Arbeitskraft wird jetzt mit einer geringeren<br />
Menge Lebensmittel ausgetauscht. Was geschieht mit dem so entstehenden Rest an Produkten der <br />
Abteilung II? Er wandert statt an die Arbeiter an Staatsbeamte und das Heer. An Stelle der Konsumtion<br />
der Arbeiter tritt in demselben Umfang die Konsumtion der Organe <strong>des</strong> kapitalistischen Staates. Es ist<br />
also bei gleichbleibenden Reproduktionsbedingungen eine Änderung in der Verteilung <strong>des</strong><br />
Gesamtprodukts eingetreten: <strong>Ein</strong>e Portion der früher zur Konsumtion der Arbeiterklasse, zur Deckung <strong>des</strong><br />
v, bestimmten Produkte der Abteilung II wird nunmehr dem Anhang der Kapitalistenklasse zur<br />
Konsumtion zugeteilt. Vom Standpunkt der gesellschaftlichen Reproduktion läuft diese Verschiebung auf<br />
dasselbe hinaus wie wenn von vornherein der relative Mehrwert um den bestimmten Wertbetrag größer,<br />
und zwar dieser Zuwachs dem zur Konsumtion der Kapitalistenklasse nebst Anhang bestimmten Teil <strong>des</strong><br />
Mehrwerts zugewiesen wäre.<br />
Insofern läuft das Schröpfen der Arbeiterklasse durch den Mechanismus der indirekten Besteuerung, um<br />
daraus die Stützen der kapitalistischen Staatsmaschinerie zu erhalten, einfach auf eine Vergrößerung <strong>des</strong><br />
Mehrwerts, und zwar <strong>des</strong> konsumierten Teils <strong>des</strong> Mehrwerts, hinaus; nur daß diese ergänzende Teilung<br />
zwischen Mehrwert und variablem Kapital post festum, nach dem vollzogenen Austausch zwischen<br />
Kapital und Arbeitskraft geschieht. Haben wir es aber so mit einem nachträglichen Zuwachs <strong>des</strong><br />
konsumierten Mehrwerts zu tun, dann kommt diese Konsumtion der Organe <strong>des</strong> kapitalistischen Staates -<br />
auch wenn sie auf Kosten der Arbeiterklasse geschieht - als Mittel der Realisierung <strong>des</strong> kapitalisierten<br />
Mehrwerts nicht in Betracht. Umgekehrt kann man sagen: Wenn die Arbeiterklasse nicht die<br />
Erhaltungskosten der Staatsbeamten und <strong>des</strong> "Kriegsknechts" zum größten Teil tragen würde, so müßten<br />
die Kapitalisten selbst diese Kosten ganz tragen. Sie müßten der Erhaltung dieser Organe ihrer<br />
Klassenherrschaft direkt aus dem Mehrwert eine entsprechende Portion zuweisen, und zwar entweder auf<br />
Kosten der eigenen Konsumtion, die sie entsprechend einschränken müßten, oder, was das<br />
Wahrscheinlichere, auf Kosten <strong>des</strong> zur Kapitalisierung bestimmten Teils <strong>des</strong> Mehrwerts. Sie könnten<br />
weniger kapitalisieren, weil sie mehr zur direkten Erhaltung ihrer eigenen Klasse verwenden müßten. <strong>Die</strong><br />
Abwälzung der Erhaltungskosten ihres Anhangs zum größten Teil auf die Arbeiterklasse (und auf die<br />
Vertreter der einfachen Warenproduktion: Bauern, Handwerker) erlaubt es den Kapitalisten, eine größere<br />
Portion <strong>des</strong> Mehrwerts für die Kapitalisierung zu befreien. Sie schafft aber noch vorerst keineswegs die<br />
Möglichkeit dieser Kapitalisierung, d.h., sie schafft noch kein neues Absatzgebiet, um mit diesem<br />
befreiten Mehrwert auch tatsächlich neue Waren herstellen und sie auch realisieren zu können. Anders<br />
wenn die durch das Steuer- system in der Hand <strong>des</strong> Staates konzentrierten Mittel zur Produktion<br />
von Kriegsmitteln verwendet werden.<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 32. Kapitel<br />
Auf der Basis der indirekten Besteuerung und Hochschutzzölle werden die Kosten <strong>des</strong> Militarismus in der<br />
Hauptsache bestritten durch die Arbeiterklasse und das Bauerntum. Beide Steuerquoten sind gesondert zu<br />
betrachten. Was die Arbeiterklasse betrifft, so läuft das Geschäft ökonomisch auf das Folgende hinaus.<br />
Vorausgesetzt, daß eine Erhöhung der Löhne bis zum Ausgleich der Lebensmittelverteuerung nicht<br />
stattfindet - was gegenwärtig für die große Masse der Arbeiterklasse zutrifft und was selbst für die<br />
gewerkschaftlich organisierte Minderheit durch den Druck der Kartelle und Unternehmerorganisationen<br />
in hohem Grade bewirkt wird (2), so bedeutet die indirekte Besteuerung die Übertragung eines Teils der<br />
Kaufkraft der Arbeiterklasse auf den Staat. Das variable Kapital als Geldkapital von einer bestimmten<br />
Größe dient nach wie vor dazu, die entsprechende Menge lebendige Arbeit in Bewegung zu setzen, also<br />
das entsprechende konstante Kapital zu Produktionszwecken zu benutzen und die entsprechende Menge<br />
Mehrwert zu produzieren. Nachdem diese Zirkulation <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong> vollzogen, geht eine Teilung zwischen<br />
der Arbeiterklasse und dem Staate vor sich: <strong>Ein</strong> Teil der von ihr im Austausch gegen die Arbeitskraft<br />
erhaltenen Geldmenge wird an den Staat abgeführt. Während das ganze frühere variable Kapital in seiner<br />
Sachgestalt als Arbeitskraft vom Kapital angeeignet wird, bleibt von der Geldform <strong>des</strong> variablen <strong>Kapitals</strong><br />
nur ein Teil in der Hand der Arbeiterklasse, während ein anderer Teil in den Besitz <strong>des</strong> Staates gelangt.<br />
<strong>Die</strong> Transaktion geht je<strong>des</strong>mal nach vollzogener Kapitalzirkulation zwischen Kapital und Arbeit vor sich,<br />
sozusagen hinter dem Rücken <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, sie berührt unmittelbar in nichts diesen fundamentalen Teil<br />
der Kapitalzirkulation und Mehrwertproduktion und geht sie zunächst nichts an. Wohl aber berührt sie die<br />
Bedingungen der Reproduktion <strong>des</strong> Gesamtkapitals. <strong>Die</strong> Übertragung eines Teils der Kaufkraft der<br />
Arbeiterklasse auf den Staat bedeutet, daß der Anteil der Arbeiterklasse an der Konsumtion der<br />
Lebensmittel in demselben Maße geringer geworden ist. Für das Gesamtkapital ist dies identisch mit der<br />
Tatsache, daß es bei der gleichen Größe <strong>des</strong> variablen <strong>Kapitals</strong> (als Geldkapital und als Arbeitskraft) und<br />
gleicher Masse angeeigneten Mehrwerts eine geringere Menge Lebensmittel zur Erhaltung der<br />
Arbeiterklasse produzieren muß, ihr tatsächlich eine Anweisung auf einen geringeren Anteil am<br />
Gesamtprodukt gibt. Daraus ergibt sich, daß bei der Reproduktion <strong>des</strong> Gesamtkapitals nunmehr eine<br />
geringere Menge Lebensmittel produziert werden wird, als es der Wertgröße <strong>des</strong> variablen <strong>Kapitals</strong><br />
entspricht, da sich ja das Wertverhältnis zwischen dem variablen Kapital und der Menge Lebensmittel,<br />
worin es realisiert wird, selbst verändert hat; die Höhe der indirekten Besteuerung äußert sich in der<br />
Preiserhöhung der Lebensmittel, während der Geldausdruck der Arbeitskraft nach unserer Voraussetzung<br />
unverändert bleibt oder sich nicht im Verhältnis zur Preiserhöhung der Lebensmittel verändert.<br />
Nach welcher Richtung wird nun die Verschiebung in den sachlichen Verhältnissen der Reproduktion<br />
stattfinden? Durch die relative Verringerung der zur Erneuerung der Arbeitskraft erforderlichen Menge<br />
Lebensmittel wird eine entsprechende Menge konstantes Kapital und lebendige Arbeit frei. <strong>Die</strong>ses<br />
konstante Kapital und diese lebendige Arbeit können für anderweitige Produktion verwendet werden,<br />
sofern sich ein neuer zahlungsfähiger Bedarf in der Gesellschaft findet. Den neuen Bedarf stellt aber<br />
nunmehr der Staat mit dem von ihm vermöge der Steuergesetzgebung angeeigneten Teil der Kaufkraft der<br />
Arbeiterklasse dar. Der Bedarf <strong>des</strong> Staates richtet sich aber diesmal nicht auf Lebensmittel (von dem<br />
gleichfalls aus Steuern gedeckten Bedarf an Lebensmitteln zur Erhaltung der Staatsbeamten sehen wir<br />
hier nach allem früher sub "dritte Personen" Behandelten ab), sondern auf eine spezifische Produktenart,<br />
auf Kriegsmittel <strong>des</strong> Militarismus zu Lande und zu Wasser.<br />
Um uns die Verschiebungen, die sich dabei in der gesellschaftlichen Reproduktion ergeben, näher<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 32. Kapitel<br />
anzusehen, nehmen wir wieder als Beispiel das zweite Marxsche Schema der <strong>Akkumulation</strong>:<br />
I. 5.000 c + 1.000 v + 1.000 m = 7.000 Produktionsmittel.<br />
II: 1.430 c + 285 v + 285 m = 2.000 Konsummittel.<br />
Nehmen wir nun an, durch die indirekten Steuern und die dadurch erzeugte Teuerung der Lebensmittel<br />
werde der Reallohn, d.h. die Konsumtion der Arbeiterklasse, im ganzen um den Wertbetrag von 100<br />
verringert. <strong>Die</strong> Arbeiter bekommen also nach wie vor 1.000 v + 285 v = 1.285 v in Geld, erlangen aber<br />
dafür in Wirklichkeit Lebensmittel nur im Werte von 1.185. <strong>Die</strong> Geldsumme von 100, die dem<br />
Preisaufschlag der Lebensmittel gleicht, gelangt als Steuer an den Staat. <strong>Die</strong>ser hat außerdem von den<br />
Bauern usw. an Steuern für Militärrüstzeug, sagen wir, 150 in der Hand, zusammen 250. <strong>Die</strong>se 250<br />
stellen eine neue Nachfrage, und zwar nach Kriegsmittel dar. Uns gehen jedoch vorläufig nur die 100, die<br />
aus Arbeits- löhnen herstammen, an. Zur Befriedigung dieses Bedarfs an Kriegsmitteln zum Werte<br />
von 100 entsteht ein entsprechender Produktionszweig, der - unter Voraussetzung einer gleichen, d.h.<br />
durchschnittlichen organischen Zusammensetzung, wie sie im Marxschen Schema angenommen worden -<br />
eines konstanten <strong>Kapitals</strong> von 71,5 und eines variablen von 14,25 bedarf: 71,5 c + 14,25 v + 14,25 m =<br />
100 (Kriegsmittel).<br />
Für den Bedarf dieses Produktionszweigs werden ferner Produktionsmittel im Wertbetrage von 71,5 und<br />
Lebensmittel im Wertbetrage von zirka 13 (entsprechend der nunmehr auch für diese Arbeiter geltenden<br />
Verminderung ihres Reallohns um zirka 1/13) hergestellt werden müssen.<br />
Darauf kann sofort erwidert werden, daß der aus dieser neuen Absatzerweiterung sich ergebende Gewinn<br />
für das Kapital nur ein scheinbarer sei, denn die Verringerung der tatsächlichen Konsumtion der<br />
Arbeiterklasse wird die entsprechende <strong>Ein</strong>schränkung der Lebensmittelproduktion zur unvermeidlichen<br />
Folge haben. <strong>Die</strong>se <strong>Ein</strong>schränkung wird sich für die Abteilung II in der folgenden Proportion ausdrücken.<br />
71,5 c + 14,25 v + 14,25 m = 100.<br />
Dementsprechend wird aber ferner auch die Abteilung der Produktionsmittel ihren Umfang einschränken<br />
müssen, so daß beide Abteilungen infolge der Verringerung der Konsumtion der Arbeiterklasse sich wie<br />
folgt gestalten werden:<br />
I. 4.949,00 c + 989,75 v + 989,75 m = 6.928,50<br />
II: 1.358,50 c + 270,75 v + 270,75 m = 1.900,00<br />
Wenn jetzt dieselben 100 durch die Vermittlung <strong>des</strong> Staates eine Produktion von Kriegsmitteln zum<br />
gleichen Wertbetrage ins Leben rufen und dementsprechend auch die Produktion von Produktionsmitteln<br />
wieder beleben, so erscheint das auf den ersten Blick nur eine äußere Verschiebung in der Sachgestalt der<br />
gesellschaftlichen Produktion: Statt einer Menge Lebensmittel produziere man eine Menge Kriegsmittel.<br />
Das Kapital habe mit der einen Hand nur gewonnen, was es aus der anderen verloren habe. Oder die<br />
Sache kann auch so gefaßt werden: Was der großen Anzahl Kapitalisten, die Lebensmittel für die<br />
Arbeitermasse produzieren, an Absatz abgehe, komme einer kleinen Gruppe von Großindustriellen der<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 32. Kapitel<br />
Kriegsmittelbranche zugute.<br />
Doch so stellt sich die Sache dar, nur solange man auf dem Standpunkt <strong>des</strong> <strong>Ein</strong>zelkapitals steht. Von<br />
diesem Standpunkt ist es freilich gehupft wie gesprungen, ob die Produktion sich auf dieses oder jenes<br />
Gebiet wendet. Für das <strong>Ein</strong>zelkapital existieren überhaupt die Abteilungen der Gesamt- <br />
produktion, wie sie das Schema unterscheidet, nicht, sondern einfach Waren und Käufer, und für den<br />
<strong>Ein</strong>zelkapitalisten ist es <strong>des</strong>halb an sich völlig gleichgültig, ob er Lebensmittel oder To<strong>des</strong>mittel,<br />
Fleischkonserven oder Panzerplatten produziert.<br />
<strong>Die</strong>ser Standpunkt wird häufig von Gegnern <strong>des</strong> Militarismus ins Feld geführt, um darzutun, daß die<br />
Kriegsrüstungen als wirtschaftliche Anlage für das Kapital nur den einen Kapitalisten zugute kommen<br />
lassen, was sie den anderen genommen haben.(3) Auf der anderen Seite suchen das Kapital und sein<br />
Apologet diesen Standpunkt der Arbeiterklasse zu oktroyieren, indem sie ihr einreden, durch die<br />
indirekten Steuern und den Staatsbedarf trete nur eine Verschiebung in der sachlichen Form der<br />
Reproduktion ein; statt anderer Waren produziere man Kreuzer und Kanonen, dank denen der Arbeiter<br />
seine Beschäftigung und sein Brot im gleichen oder noch größeren Maße, ob hier oder dort, finde.<br />
Was die Arbeiter betrifft, so zeigt ein Blick auf das Schema, was daran Wahres ist. Angenommen zur<br />
Erleichterung <strong>des</strong> Vergleichs, daß die Produktion der Kriegsmittel genausoviel Arbeiter wie früher die<br />
Herstellung von Lebensmitteln für die Lohnarbeiter beschäftige, ergibt sich, daß sie jetzt bei einer<br />
Arbeitsleistung, die dem Lohn von 1.285 v entspricht, Lebensmittel für 1.185 kriegen.<br />
Anders vom Standpunkte <strong>des</strong> Gesamtkapitals. Für dieses erscheinen die 100 in der Hand <strong>des</strong> Staates, die<br />
eine Nachfrage nach Kriegsmitteln darstellen, als neues Absatzgebiet. <strong>Die</strong>se Geldsumme war<br />
ursprünglich variables Kapital. Sie hat als solche ihren <strong>Die</strong>nst getan, sich gegen lebendige Arbeit<br />
ausgetauscht, die Mehrwert erzeugt hat. Hinterdrein unterbricht sie die Zirkulation <strong>des</strong> variablen <strong>Kapitals</strong>,<br />
löst sich von ihr ab und erscheint im Besitze <strong>des</strong> Staates als neue Kaufkraft wieder. Gleichsam aus nichts<br />
erschaffen, wirkt sie genauso wie ein neuerschlossenes Absatzgebiet. Freilich, das Kapital wird<br />
zunächst um 100 geringeren Absatz an Lebensmitteln für die Arbeiter haben. Für den <strong>Ein</strong>zelkapitalisten<br />
ist der Arbeiter auch ein ebenso guter Konsument und Warenabnehmer wie jeder andere, wie ein<br />
Kapitalist, der Staat, der Bauer, "das Ausland" usw. Vergessen wir jedoch nicht, daß für das<br />
Gesamtkapital die Ernährung der Arbeiterklasse nur Malum necessarium, nur ein Umweg zum<br />
eigentlichen Zweck der Produktion: zur Erzeugung und Realisierung <strong>des</strong> Mehrwerts, ist. Gelingt es,<br />
dieselbe Menge Mehrwert herauszupressen, ohne der Arbeitskraft dieselbe Menge Lebensmittel zuführen<br />
zu müssen, um so glänzender das Geschäft. Es läuft zunächst auf dasselbe hinaus, wie wenn es - ohne<br />
Lebensmittelteuerung - dem Kapital gelungen wäre, die Geldlöhne entsprechend herabzudrücken, ohne<br />
die Leistung der Arbeiter zu verringern. Zieht doch dauernde Lohnreduktion gleichfalls im weiteten<br />
Gefolge die <strong>Ein</strong>schränkung der Lebensmittelproduktion nach sich. Sowenig sich das Kapital graue Haare<br />
wachsen laßt, daß es weniger Lebensmittel für die Arbeiter wird produzieren müssen, wenn es an ihren<br />
Löhnen Beutelschneiderei treibt, vielmehr diesem Geschäft bei jeder Gelegenheit mit Lust und Liebe<br />
nachgeht, ebensowenig verursacht es dem Kapital im ganzen Beschwerden, daß die Arbeiterklasse dank<br />
der indirekten Besteuerung, die nicht durch Lohnerhöhungen wettgemacht wird, eine geringere Nachfrage<br />
nach Lebensmitteln darstellt. Freilich bleibt bei direkten Lohnreduktionen die Differenz an variablem<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 32. Kapitel<br />
Kapital in der Tasche <strong>des</strong> Kapitalisten und vergrößert, bei gleichbleibenden Warenpreisen, den relativen<br />
Mehrwert, während sie jetzt in die Staatskasse wandert. Allein andererseits sind allgemeine und dauernde<br />
Reduktionen an Geldlöhnen zu allen Zeiten, namentlich aber bei hoher Entwicklung der<br />
gewerkschaftlichen Organisationen, nur selten durchführbar. Der fromme Wunsch <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong> stößt hier<br />
auf starke Schranken sozialer und politischer Natur. Hingegen setzt sich die Herabdrückung der<br />
Reallöhne vermittelst der indirekten Besteuerung prompt, glatt und generell durch, worauf sich der<br />
Widerstand meist erst nach längerer Zeit, auf politischem Gebiete und ohne unmittelbares ökonomisches<br />
Resultat zu äußern pflegt. Ergibt sich daraus hinterdrein eine <strong>Ein</strong>schränkung der Lebensmittelproduktion,<br />
so erscheint das Geschäft vom Standpunkte <strong>des</strong> Gesamtkapitals nicht als ein Verlust an Absatz, sondern<br />
als eine Ersparnis an Unkosten bei der Produktion von Mehrwert. <strong>Die</strong> Herstellung von Lebensmitteln für<br />
Arbeiter ist eine Bedingung sine qua non der Produktion <strong>des</strong> Mehrwerts, nämlich die Reproduktion der<br />
lebendigen Arbeitskraft, niemals aber ein Mittel der Realisierung <strong>des</strong> Mehrwerts.<br />
Nehmen wir unser Beispiel wieder auf:<br />
I. 5.000 c + 1.000 v + 1.000 m = 7.000 Produktionsmittel.<br />
II: 1.430 c + 285 v + 285 m = 2.000 Konsummittel.<br />
Auf den ersten Blick scheint es, als ob hier die Abteilung II auch bei der Herstellung der<br />
Konsumtionsmittel für die Arbeiter Mehrwert erzeugen und realisieren würde, ebenso die Abteilung I,<br />
sofern sie Produktionsmittel herstellt, die zu jener Produktion von Lebensmitteln erforderlich sind. Doch<br />
der Schein verschwindet, wenn wir das gesellschaftliche Gesamtprodukt betrachten. <strong>Die</strong>ses stellt sich so<br />
dar: 6.430 c + 1.285 v + 1.285 m = 9.000.<br />
Nun träte eine Verringerung der Konsumtion der Arbeiter um 100 ein. <strong>Die</strong> Verschiebung in der<br />
Reproduktion infolge der entsprechenden <strong>Ein</strong>schränkung beider Abteilungen wird sich so ausdrücken:<br />
I. 4.949,00 c + 989,75 v + 989,75 m = 6.928,50<br />
II: 1.358,50 c + 270,75 v + 270,75 m = 1.900,00<br />
Und das gesellschaftliche Gesamtprodukt: 6.307,5 c + 1.260,5 v + 1.260,5 m = 8.828,5.<br />
Es ist auf den ersten Blick ein allgemeiner Ausfall in dem Produktionsumfang und auch in der Produktion<br />
von Mehrwert zu konstatieren. <strong>Die</strong>s aber nur, solange wir abstrakte Wertgrößen in der Gliederung <strong>des</strong><br />
Gesamtprodukts, nicht seine sachlichen Zusammenhänge im Auge haben. Sehen wir näher zu, dann stellt<br />
sich heraus, daß der Ausfall gänzlich die Erhaltungskosten der Arbeitskraft und nur diese berührt. Es<br />
werden nunmehr weniger Lebensmittel und Produktionsmittel hergestellt, diese dienten aber<br />
ausschließlich dazu, Arbeiter zu erhalten. Es wird jetzt ein geringeres Kapital beschäftigt und ein<br />
geringeres Produkt hergestellt. Aber Zweck der kapitalistischen Produktion ist nicht, schlechthin ein<br />
möglichst großes Kapital zu beschäftigen, sondern einen möglichst großen Mehrwert zu erzielen. Das<br />
Defizit an Kapital ist aber hier nur dadurch entstanden, daß die Erhaltung der Arbeiter ein geringeres<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 32. Kapitel<br />
Kapital erfordert. Wenn früher 1.285 der Wertausdruck der gesamten Erhaltungskosten der beschäftigten<br />
Arbeiter in der Gesellschaft war, so muß der nun entstandene Ausfall im Gesamtprodukt = 171,5 (9.000 -<br />
8.828,5) ganz von diesen Erhaltungskosten abgezogen werden, und wir bekommen dann die veränderte<br />
Zusammensetzung <strong>des</strong> gesellschaftlichen Produkts: 6.430 c + 1.113,5 v + 1.285 m = 8.828,5.<br />
Das konstante Kapital und der Mehrwert blieben unverändert, das variable Kapital der<br />
Gesellschaft, die bezahlte Arbeit allein hat sich verringert. Oder, da die unveränderte Größe <strong>des</strong><br />
konstanten <strong>Kapitals</strong> frappieren mag, nehmen wir, wie es auch exakt dem Vorgang entspricht, eine der<br />
Verringerung der Lebensmittel der Arbeiter entsprechende Verringerung <strong>des</strong> konstanten <strong>Kapitals</strong> an, dann<br />
erhalten wir die folgende Gliederung <strong>des</strong> gesellschaftlichen Gesamtprodukts: 6.307,5 c + 1.236 v + 1.285<br />
m = 8.828,5.<br />
Der Mehrwert bleibt in beiden Fällen unverändert, trotz der Verringerung <strong>des</strong> Gesamtprodukts, denn die<br />
Erhaltungskosten der Arbeiter und nur diese haben sich verringert.<br />
<strong>Die</strong> Sache läßt sich auch so darstellen. Das gesellschaftliche Gesamtprodukt kann seinem Werte nach in<br />
drei proportionelle Teile eingeteilt werden, die jeweilig ausschließlich das gesamte konstante Kapital der<br />
Gesellschaft, das gesamte variable Kapital und den gesamten Mehrwert repräsentieren. Und zwar so, wie<br />
wenn in der ersten Portion Produkte nicht ein Atom neu hinzugetretene Arbeit, in der zweiten und dritten<br />
nicht ein Atom Produktionsmittel erhalten wäre. Da diese Produktenmasse als solche, ihrer Sachgestalt<br />
nach, ganz das Ergebnis der gegebenen Produktionsperiode, aus der sie hervorgegangen ist, so kann man -<br />
obwohl das konstante Kapital als Wertgröße Resultat früherer Produktionsperioden ist und nur auf neue<br />
Produkte übertragen wird - auch die gesamte Anzahl der beschäftigten Arbeiter in drei Kategorien<br />
einteilen: in solche, die ausschließlich das gesamte konstante Kapital der Gesellschaft herstellen, in<br />
solche, deren ausschließlicher Beruf es ist, für die Erhaltung sämtlicher Arbeiter zu sorgen, endlich in<br />
solche, die ausschließlich den gesamten Mehrwert der Kapitalistenklasse schaffen.<br />
Erfolgt eine <strong>Ein</strong>schränkung der Konsumtion der Arbeiter, dann wird nur aus der zweiten Kategorie eine<br />
entsprechende Anzahl Arbeiter entlassen. Aber diese Arbeiter schaffen von vornherein keinen Mehrwert<br />
für das Kapital, ihre Entlassung ist also vom Standpunkt <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong> kein Verlust, sondern ein Gewinn,<br />
Verminderung der Kosten der Mehrwertproduktion.<br />
Hingegen winkt der gleichzeitig entstehende Absatz auf seiten <strong>des</strong> Staates mit allen Reizen eines neuen<br />
Gebietes zur Realisierung <strong>des</strong> Mehrwerts. <strong>Ein</strong> Teil der in der Zirkulation <strong>des</strong> variablen <strong>Kapitals</strong><br />
begriffenen Geldsumme springt aus der Bahn dieser Zirkulation heraus und stellt in der Hand <strong>des</strong> Staates<br />
eine neue Nachfrage dar. Daß steuertechnisch der Vorgang ein anderer, nämlich der Betrag der indirekten<br />
Steuern faktisch von dem Kapital dem Staate vorgestreckt und erst bei dem Warenkauf im Preis<br />
vom Konsumenten dem Kapitalisten zurückerstattet wird, ändert nichts an der ökonomischen Seite <strong>des</strong><br />
Vorgangs. Ökonomisch ist es entscheidend, daß die als variables Kapital fungierende Geldsumme erst<br />
den Austausch zwischen Kapital und Arbeitskraft vermittelt, um hinterher, bei dem Austausch zwischen<br />
Arbeiter als Konsumenten und Kapitalist als Warenverkäufer, zu einem Teil aus der Hand <strong>des</strong> Arbeiters<br />
an den Staat als Steuer zu wandern. <strong>Die</strong> von dem Kapital in die Zirkulation geworfene Geldsumme erfüllt<br />
damit erst vollauf ihre Funktion im Austausch mit der Arbeitskraft, um darauf in der Hand <strong>des</strong> Staates<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 32. Kapitel<br />
eine ganz neue Laufbahn zu beginnen, nämlich als fremde, dem Kapital wie dem Arbeiter äußerliche<br />
Kaufkraft, die sich auf neue Produkte, auf einen besonderen Zweig der Produktion richtet, der weder zur<br />
Erhaltung der Kapitalistenklasse noch zur Erhaltung der Arbeiterklasse dient und in dem das Kapital<br />
daher eine neue Gelegenheit findet, Mehrwert sowohl zu erzeugen wie zu realisieren. Früher, als wir die<br />
Verwendung der aus dem Arbeiter ausgepreßten indirekten Steuern zu Gehältern für Staatsbeamte und<br />
zur Versorgung <strong>des</strong> Heeres betrachteten, hat sich herausgestellt, daß die "Ersparnis" an der Konsumtion<br />
der Arbeiterklasse ökonomisch dazu führt, die Kosten der persönlichen Konsumtion <strong>des</strong> Anhangs der<br />
Kapitalistenklasse und der Werkzeuge ihrer Klassenherrschaft von den Kapitalisten auf die Arbeiter, vom<br />
Mehrwert auf das variable Kapital abzuschieben und im gleichen Maße den Mehrwert für<br />
Kapitalisierungszwecke frei zu machen. Jetzt sehen wir, wie die Verwendung der dem Arbeiter<br />
abgepreßten Steuern zur Herstellung von Kriegsmitteln dem Kapital eine neue Möglichkeit der<br />
<strong>Akkumulation</strong> bietet.<br />
Praktisch wirkt der Militarismus auf Grundlage der indirekten Steuern nach beiden Richtungen, indem er<br />
auf Kosten der normalen Lebensbedingungen der Arbeiterklasse sowohl die Erhaltung der Organe der<br />
<strong>Kapitals</strong>herrschaft, der stehenden Heere, wie das großartigste <strong>Akkumulation</strong>sgebiet <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong><br />
sichert.(4)<br />
Wenden wir uns an die zweite Quelle der Kaufkraft <strong>des</strong> Staates, in unserem Beispiel die 150 von dem<br />
Gesamtbetrag der 250, die in Kriegsmitteln angelegt werden. <strong>Die</strong> 150 unterscheiden sich wesentlich von<br />
der bis jetzt betrachteten Summe von 100. Sie rühren nicht von den Arbeitern, sondern vom<br />
Kleinbürgertum - Handwerkern und Bauern - her. (Von dem relativ kleinen Anteil der Kapitalistenklasse<br />
selbst an den Steuern sehen wir hier ab.)<br />
<strong>Die</strong> von der Bauernmasse - die wir hier als Vertreterin der nichtproletarischen Konsumentenmasse<br />
nehmen wollen - an den Staat in Gestalt von Steuern abgeführte Geldsumme ist nicht ursprünglich vom<br />
Kapital vorgeschossen und löst sich nicht von der Kapitalzirkulation ab. Sie ist in der Hand der<br />
Bauernmasse das Äquivalent realisierter Waren, Wertniederschlag der einfachen Warenproduktion. Was<br />
hier auf den Staat übertragen wird, ist ein Teil der Kaufkraft nichtkapitalistischer Konsumenten, also<br />
Kaufkraft, die von vornherein dem Kapital dazu dient, für Zwecke der <strong>Akkumulation</strong> den Mehrwert zu<br />
realisieren. Es fragt sich, ob sich für das Kapital aus der Übertragung der Kaufkraft dieser Schichten auf<br />
den Staat zu militaristischen Zwecken ökonomische Veränderungen ergeben und welcher Art. Auf den<br />
ersten Blick handelt es sich auch hier um Verschiebungen in der sachlichen Gestalt der Reproduktion.<br />
Statt einer Menge Produktionsmittel und Lebensmittel für die bäuerlichen Konsumenten wird das Kapital<br />
im gleichen Wertbetrage Kriegsmittel für den Staat produzieren. Tatsächlich ist die Verschiebung eine<br />
tiefergreifende. Vor allem wird die durch den Mechanismus der Besteuerung vom Staate flüssig gemachte<br />
Kaufkraft der nichtkapitalistischen Konsumenten quantitativ eine viel größere sein als die, welche für ihre<br />
eigene Konsumtion tatsächlich auftreten würde.<br />
Es ist ja das moderne Steuersystem selbst, das in hohem Maße bei den Bauern die Warenwirtschaft erst<br />
erzwingt. Der Druck der Besteuerung zwingt den Bauern, fortschreitend einen immer größeren Teil seines<br />
Produkts in Ware zu verwandeln, macht ihn aber auch gleichzeitig immer mehr zum Käufer, treibt das<br />
Produkt der Bauernwirtschaft durch die Zirkulation und verwandelt zwangsweise die Bauern erst in<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 32. Kapitel<br />
Abnehmer auch für Kapitalprodukte. Ferner auch unter der Voraussetzung der bäuerlichen<br />
Warenproduktion entlockt das Steuersystem der Bauernwirtschaft eine größere Kaufkraft, als sie sich<br />
ohnehin aktiv betätigen würde.<br />
Was sonst als Ersparnis der Bauern, <strong>des</strong> kleinen Mittelstan<strong>des</strong> aufgeschatzt wäre, um in Sparkassen und<br />
Banken das anlagesuchende Kapital zu vergrößern, wird jetzt im Besitze <strong>des</strong> Staates umgekehrt eine<br />
Nachfrage und Anlagemöglichkeit für das Kapital. Ferner tritt hier an Stelle einer großen Anzahl kleiner<br />
zersplitterter und zeitlich auseinanderfallender Warennachfragen, die vielfach auch durch die einfache<br />
Warenproduktion befriedigt wären, also für die Kapitalakkumulation nicht in Betracht kämen, eine<br />
zur großen einheitlichen kompakten Potenz zusammengefaßte Nachfrage <strong>des</strong> Staates. <strong>Die</strong>se setzt aber zu<br />
ihrer Befriedigung von vornherein die Großindustrie auf höchster Stufenleiter, also für die<br />
Mehrwertproduktion und <strong>Akkumulation</strong> günstigste Bedingungen voraus. In Gestalt der militaristischen<br />
Aufträge <strong>des</strong> Staates wird die zu einer gewaltigen Größe konzentrierte Kaufkraft der Konsumentenmassen<br />
außerdem der Willkür, den subjektiven Schwankungen der persönlichen Konsumtion entrückt und mit<br />
einer fast automatischen Regelmäßigkeit, mit einem rhythmischen Wachstum begabt. Endlich befindet<br />
sich der Hebel dieser automatischen und rhythmischen Bewegung der militaristischen Kapitalproduktion<br />
in der Hand <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong> selbst - durch den Apparat der parlamentarischen Gesetzgebung und <strong>des</strong> zur<br />
Herstellung der sogenannten öffentlichen Meinung bestimmten Zeitungswesens. Dadurch scheint dieses<br />
spezifische Gebiet der Kapitalakkumulation zunächst von unbestimmter Ausdehnungsfähigkeit. Während<br />
jede andere Gebietserweiterung <strong>des</strong> Absatzes und der Operationsbasis für das Kapital in hohem Maße von<br />
geschichtlichen, sozialen, politischen Momenten abhängig ist, die außerhalb der Willenssphäre <strong>des</strong><br />
<strong>Kapitals</strong> spielen, stellt die Produktion für den Militarismus ein Gebiet dar, <strong>des</strong>sen regelmäßige stoßweise<br />
Erweiterung in erster Linie in den bestimmenden Willen <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong> selbst gegeben zu sein scheint.<br />
<strong>Die</strong> geschichtlichen Notwendigkeiten der verschärften Weltkonkurrenz <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong> um seine<br />
<strong>Akkumulation</strong>sbedingungen verwandeln sich so für das Kapital selbst in ein erstklassiges<br />
<strong>Akkumulation</strong>sfeld. Je energischer das Kapital den Militarismus gebraucht, um die Produktionsmittel und<br />
Arbeitskräfte nichtkapitalistischer Länder und Gesellschaften durch die Welt- und Kolonialpolitik sich<br />
selbst zu assimilieren, um so energischer arbeitet derselbe Militarismus daheim, in den kapitalistischen<br />
Ländern, dahin, den nichtkapitalistischen Schichten dieser Länder, d.h. den Vertretern der einfachen<br />
Warenproduktion, sowie der Arbeiterklasse fortschreitend die Kaufkraft zu entziehen, d.h., die ersteren<br />
immer mehr der Produktivkräfte zu berauben, die letztere in ihrer Lebenshaltung herabzudrücken, um auf<br />
beider Kosten die Kapitalakkumulation gewaltig zu steigern. Von beiden Seiten schlagen aber die<br />
Bedingungen der <strong>Akkumulation</strong> auf einer gewissen Höhe in Bedingungen <strong>des</strong> Untergangs für das Kapital<br />
um.<br />
Je gewalttätiger das Kapital vermittelst <strong>des</strong> Militarismus draußen in der Welt wie bei sich daheim mit der<br />
Existenz nichtkapitalistischer Schichten aufräumt und die Existenzbedingungen aller arbeitenden<br />
Schichten herabdrückt, um so mehr verwandelt sich die Tagesgeschichte der Kapitalakkumulation<br />
auf der Weltbühne in eine fortlaufende Kette politischer und sozialer Katastrophen und Konvulsionen, die<br />
zusammen mit den periodischen wirtschaftlichen Katastrophen in Gestalt der Krisen die Fortsetzung der<br />
<strong>Akkumulation</strong> zur Unmöglichkeit, die Rebellion der internationalen Arbeiterklasse gegen die<br />
<strong>Kapitals</strong>herrschaft zur Notwendigkeit machen werden, selbst ehe sie noch ökonomisch auf ihre natürliche<br />
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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 32. Kapitel<br />
selbstgeschaffene Schranke gestoßen ist.<br />
Der Kapitalismus ist die erste Wirtschaftsform mit propagandistischer Kraft, eine Form, die die Tendenz<br />
hat, sich auf dem Erdrund auszubreiten und alle anderen Wirtschaftsformen zu verdrängen, die keine<br />
andere neben sich duldet. Er ist aber zugleich die erste, die allein, ohne andere Wirtschaftsformen als ihr<br />
Milieu und ihren Nährboden, nicht zu existieren vermag, die also gleichzeitig mit der Tendenz, zur<br />
Weltform zu werden, an der inneren Unfähigkeit zerschellt, eine Weltform der Produktion zu sein. Er ist<br />
ein lebendiger historischer Widerspruch in sich selbst, seine <strong>Akkumulation</strong>sbewegung ist der Ausdruck,<br />
die fortlaufende Lösung und zugleich Potenzierung <strong>des</strong> Widerspruchs. Auf einer gewissen Höhe der<br />
Entwicklung kann dieser Widerspruch nicht anders gelöst werden als durch die Anwendung der<br />
Grundlagen <strong>des</strong> Sozialismus - derjenigen Wirtschaftsform, die zugleich von Hause aus Weltform und in<br />
sich ein harmonisches System, weil sie nicht auf die <strong>Akkumulation</strong>, sondern auf die Befriedigung der<br />
Lebensbedürfnisse der arbeitenden Menschheit selbst durch die Entfaltung aller Produktivkräfte <strong>des</strong><br />
Erdrun<strong>des</strong> gerichtet sein wird.<br />
Fußnoten von <strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong><br />
(1) <strong>Die</strong>se Annahme macht z B. in der Tat Dr. Renner zur Grundlage seiner Schrift über die Steuern.<br />
"Alles, was in einem Jahre an Werten geschaffen wird", sagt er, "spaltet sich in diese vier Teile. Und also<br />
können die Steuern eines Jahres nur aus ihnen geschöpft werden: Profit, Zins, Rente und Lohn sind die<br />
vier besonderen Steuerquellen." (Das arbeitende Volk und die Steuern, Wien 1909, S. 9.) Renner erinnert<br />
sich zwar gleich darauf den Existenz der Bauern, erledigt sie aber mit einem Satz: "<strong>Ein</strong> Bauer zum<br />
Beispiel ist zugleich Unternehmer, Arbeiter und Grundeigentümer, er bezieht in seinem<br />
Wirtschaftsvertrag unter einem den Lohn, den Profit und die Rente." Es ist klar, daß eine solche Spaltung<br />
<strong>des</strong> Bauerntums in alle Kategorien der kapitalistischen Produktion und die Betrachtung <strong>des</strong> Bauern als<br />
seines eigenen Unternehmers,. Lohnarbeiters und Grundherrn in einer Person eine blutleere Abstraktion<br />
ist. <strong>Die</strong> ökonomische Besonderheit <strong>des</strong> Bauerntums - will man es schon, wie Renner, als eine<br />
unterschiedslose Kategorie behandeln - besteht gerade darin, daß es weder zum kapitalistischen<br />
Unternehmertum noch zum Lohnproletariat gehört und daß es nicht kapitalistische sondern einfache<br />
Warenproduktion repräsentiert.
<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 32. Kapitel<br />
Kriegsbedarfs herstellt, und der Gesamtheit der Kapitalistenklasse. Für die Fabrikanten, die Kanonen,<br />
Gewehre und sonstiges Kriegsmaterial produzieren, ist die Existenz <strong>des</strong> Militärs zweifellos vorteilhaft<br />
und unentbehrlich. Es ist sehr wohl möglich, daß die Abschaffung <strong>des</strong> Systems <strong>des</strong> bewaffneten Friedens<br />
für die Firma Krupp einen Ruin bedeuten würde, es handelt sich aber nicht um irgendeine besondere<br />
Gruppe von Unternehmen, sondern lediglich um die Kapitalisten als Klasse, um die kapitalistische<br />
Produktion im ganzen." Von diesem letzteren Standpunkte aber sei zu bemerken, daß "wenn die<br />
Steuerlast vorwiegend auf der Masse der arbeitenden Bevölkerung liegt, jede Vergrößerung dieser Last<br />
die Kaufkraft der Bevölkerung, damit aber auch die Nachfrage nach Waren verringert". <strong>Die</strong>se Tatsache<br />
beweise, "daß der Militarismus vom Standpunkte der Produktion <strong>des</strong> Kriegsmaterials betrachtet, wohl die<br />
einen Kapitalisten bereichert, die anderen aber schädigt, auf der einen Seite einen Gewinn, auf der<br />
anderen aber einen Verlust bedeutet". "Der Bote der Jurisprudenz", 1890, Heft I: Militarismus und<br />
Kapitalismus.)