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Rosa Luxemburg Die Akkumulation des Kapitals Ein ... - Attac Berlin

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong>: <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong><br />

Gesamtübersicht "MLWerke" | <strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong><br />

<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - Gesammelte Werke. Herausgegeben vom Institut für Marxismus-Leninismus<br />

beim ZK der SED. Band 5, <strong>Berlin</strong>/DDR. 1975, »<strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>«, S. 5-411.<br />

1. Korrektur.<br />

Erstellt am 20.10.1998<br />

<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong><br />

<strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong><br />

<strong>Ein</strong> Beitrag<br />

zur ökonomischen Erklärung <strong>des</strong> Imperialismus<br />

<strong>Berlin</strong> 1913.<br />

Verlag: Buchhandlung Vorwärts Paul Singer G. m. b. H.<br />

Vorwort<br />

Erster Abschnitt. Das Problem der Reproduktion<br />

1. Kapitel. Gegenstand der Untersuchung<br />

2. Kapitel. <strong>Die</strong> Analyse <strong>des</strong> Reproduktionsprozesses bei Quesney und bei Ad.<br />

Smith<br />

3. Kapitel. Kritik der Smithschen Analyse<br />

4. Kapitel. Das Marxsche Schema der einfachen Reproduktion<br />

5. Kapitel. <strong>Die</strong> Geldzirkulation<br />

6. Kapitel. <strong>Die</strong> erweiterte Reproduktion<br />

7. Kapitel. Analyse <strong>des</strong> Marxschen Schemas der erweiterten Reproduktion<br />

8. Kapitel. <strong>Die</strong> Versuche der Lösung der Schwierigkeit bei Marx<br />

9. Kapitel. <strong>Die</strong> Schwierigkeit unter dem Gesichtswinkel <strong>des</strong><br />

Zirkulationsprozesses<br />

Zweiter Abschnitt. Geschichtliche Darstellung <strong>des</strong> Problems<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong>: <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong><br />

Erster Waffengang. Kontroverse zwischen Sismondi - Malthus und Say -<br />

Ricardo - MacCulloch<br />

10. Kapitel. <strong>Die</strong> Sismondische Theorie der Reproduktion<br />

11. Kapitel. MacCulloch gegen Sismondi<br />

12. Kapitel. Ricardo gegen Sismondi<br />

13. Kapitel. Say gegen Sismondi<br />

14. Kapitel. Malthus<br />

Zweiter Waffengang. Kontroverse zwischen Rodbertus und v. Kirchmann<br />

15. Kapitel. v. Kirchmanns Reproduktionstheorie<br />

16. Kapitel. Rodbertus' Kritik der klassischen Schule<br />

17. Kapitel. Rodbertus' Analyse der Reproduktion<br />

Dritter Waffengang. Struve - Bulgakow - Tugan-Baranowski gegen Woronzow<br />

- Nikolai-on<br />

18. Kapitel. Das Problem in neuer Auflage<br />

19. Kapitel. Herr Woronzow und sein »Überschuß«<br />

20. Kapitel. Nikolai-on<br />

21. Kapitel. <strong>Die</strong> »dritten Personen« und die drei Weltreiche Struves<br />

22. Kapitel. Bulgakow und die Ergänzung der Marxschen Analyse<br />

23. Kapitel. <strong>Die</strong> »Disproportionalität« <strong>des</strong> Herrn Tugan-Baranowski<br />

24. Kapitel. Der Ausgang <strong>des</strong> russischen »legalen« Marxismus<br />

Dritter Abschnitt. <strong>Die</strong> geschichtlichen Bedingungen der <strong>Akkumulation</strong><br />

25. Kapitel. Widersprüche <strong>des</strong> Schemas der erweiterten Reproduktion<br />

26. Kapitel. <strong>Die</strong> Reproduktion <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong> und ihr Milieu<br />

27. Kapitel. Der Kampf gegen die Naturalwirtschaft<br />

28. Kapitel. <strong>Die</strong> <strong>Ein</strong>führung der Warenwirtschaft<br />

29. Kapitel. Der Kampf gegen die Bauernwirtschaft<br />

30. Kapitel. <strong>Die</strong> internationale Anleihe<br />

31. Kapitel. Schutzzoll und <strong>Akkumulation</strong><br />

32. Kapitel. Der Militarismus auf dem Gebiet der Kapitalakkumulation<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, Vorwort<br />

Inhalt | 1. Kapitel<br />

<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - Gesammelte Werke. Herausgegeben vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Band<br />

5. <strong>Berlin</strong>/DDR. 1975. "<strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>", S. 7.<br />

1. Korrektur<br />

Erstellt am 20.10.1998<br />

Vorwort<br />

Den Anstoß zur vorliegenden Arbeit hat mir eine populäre <strong>Ein</strong>führung in die Nationalökonomie gegeben,<br />

die ich seit längerer Zeit für denselben Verlag vorbereite, an deren Fertigstellung ich aber immer wieder<br />

durch meine Tätigkeit an der Parteischule oder durch Agitation verhindert wurde. Als ich im Januar<br />

dieses Jahres, nach der Reichstagswahl, wieder einmal daranging, jene Popularisation der Marxschen<br />

ökonomischen Lehre wenigstens im Grundriß zum Abschluß zu bringen, bin ich auf eine unerwartete<br />

Schwierigkeit gestoßen. Es wollte mir nicht gelingen, den Gesamtprozeß der kapitalistischen Produktion<br />

in ihren konkreten Beziehungen sowie ihre objektive geschichtliche Schranke mit genügender Klarheit<br />

darzustellen. Bei näherem Zusehen kam ich zu der Ansicht, daß hier nicht bloß eine Frage der<br />

Darstellung, sondern auch ein Problem vorliegt, das theoretisch mit dem Inhalt <strong>des</strong> zweiten Ban<strong>des</strong> <strong>des</strong><br />

Marxschen "<strong>Kapitals</strong>" im Zusammenhang steht und zugleich in die Praxis der heutigen imperialistischen<br />

Politik wie deren ökonomische Wurzeln eingreift. Sollte mir der Versuch gelungen sein, dieses Problem<br />

wissenschaftlich exakt zu fassen, dann dürfte die Arbeit außer einem rein theoretischen Interesse, wie mir<br />

scheint, auch einige Bedeutung für unseren praktischen Kampf mit dem Imperialismus haben.<br />

Dezember 1912<br />

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R. L.


<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, Vorwort<br />

Inhalt | 1. Kapitel<br />

<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - Gesammelte Werke. Herausgegeben vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Band<br />

5. <strong>Berlin</strong>/DDR. 1975. "<strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>", S. 7.<br />

1. Korrektur<br />

Erstellt am 20.10.1998<br />

Vorwort<br />

Den Anstoß zur vorliegenden Arbeit hat mir eine populäre <strong>Ein</strong>führung in die Nationalökonomie gegeben,<br />

die ich seit längerer Zeit für denselben Verlag vorbereite, an deren Fertigstellung ich aber immer wieder<br />

durch meine Tätigkeit an der Parteischule oder durch Agitation verhindert wurde. Als ich im Januar<br />

dieses Jahres, nach der Reichstagswahl, wieder einmal daranging, jene Popularisation der Marxschen<br />

ökonomischen Lehre wenigstens im Grundriß zum Abschluß zu bringen, bin ich auf eine unerwartete<br />

Schwierigkeit gestoßen. Es wollte mir nicht gelingen, den Gesamtprozeß der kapitalistischen Produktion<br />

in ihren konkreten Beziehungen sowie ihre objektive geschichtliche Schranke mit genügender Klarheit<br />

darzustellen. Bei näherem Zusehen kam ich zu der Ansicht, daß hier nicht bloß eine Frage der<br />

Darstellung, sondern auch ein Problem vorliegt, das theoretisch mit dem Inhalt <strong>des</strong> zweiten Ban<strong>des</strong> <strong>des</strong><br />

Marxschen "<strong>Kapitals</strong>" im Zusammenhang steht und zugleich in die Praxis der heutigen imperialistischen<br />

Politik wie deren ökonomische Wurzeln eingreift. Sollte mir der Versuch gelungen sein, dieses Problem<br />

wissenschaftlich exakt zu fassen, dann dürfte die Arbeit außer einem rein theoretischen Interesse, wie mir<br />

scheint, auch einige Bedeutung für unseren praktischen Kampf mit dem Imperialismus haben.<br />

Dezember 1912<br />

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R. L.


<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 1. Kapitel<br />

Vorwort | Inhalt | 2. Kapitel<br />

<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - Gesammelte Werke. Herausgegeben vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Band<br />

5. <strong>Berlin</strong>/DDR. 1975. "<strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>", S. 9-24<br />

1. Korrektur<br />

Erstellt am 20.10.1998<br />

Erster Abschnitt<br />

Das Problem der Reproduktion<br />

Erstes Kapitel<br />

Gegenstand der Untersuchung<br />

Zu den unvergänglichen Verdiensten Marxens um die theoretische Nationalökonomie gehört seine<br />

Stellung <strong>des</strong> Problems der Reproduktion <strong>des</strong> gesellschaftlichen Gesamtkapitals. Bezeichnenderweise<br />

begegnen wir in der Geschichte der Nationalökonomie nur zwei Versuchen einer exakten Darstellung <strong>des</strong><br />

Problems: an ihrer Schwelle, bei dem Vater der Physiokratenschule, Quesnay, und an ihrem Ausgang,<br />

bei Karl Marx. In der Zwischenzeit hört das Problem nicht auf, die bürgerliche Nationalökonomie zu<br />

quälen, doch hat sie es nie bewußt und nie in seiner reinen Form, losgelöst von verwandten und<br />

durchkreuzenden Nebenproblemen, auch nur zu stellen, geschweige zu lösen gewußt. Bei der<br />

fundamentalen Bedeutung dieses Problems jedoch kann man bis zu einem gewissen Grad an der Hand<br />

dieser Versuche die Schicksale der wissenschaftlichen Ökonomie überhaupt verfolgen.<br />

Worin besteht das Problem der Reproduktion <strong>des</strong> Gesamtkapitals?<br />

Reproduktion ist wörtlich genommen einfach Wiederproduktion, Wiederholung, Erneuerung <strong>des</strong><br />

Produktionsprozesses, und es mag auf den ersten Blick nicht abzusehen sein, worin sich der Begriff der<br />

Reproduktion von dem allgemeinverständlichen der Produktion eigentlich unterscheiden und wozu<br />

hierfür ein neuer, befremdender Ausdruck nötig sein soll. Allein gerade in der Wiederholung, in der<br />

ständigen Wiederkehr <strong>des</strong> Produk- tionsprozesses liegt ein wichtiges Moment für sich. Zunächst ist<br />

die regelmäßige Wiederholung der Produktion die allgemeine Voraussetzung und Grundlage der<br />

regelmäßigen Konsumtion und damit die Vorbedingung der Kulturexistenz der menschlichen<br />

Gesellschaft unter allen ihren geschichtlichen Formen. In diesem Sinne enthält der Begriff der<br />

Reproduktion ein kulturgeschichtliches Moment. <strong>Die</strong> Produktion kann nicht wiederaufgenommen<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 1. Kapitel<br />

werden, die Reproduktion kann nicht stattfinden, wenn nicht bestimmte Vorbedingungen: Werkzeuge,<br />

Rohstoffe, Arbeitskräfte, als Ergebnis der vorhergegangenen Produktionsperiode gegeben sind. Auf den<br />

primitivsten Stufen der Kulturentwicklung aber, bei den Anfängen in der Beherrschung der äußeren<br />

Natur, ist diese Möglichkeit der Wiederaufnahme der Produktion je<strong>des</strong>mal noch mehr oder weniger vom<br />

Zufall abhängig. Solange hauptsächlich Jagd oder Fischfang die Grundlage der Existenz der Gesellschaft<br />

bilden, ist die Regelmäßigkeit in der Wiederholung der Produktion häufig unterbrochen durch Perioden<br />

<strong>des</strong> allgemeinen Hungerns. Bei manchen primitiven Völkern haben die Erfordernisse der Reproduktion<br />

als eines regelmäßig wiederkehrenden Prozesses schon sehr früh einen traditionellen und gesellschaftlich<br />

bindenden Ausdruck in bestimmten Zeremonien religiösen Charakters gefunden. So ist nach den<br />

gründlichen Forschungen von Spencer und Gillen der Totemkult der Australneger im Grunde genommen<br />

nichts anderes als die zur religiösen Zeremonie erstarrte Überlieferung gewisser seit undenklichen Zeiten<br />

regelmäßig wiederholter Maßnahmen der gesellschaftlichen Gruppen zur Beschaffung und Erhaltung<br />

ihrer tierischen und pflanzlichen Nahrung. Doch erst der Hackbau, die Zähmung der Haustiere und die<br />

Viehzucht zu Ernährungszwecken ermöglichten den regelmäßigen Kreislauf von Konsumtion und<br />

Produktion, der das Merkmal der Reproduktion bildet. Insofern erscheint also der Begriff der<br />

Reproduktion selbst als etwas mehr denn bloße Wiederholung: Er umschließt bereits eine gewisse Höhe<br />

in der Beherrschung der äußeren Natur durch die Gesellschaft oder, ökonomisch ausgedrückt, eine<br />

gewisse Höhe der Produktivität der Arbeit.<br />

Andererseits ist der Produktionsprozeß selbst auf allen gesellschaftlichen Entwicklungsstufen eine<br />

<strong>Ein</strong>heit von zwei verschiedenen, wenn auch eng miteinander verknüpften Momenten: der technischen<br />

und der gesellschaftlichen Bedingungen, d.h. der bestimmten Gestaltung <strong>des</strong> Verhältnisses der Menschen<br />

zur Natur und der Verhältnisse der Menschen untereinander. <strong>Die</strong> Reproduktion hängt gleichermaßen von<br />

beiden ab. Inwiefern sie an die Bedingungen der menschlichen Arbeitstechnik gebunden und selbst erst<br />

das Ergebnis einer gewissen Höhe in der Produktivität der Arbeit ist, haben wir soeben angedeutet.<br />

Aber nicht minder bestimmend sind die jeweiligen gesellschaftlichen Formen der Produktion. In einer<br />

primitiven kommunistischen Agrargemeinde wird die Reproduktion, wie der ganze Plan <strong>des</strong><br />

Wirtschaftslebens, von der Gesamtheit der Arbeitenden und ihren demokratischen Organen bestimmt:<br />

Der Entschluß zur Wiederaufnahme der Arbeit, ihre Organisation, die Sorge für nötige Vorbedingungen -<br />

Rohstoffe, Werkzeuge, Arbeitskräfte -, endlich die Bestimmung <strong>des</strong> Umfangs und der <strong>Ein</strong>teilung der<br />

Reproduktion sind das Ergebnis <strong>des</strong> planmäßigen Zusammenwirkens der Gesamtheit in den Grenzen der<br />

Gemeinde. In einer Sklavenwirtschaft oder auf einem Fronhof wird die Reproduktion auf Grund<br />

persönlicher Herrschaftsverhältnisse erzwungen und in allen Details geregelt, wobei die Schranke für<br />

ihren Umfang jeweilig das Verfügungsrecht <strong>des</strong> herrschenden Zentrums über einen größeren oder<br />

geringeren Kreis fremder Arbeitskräfte bildet. In der kapitalistisch produzierenden Gesellschaft gestaltet<br />

sich die Reproduktion ganz eigentümlich, was schon der Augenschein in gewissen auffälligen Momenten<br />

lehrt. In jeder anderen geschichtlich bekannten Gesellschaft wird die Reproduktion regelmäßig<br />

aufgenommen, sofern nur die Vorbedingungen: vorhandene Produktionsmittel und Arbeitskräfte, dies<br />

ermöglichen. Nur äußere <strong>Ein</strong>wirkungen: ein verheerender Krieg oder eine große Pest, die eine<br />

Entvölkerung und damit massenhafte Vernichtung der Arbeitskräfte und der vorrätigen Produktionsmittel<br />

herbeiführen, pflegen zu verursachen, daß auf ganzen großen Strecken früheren Kulturlebens die<br />

Reproduktion für längere oder kürzere Perioden nicht aufgenommen oder nur zum geringen Teil<br />

aufgenommen wird. Ähnliche Erscheinungen können teilweise bei <strong>des</strong>potischer Bestimmung über den<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 1. Kapitel<br />

Plan der Produktion hervorgerufen werden. Wenn der Wille eines Pharao im alten Ägypten Tausende<br />

von Fellachen für Jahrzehnte an den Bau von Pyramiden fesselte oder wenn im neuen Ägypten Ismael<br />

Pascha 20.000 Fellachen für den Bau <strong>des</strong> Suezkanals als Fronknechte abkommandierte oder wenn der<br />

Kaiser Shih-huang-ti, der Begründer der Dynastie Ch'in, 200 Jahre vor der christlichen Ära 400.000<br />

Menschen vor Hunger und Erschöpfung umkommen ließ und eine ganze Generation aufrieb, um die<br />

Große Mauer an der Nordgrenze Chinas auszubauen - so war in allen solchen Fällen die Folge, daß<br />

gewaltige Strecken Bauernlan<strong>des</strong> unbestellt blieben, das regelmäßige Wirtschaftsleben hier für lange<br />

Perioden unterbrochen wurde. Aber diese Unterbrechungen der Reproduktion hatten in jedem solchen<br />

Falle ganz sichtbare, klare Ursachen in der einseitigen Bestimmung über den Reproduktionsplan im<br />

ganzen durch das Herrschaftsverhältnis. In den kapitalistisch pro- duzierenden Gesellschaften<br />

sehen wir anderes. In gewissen Perioden sehen wir, daß sowohl alle erforderlichen materiellen<br />

Produktionsmittel wie Arbeitskräfte zur Aufnahme der Reproduktion vorhanden sind, daß andererseits<br />

die Konsumtionsbedürfnisse der Gesellschaft unbefriedigt bleiben und daß trotzdem die Reproduktion<br />

teils ganz unterbrochen ist, teil nur in verkümmertem Umfange vonstatten geht. Hier sind aber keine<br />

<strong>des</strong>potischen <strong>Ein</strong>griffe in den Wirtschaftsplan für die Schwierigkeiten <strong>des</strong> Reproduktionsprozesses<br />

verantwortlich. <strong>Die</strong> Aufnahme der Reproduktion ist hier vielmehr außer von allen technischen<br />

Bedingungen noch von der rein gesellschaftlichen Bedingung abhängig, daß nur diejenigen Produkte<br />

hergestellt werden, die sichere Aussicht haben, realisiert, gegen Geld ausgetauscht zu werden, und nicht<br />

nur überhaupt realisiert, sondern mit einem Profit von bestimmter, lan<strong>des</strong>üblicher Höhe. Profit als<br />

Endzweck und bestimmen<strong>des</strong> Moment beherrscht hier also nicht bloß die Produktion, sondern auch die<br />

Reproduktion, d.h. nicht bloß das Wie und Was <strong>des</strong> jeweiligen Arbeitsprozesses und der Verteilung der<br />

Produkte, sondern auch die Frage, ob, in welchem Umfange und in welcher Richtung der Arbeitsprozeß<br />

immer wieder von neuem aufgenommen wird, nachdem eine Arbeitsperiode ihren Abschluß gefunden<br />

hat. "Hat die Produktion kapitalistische Form, so die Reproduktion."(1)<br />

Infolge solcher rein historisch-gesellschaftlichen Momente also gestaltet sich der Reproduktionsprozeß<br />

der kapitalistischen Gesellschaft im ganzen zu einem eigenartigen, sehr verwickelten Problem. Schon das<br />

äußere Charakteristikum <strong>des</strong> kapitalistischen Reproduktionsprozesses zeigt seine spezifische<br />

geschichtliche Eigentümlichkeit: Er umfaßt nicht nur die Produktion, sondern auch die Zirkulation<br />

(Austauschprozeß), er ist die <strong>Ein</strong>heit beider.<br />

Vor allem ist die kapitalistische Produktion eine solche zahlloser Privatproduzenten ohne jede<br />

planmäßige Regelung und der Austausch der einzige gesellschaftliche Zusammenhang zwischen ihnen.<br />

<strong>Die</strong> Reproduktion findet hier als Anhaltspunkt für die Bestimmung der gesellschaftlichen Bedürfnisse<br />

immer nur die Erfahrungen der vorhergehenden Arbeitsperiode vor. Allein diese Erfahrungen sind<br />

Privaterfahrungen einzelner Produzenten, die nicht einen zusammenfassenden gesellchaftlichen<br />

Ausdruck finden. Ferner sind es immer nicht positive und direkte Erfahrungen über die Bedürfnisse der<br />

Gesellschaft, sondern indirekte und negative, die aus der jeweiligen Bewegung der Preise einen<br />

Rückschluß über das Zuviel oder Zuwenig der hergestellten Produktenmasse im Verhältnis zur<br />

zahlungsfähigen Nachfrage erlauben. <strong>Die</strong> Reproduktion wird aber immer wieder unter Benutzung dieser<br />

Erfahrungen über die vergangene Produktionsperiode von einzelnen Privatproduzenten in Angriff<br />

genommen. Daraus kann sich in der folgenden Periode ebenfalls nur wiederum ein Zuviel oder Zuwenig<br />

ergeben, wobei einzelne Produktionszweige ihre eigenen Wege gehen und in dem einen sich ein Zuviel<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 1. Kapitel<br />

herausstellen kann, dagegen in einem anderen ein Zuwenig. Bei der gegenseitigen technischen<br />

Abhängigkeit jedoch fast aller einzelnen Produktionszweige zieht ein Zuviel oder Zuwenig einiger<br />

größerer führender Produktionszweige auch die gleiche Erscheinung in den meisten übrigen<br />

Produktionszweigen nach sich. So ergibt sich von Zeit zu Zeit abwechselnd ein allgemeiner Überfluß<br />

oder ein allgemeiner Mangel an Produkten im Verhältnis zur Nachfrage der Gesellschaft. Daraus folgt<br />

schon, daß die Reproduktion in der kapitalistischen Gesellschaft eine eigentümliche, von allen anderen<br />

geschichtlichen Produktionsformen verschiedene Gestalt annimmt. Erstens macht jeder<br />

Produktionszweig eine in gewissen Grenzen unabhängige Bewegung durch, die von Zeit zu Zeit zu<br />

kürzeren oder längeren Unterbrechungen in der Reproduktion führt. Zweitens summieren sich die<br />

Abweichungen der Reproduktion in den einzelnen Zweigen von dem gesellschaftlichen Bedürfnis<br />

periodisch zu einer allgemeinen Inkongruenz, worauf eine allgemeine Unterbrechung der Reproduktion<br />

folgt. <strong>Die</strong> kapitalistische Reproduktion bietet somit eine ganz eigentümliche Figur. Während die<br />

Reproduktion unter jeder anderen Wirtschaftsform - abgesehen von äußeren, gewaltsamen <strong>Ein</strong>griffen -<br />

als ein ununterbrochener gleichmäßiger Kreislaut verläuft, kann die kapitalistische Reproduktion - um<br />

einen bekannten Ausdruck Sismondis anzuwenden - nur als eine fortlaufende Reihe einzelner Spiralen<br />

dargestellt werden, deren Windungen anfänglich klein, dann immer größer, zum Schluß ganz groß sind,<br />

worauf ein Zusammenschrumpfen folgt und die nächste Spirale wieder mit kleinen Windungen beginnt,<br />

um dieselbe Figur bis zur Unterbrechung durchzumachen.<br />

Der periodische Wechsel der größten Ausdehnung der Reproduktion und ihres Zusammenschrumpfens<br />

bis zur teilweisen Unterbrechung, d.h. das, was man als den periodischen Zyklus der matten Konjunktur,<br />

Hochkonjunktur und Krise bezeichnet, ist die auffälligste Eigentümlichkeit der kapitalistischen<br />

Reproduktion.<br />

Es ist jedoch sehr wichtig von vornherein festzustellen, daß der periodische Wechsel der Konjunkturen<br />

und die Krise zwar wesentliche Momente der Reproduktion, aber nicht das Problem der kapitalistischen<br />

Re- produktion an sich, nicht das eigentliche Problem darstellen. Periodischer Konjunkturwechsel<br />

und Krise sind die spezifische Form der Bewegung bei der kapitalistischen Wirtschaftsweise, sie sind<br />

aber nicht die Bewegung selbst. Um das Problem der kapitalistischen Reproduktion in reiner Gestalt<br />

darzustellen, müssen wir vielmehr gerade von jenem periodischen Konjunkturwechsel und von Krisen<br />

absehen. So befremdend dies erscheinen mag, so ist es eine ganz rationelle Methode, ja die einzige<br />

wissenschaftlich gangbare Methode der Untersuchung. Um das Problem <strong>des</strong> Wertes rein darzustellen und<br />

zu lösen, müssen wir von den Schwankungen der Preise absehen. <strong>Die</strong> vulgärökonomische Auffassung<br />

sucht stets das Wertproblem durch Hinweise auf die Schwankungen der Nachfrage und <strong>des</strong> Angebots zu<br />

lösen. <strong>Die</strong> klassische Ökonomie von Smith bis Marx hat die Sache umgekehrt angefaßt, indem sie<br />

erklärte: Schwankungen im gegenseitigen Verhältnis der Nachfrage und <strong>des</strong> Angebots können nur<br />

Abweichungen <strong>des</strong> Preises vom Wert, nicht aber den Wert selbst erklären. Um herauszufinden, was der<br />

Wert der Waren ist, müssen wir das Problem unter der Voraussetzung packen, daß sich Nachfrage und<br />

Angebot die Waage halten, d.h. der Preis und der Wert der Waren [sich] decken. Das wissenschaftliche<br />

Wertproblem beginnt also gerade dort, wo die Wirkung der Nachfrage und <strong>des</strong> Angebots aufhört. Genau<br />

dasselbe gilt für das Problem der Reproduktion <strong>des</strong> kapitalistischen Gesamtkapitals. Der periodische<br />

Wechsel der Konjunkturen und die Krisen bewirken, daß die kapitalistische Reproduktion als Regel um<br />

die zahlungsfähigen Gesamtbedürfnisse der Gesellschaft schwankt, sich bald von ihnen nach oben<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 1. Kapitel<br />

entfernt, bald unter sie bis zur nahezu völligen Unterbrechung sinkt. Nimmt man jedoch eine längere<br />

Periode, einen ganzen Zyklus mit wechselnden Konjunkturen, so wiegen sich Hochkonjunktur und Krise,<br />

d.h. die höchste Überspannung der Reproduktion mit ihrem Tiefstand und ihrer Unterbrechung, auf, und<br />

im Durchschnitt <strong>des</strong> ganzen Zyklus bekommen wir eine gewisse mittlere Größe der Reproduktion. <strong>Die</strong>ser<br />

Durchschnitt ist nicht bloß ein theoretisches Gedankenbild, sondern auch ein realer, objektiver<br />

Tatbestand. Denn trotz <strong>des</strong> scharfen Auf und Ab der Konjunkturen, trotz Krisen werden die Bedürfnisse<br />

der Gesellschaft schlecht oder recht befriedigt, die Reproduktion geht weiter ihren verschlungenen Gang,<br />

und die Produktivkräfte entwickeln sich immer mehr. Wie kommt dies nun zustande, wenn wir von Krise<br />

und Konjunkturwechsel absehen? - Hier beginnt die eigentliche Frage und der Versuch, das<br />

Reproduktionsproblem durch den Hinweis auf die Periodizität der Krisen zu lösen, ist im Grunde<br />

genommen ebenso vulgärökonomisch wie der Versuch, das Wertproblem durch Schwankungen<br />

von Nachfrage und Angebot zu lösen. Trotzdem worden wir weiter sehen, daß die Nationalökonomie<br />

beständig diese Neigung verriet, das Problem der Reproduktion, kaum daß sie es halbwegs bewußt<br />

aufgestellt oder wenigstens geahnt hatte, unversehens in das Krisenproblem zu verwandeln und sich so<br />

die Lösung selbst zu versperren. Wenn wir im folgenden von kapitalistischer Reproduktion sprechen, so<br />

ist darunter stets jener Durchschnitt zu verstehen, der sich als die mittlere Resultante <strong>des</strong><br />

Konjunkturwechsels innerhalb eines Zyklus ergibt.<br />

<strong>Die</strong> kapitalistische Gesamtproduktion wird durch eine schrankenlose. und beständig schwankende<br />

Anzahl von Privatproduzenten bewerkstelligt, die unabhängig voneinander, ohne jede gesellschaftliche<br />

Kontrolle außer der Beobachtung der Preisschwankungen und ohne jeden gesellschaftlichen<br />

Zusammenhang außer dem Warenaustausch produzieren. Wie kommt aus diesen zahllosen.<br />

unzusammenhängenden Bewegungen die tatsächliche Gesamtproduktion heraus? Wird die Frage so<br />

gestellt - und dies ist die erste allgemeine Form, unter der sich das Problem unmittelbar bietet, so wird<br />

dabei übersehen, daß die Privatproduzenten in diesem Fall keine einfachen Warenproduzenten, sondern<br />

kapitalistische Produzenten sind und daß auch die Gesamtproduktion der Gesellschaft keine Produktion<br />

zur Befriedigung der Konsumbedürfnisse schlechthin, auch keine einfache Warenproduktion, sondern<br />

kapitalistische Produktion ist. Sehen wir zu, welche Veränderungen im Problem dies mit sich bringt.<br />

Der Produzent, der nicht bloß Waren, sondern Kapital produziert, muß vor allem Mehrwert erzeugen.<br />

Mehrwert ist das Endziel und das bewegende Motiv <strong>des</strong> kapitalistischen Produzenten. <strong>Die</strong> hergestellten<br />

Waren müssen ihm, nachdem sie realisiert werden, nicht nur alle seine Auslagen, sondern darüber hinaus<br />

eine Wertgröße eintragen, der keine Auslage auf seiner Seite entspricht, die reiner Überschuß ist. Vom<br />

Standpunkte dieser Mehrwerterzeugung zerfällt das vom Kapitalisten vorgeschossene Kapital. ohne daß<br />

er es weiß und entgegen den Flausen, die er sich und der Welt über stehen<strong>des</strong> und umlaufen<strong>des</strong> Kapital<br />

vormacht, in einen Teil, der seine Auslagen für Produktionsmittel: Arbeitsräume, Roh- und Hilfsstoffe,<br />

Instrumente, darstellt, und einen anderen Teil, der in Arbeitslöhnen verausgabt wird. Den ersteren, der<br />

seine Wertgröße durch Gebrauch im Arbeitsprozeß unverändert auf das Produkt überträgt, nennt Marx<br />

den konstanten, den letzteren, der durch Aneignung unbezahlter Lohnarbeit zum Wertzuwachs, zur<br />

Erzeugung von Mehrwert führt, den variablen Kapitalteil. Von diesem Standpunkt entspricht die<br />

Wertzusammensetzung jeder kapitalistisch hergestellten Ware normalerweise der Formel c + v + m, wo-<br />

bei c den ausgelegten konstanten Kapitalwert, d.h. den auf die Ware übertragenen Wertteil der<br />

gebrauchten toten Produktionsmittel darstellt, v den ausgelegten variablen, d.h. in Löhnen verausgabten<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 1. Kapitel<br />

Kapitalteil bedeutet, endlich m den Mehrwert, d.h. den aus dem unbezahlten Teil der Lohnarbeit<br />

herrührenden Wertzuwachs repräsentiert. Alle drei Wertteile stecken zusammen in der konkreten Gestalt<br />

der hergestellten Ware - je<strong>des</strong> einzelnen Exemplars wie der gesamten Warenmasse als <strong>Ein</strong>heit betrachtet,<br />

ob es sich um Baumwollgewebe oder Ballettdarbietungen, gußeiserne Röhren oder liberale Zeitungen<br />

handelt. <strong>Die</strong> Herstellung der Waren ist nicht Zweck für den kapitalistischen Produzenten, sondern bloß<br />

Mittel zur Aneignung <strong>des</strong> Mehrwerts. Solange aber der Mehrwert in der Warengestalt steckt, ist er für<br />

den Kapitalisten unbrauchbar. Er muß, nachdem er hergestellt, realisiert, in seine reine Wertgestalt, d.h.<br />

in Geld, verwandelt werden. Damit dies geschieht und der Mehrwert in Geldgestalt vom Kapitalisten<br />

angeeignet wird, müssen auch seine gesamten Kapitalauslagen die Warenform abstreifen und in<br />

Geldform zu ihm zurückkehren. Erst wenn dies gelungen. wenn die gesamte Warenmasse also nach<br />

ihrem Wert gegen Geld veräußert ist, ist der Zweck der Produktion erreicht. <strong>Die</strong> Formel c + v + m<br />

bezieht sich dann genau so, wie früher auf die Wertzusammensetzung der Waren, jetzt auf die<br />

quantitative Zusammensetzung <strong>des</strong> aus dem Warenverkauf gelösten Gel<strong>des</strong>: <strong>Ein</strong> Teil davon (c) erstattet<br />

dem Kapitalisten seine Auslagen an verbrauchten Produktionsmitteln, ein anderer (v) seine Auslagen an<br />

Arbeitslöhnen. der letzte (m) bildet den erwarteten Überschuß, den "Reingewinn" <strong>des</strong> Kapitalisten in<br />

bar.(2) <strong>Die</strong>se Verwandlung <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong> aus ursprünglicher Gestalt, die den Ausgangspunkt jeder<br />

kapitalistischen Produktion darstellt, in tote und lebendige Produktionsmittel (d.h. Rohstoffe, Instrumente<br />

und Arbeitskraft), aus diesen durch lebendigen Arbeitsprozeß in Waren und endlich aus Waren durch den<br />

Austauschprozeß wieder in Geld, und zwar in mehr Geld als im Anfangsstadium, dieser Umschlag <strong>des</strong><br />

<strong>Kapitals</strong> ist jedoch nicht nur zur Produktion und Aneignung von Mehrwert nötig. Zweck und treiben<strong>des</strong><br />

Motiv der kapitalistischen Produktion ist nicht Mehrwert schlechthin, in beliebiger Menge, in einmaliger<br />

Aneignung, sondern Mehrwert schrankenlos, in unaufhörlichem Wachstum. in einer immer größeren<br />

Menge. <strong>Die</strong>s kann aber immer wieder nur durch dasselbe Zaubermittel: durch kapitalistische Produktion,<br />

d.h. durch Aneignung unbezahlter Lohnarbeit im Prozeß der Warenherstellung und durch<br />

Realisierung der so hergestellten Waren, erreicht werden. Produktion immer von neuem, Reproduktion<br />

als regelmäßige Erscheinung erhält damit in der kapitalistischen Gesellschaft ein ganz neues Motiv, das<br />

unter jeder anderen Produktionsform unbekannt ist. Unter jeder historisch bekannten Wirtschaftsweise<br />

sonst sind das bestimmende Moment der Reproduktion - die unaufhörlichen Konsumtionsbedürfnisse der<br />

Gesellschaft, mögen dies demokratisch bestimmte Konsumtionsbedürfnisse der Gesamtheit der<br />

Arbeitenden in einer agrarkommunistischen Markgenossenschaft sein oder <strong>des</strong>potisch bestimmte<br />

Bedürfnisse einer antagonistischen Klassengesellschaft, einer Sklavenwirtschaft, eines Fronhofs u.dgl.<br />

Bei der kapitalistischen Produktionsweise existiert für den einzelnen Privatproduzenten - und nur solche<br />

kommen hier in Betracht - die Rücksicht auf Konsumtionsbedürfnisse der Gesellschaft als Motiv zur<br />

Produktion gar nicht. Für ihn existiert nur die zahlungsfähige Nachfrage, und diese auch nur als ein<br />

unumgängliches Mittel zur Realisierung <strong>des</strong> Mehrwerts. <strong>Die</strong> Herstellung von Produkten für den Konsum,<br />

die das zahlungsfähige Bedürfnis der Gesellschaft befriedigen, ist <strong>des</strong>halb zwar ein Gebot der<br />

Notwendigkeit für den <strong>Ein</strong>zelkapitalisten, aber ebensosehr ein Umweg vom Standpunkte <strong>des</strong> eigentlichen<br />

Beweggrunds: der Aneignung <strong>des</strong> Mehrwerts. Und dieses Motiv ist es auch, das dazu treibt, immer<br />

wieder die Reproduktion aufzunehmen. <strong>Die</strong> Mehrwertproduktion ist es, die in der kapitalistischen<br />

Gesellschaft die Reproduktion der Lebensbedürfnisse im ganzen zum Perpetuum mobile macht. <strong>Die</strong><br />

Reproduktion ihrerseits, deren Ausgangspunkt kapitalistisch immer wieder das Kapital, und zwar in<br />

seiner reinen Wertform, in Geldform, bildet, kann offenbar nur dann in Angriff genommen werden, wenn<br />

die Produkte der vorhergegangenen Periode, die Waren, in ihre Geldform verwandelt, realisiert worden<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 1. Kapitel<br />

sind. Als erste Bedingung der Reproduktion erscheint also für den kapitalistischen Produzenten die<br />

gelungene Realisierung der in der vorhergegangenen Produktionsperiode hergestellten Waren.<br />

Jetzt gelangen wir zu einem zweiten wichtigen Umstand. <strong>Die</strong> Bestimmung <strong>des</strong> Umfangs der<br />

Reproduktion liegt - bei der privaten Wirtschaftsweise - im Belieben und Gutdünken <strong>des</strong><br />

<strong>Ein</strong>zelkapitalisten. Sein treiben<strong>des</strong> Motiv ist aber Mehrwertaneignung, und zwar möglichst rasch<br />

progressierende Mehrwertaneignung. <strong>Ein</strong>e Beschleunigung in der Mehrwertaneignung ist jedoch nur<br />

möglich durch Erweiterung der kapitalistischen Produktion, die den Mehrwert schafft. Der Großbetrieb<br />

hat bei der Mehrwerterzeugung in jeder Hinsicht Vorteile gegenüber dem Kleinbetrieb. <strong>Die</strong><br />

kapitalistische Produktionsweise erzeugt also nicht bloß ein ständiges Motiv zur Reproduktion<br />

überhaupt, sondern auch ein Motiv zur ständigen Erweiterung der Reproduktion, zur Wiederaufnahme<br />

der Produktion in größerem Umfang als bisher.<br />

Nicht genug. <strong>Die</strong> kapitalistische Produktionsweise schafft nicht bloß im Mehrwerthunger <strong>des</strong><br />

Kapitalisten die treibende Kraft zur rastlosen Erweiterung der Reproduktion, sondern sie verwandelt<br />

diese Erweiterung geradezu in ein Zwangsgesetz, in eine wirtschaftliche Existenzbedingung für den<br />

<strong>Ein</strong>zelkapitalisten. Unter der Herrschaft der Konkurrenz besteht die wichtigste Waffe <strong>des</strong><br />

<strong>Ein</strong>zelkapitalisten im Kampf um den Platz auf dem Absatzmarkt in der Billigkeit der Waren. Alle<br />

dauernden Methoden zur Herabsetzung der Herstellungskosten der Waren - die nicht durch<br />

Herabdrückung der Löhne oder Verlängerung der Arbeitszeit eine Extrasteigerung <strong>des</strong> Mehrwerts<br />

erzielen und selbst auf mancherlei Hindernisse stoßen können - laufen aber auf eine Erweiterung der<br />

Produktion hinaus. Ob es sich um Ersparnisse an Baulichkeiten und Werkzeugen handelt oder um<br />

Anwendung leistungsfähigerer Produktionsmittel oder um weitgehende Ersetzung der Handarbeit durch<br />

Maschinen oder um rapide Ausnutzung einer günstigen Marktkonjunktur zur Anschaffung billiger<br />

Rohstoffe - in allen Fällen hat der Großbetrieb Vorteile vor dem Klein- und Mittelbetrieb.<br />

<strong>Die</strong>se Vorteile wachsen in sehr weiten Grenzen zusammen mit der Ausdehnung <strong>des</strong> Betriebes. <strong>Die</strong><br />

Konkurrenz selbst zwingt <strong>des</strong>halb jede Vergrößerung eines Teils der kapitalistischen Betriebe den<br />

anderen als Existenzbedingung auf. So ergibt sich eine unaufhörliche Tendenz zur Ausdehnung der<br />

Reproduktion, die sich unaufhörlich mechanisch, wellenartig über die ganze Oberfläche der<br />

Privatproduktion verbreitet.<br />

Für den <strong>Ein</strong>zelkapitalisten äußert sich die Erweiterung der Reproduktion darin, daß er einen Teil <strong>des</strong><br />

angeeigneten Mehrwerts zum Kapital schlägt, akkumuliert. <strong>Akkumulation</strong>, Verwandlung <strong>des</strong> Mehrwerts<br />

in tätiges Kapital, ist der kapitalistische Ausdruck der erweiterten Reproduktion.<br />

<strong>Die</strong> erweiterte Reproduktion ist keine Erfindung <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>. Sie bildet vielmehr seit jeher die Regel in<br />

jeder historischen Gesellschaftsform, die wirtschaftlichen und kulturellen Fortschritt aufweist. <strong>Die</strong><br />

einfache Reproduktion - die bloße ständige Wiederholung <strong>des</strong> Produktionsprozesses im früheren Umfang<br />

- ist zwar möglich und kann auf langen Zeitstrecken der gesellschaftlichen Entwicklung beobachtet<br />

werden. So z.B. in den uraltertümlichen agrarkommunistischen Dorfgemeinden, in denen der Zuwachs<br />

der Bevölkerung nicht durch eine allmähliche Erweiterung der Produktion, sondern durch periodische<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 1. Kapitel<br />

Ausscheidung <strong>des</strong> Nachwuchses und Gründung von ebenso winzigen, sich selbst genügenden<br />

Filialgemeinden berücksichtigt wird. Ebenso bieten die alten kleinen Handwerksbetriebe in Indien oder<br />

China das Beispiel einer von Generation auf Generation vererbten traditionellen Wiederholung der<br />

Produktion in denselben Formen und demselben Umfang. Doch ist in allen solchen Fällen die einfache<br />

Reproduktion Grundlage und sicheres Zeichen <strong>des</strong> allgemeinen wirtschaftlichen und kulturellen<br />

Stillstands. Alle entscheidenden Produktionsfortschritte und Kulturdenkmäler, wie die großen<br />

Wasserwerke <strong>des</strong> Orients, die ägyptischen Pyramiden, die römischen Heerstraßen, die griechischen<br />

Künste und Wissenschaften, die Entwicklung <strong>des</strong> Handwerks und der Städte im Mittelalter, wären<br />

unmöglich ohne erweiterte Reproduktion, denn nur eine stufenweise Ausdehnung der Produktion über<br />

die unmittelbaren Bedürfnisse hinaus und das ständige Wachstum der Bevölkerung wie ihrer Bedürfnisse<br />

bilden zugleich die wirtschaftliche Grundlage und den sozialen Antrieb zu entscheidenden<br />

Kulturfortschritten. Namentlich der Austausch und mit ihm die Entstehung der Klassengesellschaft und<br />

ihre historischen Fortschritte bis zur kapitalistischen Wirtschaftsform wären undenkbar ohne erweiterte<br />

Reproduktion. In der kapitalistischen Gesellschaft jedoch kommen der erweiterten Reproduktion einige<br />

neue Charaktere zu. Zunächst wird sie hier, wie bereits angeführt, zum Zwangsgesetz für den<br />

<strong>Ein</strong>zelkapitalisten. <strong>Ein</strong>fache Reproduktion, selbst Rückgang in der Reproduktion sind zwar auch bei der<br />

kapitalistischen Produktionsweise nicht ausgeschlossen, sie bilden vielmehr periodische Erscheinungen<br />

der Krisen nach der ebenso periodischen Überspannung der erweiterten Reproduktion in der<br />

Hochkonjunktur. Doch geht die allgemeine Bewegung der Reproduktion - über die periodischen<br />

Schwankungen <strong>des</strong> zyklischen Konjunkturwechsels hinweg - in der Richtung einer unaufhörlichen<br />

Erweiterung. Für den <strong>Ein</strong>zelkapitalisten bedeutet die Unmöglichkeit, mit dieser allgemeinen Bewegung<br />

Schritt zu halten, das Ausscheiden aus dem Konkurrenzkampf, den wirtschaftlichen Tod.<br />

Ferner kommt noch anderes hinzu. Bei jeder rein oder vorwiegend naturalwirtschaftlichen<br />

Produktionsweise - in einer agrarkommunistischen Dorfgemeinde Indiens oder in einer römischen Villa<br />

mit Sklavenarbeit oder im feudalen Fronhof <strong>des</strong> Mittelalters - bezieht sich Begriff und Zweck der<br />

erweiterten Reproduktion nur auf die Produktenmenge, auf die Masse der hergestellten<br />

Konsumgegenstände. <strong>Die</strong> Konsumtion als Zweck beherrscht den Umfang und Charakter sowohl <strong>des</strong><br />

Arbeitsprozesses im einzelnen wie der Reproduktion im allgemeinen. Anders unter der kapitalistischen<br />

Wirtschaftsweise. <strong>Die</strong> kapitalistische Produktion ist nicht eine solche zu Konsumtionszwecken,<br />

sondern eine Wertproduktion. <strong>Die</strong> Wertverhältnisse beherrschen den gesamten Produktions- wie<br />

Reproduktionsprozeß. Kapitalistische Produktion ist nicht Produktion von Konsumgegenständen, auch<br />

nicht von Waren schlechthin, sondern von Mehrwert. Erweiterte Reproduktion bedeutet also<br />

kapitalistisch: Ausdehnung der Mehrwertproduktion. <strong>Die</strong> Mehrwertproduktion geht zwar in der Form der<br />

Warenproduktion, in letzter Linie also Produktion von Konsumgegenständen, vor sich. Allein in der<br />

Reproduktion werden diese zwei Gesichtspunkte durch Verschiebungen in der Produktivität der Arbeit<br />

immer wieder getrennt. <strong>Die</strong>selbe Kapitalgröße und Mehrwertgröße wird sich durch Steigerung der<br />

Produktivität fortschreitend in einer größeren Menge Konsumgegenstände darstellen. <strong>Die</strong><br />

Produktionserweiterung im Sinne der Herstellung einer größeren Masse von Gebrauchswerten braucht<br />

also an sich noch nicht erweiterte Reproduktion im kapitalistischen Sinne zu sein. Umgekehrt kann das<br />

Kapital ohne Änderung in der Produktivität der Arbeit in gewissen Schranken durch Steigerung der<br />

Ausbeutungsstufe - zum Beispiel durch Herabdrückung der Löhne - einen größeren Mehrwert<br />

herausschlagen. ohne eine größere Produktenmenge herzustellen. Aber in diesem wie in jenem Fall<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 1. Kapitel<br />

werden gleichermaßen die Elemente der erweiterten Reproduktion im kapitalistischen Sinne hergestellt.<br />

Denn diese Elemente sind: Mehrwert sowohl als Wertgröße wie als Summe von sachlichen<br />

Produktionsmitteln. <strong>Die</strong> Erweiterung der Mehrwertproduktion wird, als Regel betrachtet, durch<br />

Vergrößerung <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong> bewirkt, diese aber durch Hinzuschlagen eines Teils <strong>des</strong> angeeigneten<br />

Mehrwerts zum Kapital. Dabei ist es gleichgültig, ob der kapitalistische Mehrwert zur Erweiterung der<br />

alten Unternehmung oder als selbständiger Ableger zu Neugründungen verwendet wird. <strong>Die</strong> erweiterte<br />

Reproduktion im kapitalistischen Sinne bekommt also den spezifischen Ausdruck <strong>des</strong> Kapitalwachstums<br />

durch progressive Kapitalisierung <strong>des</strong> Mehrwerts oder, wie Marx dies rennt, Kapitalakkumulation. <strong>Die</strong><br />

allgemeine Formel der erweiterten Reproduktion unter der Herrschaft <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong> stellt sich also<br />

folgendermaßen dar:<br />

(c + v) + m/x + m'<br />

wobei m/x den kapitalisierten Teil <strong>des</strong> in der früheren Produktionsperiode angeeigneten Mehrwerts<br />

darstellt, m' den neuen, aus dem gewachsenen Kapital erzeugten Mehrwert. <strong>Die</strong>ser neue Mehrwert wird<br />

zu einem Teil wieder kapitalisiert. Der ständige Fluß dieser abwechselnden Mehrwertaneignung und<br />

Mehrwertkapitalisierung, die sich wechselseitig bedingen, bildet den Prozeß der erweiterten<br />

Reproduktion im kapitalistischen Sinne.<br />

Allein hier sind wir erst bei der allgemeinen, abstrakten Formel der Reproduktion. Betrachten wir<br />

näher die konkreten Bedingungen, die zur Verwirklichung dieser Formel erforderlich sind.<br />

Der angeeignete Mehrwert stellt sich, nachdem er auf dem Markt glücklich die Warenform abgestreift<br />

hat, als eine bestimmte Geldsumme dar. In dieser Form hat er die absolute Wertgestalt, in der er seine<br />

Laufbahn als Kapital beginnen kann. Aber in dieser Gestalt steht er zugleich erst an der Schwelle seiner<br />

Laufbahn. Mit Geld kann man keinen Mehrwert schaffen<br />

Damit der zur <strong>Akkumulation</strong> bestimmte Teil <strong>des</strong> Mehrwerts auch wirklich kapitalisiert wird, muß er die<br />

konkrete Gestalt annehmen, die ihn erst befähigt, als produktives, d.h. neuen Mehrwert hecken<strong>des</strong><br />

Kapital zu wirken. Dazu ist es notwendig, daß er, genau wie das Originalkapital, in zwei Teile zerfällt, in<br />

einen konstanten, in toten Produktionsmitteln und einen variablen, in Arbeitslöhnen dargestellten Teil.<br />

Erst dann wird er, nach dem Vorbild <strong>des</strong> alten <strong>Kapitals</strong>, in die Formel c + v + m gebracht werden<br />

können.<br />

Dazu genügt aber nicht der gute Wille <strong>des</strong> Kapitalisten zu akkumulieren, auch nicht seine "Sparsamkeit"<br />

und "Enthaltsamkeit", womit er den größeren Teil seines Mehrwerts zur Produktion verwendet, statt ihn<br />

in persönlichem Luxus ganz zu verjubeln. Dazu ist vielmehr erforderlich, daß er auf dem Warenmarkt<br />

die konkreten Gestalten vorfindet, die er seinem neuen Kapitalzuwachs zu geben gedenkt, also erstens<br />

gerade die sachlichen Produktionsmittel - Rohstoffe, Maschinen usw. -, deren er zu der von ihm<br />

geplanten und gewählten Produktionsart bedarf, um dem konstanten Kapitalteil die produktive Form zu<br />

geben. Zweitens aber muß auch die als variabler Teil bestimmte Kapitalportion die Verwandlung<br />

vornehmen können, und hierfür ist zweierlei notwendig: vor allem, daß sich auf dem Arbeitsmarkt die<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 1. Kapitel<br />

zuschüssigen Arbeitskräfte in genügender Anzahl vorfinden. deren es gerade bedarf, um den neuen<br />

Kapitalzuwachs in Bewegung zu setzen, und ferner, daß - da die Arbeiter nicht von Geld leben können -<br />

auf dem Warenmarkt auch die zuschüssigen Lebensmittel sich vorfinden, gegen die die neu zu<br />

beschäftigenden Arbeiter den vom Kapitalisten erhaltenen variablen Kapitalteil auszutauschen in der<br />

Lage sind.<br />

Sind alle diese Vorbedingungen vorhanden, dann kann der Kapitalist seinen kapitalisierten Mehrwert in<br />

Bewegung setzen, ihn als prozessieren<strong>des</strong> Kapital neuen Mehrwert erzeugen lassen. Damit ist die<br />

Aufgabe noch nicht endgültig gelöst. Das neue Kapital mitsamt dem erzeugten Mehrwert steckt<br />

vorerst noch in Gestalt einer neuen zuschüssigen Warenmasse irgendeiner Gattung. In dieser Gestalt ist<br />

das neue Kapital nur noch erst vorgeschossen und der von ihm erzeugte Mehrwert erst in seiner für den<br />

Kapitalisten unbrauchbaren Form. Damit das neue Kapital seinen Lebenszweck erfüllt, muß es seine<br />

Warengestalt abstreifen und mitsamt dem von ihm erzeugten Mehrwert in reiner Wertform, als Geld, in<br />

die Hand <strong>des</strong> Kapitalisten zurückkehren. Gelingt das nicht, dann sind neues Kapital und Mehrwert ganz<br />

oder teilweise verloren, die Kapitalisierung <strong>des</strong> Mehrwerts ist fehlgeschlagen, die <strong>Akkumulation</strong> hat<br />

nicht stattgefunden. Damit die <strong>Akkumulation</strong> tatsächlich vollzogen wird, ist also unbedingt erforderlich,<br />

daß die von dem neuen Kapital erzeugte zuschüssige Warenmenge auf dem Markt einen Platz für sich<br />

erobert, um realisiert werden zu können.<br />

So sehen wir, daß die erweiterte Reproduktion unter kapitalistischen Bedingungen, d.h. als<br />

Kapitalakkumulation, an eine ganze Reihe eigentümlicher Bedingungen geknüpft ist. Fassen wir sie<br />

genau ins Auge. Erste Bedingung: <strong>Die</strong> Produktion muß Mehrwert erzeugen, denn der Mehrwert ist die<br />

elementare Form, unter der der Produktionszuwachs kapitalistisch allein möglich ist. <strong>Die</strong>se Bedingung<br />

muß im Produktionsprozeß selbst, im Verhältnis zwischen Kapitalist und Arbeiter, in der<br />

Warenproduktion eingehalten werden. Zweite Bedingung: Damit der Mehrwert, der zur Erweiterung der<br />

Reproduktion bestimmt ist, angeeignet wird, muß er, nachdem die erste Bedingung eingehalten, erst<br />

realisiert, in Geldform gebracht werden. <strong>Die</strong>se Bedingung führt uns auf den Warenmarkt, wo die<br />

Chancen <strong>des</strong> Austausches über die weiteren Schicksale <strong>des</strong> Mehrwerts, also auch der künftigen<br />

Reproduktion, entscheiden. Dritte Bedingung: Vorausgesetzt, daß die Realisierung <strong>des</strong> Mehrwerts<br />

gelungen und ein Teil <strong>des</strong> realisierten Mehrwerts zum Kapital zwecks <strong>Akkumulation</strong> geschlagen worden<br />

ist, muß das neue Kapital erst die produktive Gestalt, d.h. die Gestalt von toten Produktionsmitteln und<br />

Arbeitskräften annehmen, ferner muß der gegen Arbeitskräfte ausgetauschte Kapitalteil die Gestalt von<br />

Lebensmitteln für die Arbeiter annehmen. <strong>Die</strong>se Bedingung führt uns wieder auf den Warenmarkt und<br />

auf den Arbeitsmarkt. Ist hier das Nötige gefunden, hat erweiterte Reproduktion der Waren<br />

stattgefunden, dann tritt die vierte Bedingung hinzu: <strong>Die</strong> zuschüssige Warenmenge, die das neue Kapital<br />

samt neuem Mehrwert darstellt, muß realisiert, in Geld umgewandelt werden. Erst wenn dies gelungen,<br />

hat die erweiterte Reproduktion im kapitalistischen Sinne stattgefunden. <strong>Die</strong>se letzte Bedingung führt<br />

uns wieder auf den Warenmarkt.<br />

So spielt die kapitalistische Reproduktion wie die Produktion fortwährend zwischen der<br />

Produktionsstätte und dem Warenmarkt, zwischen dem Privatkontor und Fabrikraum, zu denen<br />

"Unbefugten der Zutritt streng verboten" und wo <strong>des</strong> <strong>Ein</strong>zelkapitalisten souveräner Wille höchstes<br />

Gesetz ist, und dem Warenmarkt, dem niemand Gesetze vorschreibt und wo kein Wille und keine<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 1. Kapitel<br />

Vernunft sich geltend machen. Aber gerade in der Willkür und Anarchie, die auf dem Warenmarkt<br />

herrschen, macht sich dem <strong>Ein</strong>zelkapitalisten seine Abhängigkeit von der Gesellschaft, von der<br />

Gesamtheit der produzierenden und konsumierenden <strong>Ein</strong>zelglieder fühlbar. Zur Erweiterung seiner<br />

Reproduktion braucht er zuschüssige Produktionsmittel und Arbeitskräfte nebst Lebensmitteln für diese,<br />

aber das Vorhandensein solcher hängt von Momenten, Umständen, Vorgängen ab, die hinter seinem<br />

Rücken, ganz unabhängig von ihm sich vollziehen. Um seine vergrößerte Produktenmasse realisieren zu<br />

können, braucht er einen erweiterten Absatzmarkt, aber die tatsächliche Erweiterung der Nachfrage im<br />

allgemeinen wie insbesondere nach seiner Warengattung ist eine Sache, der gegenüber er völlig machtlos<br />

ist.<br />

<strong>Die</strong> aufgezählten Bedingungen, die alle den immanenten Widerspruch zwischen privater Produktion und<br />

Konsumtion und gesellschaftlichem Zusammenhang beider zum Ausdruck bringen, sind keine neuen<br />

Momente, die erst bei der Reproduktion auftreten. Es sind die allgemeinen Widersprüche der<br />

kapitalistischen Produktion. Sie bieten sich jedoch als besondere Schwierigkeiten <strong>des</strong><br />

Reproduktionsprozesses dar, und zwar aus folgenden Gründen: Unter dem Gesichtswinkel der<br />

Reproduktion, namentlich der erweiterten Reproduktion, erscheint die kapitalistische Produktionsweise<br />

nicht bloß in ihren allgemeinen Grundcharakteren, sondern auch in einem bestimmten<br />

Bewegungsrhythmus als ein Prozeß in seinem Fortgang, wobei das spezifische Ineinandergreifen der<br />

einzelnen Zahnräder seiner Produktionsperioden zum Vorschein kommt. Unter diesem Gesichtswinkel<br />

lautet also die Frage nicht in ihrer Allgemeinheit: Wie vermag jeder <strong>Ein</strong>zelkapitalist die<br />

Produktionsmittel und Arbeitskräfte vorzufinden, die er braucht, und die Waren auf dem Markt<br />

abzusetzen, die er hat produzieren lassen, obwohl es gar keine gesellschaftliche Kontrolle und<br />

Planmäßigkeit gibt, die Produktion und Nachfrage miteinander in <strong>Ein</strong>klang bringen würde. <strong>Die</strong> Antwort<br />

auf diese Frage lautet: <strong>Ein</strong>erseits sorgen der Drang der <strong>Ein</strong>zelkapitale nach Mehrwert und die<br />

Konkurrenz unter ihnen wie auch die automatischen Wirkungen der kapitalistischen Ausbeutung und der<br />

kapitalistischen Konkurrenz dafür, daß sowohl jegliche Waren, also auch Produktionsmittel hergestellt<br />

werden wie daß eine wachsende Klasse proletarisierter Arbeiter im allgemeinen zur Verfügung <strong>des</strong><br />

<strong>Kapitals</strong> stehen. Andererseits äußert sich die Planlosigkeit dieser Zusammenhänge darin, daß das<br />

Klappen von Nachfrage und Angebot auf allen Gebieten nur durch ständige Abweichungen von ihrer<br />

Übereinstimmung, durch Preisschwankungen stündlich und durch Konjunkturschwankungen und Krisen<br />

periodisch, durchgesetzt wird.<br />

Unter dem Gesichtswinkel der Reproduktion lautet die Frage anders: Wie ist es möglich, daß die planlos<br />

vor sich gehende Versorgung <strong>des</strong> Marktes mit Produktionsmitteln und Arbeitskräften wie die planlos und<br />

unberechenbar sich verändernden Absatzbedingungen dem <strong>Ein</strong>zelkapitalisten die jeweilig seinen<br />

<strong>Akkumulation</strong>sbedürfnissen entsprechenden, also in einem bestimmten Quantitätsverhältnis wachsenden<br />

Mengen und Gattungen Produktionsmittel, Arbeitskräfte und Absatzmöglichkeiten sichern? Fassen wir<br />

die Sache präziser. Der Kapitalist produziere nach der uns bekannten Formel in folgendem Verhältnis: 40<br />

c + 10 v + 10 m, wobei das konstante Kapital viermal so groß wie das variable, die Ausbeutungsrate 100<br />

Prozent sei. <strong>Die</strong> Warenmasse wird alsdann einen Wert von 60 darstellen. Nehmen wir an, der Kapitalist<br />

sei in der Lage, die Hälfte seines Mehrwertes zu kapitalisieren, und schlage sie zum alten Kapital nach<br />

derselben Zusammensetzung <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>. <strong>Die</strong> nächste Produktionsperiode würde dann in der Formel<br />

zum Ausdruck kommen 44 c + 11 v + 11 m = 66. Nehmen wir an, daß der Kapitalist auch weiter in der<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 1. Kapitel<br />

Lage ist, die Hälfte seines Mehrwertes zu kapitalisieren und so je<strong>des</strong> Jahr. Damit er dies bewerkstelligen<br />

kann, ist erforderlich, daß er nicht bloß überhaupt, sondern in der bestimmten Progression<br />

Produktionsmittel, Arbeitskräfte und Absatzgebiet vorfindet, die seinem <strong>Akkumulation</strong>sfortschritt<br />

entsprechen.<br />

Fußnoten von <strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong><br />

(1) K. Marx. Das Kapital. Bd. I, 4. Auf., 1890, S. 529. [Karl Marx: Das Kapital, Erster Band. In: Karl<br />

Marx/Friedrich Engels: Werke, Bd. 23, S. 591.


<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 2. Kapitel<br />

1. Kapitel | Inhalt | 3. Kapitel<br />

<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - Gesammelte Werke. Herausgegeben vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Band<br />

5. <strong>Berlin</strong>/DDR. 1975. "<strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>", S. 24-39.<br />

1. Korrektur<br />

Erstellt am 20.10.1998<br />

Zweites Kapitel<br />

<strong>Die</strong> Analyse <strong>des</strong> Reproduktionsprozesses<br />

bei Quesnay und bei Adam Smith<br />

Bis jetzt haben wir die Reproduktion vom Standpunkt <strong>des</strong> <strong>Ein</strong>zelkapitalisten betrachtet, der<br />

typischer Vertreter, Agent der Reproduktion ist, die ja durch lauter einzelne privatkapitalistische<br />

Unternehmungen ins Werk gesetzt wird. <strong>Die</strong>se Betrachtung hat uns schon genug Schwierigkeiten <strong>des</strong><br />

Problems gezeigt. <strong>Die</strong> Schwierigkeiten wachsen aber und verwickeln sich außerordentlich, sobald wir uns<br />

von der Betrachtung <strong>des</strong> <strong>Ein</strong>zelkapitalisten zur Gesamtheit der Kapitalisten wenden.<br />

Schon ein oberflächlicher Blick zeigt, daß die kapitalistische Reproduktion als gesellschaftliches<br />

Ganzes nicht einfach als die mechanische Summe der einzelnen privatkapitalistischen Reproduktionen<br />

aufgefaßt werden darf. Wir haben z.B. gesehen, daß eine der Grundvoraussetzungen für die erweiterte<br />

Reproduktion <strong>des</strong> <strong>Ein</strong>zelkapitalisten eine entsprechende Erweiterung seiner Absatzmöglichkeit auf dem<br />

Warenmarkt ist. Nun mag diese Erweiterung dem einzelnen Kapitalisten nicht durch absolute<br />

Ausdehnung der Absatzschranken im ganzen, sondern durch Konkurrenzkampf auf Kosten anderer<br />

<strong>Ein</strong>zelkapitalisten gelingen, so daß dem einen zugute kommt, was ein anderer oder mehrere andere vom<br />

Markt verdrängte Kapitalisten als Verlust buchen. <strong>Die</strong>ser Vorgang wird dem einen Kapitalisten an<br />

erweiterter Reproduktion einbringen, was er anderen als Defizit in der Reproduktion aufzwingt. Der eine<br />

Kapitalist wird erweiterte Reproduktion, andere werden nicht einmal die einfache bewerkstelligen<br />

können, und die kapitalistische Gesellschaft im ganzen wird nur eine lokale Verschiebung. nicht aber eine<br />

quantitative Veränderung in der Reproduktion verzeichnen. Ebenso kann die erweiterte Reproduktion <strong>des</strong><br />

einen Kapitalisten mit Produktionsmitteln und Arbeitskräften ins Werk gesetzt werden, die durch den<br />

Bankrott, also gänzliches oder teilweises Aufgeben der Reproduktion bei anderen Kapitalisten, freigesetzt<br />

worden sind.<br />

<strong>Die</strong>se alltäglichen Vorgänge beweisen, daß die Reproduktion <strong>des</strong> gesellschaftlichen Gesamtkapitals etwas<br />

anderes ist als die ins unermeßliche gesteigerte Reproduktion <strong>des</strong> <strong>Ein</strong>zelkapitalisten, daß sich die<br />

Reproduktionsvorgänge der einzelnen Kapitale vielmehr unaufhörlich kreuzen und in ihrer Wirkung<br />

jeden Moment gegenseitig in größerem oder geringerem Grade aufheben können. Bevor wir also den<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 2. Kapitel<br />

Mechanismus und die Gesetze der kapitalistischen Gesamtreproduktion untersuchen, ist es notwendig,<br />

die Frage zu stellen, was wir uns denn unter der Reproduktion <strong>des</strong> Gesamtkapitals vorstellen sollen und<br />

ob es überhaupt möglich ist, aus dem Wust der zahllosen Bewegungen der <strong>Ein</strong>zelkapitale, die sich alle<br />

Augenblicke nach unkontrollierbaren und unberechenbaren Regeln verändern und teils parallel<br />

nebeneinander verlaufen, sich teils kreuzen und aufheben, so etwas wie eine Gesamtreproduktion zu<br />

konstruieren. Gibt es denn überhaupt ein Gesamtkapital der Gesellschaft, und was stellt dieser Begriff<br />

allenfalls in der realen Wirklichkeit dar? Das ist die erste Frage, die sich die wissenschaftliche<br />

Erforschung der Reproduktionsgesetze stellen muß. Der Vater der Physiokratenschule, Quesnay, der mit<br />

der klassischen Unerschrockenheit und <strong>Ein</strong>fachheit in der ersten Morgenröte der Nationalökonomie<br />

wie der bürgerlichen Wirtschaftsordnung an das Problem herantrat, nahm die Existenz <strong>des</strong><br />

Gesamtkapitals als einer realen agierenden Größe ohne weiteres als selbstverständlich an. Sein berühmtes<br />

und von niemand bis Marx enträtseltes "Tableau économique" stellt in wenigen Zahlen die<br />

Reproduktionsbewegung <strong>des</strong> Gesamtkapitals dar, bei der Quesnay zugleich berücksichtigt, daß sie unter<br />

der Form <strong>des</strong> Warenaustausches, d.h. zugleich als Zirkulationsprozeß aufgefaßt werden muß. "Quesnays<br />

Tableau économique zeigt in wenigen großen Zügen, wie ein dem Werte nach bestimmtes Jahresergebnis<br />

der nationalen Produktion sich so durch die Zirkulation verteilt, daß ... <strong>des</strong>sen einfache Reproduktion<br />

vorgehn kann ... <strong>Die</strong> zahllosen individuellen Zirkulationsakte sind sofort zusammengefaßt in ihrer<br />

charakteristisch-gesellschaftlichen Massenbewegung - der Zirkulation zwischen großen, funktionell<br />

bestimmten ökonomischen Gesellschaftsklassen."(1)<br />

Bei Quesnay besteht die Gesellschaft aus drei Klassen: der produktiven, d.h. aus Landwirten; der sterilen,<br />

die alle außerhalb der Landwirtschaft Tätigen umfaßt: Industrie, Handel, liberale Berufe; und der Klasse<br />

der Grundbesitzer einschließlich <strong>des</strong> Souveräns und der <strong>Ein</strong>nehmer <strong>des</strong> Zehnten. Das nationale<br />

Gesamtprodukt kommt in der Hand der Produktiven als eine Menge von Nahrungsmitteln und Rohstoffen<br />

im Werte von fünf Milliarden Livres zum Vorschein. Davon stellen zwei Milliarden das jährliche<br />

Betriebskapital der Landwirtschaft dar, eine Milliarde den jährlichen Verschleiß <strong>des</strong> fixen <strong>Kapitals</strong>, zwei<br />

Milliarden sind das Reineinkommen, das an die Grundeigentümer geht. Außer diesem Gesamtprodukt<br />

haben die Landwirte - die hier rein kapitalistisch als Pächter gedacht sind - zwei Milliarden Livres an<br />

Geld in der Hand. <strong>Die</strong> Zirkulation geht nun in der Weise vonstatten daß die Pächterklasse den<br />

Grundbesitzern zwei Milliarden in Geld (das Resultat der vorherigen Zirkulationsperiode) als Pachtzins<br />

zahlt. Damit kauft die Grundbesitzerklasse für eine Milliarde von den Pächtern Lebensmittel und für die<br />

andere Milliarde von den Sterilen Industrieprodukte. <strong>Die</strong> Pächter ihrerseits kaufen für die zu ihnen<br />

zurückgekehrte Milliarde Industrieprodukte, worauf die sterile Klasse für die in ihren Händen<br />

befindlichen zwei Milliarden landwirtschaftliche Produkte: für eine Milliarde Rohstoffe usw. als Ersatz<br />

für das jährliche Betriebskapital und für eine Milliarde Lebensmittel, kauft. So ist zum Schluß das Geld<br />

zu seinem Ausgangspunkt, der Pächterklasse, zurückgekehrt, das Produkt ist unter alle Klassen verteilt,<br />

so daß die Kon- sumtion aller gesichert [ist] und zugleich sowohl die produktive wie die sterile<br />

Klasse ihre Produktionsmittel erneuert wie die Klasse der Grundbesitzer ihre Revenue erhalten hat. <strong>Die</strong><br />

Voraussetzungen der Reproduktion sind alle vorhanden, die Bedingungen der Zirkulation alle eingehalten<br />

worden, und die Reproduktion kann ihren regelmäßigen Lauf beginnen. (2)<br />

Wie mangelhaft und primitiv diese Darstellung bei aller Genialität <strong>des</strong> Gedankens ist, werden wir im<br />

weiteren Verlaufe der Untersuchung sehen. Hier ist jedenfalls hervorzuheben, daß Quesnay an der<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 2. Kapitel<br />

Schwelle der wissenschaftlichen Nationalökonomie nicht den geringsten Zweifel an der Möglichkeit der<br />

Darstellung <strong>des</strong> gesellschaftlichen Gesamtkapitals und seiner Reproduktion hegte. Allein schon bei Adam<br />

Smith beginnt zugleich mit der tieferen Analyse der Kapitalverhältnisse auch die Verwirrung in den<br />

klaren und großen Zügen der physiokratischen Vorstellung. Smith warf die ganze Grundlage der<br />

wissenschaftlichen Darstellung <strong>des</strong> kapitalistischen Gesamtprozesses um, indem er jene falsche<br />

Preisanalyse aufgestellt hat, die seit ihm die bürgerliche Ökonomie lange Zeit beherrschte, nämlich die<br />

Theorie, wonach der Wert der Waren zwar die Menge der auf sie verausgabten Arbeit darstelle, zugleich<br />

aber der Preis sich nur aus den drei Komponenten Arbeitslohn, Kapitalprofit und Grundrente<br />

zusammensetze. Da dies offenbar sich auch auf die Gesamtheit der Waren, auf das nationale Produkt<br />

beziehen muß, so bekommen wir die verblüffende Entdeckung, daß der Wert der kapitalistisch<br />

hergestellten Waren in seiner Gesamtheit zwar alle bezahlten Löhne und Kapitalprofite nebst Rente, d.h.<br />

den gesamten Mehrwert repräsentiert, also auch ersetzen kann, daß aber dabei dem auf die Herstellung<br />

dieser Waren verwendeten konstanten Kapital gar kein Wertteil der Warenmasse entspricht. v + m, das ist<br />

nach Smith die Wertformel <strong>des</strong> kapitalistischen Gesamtprodukts. "<strong>Die</strong>se drei Teile", sagt Smith, seine<br />

Ansicht an dem Beispiel <strong>des</strong> Korns erläuternd (Arbeitslohn, Profit und Grundrente), "scheinen entweder<br />

unmittelbar oder in letzter Linie den ganzen Getreidepreis auszumachen. Man könnte vielleicht noch<br />

einen vierten Teil für notwendig halten, um die Abnutzung <strong>des</strong> Arbeitsviehs und der<br />

Wirtschaftsutensilien auszuglei- chen. Aber es muß beachtet werden, daß der Preis aller<br />

Wirtschaftsutensilien sich wieder aus denselben drei Teilen zusammensetzt; so wird der Preis eines<br />

Arbeitspfer<strong>des</strong> z.B. gebildet durch: 1 die Rente <strong>des</strong> Bodens, welcher es ernährt hat, 2. die auf seine Zucht<br />

verwendete Arbeit und 3. den Kapitalgewinn <strong>des</strong> Pächters, welcher sowohl die Bodenrente als die<br />

Arbeitslöhne vorgestreckt hat. Wenn also auch der Getreidepreis den Wert <strong>des</strong> Pfer<strong>des</strong> sowohl als <strong>des</strong>sen<br />

Ernährung enthält, so löst er sich doch mittelbar oder unmittelbar in die genannten drei Bestandteile:<br />

Bodenrente, Arbeit und Kapitalgewinn, auf." (3) Indem uns Smith, wie Marx sagt, auf diese Weise von<br />

Pontius zu Pilatus herumschickt, löst er das konstante Kapital immer wieder in v + m auf. Freilich hatte<br />

Smith gelegentliche Zweifel und Rückfälle in die entgegengesetzte Meinung. Im zweiten Buch sagt er:<br />

"Es ist im ersten Buche dargelegt worden, daß der Preis der meisten Waren in drei Teile zerfällt, von<br />

denen einer den Arbeitslohn, ein anderer den Kapitalgewinn und ein dritter die Bodenrente bezahlt,<br />

welche auf die Erzeugung der Ware und ihr Zumarktebringen verwendet wurden ... Da dies bei jeder<br />

einzelnen Ware besonders genommen der Fall ist, so muß dasselbe, wie ebenfalls bereits bemerkt, für<br />

sämtliche den ganzen Jahresertrag von Boden und Arbeit eines jeden Lan<strong>des</strong> darstellende Waren im<br />

ganzen genommen ebenfalls gelten. Der gesamte Preis oder Tauschwert dieses Jahresertrages muß sich in<br />

dieselben drei Teile auflösen und unter die verschiedenen <strong>Ein</strong>wohner <strong>des</strong> Lan<strong>des</strong> entweder als Lohn ihrer<br />

Arbeit oder als Gewinn ihres <strong>Kapitals</strong> oder als Rente ihres Bodens verteilen." Hier stutzt nun Smith und<br />

erklärt unmittelbar weiter:<br />

"Obgleich aber der Gesamtwert <strong>des</strong> genannten Jahresertrages derart unter die verschiedenen<br />

Lan<strong>des</strong>bewohner sich verteilt und ein <strong>Ein</strong>kommen für sie darstellt, müssen wir doch bei letzterem ebenso<br />

wie bei der Rente eines Privatgutes zwischen Brutto- und Nettorente unterscheiden."<br />

"<strong>Die</strong> Bruttorente eines Privatgutes besteht aus dem, was der Pächter bezahlt, und die Nettorente aus dem,<br />

was dem Grundbesitzer nach Abzug der Verwaltungs-, Reparatur- und anderer Kosten übrigbleibt, oder<br />

aus dem, was er ohne Schädigung seines Gutes seinem für unmittelbaren Verbrauch vorbehaltenen<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 2. Kapitel<br />

Vermögen zuwenden, für Tafel, Haushalt, Zieraten an Wohnung und Hausgerät, Privatgenüsse und<br />

Zerstreuungen ausgeben kann. Sein wirklicher Reichtum steht im Verhältnis nicht zu seiner Brutto-,<br />

sondern zu seiner Nettorente."<br />

"Das Bruttoeinkommen aller Bewohner eines großen Lan<strong>des</strong> umfaßt den gesamten Jahresertrag<br />

ihres Bodens und ihrer Arbeit und ihr Nettoeinkommen das, was hiervon nach Abzug der<br />

Unterhaltungskosten zuerst ihres festliegenden und dann ihres umlaufenden <strong>Kapitals</strong> übrigbleibt, oder<br />

das, was sie ohne Beeinträchtigung ihres <strong>Kapitals</strong> ihrem für unmittelbaren Verbrauch vorbehaltenen<br />

Vermögen zuwenden, auf ihren Unterhalt, ihre Annehmlichkeiten und Genüsse ausgeben können. Ihr<br />

wirklicher Reichtum steht ebenfalls nicht im Verhältnis zu ihrem Brutto-, sondern zu ihrem<br />

Nettoeinkommen."(4)<br />

Aber Smith führt hier einen dem konstanten Kapital entsprechenden Wertteil <strong>des</strong> Gesamtprodukts nur<br />

ein, um ihn im nächsten Augenblick wieder durch Auflösung in Löhne, Profite und Renten<br />

hinauszuführen. Und schließlich bleibt es bei seiner Erklärung:<br />

" ... Ebenso wie Maschinen, Gewerbsgeräte usw., die das festliegende Kapital <strong>des</strong> einzelnen oder der<br />

Gemeinschaft ausmachen, weder einen Teil <strong>des</strong> Brutto- noch <strong>des</strong> Nettoeinkommens darstellen, ebenso<br />

bildet Geld, vermittels <strong>des</strong>sen das gesamte Gesellschaftseinkommen regelmäßig unter alle<br />

Gesellschaftsmitglieder verteilt wird, an sich keinen Bestandteil dieses <strong>Ein</strong>kommens."(5)<br />

Das konstante Kapital (das Smith fixes - in der schwerfälligen Loewenthalschen Übersetzung:<br />

festliegen<strong>des</strong> - nennt) wird also mit dem Geld auf eine Stufe gestellt und geht überhaupt in das<br />

Gesamtprodukt der Gesellschaft (ihr "Bruttoeinkommen") nicht ein, es existiert nicht als Wertteil <strong>des</strong><br />

Gesamtprodukts!<br />

Da selbst der König sein Recht verliert, wo nichts da ist, so kann offenbar aus der Zirkulation, aus dem<br />

gegenseitigen Austausch <strong>des</strong> so zusammengesetzten Gesamtprodukts auch nur die Realisierung der<br />

Löhne (v) und <strong>des</strong> Mehrwerts (m) erreicht, keineswegs aber das konstante Kapital ersetzt werden, und der<br />

Fortgang der Reproduktion erweist sich als unmöglich. Zwar wußte Smith ganz genau, und es fiel ihm<br />

nicht ein zu leugnen daß jeder einzelne Kapitalist außer einem Lohnfonds, d.h. variablem Kapital. zum<br />

Betrieb auch noch konstanten <strong>Kapitals</strong> bedarf. Allein für die Gesamtheit der kapitalistischen Produktion<br />

verschwand bei der obigen Preisanalyse der Waren das konstante Kapital auf rätselhafte Weise spurlos,<br />

und damit war das Problem der Reproduktion <strong>des</strong> Gesamtkapitals von Grund aus verfahren. Es ist klar,<br />

daß, wenn die elementarste Voraussetzung <strong>des</strong> Problems: die Darstellung <strong>des</strong> gesellschaftlichen<br />

Gesamtkapitals. Schiffbruch gelitten hatte, daran auch die ganze Analyse scheitern mußte. <strong>Die</strong><br />

irrtümliche Theorie von Ad. Smith übernahmen Ricardo, Say, Sismondi und andere, und sie stolperten<br />

alle bei der Betrachtung <strong>des</strong> Reproduktionsproblems über diese elementare Schwierigkeit: die<br />

Darstellung <strong>des</strong> Gesamtkapitals.<br />

<strong>Ein</strong>e andere Schwierigkeit vermengte sich mit der obigen gleich zu Beginn der wissenschaftlichen<br />

Analyse. Was ist Gesamtkapital der Gesellschaft? Bei dem einzelnen ist die Sache klar, seine<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 2. Kapitel<br />

Betriebsauslagen sind sein Kapital. Der Wert seines Produkts bringt ihm - vorausgesetzt die<br />

kapitalistische Produktionsweise, also Lohnarbeit - außer seinen gesamten Auslagen noch einen<br />

Überschuß, den Mehrwert ein, der nicht sein Kapital ersetzt, sondern sein Reineinkommen ist, das er ganz<br />

verzehren kann, ohne sein Kapital zu beeinträchtigen, also seinen Konsumtionsfonds. Der Kapitalist kann<br />

freilich einen Teil dieses Reineinkommens "sparen", ihn nicht selbst verzehren, sondern zum Kapital<br />

schlagen. Aber das ist eine andere Sache, ein neuer Vorgang, Bildung eines neuen <strong>Kapitals</strong>, das auch<br />

wieder nebst Überschuß aus der folgenden Reproduktion ersetzt wird. Jedenfalls und stets ist aber das<br />

Kapital <strong>des</strong> einzelnen das, was er zur Produktion als Betriebsvorschuß brauchte, <strong>Ein</strong>kommen das, was er<br />

für sich als Konsumtionsfonds verzehrt oder verzehren kann. Nehmen wir nun einen Kapitalisten und<br />

fragen, was sind die Löhne, die er seinen Arbeitern zahlt, so wird die Antwort lauten, sie sind offenbar<br />

ein Teil seines Betriebskapitals. Fragen wir aber, was sind diese Löhne für die Arbeiter, die sie<br />

empfangen. so kann die Antwort unmöglich lauten, sie sind Kapital; für die Arbeiter sind die<br />

empfangenen Löhne nicht Kapital, sondern <strong>Ein</strong>kommen, Konsumtionsfonds. Nehmen wir ein anderes<br />

Beispiel. <strong>Ein</strong> Maschinenfabrikant läßt in seiner Fabrik Maschinen herstellen; sein Produkt ist jährlich eine<br />

gewisse Anzahl Maschinen. In diesem jährlichen Produkt, in seinem Wert steckt aber sowohl das vom<br />

Fabrikanten vorgestreckte Kapital als auch das erzielte Reineinkommen. <strong>Ein</strong> Teil der bei ihm<br />

hergestellten Maschinen repräsentiert somit sein <strong>Ein</strong>kommen und ist bestimmt, im Zirkulationsprozeß, im<br />

Austausch dieses <strong>Ein</strong>kommen zu bilden. Wer aber von unserem Fabrikanten seine Maschinen kauft, kauft<br />

sie offenbar nicht als <strong>Ein</strong>kommen, nicht, um sie zu konsumieren, sondern um sie als Produktionsmittel zu<br />

verwenden; für ihn sind diese Maschinen Kapital.<br />

Wir gelangen durch diese Beispiele zu dem Resultat: Was für den einen Kapital, ist für den anderen<br />

<strong>Ein</strong>kommen und umgekehrt. Wie kann unter diesen Umständen so etwas wie Gesamtkapital der<br />

Gesellschaft konstruiert werden? In der Tat folgerte fast die gesamte wissenschaftliche Ökonomie<br />

bis Marx, daß es kein gesellschaftliches Kapital gäbe.(6) Bei Smith sehen wir noch Schwankungen und<br />

Widersprüche in dieser Frage, ebenso bei Ricardo. <strong>Ein</strong> Say erklärt schon kategorisch:<br />

"Auf diese Weise verteilt sich der gesamte Wert der Produkte in der Gesellschaft. Ich sage der gesamte<br />

Wert; denn wenn mein Profit nur einen Teil <strong>des</strong> Wertes <strong>des</strong> Produktes darstellt, an <strong>des</strong>sen Herstellung ich<br />

mitgewirkt habe, so bildet der übrige Teil den Profit meiner Mitproduzenten. <strong>Ein</strong> Tuchfabrikant kauft<br />

einem Pächter Wolle ab; er entlohnt verschiedene Arten Arbeiter und verkauft das Tuch, das so<br />

entstanden ist, zu einem Preis, der ihm seine Auslagen zurückerstattet und ihm einen Profit läßt. Er<br />

betrachtet als Profit, als Fonds für sein <strong>Ein</strong>kommen in seiner Industrie nur das, was ihm als<br />

Reineinkommen bleibt nach Abzug seiner Kosten. Aber diese Kosten waren nichts anderes als<br />

Vorschüsse, die er an andere Produzenten der verschiedenen Teile <strong>des</strong> <strong>Ein</strong>kommens macht und für die er<br />

sich aus dem Bruttowert <strong>des</strong> Tuchs schadlos hält. Das, was er dem Pächter für Wolle bezahlt hat, war<br />

<strong>Ein</strong>kommen <strong>des</strong> Landwirts, seiner Hirten, <strong>des</strong> Gutsbesitzers, <strong>des</strong> Pachthofs. Der Pächter betrachtet als<br />

sein Nettoprodukt nur das, was ihm verbleibt nach der Abfindung seiner Arbeiter und seines Grundherrn;<br />

aber das, was er ihnen bezahlt hat, bildete einen Teil der <strong>Ein</strong>kommen dieser letzteren, es war der Lohn für<br />

die Arbeiter, es war der Pachtzins für den Grundherrn, also für den einen das <strong>Ein</strong>kommen aus der Arbeit,<br />

für den anderen das <strong>Ein</strong>kommen aus seinem Boden. Und es ist der Wert <strong>des</strong> Tuches, der das alles ersetzt<br />

hat. Man kann sich keinen Teil <strong>des</strong> Wertes dieses Tuches vorstellen, der nicht dazu gedient hörte, ein<br />

<strong>Ein</strong>kommen zu zahlen. Sein ganzer Wert ist so draufgegangen."<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 2. Kapitel<br />

"Mann ersieht daraus, daß der Ausdruck Reinprodukt nur auf einzelne Unternehmer Anwendung finden<br />

kann, daß aber die <strong>Ein</strong>kommen aller einzelnen zusammengenommen oder der Gesellschaft dem<br />

nationalen Rohprodukt der Erde, der Kapitale und der Industrie (Say nennt so die Arbeit) gleich ist. Das<br />

vernichtet (ruine) das System der Ökonomen <strong>des</strong> achtzehnten Jahrhunderts (Physiokraten), die als<br />

<strong>Ein</strong>kommen der Gesellschaft nur das Reinprodukt <strong>des</strong> Bodens betrachteten und folgerten, daß die<br />

Gesellschaft nur einen diesem Reinprodukt entsprechenden Wert konsumieren könne, als ob die<br />

Gesellschaft nicht den ganzen Wert, den sie geschaffen, konsumieren könnte!"(7)<br />

Say belegt diese Theorie in einer ihm eigenen Weise. Während Ad. Smith den Beweis dadurch zu<br />

erbringen suchte, daß er je<strong>des</strong> private Kapital auf seine Produktionsstätte verwies, um es in bloßes<br />

Arbeitsprodukt aufzulösen, je<strong>des</strong> Arbeitsprodukt aber, streng kapitalistisch, als eine Summe bezahlter und<br />

unbezahlter Arbeit, als v + m auffaßte, und so dazu kam, schließlich das Gesamtprodukt der Gesellschaft<br />

in v + m aufzulösen, beeilt sich Say natürlich, mit sicherer Hand diese klassischen Irrtümer in ordinäre<br />

Vulgarismen zu verballhornen. Says Beweisführung beruht darauf, daß der Unternehmer in jedem<br />

Stadium der Produktion die Produktionsmittel (die für ihn Kapital bilden) anderen Leuten, den Vertretern<br />

früherer Produktionsstadien, bezahlt und daß jene Leute diese Bezahlung ihrerseits teils als eigenes<br />

<strong>Ein</strong>kommen in die Tasche stecken, teils als Zurückerstattung der Auslagen gebrauchen, die sie selbst<br />

vorgestreckt hatten, um noch anderen Leuten ihr <strong>Ein</strong>kommen zu bezahlen. <strong>Die</strong> Smithsche endlose Kette<br />

von Arbeitsprozessen verwandelt sich bei Say in eine endlose Kette von gegenseitigen Vorschüssen auf<br />

<strong>Ein</strong>kommen und Zurückerstattungen aus dem Verkauf; auch der Arbeiter erscheint hier als ganz<br />

gleichgestellt dem Unternehmer: Er bekommt im Lohn sein <strong>Ein</strong>kommen "vorgestreckt" und bezahlt es<br />

seinerseits mit geleisteter Arbeit. So stellt sich der schließliche Wert <strong>des</strong> gesellschaftlichen<br />

Gesamtprodukts als Summe von lauter "vorgeschossenen" <strong>Ein</strong>kommen dar und geht im Austauschprozeß<br />

drauf, sämtliche Vorschüsse zu ersetzen. Bezeichnend für die Flachheit Says ist, daß er die<br />

gesellschaftlichen Zusammenhänge der kapitalistischen Reproduktion an dem Beispiel der<br />

Uhrenproduktion demonstriert - einem damals (und zum Teil heute noch) rein manufakturmäßigen<br />

Zweig, in dem die "Arbeiter" auch als kleine Unternehmer figurieren und der Produktionsprozeß <strong>des</strong><br />

Mehrwerts durch lauter sukzessive Austauschakte der einfachen Warenproduktion maskiert ist.<br />

Auf diese Weise bringt Say die von Smith angerichtete Verwirrung zum gröbsten Ausdruck: <strong>Die</strong> ganze<br />

von der Gesellschaft jährlich hergestellte Produktenmasse geht in ihrem Wert in lauter <strong>Ein</strong>kommen auf;<br />

sie wird also jährlich auch ganz konsumiert. Der Wiederbeginn der Produktion ohne Kapital, ohne<br />

Produktionsmittel erscheint als ein Rätsel, die kapitalistische Reproduktion als ein unlösbares Problem.<br />

Vergleicht man die Verschiebung, die das Problem der Reproduktion seit den Physiokraten bis Ad. Smith<br />

erfahren hat, so ist sowohl ein teilweiser Fortschritt wie ein teilweiser Rückschritt nicht zu verkennen.<br />

Das Charakteristische an dem ökonomischen System der Physiokraten war ihre Annahme, daß die<br />

Landwirtschaft allein Überschuß, d.h. Mehrwert, schaffe, die agrikole Arbeit somit die einzige<br />

produktive - im kapitalistischen Sinne - sei. Dementsprechend sehen wir im "Tableau éonomique", daß<br />

die "sterile" Klasse der Manufakturarbeiter nur für dieselben zwei Milliarden Wert schafft, die sie an<br />

Rohstoffen und Lebensmitteln verzehrt. Dementsprechend gehen auch im Austausch die gesamten<br />

Manufakturwaren je zur Hälfte an die Klasse der Pächter und der Grundbesitzer, während die<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 2. Kapitel<br />

Manufakturklasse selbst ihre eigenen Produkte gar nicht konsumiert. So reproduziert die<br />

Manufakturklasse in ihrem Warenwert eigentlich nur das verbrauchte zirkulierende Kapital, ein<br />

<strong>Ein</strong>kommen der Unternehmerklasse wird hier gar nicht geschaffen. Das einzige <strong>Ein</strong>kommen der<br />

Gesellschaft über alle Kapitalauslagen hinaus, das in Zirkulation kommt, wird in der Landwirtschaft<br />

geschaffen und von der Grundbesitzerklasse in Gestalt der Grundrente verzehrt, während die<br />

Pächterklasse auch nur ihr Kapital wieder ersetzt: eine Milliarde Zinsen vom fixen Kapital und zwei<br />

Milliarden zirkulieren<strong>des</strong> Betriebskapital, was zusammen sachlich zu zwei Dritteln in Rohstoffen und<br />

Lebensmitteln, zu einem Drittel in Manufakturprodukten besteht. Ferner fällt auf, daß Quesnay die<br />

Existenz <strong>des</strong> fixen <strong>Kapitals</strong>, das er "avances primitives" im Unterschied von "avances annuelles" nennt,<br />

überhaupt nur bei der Landwirtschaft annimmt. <strong>Die</strong> Manufaktur arbeitet bei ihm anscheinend ohne je<strong>des</strong><br />

fixe Kapital, nur mit dem jährlich umlaufenden Betriebskapital, schafft dementsprechend in ihrer<br />

jährlichen Warenmasse auch keinen Wertteil zum Ersatz <strong>des</strong> Verschleißes an fixem Kapital (wie<br />

Baulichkeiten, Werkzeuge usw.).(8)<br />

<strong>Die</strong>sen augenscheinlichen Mängeln gegenüber bringt die englische klassische Schule vor allem den<br />

entscheidenden Fortschritt, daß sie jede Art Arbeit als produktiv erklärt, d.h. die Schaffung <strong>des</strong><br />

Mehrwerts sowohl in der Manufaktur wie in der Landwirtschaft aufdeckt. Wir sagen: die englische<br />

klassische Schule, weil Ad. Smith auch in dieser Hinsicht neben klaren und entschiedenen Äußerungen<br />

im angegebenen Sinne gelegentlich ruhig selbst in die physiokratische Anschauung zurückfällt; erst bei<br />

Ricardo bekommt die Arbeitswerttheorie die höchste und konsequenteste Ausbildung, die sie in den<br />

Schranken der bürgerlichen Auffassung erreichen konnte. Daraus ergab sich, daß wir in der<br />

Manufakturabteilung der gesellschaftlichen Gesamtproduktion ebenso die jährliche Hervorbringung<br />

eines Überschusses über sämtliche Kapitalanlagen, eines Reineinkommens, d.h. Mehrwerts, annehmen<br />

müssen wie in der Landwirtschaft.(9) Auf der anderen Seite ist Smith durch die Entdeckung der<br />

produktiven mehrwertschaffenden Eigenschaft jeder Art Arbeit, ganz gleich, ob in der Manufaktur oder<br />

in der Landwirtschaft, darauf geführt worden, daß auch die landwirtschaftliche Arbeit außer der<br />

Grundrente für die Grundbesitzerklasse noch Überschuß für die Pächterklasse über ihre sämtlichen<br />

Kapitalausgaben hervorbringen muß. So entstand auch neben Kapitalersatz jährliches <strong>Ein</strong>kommen der<br />

Pächterklasse.(10) Endlich hat Smith durch systematische Ausarbeitung der von Quesnay aufgebrachten<br />

Begriffe der "avances primitives" und "avances annuelles" unter der Rubrik von fixem und<br />

zirkulierendem Kapital u.a. klargemacht, daß die Manufakturabteilung der gesellschaftlichen Produktion<br />

genauso eines fixen <strong>Kapitals</strong> außer dem zirkulierenden bedarf wie die Landwirtschaft, folglich auch eines<br />

entsprechenden Wertteils zum Ersatz <strong>des</strong> Verschleißes jenes <strong>Kapitals</strong>. So war Smith auf dem besten<br />

Wege, in die Begriffe vorn Kapital und <strong>Ein</strong>kommen der Gesellschaft Ordnung zu bringen und sie exakt<br />

darzustellen. Den Höhepunkt der Klarheit, zu der er sich in dieser Beziehung durchgerungen hat, drückt<br />

die folgende Formulierung aus:<br />

"Obgleich der gesamte Jahresertrag von Boden und Arbeit eines jeden Lan<strong>des</strong> in letzter Linie zweifellos<br />

für den Verbrauch seiner Bewohner und dafür bestimmt ist, denselben ein <strong>Ein</strong>kommen zu verschaffen, so<br />

teilt er sich doch bei seinem ersten Hervortreten aus dem Boden oder den Händen der produktiven<br />

Arbeiter naturgemäß in zwei Teile. Der eine der- selben, und oft der größte, ist vor allem zur<br />

Wiedererstattung eines <strong>Kapitals</strong> oder zur Erneuerung der einem Kapital entzogenen Nahrungsmittel,<br />

Rohstoffe und angefertigter Waren bestimmt und der andere zur Herstellung eines <strong>Ein</strong>kommens entweder<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 2. Kapitel<br />

für den Eigner dieses <strong>Kapitals</strong> als <strong>des</strong>sen Gewinn oder für irgendeinen anderen als <strong>des</strong>sen<br />

Bodenrente."(11)<br />

"Das Bruttoeinkommen aller Bewohner eines großen Lan<strong>des</strong> umfaßt den gesamten Jahresertrag ihres<br />

Bodens und ihrer Arbeit und ihr Nettoeinkommen das, was hiervon nach Abzug der Unterhaltungskosten<br />

zuerst ihres festliegenden (fixen) und dann ihres umlaufenden <strong>Kapitals</strong> übrigbleibt, oder das, was sie ohne<br />

Beeinträchtigung ihres <strong>Kapitals</strong> ihrem für unmittelbaren Verbrauch vorbehaltenen Vermögen zuwenden,<br />

auf ihren Unterhalt, ihre Annehmlichkeiten und Genüsse ausgeben können. Ihr wirklicher Reichtum steht<br />

ebenfalls nicht im Verhältnis zu ihrem Brutto-, sondern zu ihrem Nettoeinkommen."(12)<br />

Hier erscheinen die Begriffe <strong>des</strong> Gesamtkapitals und <strong>Ein</strong>kommens in einer allgemeinen und strengeren<br />

Fassung als im "Tableau économique": das gesellschaftliche <strong>Ein</strong>kommen losgelöst von der einseitigen<br />

Verknüpfung mit der Landwirtschaft, das Kapital in seinen beiden Formen, <strong>des</strong> fixen und zirkulierenden,<br />

verbreitert zur Grundlage der gesamten gesellschaftlichen Produktion. Statt der irreführenden<br />

Unterscheidung der beiden Produktionsabteilungen der Landwirtschaft und der Manufaktur, sind hier in<br />

den Vordergrund geschoben andere Kategorien von funktioneller Bedeutung: die Unterscheidung von<br />

Kapital und <strong>Ein</strong>kommen, ferner die Unterscheidung von fixem und zirkulierendem Kapital. Von hier aus<br />

schreitet Smith fort zur Analyse <strong>des</strong> gegenseitigen Verhältnisses und der Verwandlungen dieser<br />

Kategorien in ihrer gesellschaftlichen Bewegung: in der Produktion und Zirkulation, d.h. im<br />

Reproduktionsprozeß der Gesellschaft. Er hebt hier einen radikalen Unterschied zwischen dem fixen und<br />

dem zirkulierenden Kapital vom gesellschaftlichen Standpunkt hervor: "<strong>Die</strong> ganzen Unterhaltungskosten<br />

<strong>des</strong> festliegenden (soll heißen: fixen) <strong>Kapitals</strong> müssen augenscheinlich von dem Nettoeinkommen der<br />

Gesellschaft ausgeschieden werden. Weder die zur Erhaltung ihrer nutzbringenden Maschinen,<br />

Gewerbegeräte, Gebäude usw. notwendigen Roh- stoffe noch das Produkt der auf deren Formung<br />

verwendeten Arbeit kann jemals einen Teil <strong>des</strong>selben ausmachen. Der Preis dieser Arbeit wird allerdings<br />

einen Teil <strong>des</strong> gesamten Nettoeinkommens bilden, da die dabei beschäftigten Arbeiter ihre Löhne ihrem<br />

für unmittelbaren Verbrauch vorbehaltenen Vermögen zuwenden können; aber bei anderen Arten von<br />

Arbeit fällt sowohl deren Preis als deren Produkt diesem Vermögensteile zu: ihr Preis dem der Arbeiter<br />

und ihr Produkt dem anderer Leute, deren Subsistenzmittel, Annehmlichkeiten und Zerstreuungen durch<br />

die Arbeit jener Werkleute vermehrt werden."(13)<br />

Hier stößt Smith auf die wichtige Unterscheidung zwischen Arbeitern, die Produktionsmittel, und<br />

solchen, die Konsumtionsmittel herstellen. Bei den ersteren bemerkt er, daß der Wertbestandteil, den sie<br />

zum Ersatz ihrer Löhne schaffen, in Gestalt von Produktionsmitteln (wie Rohstoffe, Maschinen usw.) zur<br />

Welt kommt, d.h., daß hier der zum <strong>Ein</strong>kommen der Arbeiter bestimmte Teil <strong>des</strong> Produkts in einer<br />

Naturalform existiert, die unmöglich zur Konsumtion dienen kann. Was die letztere Kategorie der<br />

Arbeitet betrifft, so bemerkt Smith, daß hier umgekehrt das gesamte Produkt, also sowohl der in ihm<br />

enthaltene Wertteil, der die Löhne (das <strong>Ein</strong>kommen) der Arbeiter ersetzt, als auch der übrige Teil (Smith<br />

spricht es nicht aus, aber dem Sinne nach müßte seine Folgerung lauten: so auch der Teil, der das<br />

verbrauchte fixe Kapital darstellt) in Gestalt von Konsumartikeln erscheinen. Wir werden weiter sehen,<br />

wie nahe hier Smith an den Angelpunkt der Analyse gelangt ist, von dem aus Marx das Problem in<br />

Angriff genommen hat. Der allgemeine Schluß jedoch, bei dem Smith selbst bleibt, ohne die Grundfrage<br />

weiter zu verfolgen, ist der: Jedenfalls kann alles, was zur Erhaltung und Erneuerung <strong>des</strong> fixen <strong>Kapitals</strong><br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 2. Kapitel<br />

der Gesellschaft bestimmt ist, nicht zum Reineinkommen der Gesellschaft gerechnet werden.<br />

Anders das zirkulierende Kapital.<br />

"Scheiden auch die sämtlichen Unterhaltungskosten <strong>des</strong> festliegenden (fixen) <strong>Kapitals</strong> derart notwendig<br />

aus dem Nettoeinkommen der Gesellschaft aus, so ist dies doch nicht bei denen <strong>des</strong> Umlaufskapitals der<br />

Fall. Von den vier Bestandteilen <strong>des</strong> letzteren - Geld, Nahrungsmittel, Rohstoffe und angefertigte Waren -<br />

werden die drei letzten, wie bereits dargelegt, ihm regelmäßig entzogen und entweder dem festliegenden<br />

(fixen) Kapital oder dem für unmittelbaren Verbrauch vorbehaltenen Vermögen der Gesellschaft<br />

zugewendet. Jeder Teil dieser Verbrauchswaren, der nicht zum Unterhalt <strong>des</strong> festliegenden (fixen)<br />

<strong>Kapitals</strong> verwendet wird, fließt dem zum Verbrauch vorbehaltenen Vermögen zu und bildet einen<br />

Teil <strong>des</strong> Nettoeinkommens der Gesellschaft. Der Unterhalt dieser drei Bestandteile <strong>des</strong> Umlaufskapitals<br />

entzieht somit dem Nettoeinkommen der Gesellschaft nur so viel von dem jährlichen Ertrage als zur<br />

Erhaltung <strong>des</strong> festliegenden <strong>Kapitals</strong> notwendig ist."(14)<br />

Man sieht, daß Smith hier in die Kategorie <strong>des</strong> zirkulierenden <strong>Kapitals</strong> einfach alles außer dem bereits<br />

angewandten fixen Kapital, also sowohl Lebensmittel wie Rohstoffe wie auch das gesamte noch nicht<br />

realisierte Warenkapital (also zum Teil noch einmal dieselben Lebensmittel und Rohstoffe, zum Teil<br />

Waren, die ihrer Naturalgestalt gemäß zum Ersatz <strong>des</strong> fixen <strong>Kapitals</strong> gehören), zusammengeworfen, den<br />

Begriff <strong>des</strong> zirkulierenden <strong>Kapitals</strong> zweideutig und schillernd gemacht hat. Aber neben und mitten durch<br />

diese Verwirrung gibt er dabei eine weitere wichtige Unterscheidung:<br />

"In dieser Hinsicht verhält sich das Umlaufskapital der Gesellschaft anders als das eines Privaten. Das<br />

letztere bildet durchaus keinen Teil seines Nettoeinkommens, welches einzig und allein aus Gewinn<br />

hervorgehen muß. Obgleich aber das Umlaufskapital eines jeden einzelnen einen Teil <strong>des</strong>jenigen seiner<br />

Gemeinschaft ausmacht, ist es <strong>des</strong>halb von dem Nettoeinkommen dieser Gemeinschaft nicht ebenso<br />

vollkommen ausgeschlossen."<br />

Smith erläutert das Gesagte durch das folgende Beispiel:<br />

"Obgleich die sämtlichen Waren, die ein Kaufmann in seinem Laden hat, gewiß nicht zu seinem für<br />

unmittelbaren Verbrauch vorbehaltenen Vermögen gerechnet werden dürfen, können sie doch als ein Teil<br />

dieses Vermögens anderer Leute betrachtet werden, welche mit Hilfe eines anderweitigen <strong>Ein</strong>kommens<br />

und ohne sein oder ihr Kapital zu verringern dem Kaufmann den Wert seiner Waren samt Gewinn<br />

regelmäßig wiedererstatten können."(15)<br />

Smith hat hier fundamentale Kategorien in bezug auf die Reproduktion und Bewegung <strong>des</strong><br />

gesellschaftlichen Gesamtkapitals herausgebracht. Fixes und zirkulieren<strong>des</strong> Kapital, Privatkapital und<br />

gesellschaftliches Kapital, Privateinkommen und gesellschaftliches <strong>Ein</strong>kommen, Produktionsmittel und<br />

Konsummittel sind hier als große Kategorien herausgehoben und zum Teil in ihrer wirklichen, objektiven<br />

Durchkreuzung angedeutet, zum Teil ertränkt in den subjektiven theoretischen Widersprüchen der<br />

Smithschen Analyse. Das knappe, strenge und klassisch durchsichtige Schema <strong>des</strong> Physiokratismus<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 2. Kapitel<br />

ist hier aufgelöst in einen Wust von Begriffen und Beziehungen, die auf den ersten Blick ein Chaos<br />

darstellen. Aus diesem Chaos treten aber bereits halb und halb neue, tiefer, moderner und lebendiger als<br />

bei Quesnay gepackte Zusammenhänge <strong>des</strong> gesellschaftlichen Reproduktionsprozesses hervor, die in dem<br />

Chaos unfertig steckenbleiben, wie Michelangelos Sklave in seinem Marmorblock.<br />

Das ist das eine Bild, das Smith zum Problem liefert. Gleichzeitig aber faßt er es von einer ganz anderen<br />

Seite - von der Wertanalyse an. Gerade dieselbe über die Physiokraten hinausführende Theorie von der<br />

wertschaffenden Eigenschaft jeder Arbeit sowohl wie die streng kapitalistische Unterscheidung jeder<br />

Arbeit in bezahlte (den Lohn ersetzende) sowie unbezahlte (Mehrwert schaffende) Arbeit wie endlich die<br />

strenge Spaltung <strong>des</strong> Mehrwerts in seine zwei Hauptkategorien Profit und Grundrente - lauter Fortschritte<br />

über die physiokratische Analyse hinaus -, verleiteten Smith zu jener merkwürdigen Behauptung, der<br />

Preis jeder Ware bestehe aus Lohn + Profit + Grundrente oder kürzer, im Marxschen Ausdruck, aus v +<br />

m. Daraus folgte, daß auch die Gesamtheit der von der Gesellschaft jährlich hergestellten Waren in ihrem<br />

totalen Wert in diese zwei Teile: Löhne und Mehrwert, restlos zerfalle. Hier verschwand plötzlich die<br />

Kategorie <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong> gänzlich, die Gesellschaft produziert nichts als <strong>Ein</strong>kommen, nichts als<br />

Konsumartikel, die auch von der Gesellschaft ganz verzehrt werden. <strong>Die</strong> Reproduktion ohne Kapital wird<br />

zum Rätsel, und die Analyse <strong>des</strong> Problems im ganzen macht einen gewaltigen Schritt hinter die<br />

Physiokraten zurück.<br />

<strong>Die</strong> Nachfolger Smith' fassen seine Doppeltheorie just von der falschen Seite an. Während die wichtigen<br />

Ansätze zu einer exakten Darstellung <strong>des</strong> Problems, die er im zweiten Buch gibt, bis auf Marx unberührt<br />

blieben, wurde die im ersten Buch gegebene grundfalsche Preisanalyse von den meisten seiner<br />

Nachfolger als teure Erbschaft gehoben und entweder unbekümmert akzeptiert, wie bei Ricardo, oder<br />

zum flachen Dogma fixiert, wie bei Say. Wo bei Smith fruchtbare Zweifel und anregende Widersprüche<br />

waren, tritt bei Say die anmaßende Unerschütterlichkeit <strong>des</strong> Vulgrarus. Für Say wird die Smithsche<br />

Beobachtung, daß, was für den einen Kapital, für den anderen <strong>Ein</strong>kommen sein könne, zum Grund, jede<br />

Unterscheidung zwischen Kapital und <strong>Ein</strong>kommen auf gesellschaftlichem Maßstab überhaupt für absurd<br />

zu erklären. <strong>Die</strong> Absurdität hingegen, daß der Gesamtwert der jährlichen Produktion in lauter<br />

<strong>Ein</strong>kommen eingehe und konsumiert werde, wird von Say zum Dogma von absoluter Gültigkeit erhoben.<br />

Da die Gesellschaft somit je<strong>des</strong> Jahr ihr Gesamtprodukt restlos verkonsumiert, so verwandelt sich<br />

die gesellschaftliche Reproduktion, die ja ohne Produktionsmittel ins Werk tritt, in eine ähnliche<br />

Wiederholung <strong>des</strong> biblischen Wunders einer Weltschöpfung aus nichts.<br />

In diesem Zustand blieb das Reproduktionsproblem bis auf Marx.<br />

Fußnoten von <strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong><br />

(1) Das Kapital. Bd. II. 2 Aufl., 1893. S. 332. [Karl Marx. Das Kapital. Zweiter Band. In: Karl<br />

Marx/Friedrich Engels: Werke, Bd. 24, S. 359.]


<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 2. Kapitel<br />

(2) Siehe Analyse du Tableau économique. In Journal de l'Agriculture, du Commerce et <strong>des</strong> Finances,<br />

hrsg. von Du Pont 1766; S. 305 ff der Onckenschen Ausgabe der "Œvres de Quesnay". Quesnay bemerkt<br />

ausdrücklich, daß die von ihm geschilderte Zirkulation zwei Bedingungen zur Voraussetzung hat: einen<br />

ungehinderten Handelsverkehr und ein System von Steuern, die nur auf die Rente gelegt sind: "Mais ces<br />

données ont <strong>des</strong> conditions sine quabus non, elles supposent que la liberté du commerce soutient le débit<br />

de productions à un bon prix ... elles supposent d'ailleurs que le cultivateur n'ait à payer directement ou<br />

indirectement d'autre charges que le revenu, dont une partie, par exemple les deux septièmes, doit former<br />

le revenu du souverain." (l.c. S. 311.)


<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 2. Kapitel<br />

(10) "<strong>Die</strong> zur landwirtschaftlichen Arbeit verwendeten Menschen ... reproduzieren mithin nicht nur, wie<br />

die Fabrikarbeiter, einem ihrem eigenen Verbrauche oder dem sie beschäftigenden Kapitale samt dem<br />

Gewinne <strong>des</strong> Kapitalisten gleichen Wert, sondern einen viel größeren. Außer dem Kapitale <strong>des</strong> Pächters<br />

samt seinem ganzen Gewinne reproduzieren sie auch regelmäßig die Rente für den Grundbesitzer." (l.c.,<br />

Bd. I., S. 377)


<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 3. Kapitel<br />

2. Kapitel | Inhalt | 4. Kapitel<br />

<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - Gesammelte Werke. Herausgegeben vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Band<br />

5. <strong>Berlin</strong>/DDR. 1975. "<strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>", S. 39-50.<br />

1. Korrektur.<br />

Erstellt am 20.10.1998<br />

Drittes Kapitel<br />

Kritik <strong>des</strong> Smithschen Analyse<br />

Fassen wir die Ergebnisse zusammen, zu denen die Analyse bei Smith vorgedrungen war. Sie<br />

lassen sich in folgenden Punkten darstellen.<br />

1. Es gibt ein fixes Kapital der Gesellschaft, das in keinem Teil in das Reineinkommen der Gesellschaft<br />

eingeht. <strong>Die</strong>ses fixe Kapital bilden "Rohstoffe, mit denen die nützlichen Maschinen und<br />

Industriewerkzeuge instand gehalten werden müssen", und "das Produkt der zur Umwandlung dieser<br />

Rohstoffe in die verlangte Gestalt erforderlichen Arbeit". Indem Smith die Produktion dieses fixen<br />

<strong>Kapitals</strong> noch ausdrücklich der Produktion direkter Lebensmittel als besondere Art entgegenstellt,<br />

verwandelt er tatsächlich fixes Kapital in das, was Marx konstantes genannt hat, d.h. den Kapitalanteil,<br />

der in allen sachlichen Produktionsmitteln, im Gegensatz zur Arbeitskraft, besteht.<br />

2. Es gibt ein zirkulieren<strong>des</strong> Kapital der Gesellschaft. Davon bleibt aber nach Ausscheidung <strong>des</strong> "fixen"<br />

(will sagen: konstanten) Kapitalteils nur die Kategorie der Lebensmittel, die jedoch für die Gesellschaft<br />

kein Kapital, sondern Reineinkommen, Konsumtionsfonds bildet.<br />

3. Kapital und Reineinkommen einzelner decken sich nicht mit Kapital und Reineinkommen der<br />

Gesellschaft. Was für die Gesellschaft nur fixes (will sagen: konstantes) Kapital ist, kann für einzelne<br />

nicht Kapital, sondern <strong>Ein</strong>kommen, Konsumtionsfonds sein, nämlich in den Wertteilen <strong>des</strong> fixen<br />

<strong>Kapitals</strong>, die Löhne für die Arbeiter und Profite für die Kapitalisten darstellen. Umgekehrt kann<br />

zirkulieren<strong>des</strong> Kapital einzelner für die Gesellschaft kein Kapital, sondern <strong>Ein</strong>kommen sein, namentlich<br />

insofern es Lebensmittel darstellt.<br />

4. Das jährlich hergestellte gesellschaftliche Gesamtprodukt enthält in seinem Wert überhaupt kein Atom<br />

Kapital, sondern löst sich ganz auf in drei <strong>Ein</strong>kommensarten: Arbeitslöhne, Kapitalprofite und<br />

Grundrenten.<br />

Wer sich aus den hier angeführten Gedankenfragmenten das Bild der jährlichen Reproduktion <strong>des</strong><br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 3. Kapitel<br />

gesellschaftlichen Gesamtkapitals und ihres Mechanismus zusammenstellen möchte, dürfte bald an<br />

der Aufgabe verzweifeln. Wie bei alledem schließlich das gesellschaftliche Kapital jährlich immer<br />

wieder erneuert, die Konsumtion aller durch das <strong>Ein</strong>kommen gesichert wird und zugleich die einzelnen<br />

ihre Kapital- und <strong>Ein</strong>kommensgesichtspunkte einhalten - dies erscheint noch unendlich entfernt von der<br />

Lösung. Es ist aber nötig, sich die ganze Ideenwirre und die Fülle der widersprechenden Gesichtspunkte<br />

zu vergegenwärtigen, um zu ermessen, wieviel Licht erst Marx in das Problem hineingetragen hat.<br />

Fangen wir mit dem letzten Dogma Ad. Smith' an, das allein genügte, um das Reproduktionsproblem in<br />

der klassischen Nationalökonomie scheitern zu lassen. <strong>Die</strong> Wurzel der bizarren Vorstellung Smith', daß<br />

das Gesamtprodukt der Gesellschaft in seinem Werte in lauter Löhne, Profite und Grundrenten restlos<br />

aufgehen müßte, liegt gerade in seiner wissenschaftlichen Erfassung der Werttheorie. Arbeit ist die<br />

Quelle alles Wertes. Jede Ware ist, als Wert betrachtet, Produkt der Arbeit und nichts mehr. Jede<br />

geleistete Arbeit ist aber als Lohnarbeit - diese Identifizierung der menschlichen Arbeit mit<br />

kapitalistischer Lohnarbeit ist gerade das klassische bei Smith - zugleich Ersatz für die ausgelegten<br />

Arbeitslöhne wie Überschuß aus unbezahlter Arbeit als Profit für den Kapitalisten und Rente für den<br />

Grundeigentümer. Was für jede einzelne Ware stimmt, muß für die Gesamtheit der Waren stimmen. Der<br />

gesamte Warenhaufen, der jährlich von der Gesellschaft produziert wird, ist als Wertquantum nur<br />

Produkt der Arbeit, und zwar sowohl bezahlter wie unbezahlter Arbeit, zerfällt also gleichfalls in lauter<br />

Löhne und Profite nebst Renten. Freilich kommen bei jeder Arbeit noch Rohstoffe, Instrumente usw. in<br />

Betracht. Allein, was sind diese Rohstoffe und Instrumente anderes als gleichfalls Produkte der Arbeit,<br />

und zwar wiederum teils bezahlter, teils unbezahlter Arbeit. Wir können so weit zurückgehen, so viel<br />

drehen und wenden, wie wir wollen, wir werden im Wert resp. Preis sämtlicher Waren nichts finden, was<br />

nicht einfach menschliche Arbeit wäre. Jede Arbeit zerfällt aber in einen Teil, der Löhne ersetzt, und<br />

einen anderen, der an die Kapitalisten und Grundbesitzer geht. Es gibt nichts als Löhne und Profite - es<br />

gibt aber doch Kapital -, Kapital der einzelnen und Kapital der Gesellschaft. Wie also aus diesem krassen<br />

Widerspruch herauskommen? Daß hier in der Tat eine äußerst harte theoretische Nuß vorlag, beweist die<br />

Tatsache, wie lange Marx selbst sich in die Materie hineinbohrte, ohne zunächst vorwärtszukommen und<br />

einen Ausweg zu finden, wie man dies in seinen "Theorien über den Mehrwert", I, S.179-252 [Karl<br />

Marx: Theorien über den Mehrwert, Erster Teil. In: Karl Marx/Friedrich Engels: Werke, Bd. 26.1,<br />

S. 78-121, 158-168, 190/191 u. 202-222.], verfolgen kann. <strong>Die</strong> Lösung gelang ihm aber doch glänzend,<br />

und zwar auf Grund seiner Werttheorie. Smith hatte vollkommen recht: Der Wert jeder Ware im<br />

einzelnen und aller insgesamt stellt nichts als Arbeit dar. Er hatte ferner recht, wenn er sagte: Jede Arbeit<br />

(kapitalistisch betrachtet) zerfällt in bezahlte (die Löhne ersetzt) und unbezahlte (die als Mehrwert an die<br />

verschiedenen Besitzerklassen der Produktionsmittel wandert). Er vergaß aber oder übersah vielmehr,<br />

daß die Arbeit neben der Eigenschaft, neuen Wert zu schaffen, auch noch die Eigenschaft hat, den alten<br />

Wert, der in den Produktionsmitteln steckt, auf die neue, mit diesen Produktionsmitteln hergestellte Ware<br />

zu übertragen. <strong>Ein</strong> Arbeitstag <strong>des</strong> Bäckers von 10 Stunden kann nicht mehr Wert schaffen als den von 10<br />

Stunden, und diese 10 Stunden zerfallen kapitalistisch in bezahlte und unbezahlte, in v + m. Aber die in<br />

diesen 10 Stunden hergestellte Ware wird mehr Wert darstellen als den der 10stündigen Arbeit. Sie wird<br />

nämlich auch noch den Wert <strong>des</strong> Mehls, <strong>des</strong> vernutzten Backofens, der Arbeitsgebäude, <strong>des</strong><br />

Feuerungsmaterials usw., kurz aller zum Backen nötigen Produktionsmittel enthalten. Der Wert der Ware<br />

könnte sich nur unter einer Bedingung glatt in v + m auflösen: wenn der Mensch in der Luft arbeiten<br />

würde, ohne Rohstoff, ohne Arbeitsinstrument, ohne Werkstätte. Da aber jede materielle Arbeit<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 3. Kapitel<br />

irgendwelche Produktionsmittel voraussetzt, die selbst Produkte vergangener Arbeit sind, so muß sie<br />

diese vergangene Arbeit, d.h. den von ihr geschaffenen Wert, auch auf das neue Produkt übertragen.<br />

Hier handelt es sich nicht um einen Vorgang, der etwa nur in der kapitalistischen Produktion stattfindet.<br />

sondern um allgemeine von der historischen Form der Gesellschaft unabhängige Grundlagen der<br />

menschlichen Arbeit. Das Operieren mit selbstgefertigten Arbeitsinstrumenten ist das fundamentale<br />

kulturhistorische Kennzeichen der menschlichen Gesellschaft. Der Begriff der vergangenen Arbeit, die<br />

jeder neuen vorausgeht und ihr die Operationsbasis bereitet, drückt die kulturhistorische Verknüpfung<br />

zwischen Mensch und Natur aus, die dauernde Kette der ineinander verschlungenen<br />

Arbeitsanstrengungen der menschlichen Gesellschaft, deren Anfang sich in der grauen Dämmerung der<br />

gesellschaftlichen Menschwerdung verliert, deren Ende nur mit dem Untergang der gesamten<br />

Kulturmenschheit erreicht werden kann. Jede menschliche Arbeit haben wir uns also zu denken als<br />

vorgehend an der Hand von Arbeitsmitteln, die selbst schon Produkt früherer Arbeit sind. In jedem neuen<br />

Produkt steckt also nicht bloß die neue Arbeit, die ihm die letzte Gestalt verliehen, sondern auch<br />

die vergangene, die zu ihm den Stoff, das Arbeitsinstrument usw. geliefert hatte. In der Wertproduktion,<br />

d.h. in der Warenproduktion, wozu auch die kapitalistische gehört, wird diese Erscheinung nicht<br />

aufgehoben, sie bekommt nur einen spezifischen Ausdruck. Sie drückt sich in dem Doppelcharakter der<br />

warenproduzierenden Arbeit aus, die einerseits als nützliche konkrete Arbeit irgendeiner Art den<br />

nützlichen Gegenstand, den Gebrauchswert schafft, andererseits als abstrakte, allgemeine gesellschaftlich<br />

notwendige Arbeit Wert schafft. In ihrer ersten Eigenschaft tut sie, was die menschliche Arbeit stets<br />

getan: die vergangene Arbeit, die in den benutzten Produktionsmitteln steckt, auf das neue Produkt<br />

mitzuübertragen, nur daß auch diese vergangene Arbeit jetzt als Wert, als alter Wert erscheint. In ihrer<br />

zweiten Eigenschaft schafft sie Neuwert, der kapitalistisch in bezahlte und unbezahlte Arbeit: v + m<br />

zerfällt. Der Wert jeder Ware muß also sowohl alten Wert enthalten, den die Arbeit in ihrer Eigenschaft<br />

als nützliche konkrete Arbeit von den Produktionsmitteln auf die Ware überträgt, wie Neuwert, den<br />

dieselbe Arbeit in ihrer Eigenschaft als gesellschaftlich notwendige durch ihre bloße Verausgabung,<br />

durch ihre Dauer schafft.<br />

<strong>Die</strong>se Unterscheidung konnte Smith nicht machen, da er den Doppelcharakter der wertschaffenden<br />

Arbeit nicht auseinanderhielt, und Marx glaubt an einer Stelle, in diesem fundamentalen Irrtum der<br />

Smithschen Werttheorie sogar die eigentliche tiefste Quelle seines seltsamen Dogmas von der restlosen<br />

Auflösung aller hergestellten Wertmasse in v + m erblicken zu müssen.(1) <strong>Die</strong> Nichtunterscheidung der<br />

beiden Seiten der warenproduzierenden Arbeit: der konkreten nützlichen und der abstrakten<br />

gesellschaftlich notwendigen, bildet in der Tat eines der hervorragendsten Merkmale nicht bloß der<br />

Smithschen, sondern der Werttheorie der ganzen klassischen Schule.<br />

Unbekümmert um alle sozialen Konsequenzen hat die klassische Ökonomie die menschliche Arbeit als<br />

den allein wertschaffenden Faktor erkannt und diese Theorie bis zu jener Klarheit ausgearbeitet, die uns<br />

in der Ricardoschen Fassung vorliegt. Worin aber der fundamentale Unterschied zwischen der<br />

Ricardoschen und der Marxschen Arbeitswerttheorie liegt - ein Unterschied, der nicht nur von<br />

bürgerlichen Ökonomen verkannt, sondern auch in den Popularisationen der Marxschen Lehre meist<br />

unberücksichtigt bleibt -, ist, daß Ricardo, entsprechend seiner allgemeinen naturrechtlichen Auffassung<br />

von der bürgerlichen Wirtschaft, auch das Wertschaffen für eine natürliche Eigenschaft der<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 3. Kapitel<br />

menschlichen Arbeit, der individuellen konkreten Arbeit <strong>des</strong> <strong>Ein</strong>zelmenschen hielt.<br />

<strong>Die</strong>se Auffassung tritt noch krasser bei Ad. Smith zutage, der ja z.B. den "Hang zum Tausche" direkt für<br />

eine Besonderheit der menschlichen Natur erklärt, nachdem er ihn vorher umsonst bei Tieren, wie bei<br />

Hunden usw., gesucht.<br />

Übrigens erkennt Smith, wenn er auch den "Hang zum Tausche" bei Tieren bezweifelt, der tierischen<br />

Arbeit gleich der menschlichen wertschaffende Eigenschaft zu, namentlich dort, wo er gelegentlich<br />

Rückfälle in die physiokratische Auffassung aufweist.<br />

"Kein anderes gleich großes Kapital setzt eine größere Menge von produktiver Arbeit in Bewegung als<br />

das <strong>des</strong> Landmannes. Nicht nur seine Arbeitsleute, sondern auch sein Arbeitsvieh sind produktive<br />

Arbeiter ... <strong>Die</strong> zur landwirtschaftlichen Arbeit verwendeten Menschen und Tiere reproduzieren mithin<br />

nicht nur, wie die Fabrikarbeiter, einen ihrem eigenen Verbrauche oder dem sie beschäftigenden Kapitale<br />

samt dem Gewinn <strong>des</strong> Kapitalisten gleichen Wert, sondern einen viel größeren. Außer dem Kapital <strong>des</strong><br />

Pächters samt seinem ganzen Gewinn reproduzieren sie auch regelmäßig die Rente für den<br />

Grundbesitz."(2)<br />

Hier kommt am drastischsten zum Ausdruck, daß Smith das Wertschaffen direkt für eine physiologische<br />

Eigenschaft der Arbeit als einer Äußerung <strong>des</strong> tierischen Organismus <strong>des</strong> Menschen hielt. So wie die<br />

Spinne aus ihrem Körper das Gespinst produziert, so schafft der arbeitende Mensch Wert - der arbeitende<br />

Mensch schlechthin, jeder Mensch, der nützliche Gegenstände schafft, denn der arbeitende Mensch ist<br />

von Hause aus Warenproduzent, wie die menschliche Gesellschaft von Natur aus eine auf Austausch<br />

beruhende, die Warenwirtschaft die normal-menschliche Wirtschaftsform ist.<br />

Erst Marx erkannte im Werte ein besonderes, unter bestimmten geschichtlichen Bedingungen<br />

entstehen<strong>des</strong> gesellschaftliches Verhältnis, kam dadurch zur Unterscheidung der beiden Seiten der<br />

warenproduzierenden Arbeit: der konkreten individuellen und der unterschiedslosen gesellschaftlichen<br />

Arbeit, durch welche Unterscheidung erst die Lösung <strong>des</strong> Geldrätsels wie im Scheine einer Blendlaterne<br />

hell in die Augen springt.<br />

Um auf diese Weise im Schoße der bürgerlichen Wirtschaft, statisch, den zwieschlächtigen Charakter der<br />

Arbeit, den arbeitenden Menschen und den wertschaffenden Warenproduzenten auseinanderzuhalten,<br />

mußte Marx vorher dynamisch, in der geschichtlichen Zeitfolge, den Warenproduzenten vom<br />

Arbeitsmenschen schlechthin unterscheiden, das heißt die Warenproduktion bloß als eine bestimmte<br />

historische Form der gesellschaftlichen Produktion erkennen. Marx mußte, mit einem Worte, um die<br />

Hieroglyphe der kapitalistischen Wirtschaft zu enträtseln, mit einer entgegengesetzten Deduktion wie die<br />

Klassiker, statt mit dem Glauben an das Menschlich-Normale der bürgerlichen Produktionsweise mit der<br />

<strong>Ein</strong>sicht in ihre historische Vergänglichkeit, an die Forschung herantreten, er mußte die metaphysische<br />

Deduktion der Klassiker in ihr Gegenteil, in die dialektische umkehren.(3)<br />

Damit ist gegeben, daß für Smith die klare Unterscheidung der beiden Seiten der wertschaffenden Arbeit,<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 3. Kapitel<br />

insofern sie einerseits den alten Wert der Produktionsmittel auf das neue Produkt überträgt, andererseits<br />

zugleich Neuwert schafft, unmöglich war. Es scheint uns jedoch, daß sein Dogma von der Auflösung <strong>des</strong><br />

Gesamtwerts in v + m noch aus einer anderen Quelle fließt. Es kann nicht angenommen werden, daß<br />

Smith die Tatsache selbst aus dem Auge läßt, daß jede hergestellte Ware nicht bloß den bei ihrer<br />

unmittelbaren Produktion geschaffenen Wert, sondern auch den Wert sämtlicher bei ihrer Herstellung<br />

verbrauchten Produktionsmittel enthält. Gerade dadurch, daß er uns für die restlose Auflösung <strong>des</strong><br />

Gesamtwerts in v + m immer von einem Produktionsstadium in ein früheres, wie Marx sich ausdrückt,<br />

von Pontius zu Pilatus schickt, beweist er, daß er sich der Tatsache selbst wohl bewußt ist. Das<br />

Merkwürdige ist dabei nur, daß er auch den alten Wert der Produktionsmittel immer wieder in v + m<br />

auflöst und so schließlich den ganzen in der Ware enthaltenen Wert darin aufgehen läßt.<br />

So in dem von uns bereits zitierten Passus über den Getreidepreis: "In dem Getreidepreis z.B. bezahlt ein<br />

Teil die Bodenrente für den Besitzer, ein anderer die Arbeitslöhne oder den Unterhalt der Arbeiter und<br />

<strong>des</strong> Arbeitsviehs und der dritte den Gewinn <strong>des</strong> Pächters. <strong>Die</strong>se drei Teile scheinen entweder unmittelbar<br />

oder in letzter Linie den ganzen Getreidepreis auszumachen. Man könnte vielleicht noch einen vierten<br />

Teil für notwendig halten, um die Abnutzung <strong>des</strong> Arbeitsviehs und der Wirtschaftsutensilien<br />

auszugleichen. Aber es muß beachtet werden, daß der Preis aller Wirtschaftsutensilien sich wieder aus<br />

denselben drei Teilen zusammensetzt: 1. die Rente <strong>des</strong> Bodens, welcher es ernährt hat; 2. die auf seine<br />

Zucht verwendete Arbeit und 3. den Kapitalgewinn <strong>des</strong> Pächters, welcher sowohl die Bodenrente<br />

als die Arbeitslöhne vorgestreckt hat. Wenn also auch der Getreidepreis den Wert <strong>des</strong> Pfer<strong>des</strong> sowohl als<br />

<strong>des</strong>sen Ernährung enthält, so löst er sich doch mittelbar oder unmittelbar in die genannten drei<br />

Bestandteile: Bodenrente, Arbeit und Kapitalgewinn, auf."<br />

Was Smith verwirrte, war, scheint es uns, folgen<strong>des</strong>:<br />

1. Jede Arbeit geht vor sich mit irgendwelchen Produktionsmitteln. Aber das, was bei einer gegebenen<br />

Arbeit Produktionsmittel (Rohstoff, Instrument usw.), ist selbst Produkt einer früheren Arbeit. Für den<br />

Bäcker ist Mehl Produktionsmittel, dem er neue Arbeit zusetzt. Aber Mehl ist selbst aus der Arbeit <strong>des</strong><br />

Müllers hervorgegangen, wo es nicht Produktionsmittel, sondern, genauso wie jetzt die Backware,<br />

Produkt war. Bei diesem Produkt war Korn als Produktionsmittel vorausgesetzt, aber wenn wir noch eine<br />

Stufe zurückgehen, so war Korn beim Landbauer nicht Produktionsmittel, sondern Produkt. Man kann<br />

kein wertenthalten<strong>des</strong> Produktionsmittel finden, das nicht selbst Produkt einer früheren Arbeit wäre.<br />

2. Kapitalistisch gesprochen, folgt daraus: Alles Kapital, das zur Herstellung irgendeiner Ware von<br />

Anfang bis zu Ende gebraucht wurde, läßt sich schließlich in ein gewisses Quantum geleisteter Arbeit<br />

auflösen.<br />

3. Der Gesamtwert der Ware, alle Kapitalauslagen inbegriffen, löst sich also einfach in ein gewisses<br />

Arbeitsquantum auf. Und was auf jede Ware, muß sich auch auf die Gesamtheit der jährlich von der<br />

Gesellschaft hergestellten Warenmasse beziehen, auch ihr Gesamtwert löst sich in ein Quantum<br />

geleisteter Arbeit auf.<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 3. Kapitel<br />

4. Jede kapitalistisch geleistete Arbeit zerfällt in zwei Teile: bezahlte, die die Löhne ersetzt, und<br />

unbezahlte, die Profite und Renten, d.h. Mehrwert schafft. Jede kapitalistisch geleistete Arbeit entspricht<br />

der Formel v + m.(4)<br />

Alle bisherigen Thesen sind vollkommen richtig und unbestreitbar. Ihre Erfassung durch Smith beweist<br />

die Stärke und Unbeirrtheit seiner wissenschaftlichen Analyse und seinen Fortschritt in der Wert- und<br />

Mehrwertauffassung über die Physiokraten hinaus. Nur daß er bei These 3 gelegentlich in der<br />

Schlußfolgerung den groben Schnitzer machte: der Gesamtwert der jährlich hergestellten Warenmasse<br />

löse sich in das Quantum der in diesem Jahre geleisteten Arbeit auf, während er selbst an anderen Stellen<br />

zeigt, daß er sehr wohl weiß, der Wert der in einem Jahre von der Nation hergestellten Waren<br />

schließe notwendig auch die Arbeit früherer Jahre - nämlich die in den übernommenen<br />

Produktionsmitteln eingeschlossene Arbeit - ein.<br />

Und doch mußte die aus den obigen ganz richtigen vier Thesen gezogene Schlußfolgerung Smith': der<br />

Gesamtwert jeder Ware wie der jährlichen Warenmasse der Gesellschaft löse sich restlos in v + m auf,<br />

ganz falsch sein. Smith identifiziert die richtige These: aller Wert der Ware stellt nichts als<br />

gesellschaftliche Arbeit dar, mit der falschen: aller Wert stellt nichts als v + m dar. <strong>Die</strong> Formel v + m<br />

drückt die Funktion der lebendigen Arbeit unter kapitalistischen Wirtschaftsverhältnissen aus, nämlich<br />

die Doppelfunktion: 1. Ersatz <strong>des</strong> variablen <strong>Kapitals</strong> (der Löhne); 2. Schaffung <strong>des</strong> Mehrwerts für den<br />

Kapitalisten. <strong>Die</strong>se Funktion erfüllt die Lohnarbeit während ihrer Anwendung durch den Kapitalisten,<br />

und durch die Realisierung <strong>des</strong> Warenwerts in Geld zieht der Kapitalist sowohl das in Löhnen<br />

vorgeschossene variable Kapital zurück, wie er den Mehrwert in die Tasche steckt. v + m drückt also das<br />

Verhältnis zwischen Lohnarbeiter und Kapitalist aus, ein Verhältnis, das je<strong>des</strong>mal mit der Herstellung<br />

der Ware zu Ende ist. Ist die Ware verkauft und das Verhältnis v + m in Geld für den Kapitalisten<br />

realisiert, dann ist das Verhältnis und seine Spur in der Ware also erloschen. Der Ware und ihrem Wert<br />

sieht man absolut nicht an, in welchem Verhältnis und ob überhaupt ihr Wert durch bezahlte und<br />

unbezahlte Arbeit hergestellt ist, das einzige, was zweifellose Tatsache, ist der Umstand, daß die Ware<br />

ein gewisses Quantum gesellschaftlich notwendiger Arbeit enthält, was in ihrem Austausch zum<br />

Ausdruck kommt. Für den Austausch selbst also wie für den Gebrauch der Ware ist es völlig<br />

gleichgültig, ob die Arbeit, die sie darstellt, in v + m zerfiel oder nicht. Nur ihr Quantum als Wert spielt<br />

eine Rolle im Austausch, und nur ihre konkrete Beschaffenheit, ihre Nützlichkeit spielt eine Rolle im<br />

Gebrauch. <strong>Die</strong> Formel v + m drückt also sozusagen nur das intime Verhältnis zwischen Kapital und<br />

Arbeit, die soziale Funktion der Lohnarbeit aus, die im Produkt ganz erlischt. Anders mit dem<br />

ausgelegten Kapitalteil, der in Produktionsmitteln angelegt ist, dem konstanten Kapital. Der Kapitalist<br />

muß außer Lohnarbeit noch Produktionsmittel anschaffen, weil jede Arbeit gewisser Rohstoffe,<br />

Instrumente, Baulichkeiten zu ihrer Tätigkeit bedarf. Der kapitalistische Charakter auch dieser<br />

Bedingung der Produktion kommt darin zum Ausdruck, daß diese Produktionsmittel eben als c, als<br />

Kapital erscheinen, d.h. 1. als Eigentum einer anderen Person als die Arbeitenden, getrennt von der<br />

Arbeitskraft, als Eigentum der Nichtarbeitenden; 2. als bloßer Vorschuß, Auslage zum Zwecke der<br />

Mehrwerterzeugung. Das konstante Kapital c erscheint hier nur als Grundlage für v + m. Aber das<br />

konstante Kapital drückt noch etwas mehr aus, nämlich die Funktion der Produktionsmittel im<br />

menschlichen Arbeitsprozeß unabhängig von jeder historisch-gesellschafthchen Form. Der Rohstoffe und<br />

Instrumente zur Arbeit bedarf in gleichem Maße der Feuerländer bei der Anfertigung seines<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 3. Kapitel<br />

Familienkanus, die kommunistische Bauerngemeinde in Indien bei der Bestellung der Gemeindeäcker,<br />

der ägyptische Fellache beim Anbau seiner Dorfländereien wie beim Bau der Pyramiden für den Pharao,<br />

der griechische Sklave in der kleinen athenischen Manufaktur, der feudale Fronbauer, der mittelalterliche<br />

Zunfthandwerker und der moderne Lohnarbeiter. <strong>Die</strong> aus menschlicher Arbeit bereits hervorgegangenen<br />

Produktionsmittel sind der Ausdruck <strong>des</strong> Kontakts der menschlichen Arbeit mit dem Naturstoff und<br />

dadurch ewige allgemeine Vorbedingung <strong>des</strong> menschlichen Produktionsprozesses. <strong>Die</strong> Figur c in der<br />

Formel c + v + m drückt also eine bestimmte Funktion der Produktionsmittel aus, die mit dem Aufhören<br />

der Arbeit nicht erlischt. Während es für den Austausch wie für den Gebrauch der Ware völlig<br />

gleichgültig ist, ob sie durch bezahlte oder unbezahlte Arbeit, durch Lohnarbeit, Sklavenarbeit,<br />

Fronarbeit oder irgendeine andere Arbeit zustande gekommen, ist es für den Gebrauch der Ware von<br />

entscheidender Wichtigkeit, ob sie selbst Produktionsmittel oder Lebensmittel ist. <strong>Die</strong> Tatsache, daß bei<br />

der Herstellung einer Maschine bezahlte und unbezahlte Arbeit verwendet worden, ist nur für den<br />

Fabrikanten der Maschine und seine Arbeiter von Bedeutung; für die Gesellschaft, die durch den<br />

Austausch die Maschine erwirbt, ist nur ihre Eigenschaft als Produktionsmittel, ihre Funktion im<br />

Produktionsprozeß von Bedeutung. Und genauso, wie jede produzierende Gesellschaft der wichtigen<br />

Funktion der Produktionsmittel seit jeher darin Rechnung tragen mußte, daß sie in jeder<br />

Produktionsperiode für die Herstellung erforderlicher Produktionsmittel der nächsten Periode Sorge trug,<br />

so kann auch die kapitalistische Gesellschaft je<strong>des</strong> Jahr ihre Wertproduktion nach der Formel v + m, das<br />

heißt die Ausbeutung der Lohnarbeit nur dann in Angriff nehmen, wenn das erforderliche Quantum<br />

Produktionsmittel zur Bildung <strong>des</strong> konstanten <strong>Kapitals</strong> als Frucht der vorhergehenden<br />

Produktionsperiode vorhanden ist. <strong>Die</strong>se spezifische Verknüpfung jeder vergangenen Produktionsperiode<br />

mit der darauffolgenden, die die allgemeine ewige Grundlage <strong>des</strong> gesellschaftlichen<br />

Reproduktionsprozesses bildet und die darin besteht, daß ein Teil der Produkte jeder Periode bestimmt<br />

ist, Produktionsmittel für die folgende zu bilden, verschwand vor dem Blicke Smith'. An den<br />

Produktionsmitteln inter- essierte ihn nicht ihre spezifische Funktion in dem Produktionsprozeß,<br />

wo sie angewendet, sondern nur die Tatsache, daß sie selbst ein Produkt der kapitalistisch angewendeten<br />

Lohnarbeit sind wie jede andere Ware. <strong>Die</strong> spezifisch kapitalistische Funktion der Lohnarbeit im<br />

Produktionsprozeß <strong>des</strong> Mehrwerts verdeckte ihm ganz die ewige allgemeine Funktion der<br />

Produktionsmittel im Arbeitsprozeß. Sein bürgerlich befangener Blick übersah völlig hinter dem<br />

besonderen sozialen Verhältnis zwischen Lohnarbeit und Kapital das allgemeine Verhältnis zwischen<br />

Mensch und Natur. Hier scheint uns die eigentliche Quelle <strong>des</strong> wunderlichen Dogmas von Ad. Smith<br />

über die Auflösung <strong>des</strong> Gesamtwerts der gesellschaftlichen Jahresproduktion in v + m zu liegen. Smith<br />

übersah, daß das c als erstes Glied der Formel c + v + m der notwendige Ausdruck für die allgemeine<br />

gesellschaftliche Grundlage der kapitalistischen Ausbeutung der Lohnarbeit ist.<br />

Der Wert jeder Ware muß also in der Formel c + v + m ausgedrückt werden. Es fragt sich nun, inwiefern<br />

dies auf die Gesamtheit der Waren in einer Gesellschaft Anwendung findet. Wenden wir uns an die<br />

Zweifel Smith' darüber, nämlich an seine Aufstellung, fixes und zirkulieren<strong>des</strong> Kapital sowie<br />

<strong>Ein</strong>kommen <strong>des</strong> einzelnen decken sich nicht mit denselben Kategorien vom gesellschaftlichen<br />

Standpunkt (S. 39, Punkt 3). Was für den einen zirkulieren<strong>des</strong> Kapital, sei für andere nicht Kapital,<br />

sondern <strong>Ein</strong>kommen, z.B. die Kapitalvorschüsse für Löhne. <strong>Die</strong>se Behauptung beruht auf einem Irrtum.<br />

Wenn der Kapitalist den Arbeitern Löhne auszahlt, so gibt er nicht variables Kapital her, das in die<br />

Hände der Arbeiter wandert, um in ihr <strong>Ein</strong>kommen verwandelt zu werden, sondern er gibt nur die<br />

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Wertform seines variablen <strong>Kapitals</strong> für <strong>des</strong>sen Naturalform - die Arbeitskraft - hin. Das variable Kapital<br />

ist stets in der Hand <strong>des</strong> Kapitalisten erst in Geldform, dann in Gestalt der Arbeitskraft, die er gekauft,<br />

später in Form eines Wertteils der hergestellten Waren, um schließlich aus dem Erlös der Waren in<br />

Geldform - nebst Zuwachs - zu ihm zurückzukehren. Andererseits gelangt der Arbeiter nie in Besitz <strong>des</strong><br />

variablen <strong>Kapitals</strong>. Für ihn ist die Arbeitskraft nie Kapital, sondern sein Vermögen (nämlich Vermögen<br />

zu arbeiten, das einzige, das er besitzt). Hat er sie veräußert und hat er Geld als Lohn eingenommen, so<br />

ist dieser Lohn für ihn gleichfalls kein Kapital, sondern der Preis seiner verkauften Ware. Endlich die<br />

Tatsache, daß der Arbeiter mit den erhaltenen Löhnen Lebensmittel kauft, hat mit der Funktion, die<br />

dieses Geld als variables Kapital in den Händen <strong>des</strong> Kapitalisten gespielt hat, so wenig zu tun wie der<br />

Privatgebrauch, den jeder Verkäufer einer Ware mit dem erhaltenen Geld macht. Nicht das variable<br />

Kapital <strong>des</strong> Kapitalisten wird also zum <strong>Ein</strong>- kommen <strong>des</strong> Arbeiters, sondern der Preis der vom<br />

Arbeiter verkauften Ware Arbeitskraft, während das variable Kapital nach wie vor in der Hand <strong>des</strong><br />

Kapitalisten bleibt und als solches fungiert.<br />

Genauso falsch die Vorstellung, das <strong>Ein</strong>kommen (Mehrwert) <strong>des</strong> Kapitalisten, das z.B. in noch nicht<br />

realisierten Maschinen steckt, was beim Maschinenfabrikanten der Fall, sei fixes Kapital für einen<br />

anderen, nämlich den Käufer der Maschinen. Was <strong>Ein</strong>kommen <strong>des</strong> Maschinenfabrikanten ist, sind nicht<br />

Maschinen oder ein Teil der Maschine, sondern der in ihnen steckende Mehrwert, also unbezahlte Arbeit<br />

seiner Lohnarbeiter. Nach dem Verkauf der Maschine bleibt dieses <strong>Ein</strong>kommen nach wie vor in der<br />

Hand <strong>des</strong> Maschinenfabrikanten, es hat nur seine Erscheinungsform gewechselt, ist aus Maschinenform<br />

in Geldform verwandelt. Umgekehrt ist der Käufer der Maschine nicht erst durch ihren Ankauf in Besitz<br />

seines fixen <strong>Kapitals</strong> gelangt, sondern er hatte dieses vorher schon als ein gewisses Geldkapital in der<br />

Hand gehabt. Durch den Ankauf der Maschine hat er nur seinem Kapital die entsprechende sachliche<br />

Gestalt gegeben, die er brauchte, um es produktiv fungieren zu lassen. Vor dem Verkauf der Maschine<br />

wie nach ihrem Verkauf bleibt das <strong>Ein</strong>kommen (der Mehrwert) in der Hand <strong>des</strong> Maschinenfabrikanten,<br />

das fixe Kapital in der Hand <strong>des</strong> anderen - <strong>des</strong> kapitalistischen Käufers der Maschine. Genauso wie im<br />

ersten Beispiel das variable Kapital stets in der Hand <strong>des</strong> Kapitalisten, das <strong>Ein</strong>kommen in der Hand <strong>des</strong><br />

Arbeiters blieb,<br />

Was die Verwirrung bei Smith und allen seinen Nachfolgern angestiftet hat, ist, daß sie bei dem<br />

kapitalistischen Warenaustausch die Gebrauchsform der Waren mit ihren Wertverhältnissen<br />

durcheinanderwarfen, und ferner, daß sie die einzelnen Kapitalzirkulationen und Warenzirkulationen<br />

nicht auseinanderhielten, die sich auf Schritt und Tritt ineinander verschlingen. <strong>Ein</strong> und derselbe Akt <strong>des</strong><br />

Warenaustausches kann von einer Seite gesehen Kapitalzirkulation, von der anderen einfacher<br />

Warenaustausch zur Befriedigung der Konsumbedürfnisse sein. Der falsche Satz: Was für den einen<br />

Kapital, ist für den anderen <strong>Ein</strong>kommen und umgekehrt, reduziert sich also auf den richtigen Satz: Was<br />

für den einen Kapitalzirkulation, ist für den anderen einfacher Warenaustausch und umgekehrt. Dadurch<br />

wird nur die Verwandlungsfähigkeit <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong> in seiner Laufbahn und die Verschlingung<br />

verschiedener Interessensphären in dem gesellschaftlichen Austauschprozeß zum Ausdruck gebracht, die<br />

scharf umrissene Existenz aber <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong> im Gegensatz zum <strong>Ein</strong>kommen, und zwar in seinen beiden<br />

markanten Gestalten als konstantes und variables, wird damit nicht aufgehoben.<br />

Und doch kommt Smith in seinen Behauptungen, daß sich Kapital und <strong>Ein</strong>kommen der einzelnen<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 3. Kapitel<br />

mit diesen Kategorien der Gesamtheit nicht völlig decken, der Wahrheit sehr nahe, nur daß es zur klaren<br />

Aufdeckung <strong>des</strong> Zusammenhangs noch weiterer Zwischenglieder bedurfte.<br />

Fußnoten von <strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong><br />

(1) Siehe Das Kapital, Bd. II, S. 351 [Karl Marx: Das Kapital, Zweiter Band. In: Karl Marx/Friedrich<br />

Engels: Werke Bd. 24. S. 376/377.]


<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 4. Kapitel<br />

3. Kapitel | Inhalt | 5. Kapitel<br />

<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - Gesammelte Werke. Herausgegeben vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Band<br />

5. <strong>Berlin</strong>/DDR. 1975. "<strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>", S. 50-66.<br />

1. Korrektur.<br />

Erstellt am 20.10.1998<br />

Viertes Kapitel<br />

Das Marxsche Schema der einfachen Reproduktion<br />

Betrachten wir die Formel c + v + m als Ausdruck <strong>des</strong> gesellschaftlichen Gesamtprodukts. Haben<br />

wir es hier bloß mit einer theoretischen Konstruktion, mit einem abstrakten Schema zu tun, oder wohnt<br />

dieser Formel in der Anwendung auf die Gesamtgesellschaft ein realer Sinn inne, hat sie objektive<br />

gesellschaftliche Existenz?<br />

Das c, konstantes Kapital, ist theoretisch erst von Marx als Kategorie von grundlegender Bedeutung<br />

aufgebracht worden. Allein schon Smith selbst, der ausschließlich mit den Kategorien fixes und<br />

zirkulieren<strong>des</strong> Kapital arbeitet, verwandelt das fixe Kapital tatsächlich und unbewußt für sich in<br />

konstantes, d.h., er faßt darunter nicht bloß Produktionsmittel, die in mehreren Jahren verschleißen,<br />

sondern auch solche, die jährlich ganz in die Produktion aufgehen.(1) Sein Dogma selbst von der<br />

Auflösung <strong>des</strong> Gesamtwerts in v + m und seine Beweisführung dafür führen ihn dazu, die zwei<br />

Kategorien der Produktionsbedingungen: die lebendige Arbeit und alle toten Produktionsmittel,<br />

auseinanderzuhalten. Auf der anderen Seite, wenn er aus den <strong>Ein</strong>zelkapitalen und -einkommen den<br />

gesellschaftlichen Reproduktionsprozeß zu konstruieren sucht, bleibt ihm als "fixes" Kapital in<br />

Wirklichkeit das konstante übrig.<br />

Jeder einzelne Kapitalist verwendet zur Produktion seiner Waren gewisse sachliche Produktionsmittel:<br />

Baulichkeiten, Rohstoffe, Werkzeuge. Zur Herstellung der Gesamtheit der Waren ist in der gegebenen<br />

Gesellschaft offenbar die Gesamtheit der von den <strong>Ein</strong>zelkapitalisten verwendeten sachlichen<br />

Produktionsmittel notwendig. <strong>Die</strong> Existenz dieser Produktionsmittel in der Gesellschaft ist eine ganz reale<br />

Tatsache, wenn sie auch in Gestalt lauter privater <strong>Ein</strong>zelkapitale existieren. Hier kommt die allgemeine<br />

absolute Bedingung der gesellschaftlichen Produktion unter allen ihren historischen Formen zum<br />

Ausdruck. <strong>Die</strong> besondere kapitalistische Form äußert sich darin, daß die sachlichen<br />

Produktionsmittel eben als c, als Kapital fungieren, d.h. als Eigentum von Nichtarbeitenden, als Gegenpol<br />

proletarisierter Arbeitskräfte, als Gegenstück der Lohnarbeit. Das v, variables Kapital, ist Summe der in<br />

der Gesellschaft während der Jahresproduktion tatsächlich gezahlten Löhne. Auch diese Tatsache hat eine<br />

reale objektive Existenz, wenn sie gleich in einer Unzahl von <strong>Ein</strong>zellöhnen zum Vorschein kommt. In<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 4. Kapitel<br />

jeder Gesellschaft ist die Anzahl der tatsächlich in der Produktion angespannten Arbeitskräfte und ihre<br />

jährliche Erhaltung eine Frage von grundlegender Wichtigkeit. <strong>Die</strong> besondere kapitalistische Form dieser<br />

Kategorie als v, als variables Kapital, besagt: 1., daß die Existenzmittel der Arbeitenden ihnen als Lohn,<br />

d.h. als Preis ihrer verkauften Arbeitskraft, entgegentreten, als Kapitaleigentum anderer, Nichtarbeitender,<br />

Besitzer der sachlichen Produktionsmittel; 2. als eine Geldsumme, d.h. bloß als Wertgestalt ihrer<br />

Lebensmittel. Das v drückt aus sowohl, daß die Arbeitenden "frei" sind in doppeltem Sinne: persönlich<br />

frei und frei von allen Produktionsmitteln - als daß die Warenproduktion die allgemeine Form der<br />

Produktion in der gegebenen Gesellschaft ist.<br />

Endlich das m - Mehrwert - stellt die Gesamtsumme aller von den <strong>Ein</strong>zelkapitalisten erzielten Mehrwerte<br />

dar. In jeder Gesellschaft wird Mehrarbeit geleistet und wird z.B. auch in der sozialistischen Gesellschaft<br />

geleistet werden müssen. In dreifachem Sinne: als Arbeitsquantum zur Erhaltung Nichtarbeitender<br />

(Arbeitsunfähiges, Kinder, Greise, Gebrechlicher, öffentlicher Beamten und sog. liberaler Berufe, die am<br />

Produktionsprozeß nicht unmittelbar teilnehmen (2)), als Assekuranzfonds der Gesellschaft für<br />

elementare Unglücksfälle, die den jährlichen Ausfall der Produktenmasse gefährden (Mißernte,<br />

Waldbrand, Überschwemmungen), endlich als Fonds zur Erweiterung der Produktion, sei es infolge <strong>des</strong><br />

Bevölkerungszuwachses, sei es infolge der kulturellen Hebung der Bedürfnisse. <strong>Die</strong> kapitalistische Form<br />

äußert sich in doppelter Hinsicht: 1. darin, daß die Mehrarbeit als Mehrwert, d.h. in Warenform und in<br />

Geld realisierbar geleistet wird, 2. darin, daß sie als Eigentum nichtarbeitender Besitzer der<br />

Produktionsmittel zum Vorschein kommt.<br />

<strong>Die</strong> beiden Figuren v + m endlich stellen zusammen gleichfalls eine objektive Größe von allgemeiner<br />

Gültigkeit dar: die Gesamtsumme der in der Gesellschaft im Verlaufe eines Jahres geleisteten<br />

lebendigen Arbeit. Jede menschliche Gesellschaft, von welcher geschichtlichen Form auch, muß sich für<br />

diese Tatsache interessieren, sowohl im Verhältnis zu den erzielten Resultaten wie im Verhältnis zu den<br />

vorhandenen und verfügbaren Arbeitskräften überhaupt. Auch die <strong>Ein</strong>teilung in v + m ist eine allgemeine,<br />

von den besonderen historischen Formen der Gesellschaft unabhängige Erscheinung. Der kapitalistische<br />

Ausdruck dieser <strong>Ein</strong>teilung äußert sich nicht nur in den qualitativen Besonderheiten beider, die bereits<br />

hervorgehoben sind, sondern auch in ihrem quantitativen Verhältnis, darin, daß v die Tendenz zeigt, auf<br />

das physiologische und soziale Minimum. das zur Existenz der Arbeitenden notwendig ist, herabgedrückt<br />

zu werden, und daß das m auf Kosten <strong>des</strong> v und im Verhältnis zu ihm stets zu wachsen die Tendenz hat.<br />

Letzterer Umstand drückt endlich die vorherrschende Eigentümlichkeit der kapitalistischen Produktion<br />

aus: die Tatsache, daß die Schaffung und Aneignung von Mehrwert der eigentliche Zweck und das<br />

treibende Motiv dieser Produktion ist.<br />

Man sieht: <strong>Die</strong> der kapitalistischen Formel <strong>des</strong> Gesamtprodukts zugrunde liegenden Beziehungen sind<br />

von allgemeiner Gültigkeit und werden in jeder planmäßig organisierten Wirtschaftsform Gegenstand<br />

einer bewußten Regelung seitens der Gesellschaft - der Gesamtheit der Arbeitenden und ihrer<br />

demokratischen Organe in einer kommunistischen Gesellschaft, <strong>des</strong> besitzenden Zentrums und seiner<br />

<strong>des</strong>potischen Gewalt in einer auf Klassenherrschaft beruhenden Gesellschaft. Unter der kapitalistischen<br />

Produktionsform besteht eine planmäßige Regelung <strong>des</strong> Ganzen nicht. <strong>Die</strong> Gesamtheit der Kapitale wie<br />

der Waren der Gesellschaft besteht in Wirklichkeit aus einer Summe unzähliger zersplitterter<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 4. Kapitel<br />

<strong>Ein</strong>zelkapitale und einzelner Warenposten.<br />

Es entsteht somit die Frage, ob denn diese Summen selbst in der kapitalistischen Gesellschaft etwas mehr<br />

als den Sinn einer bloßen statistischen Aufstellung, noch dazu von sehr ungenauem und schwankendem<br />

Charakter besitzen. Auf dem Maßstab der Gesamtgesellschaft kommt jedoch zum Ausdruck, daß die<br />

völlig selbständige, selbstherrliche <strong>Ein</strong>zelexistenz der privatkapitalistischen Betriebe bloß die historisch<br />

bedingte Form, während der gesellschaftliche Zusammenhang die Grundlage ist. Obwohl die<br />

<strong>Ein</strong>zelkapitale völlig unabhängig agieren und eine gesellschaftliche Regelung vollständig fehlt, vollzieht<br />

sich die Gesamtbewegung aller Kapitale als ein einheitliches Ganzes. Auch diese Gesamtbewegung<br />

äußert sich in spezifisch kapitalistischen Formen. Während bei jeder planmäßig organi- sierten<br />

Produktionsform die Regelung sich vor allem auf das Verhältnis der gesamten geleisteten und zu<br />

leistenden Arbeit und den Produktionsmitteln - in den Zeichen unserer Formel gesprochen: zwischen (v +<br />

m) und c - oder zwischen der Summe der benötigten Lebensmittel benötigten Produktionsmittel - in der<br />

Formel dasselbe (v + m) zu c - bezieht, wird kapitalistisch die zur Erhaltung der toten Produktionsmittel<br />

wie der lebenden Arbeitskräfte benötigte gesellschaftliche Arbeit als ein Ganzes, als Kapital behandelt,<br />

dem die geleistete Mehrarbeit als m, Mehrwert, entgegengestellt wird. Das Verhältnis dieser beiden<br />

Größen m und (c + v) ist ein reales, objektives, handgreifliches Verhältnis der kapitalistischen<br />

Gesellschaft. nämlich die durchschnittliche Profitrate, die tatsächlich je<strong>des</strong> Privatkapital nur als ein Teil<br />

eines gemeinsamen Ganzen, <strong>des</strong> gesellschaftlichen Gesamtkapitals, behandelt, ihm den Profit als einen<br />

ihm nach Größe zukommenden Teil <strong>des</strong> aus der Gesellschaft herausgepreßten Gesamtmehrwerts ohne<br />

Rücksicht auf das von ihm tatsächlich erzielte Quantum zuweist. Das gesellschaftliche Gesamtkapital mit<br />

seinem Gegenstück, dem gesellschaftlichen Gesamtmehrwert, sind also nicht bloß reale Größen von<br />

objektiver Existenz, sondern ihr Verhältnis, der Durchschnittsprofit, leitet und lenkt - vermittelst <strong>des</strong><br />

Mechanismus <strong>des</strong> Wertgesetzes - den ganzen Austausch, nämlich die quantitativen Austauschverhältnisse<br />

der einzelnen Warenarten unabhängig von ihren besonderen Wertverhältnissen, ferner die<br />

gesellschaftliche Arbeitsteilung, d.h. die Zuweisung entsprechender Kapitalportionen und Arbeitskräfte<br />

zu den einzelnen Produktionssphären, die Entwicklung der Produktivität der Arbeit, nämlich einerseits<br />

das Stimulieren der <strong>Ein</strong>zelkapitale zu Pionierarbeiten, um sich über den Durchschnittsprofit zu erheben,<br />

und andererseits die Ausbreitung der von den einzelnen erzielten Fortschritte auf die Gesamtproduktion<br />

usw. Mit einem Wort: Das gesellschaftliche Gesamtkapital beherrscht durch die Durchschnittsprofitrate<br />

die scheinbar selbständigen Bewegungen der <strong>Ein</strong>zelkapitale völlig.(3)<br />

<strong>Die</strong> Formel c + v + m paßt also nicht bloß auf die Wertzusammenset- zung jeder einzelnen Ware,<br />

sondern auch auf die Gesamtheit der in einer Gesellschaft kapitalistisch produzierten Waren. <strong>Die</strong>s bezieht<br />

sich aber nur auf die Wertzusammensetzung. Darüber hinaus hört die Analogie auf.<br />

<strong>Die</strong> genannte Formel ist nämlich vollkommen exakt, wenn wir das Gesamtprodukt einer kapitalistisch<br />

produzierenden Gesellschaft als Totalität, als Arbeitsprodukt eines Jahres, auf ihre betreffenden<br />

Bestandteile analysieren wollen. <strong>Die</strong> Figur c zeigt uns an, wieviel von vergangener, in früheren Jahren in<br />

Gestalt von Produktionsmitteln geleisteter Arbeit in das Produkt dieses Jahres mit übernommen worden<br />

ist. <strong>Die</strong> Figur v + m zeigt den Wertbestandteil <strong>des</strong> Produkts, der ausschließlich im letzten Jahre durch<br />

Neuarbeit geschaffen worden ist, endlich das Verhältnis von v und m zeigt uns die Verteilung <strong>des</strong><br />

jährlichen Arbeitspensums der Gesellschaft zwischen der Erhaltung der Arbeitenden und der Erhaltung<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 4. Kapitel<br />

der Nichtarbeitenden. <strong>Die</strong>se Analyse bleibt richtig und maßgebend auch für die Reproduktion <strong>des</strong><br />

<strong>Ein</strong>zelkapitals, ohne jede Rücksicht auf die sachliche Gestalt <strong>des</strong> von ihm geschaffenen Produkts. Bei<br />

dem Kapitalisten der Maschinenindustrie erscheinen c wie v wie m unterschiedslos in Gestalt von<br />

Maschinen oder Maschinenteilen wieder. Bei seinem Kollegen von der Zuckerbranche kommen c wie v<br />

und m aus dem Produktionsprozeß in Zuckergestalt zur Welt. Beim Eigentümer eines Tingeltangels<br />

werden sie in den Körperreizen der Tänzerinnen und der "Exzentriks" vergegenständlicht. Sie<br />

unterscheiden sich voneinander in dem unterschiedslosen Produkt nur als <strong>des</strong>sen aliquote Wertteile. Und<br />

dies genügt für die Reproduktion <strong>des</strong> <strong>Ein</strong>zelkapitals vollkommen. Denn die Reproduktion <strong>des</strong><br />

<strong>Ein</strong>zelkapitals beginnt mit der Wertgestalt <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, ihr Ausgangspunkt ist eine gewisse Geldsumme,<br />

die aus der Realisierung <strong>des</strong> hergestellten Produkts herausspringt. <strong>Die</strong> Formel c + v + m ist dann die<br />

gegebene Grundlage für die <strong>Ein</strong>teilung jener Geldsumme in einen Teil zum Ankauf von sachlichen<br />

Produktionsmitteln, einen anderen zum Ankauf der Arbeitskraft und einen dritten zur persönlichen<br />

Konsumtion <strong>des</strong> Kapitalisten, falls, wie wir hier zunächst annehmen, einfache Reproduktion stattfindet,<br />

oder nur zum Teil zur persönlichen Konsumtion, zum Teil zur Vergrößerung <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, falls erweiterte<br />

Reproduktion stattfinden soll. Daß er zur tatsächlichen Reproduktion mit dem so eingeteilten Geldkapital<br />

wieder den Warenmarkt beschreiten muß, um die sachlichen Voraussetzungen der Produktion: Rohstoffe,<br />

Werkzeuge usw. sowie Arbeitskräfte zu erwerben, versteht sich von selbst. Daß der <strong>Ein</strong>zelkapitalist dann<br />

auf dem Markt die Produktionsmittel und Arbeitskräfte, die er für sein Ge- schäft braucht, auch<br />

tatsächlich vorfindet, erscheint dem <strong>Ein</strong>zelkapitalisten wie seinem wissenschaftlichen Ideologen, dem<br />

Vulgärökonomen, ebenso selbstverständlich.<br />

Anders bei der gesellschaftlichen Gesamtproduktion. Vom Standpunkte der Gesamtgesellschaft kann der<br />

Warenaustausch nur eine Translokation, einen allseitigen Platzwechsel der einzelnen Teile <strong>des</strong><br />

Gesamtprodukts bewerkstelligen, er kann aber seine sachliche Zusammensetzung nicht ändern. Nach wie<br />

vor diesem Platzwechsel kann die Reproduktion <strong>des</strong> Gesamtkapitals nur dann stattfinden, wenn sich in<br />

dem aus der letzten Produktionsperiode hervorgegangenen Gesamtprodukt 1. genügende<br />

Produktionsmittel, 2. ausreichende Lebensmittel zur Erhaltung der früheren Anzahl Arbeitskräfte, 3., last<br />

not least, die erforderlichen Lebensmittel zur "stan<strong>des</strong>gemäßen" Erhaltung der Kapitalistenklasse nebst<br />

Zubehör vorfinden. Hier werden wir auf ein neues Gebiet geleitet: aus reinen Wertverhältnissen zu<br />

sachlichen Gesichtspunkten. Es kommt jetzt auf die Gebrauchsgestalt <strong>des</strong> gesellschaftlichen<br />

Gesamtprodukts an. Was dem <strong>Ein</strong>zelkapitalisten völlig Hekuba, wird für den Gesamtkapitalisten ernste<br />

Sorge. Während für den <strong>Ein</strong>zelkapitalisten gehupft wie gesprungen ist, ob die von ihm produzierte Ware<br />

Maschine, Zucker, künstlicher Dünger oder ein freisinniges Intelligenzblatt ist, vorausgesetzt nur, daß er<br />

sie an den Mann bringt, um sein Kapital nebst Mehrwert herauszuziehen, bedeutet es für den<br />

Gesamtkapitalisten unendlich viel, daß sein Gesamtprodukt eine ganz bestimmte Gebrauchsgestalt hat,<br />

und zwar, daß in diesem Gesamtprodukt dreierlei Dinge vorzufinden sind: Produktionsmittel zur<br />

Erneuerung <strong>des</strong> Arbeitsprozesses, einfache Lebensmittel zur Erhaltung der Arbeiterklasse und bessere<br />

Lebensmittel mit dem nötigen Luxus zur Erhaltung <strong>des</strong> Gesamtkapitalisten selbst. Ja, der Wunsch in<br />

dieser Hinsicht ist nicht allgemein und vag, sondern ganz exakt quantitativ bestimmt. Fragen wir, wie<br />

groß die Mengen der vom Gesamtkapitalisten benötigten Dinge aller drei Kategorien sind, so bekommen<br />

wir einen genauen Voranschlag - vorausgesetzt immer die einfache Reproduktion, die wir als<br />

Ausgangspunkt nehmen - in der Wertzusammensetzung <strong>des</strong> Gesamtprodukts <strong>des</strong> letzten Jahres. <strong>Die</strong><br />

Formel c + v + m, die wir bis jetzt so gut für das Gesamtkapital wie für das <strong>Ein</strong>zelkapital als eine bloße<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 4. Kapitel<br />

quantitative <strong>Ein</strong>teilung <strong>des</strong> Gesamtwertes, d.h. der im Jahresprodukt der Gesellschaft steckenden<br />

Arbeitsmenge aufgefaßt haben, erscheint jetzt zugleich als die gegebene Grundlage der sachlichen<br />

<strong>Ein</strong>teilung <strong>des</strong> Produkts. Es ist klar, daß, um die Reproduktion in demselben Umfang in Angriff zu<br />

nehmen, der Gesamtkapitalist in seinem neuen Gesamtprodukt so viel Produktionsmittel vorfinden muß,<br />

wie es der Größe c entspricht, so viel einfache Lebensmittel für die Arbeiter, wie es der Lohnsumme v<br />

entspricht, und so viel feinere Lebensmittel für sich nebst Anhang, wie es die Größe m erfordert. <strong>Die</strong><br />

Wertzusammensetzung <strong>des</strong> gesellschaftlichen Jahresprodukts übersetzt sich also in die sachliche Gestalt<br />

dieses Produkts in folgender Weise: Das gesamte c der Gesellschaft muß als ebenso viele<br />

Produktionsmittel, das v als Lebensmittel der Arbeiter und m als Lebensmittel der Kapitalisten<br />

wiedererscheinen - wenn anders die einfache Reproduktion ermöglicht werden soll.<br />

Hier kommen wir an einen handgreiflichen Unterschied zwischen dem <strong>Ein</strong>zelkapitalisten und dem<br />

Gesamtkapitalisten. Ersterer reproduziert je<strong>des</strong>mal sein konstantes und variables Kapital sowie seinen<br />

Mehrwert: 1. alle drei Teile in einem einheitlichen Produkt von derselben sachlichen Gestalt, 2. in einer<br />

ganz gleichgültigen Gestalt, die bei jedem <strong>Ein</strong>zelkapitalisten von anderer Beschaffenheit ist. Der<br />

Gesamtkapitalist reproduziert jeden Wertteil seines Jahresprodukts in einer anderen sachlichen Gestalt,<br />

und zwar das c als Produktionsmittel, das v als Lebensmittel der Arbeiter und das m als Lebensmittel der<br />

Kapitalisten. Für die Reproduktion <strong>des</strong> <strong>Ein</strong>zelkapitals waren nur Wertverhältnisse maßgebend, die<br />

sachlichen Bedingungen als selbstverständliche Erscheinung <strong>des</strong> Warenaustausches vorausgesetzt. Für die<br />

Reproduktion <strong>des</strong> Gesamtkapitals vereinigen sich Wertverhältnisse mit sachlichen Standpunkten. Es ist<br />

übrigens klar, daß das <strong>Ein</strong>zelkapital nur insofern reine Wertgesichtspunkte pflegen und sachliche<br />

Bedingungen als ein Gesetz <strong>des</strong> Himmels betrachten kann, als das Gesamtkapital umgekehrt den<br />

sachlichen Gesichtspunkten Rechnung trägt. Würde das gesamte c der Gesellschaft nicht in Gestalt<br />

derselben Menge Produktionsmittel jährlich reproduziert werden, so würde jeder <strong>Ein</strong>zelkapitalist mit<br />

seinem in Geld realisierten c umsonst den Warenmarkt abschreiten, er könnte die benötigten sachlichen<br />

Bedingungen für seine individuelle Reproduktion nicht finden. Vom Standpunkte der Reproduktion<br />

kommen wir also mit der allgemeinen Formel c + v + m für das Gesamtkapital nicht aus - übrigens wieder<br />

ein Beweis, daß der Begriff der Reproduktion etwas Reales und mehr ist als eine bloße Umschreibung <strong>des</strong><br />

Begriffes Produktion. Wir müssen vielmehr Unterscheidungen sachlichen Charakters machen und das<br />

Gesamtkapital statt als einheitliches Ganzes in seinen drei Hauptabteilungen darstellen oder der<br />

Vereinfachung halber, da dies theoretisch zunächst keinen Harm tut, in zwei Abteilungen betrach- <br />

ten: als Produktion von Produktionsmitteln und als Produktion von Lebensmitteln für Arbeiter und<br />

Kapitalisten. Jede Abteilung muß getrennt für sich betrachtet werden, wobei in jeder die<br />

Grundbedingungen der kapitalistischen Produktion eingehalten werden müssen. Zugleich müssen wir<br />

aber von den Gesichtspunkten der Reproduktion aus die gegenseitigen Zusammenhänge der beiden<br />

Abteilungen hervorheben. Denn nur im Zusammenhang betrachtet, ergeben sie eben die Grundlagen der<br />

Reproduktion <strong>des</strong> gesellschaftlichen Gesamtkapitals als Ganzes.<br />

So findet bei der Darstellung <strong>des</strong> Gesamtkapitals und seines Gesamtprodukts eine gewisse Verschiebung<br />

statt, wenn wir vom <strong>Ein</strong>zelkapital ausgehen. Quantitativ, als Wertgröße, setzt sich das c der Gesellschaft<br />

exakt aus der Summe der konstanten <strong>Ein</strong>zelkapitale zusammen, dasselbe bezieht sich auf die beiden<br />

anderen Figuren v und m. Aber ihre Erscheinungsform ist verschoben. Während das c der <strong>Ein</strong>zelkapitale<br />

aus dem Produktionsprozeß wiedererscheint als Wertpartikel einer unendlichen Buntheit von<br />

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Gebrauchsgegenständen, erscheint es im Gesamtprodukt sozusagen zusammengezogen in einer<br />

bestimmten Menge Produktionsmittel. Und ebenso sind v und m, die bei den <strong>Ein</strong>zelkapitalen als<br />

Segmente eines Warenbreis von buntester Erscheinung wieder auftauchen, im Gesamtprodukt<br />

zusammengezogen in entsprechende Mengen Lebensmittel für Arbeiter und Kapitalisten. <strong>Die</strong>s ist auch die<br />

Tatsache, auf die Smith annähernd stieß in seinen Betrachtungen über die Nichtkongruenz der Kategorien<br />

fixes Kapital, zirkulieren<strong>des</strong> Kapital und <strong>Ein</strong>kommen bei dem <strong>Ein</strong>zelkapitalisten und bei der Gesellschaft.<br />

Wir sind zu folgenden Ergebnissen gekommen:<br />

1. <strong>Die</strong> Produktion der Gesamtgesellschaft im ganzen betrachtet kann ebenso wie die <strong>des</strong><br />

<strong>Ein</strong>zelkapitalisten in der Formel c + v + m ausgedruckt werden.<br />

2. <strong>Die</strong> gesellschaftliche Produktion zerfällt in zwei Abteilungen: Produktion von Produktionsmitteln und<br />

Produktion von Lebensmitteln.<br />

3. Beide Abteilungen werden kapitalistisch betrieben, d.h. als Mehrwertproduktion, die Formel c + v + m<br />

findet also auch auf jede dieser Abteilungen im einzelnen Anwendung.<br />

4. <strong>Die</strong> beiden Abteilungen sind aufeinander angewiesen, müssen <strong>des</strong>halb gewisse Quantitätsverhältnisse<br />

aufweisen. Und zwar muß die eine alle Produktionsmittel beider Abteilungen, die andere alle<br />

Lebensmittel für die Arbeiter und Kapitalisten beider Abteilungen herstellen.<br />

Von diesen Gesichtspunkten ausgehend, konstruiert Marx die folgende Formel der kapitalistischen<br />

Reproduktion:<br />

I. 4.000 c + 1.000 v + 1.000 m = 6.000 Produktionsmittel.<br />

II. 2.000 c + 500 v + 500 m = 3.000 Konsumtionsmittel.(4)<br />

<strong>Die</strong> Zahlen dieser Formel drücken Wertgrößen, also Geldmengen, aus, die an sich willkürlich, ihre<br />

Verhältnisse aber exakt sind. <strong>Die</strong> beiden Abteilungen unterscheiden sich durch die Gebrauchsgestalt der<br />

hergestellten Waren voneinander. Ihre gegenseitige Zirkulation vollzieht sich folgendermaßen: <strong>Die</strong> erste<br />

Abteilung liefert für die ganze Produktion, also für sich wie für die zweite Abteilung, Produktionsmittel;<br />

daraus folgt schon, daß zum glatten Fortgang der Reproduktion (hier wird immer noch einfache<br />

Reproduktion - im alten Umfang - zugrunde gelegt) das Gesamtprodukt der ersten Abteilung (6.000 I) an<br />

Wert der Summe der konstanten Kapitale in den beiden Abteilungen (I 4.000 c + II 2.000 c) gleich sein<br />

muß. Ebenso liefert die zweite Abteilung Lebensmittel für die ganze Gesellschaft, also sowohl für die<br />

eigenen Arbeiter und Kapitalisten wie für diejenigen der ersten Abteilung. Daraus folgt, daß für den<br />

glatten Verlauf der Konsumtion und der Produktion und ihre Erneuerung im früheren Umfange nötig ist,<br />

daß die von der zweiten Abteilung gelieferte Gesamtmenge der Lebensmittel an Wert den<br />

<strong>Ein</strong>kommensbeträgen aller beschäftigten Arbeiter und Kapitalisten der Gesellschaft gleichkommt - hier<br />

3.000 II = (1.000 v + 1.000 m) I + (500 v + 500 m) II.<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 4. Kapitel<br />

Hier haben wir nur in der Tat in Wertverhältnissen ausgedrückt, was Grundlage nicht nur der<br />

kapitalistischen Reproduktion, sondern der Reproduktion jeder Gesellschaft ist. In jeder produzierenden<br />

Gesellschaft, welche ihre soziale Form auch sei - in der primitiven kleinen Dorfgemeinde der Bakaïri<br />

Brasiliens, in dem großen Oikos mit Sklaven eines Timon von Athen oder auf den kaiserlichen Fronhöfen<br />

Karls <strong>des</strong> Großen -, muß die verfügbare Arbeitsmenge der Gesellschaft so verteilt werden. daß sowohl<br />

Produktionsmittel in genügender Menge wie Lebensmittel hergestellt werden. Und zwar müssen die<br />

ersteren ausreichen ebenso zur direkten Herstellung von Lebensmitteln wie zur künftigen Erneuerung der<br />

Produktionsmittel selbst, die Lebensmittel aber zur Erhaltung der mit ihrer Herstellung wie mit der<br />

Herstellung der Produktionsmittel beschäftigten Arbeitenden und obendrein zur Erhaltung aller<br />

Nichtarbeitenden. Insofern ist das Marxsche Schema in seiner allgemeinen Proportion die allgemeine<br />

absolute Grundlage der gesellschaftlichen Reproduktion, nur daß hier die gesellschaftlich notwendige<br />

Arbeit als Wert erscheint, die Produktionsmittel als konstantes Kapital, die zur Erhaltung der Arbeiten-<br />

den notwendige Arbeit als variables Kapital und die zur Erhaltung der Nichtarbeitenden notwendige<br />

als Mehrwert.<br />

In der kapitalistischen Gesellschaft beruht aber die Zirkulation zwischen den zwei großen Abteilungen auf<br />

Warenaustausch, auf Austausch von Äquivalenten. <strong>Die</strong> Arbeiter und Kapitalisten der Abteilung I können<br />

nur soviel Lebensmittel von der Abteilung II erhalten, wie sie ihr an der eigenen Ware, an<br />

Produktionsmitteln, liefern können. Der Bedarf der Abteilung II an Produktionsmitteln wird aber<br />

bemessen durch die Größe ihres konstanten <strong>Kapitals</strong>. Daraus folgt also, daß die Summe <strong>des</strong> variablen<br />

<strong>Kapitals</strong> und <strong>des</strong> Mehrwerts in der Produktion der Produktionsmittel - hier (1.000 v + 1.000 m) I - dem<br />

konstanten Kapital in der Produktion der Lebensmittel - hier 2.000 c II - gleich sein muß.<br />

<strong>Ein</strong>e wichtige Bemerkung muß noch zu dem obigen Schema gemacht werden. Das angegebene konstante<br />

Kapital seiner beiden Abteilungen ist in Wirklichkeit nur ein Teil <strong>des</strong> von der Gesellschaft angewandten<br />

konstanten <strong>Kapitals</strong>. Letzteres zerfällt in fixes - Baulichkeiten, Werkzeuge, Arbeitstiere -, das in mehreren<br />

Produktionsperioden fungiert, in jeder aber nur mit einem Teil seines Wertes - im Verhältnis zum eigenen<br />

Verschleiß - in das Produkt eingeht, und in zirkulieren<strong>des</strong> - Rohstoffe, Hilfsstoffe, Heizungs- und<br />

Beleuchtungsstoffe -, das in jeder Produktionsperiode ganz mit dem Wert in das neue Produkt eingeht.<br />

Für die Reproduktion kommt aber nur der Teil der Produktionsmittel in Betracht, der wirklich in die<br />

Wertproduktion eingeht, der übrige, außerhalb <strong>des</strong> Produkts übriggebliebene und fortfungierende Teil <strong>des</strong><br />

fixen <strong>Kapitals</strong> muß zwar im Auge behalten, kann jedoch bei der exakten Darstellung der<br />

gesellschaftlichen Zirkulation außer Betracht gelassen werden, ohne die Richtigkeit der Darstellung zu<br />

beeinträchtigen. <strong>Die</strong>s kann leicht bewiesen werden.<br />

Denken wir uns das konstante Kapital 6.000 c der I. und der II. Abteilung, das in das Jahresprodukt dieser<br />

Abteilung tatsächlich eingeht als bestehend aus 1.500 c fixem und 4.500 c zirkulierendem, wobei die<br />

1.500 c fixes den Jahresverschleiß der Baulichkeiten, Maschinen, Arbeitstiere darstellen usw. <strong>Die</strong>ser<br />

Jahresverschleiß sei gleich 10 Prozent <strong>des</strong> Gesamtwerts <strong>des</strong> fixen <strong>Kapitals</strong>, das in Anwendung kommt.<br />

Dann hätten wir in Wirklichkeit in den beiden Abteilungen 15.000 c fixes 4.500 c zirkulieren<strong>des</strong> Kapital,<br />

zusammen also 19.500 c + 1.500 v an gesellschaftlichem Gesamtkapital. Das ganze fixe Kapital jedoch,<br />

<strong>des</strong>sen Lebensdauer (bei 10 Prozent Jahresverschleiß) auf 10 Jahre angenommen wird, muß erst nach 10<br />

Jahren erneuert werden. Inzwischen geht je<strong>des</strong> Jahr ein Zehntel seines Werts in die gesellschaftliche<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 4. Kapitel<br />

Produktion ein. Würde das gesamte fixe Kapital der Gesellschaft in gleichem Maße verschleißen und<br />

gleiche Lebensdauer haben, so müßte es - bei unserer Annahme - alle zehn Jahre auf einmal in seiner<br />

Totalität erneuert werden. <strong>Die</strong>s ist aber nicht der Fall. Von den verschiedenen Gebrauchsgestalten und<br />

Teilen <strong>des</strong> fixen <strong>Kapitals</strong> dauern die einen kürzer, die anderen länger, der Verschleiß und die Lebensdauer<br />

sind bei verschiedenen Gattungen und Individuen <strong>des</strong> fixen <strong>Kapitals</strong> ganz verschieden. Daraus ergibt sich,<br />

daß auch die Erneuerung die Reproduktion <strong>des</strong> fixen <strong>Kapitals</strong> in seiner konkreten Gebrauchsgestalt<br />

durchaus nicht auf einmal in ihrer Totalität vorgenommen zu werden braucht, sondern daß fortwährend an<br />

verschiedenen Punkten der gesellschaftlichen Produktion eine Erneuerung von Teilen <strong>des</strong> fixen <strong>Kapitals</strong><br />

stattfindet, während andere Teile noch in ihrer alten Gestalt fortfahren zu fungieren. Der 10prozentige<br />

Verschleiß <strong>des</strong> fixen <strong>Kapitals</strong>, den wir in unserem Beispiel angenommen haben, bedeutet also nicht, daß<br />

alle 10 Jahre eine einmalige Reproduktion <strong>des</strong> fixen <strong>Kapitals</strong> im Werte von 15.000 c stattfinden muß,<br />

sondern daß jährlich im Durchschnitt die Erneuerung und der Ersatz eines Teils <strong>des</strong> gesamten fixen<br />

<strong>Kapitals</strong> der Gesellschaft, der dem zehnten Wertteil dieses <strong>Kapitals</strong> entspricht, stattfinden muß, d.h., daß<br />

in der Abteilung I, die den Gesamtgebrauch der Gesellschaft an Produktionsmitteln zu decken hat,<br />

jährlich neben der Reproduktion der ganzen Roh- und Hilfsstoffe usw., <strong>des</strong> zirkulierenden <strong>Kapitals</strong> im<br />

Werte von 4.500, auch noch die Herstellung von Gebrauchsgestalten <strong>des</strong> fixen <strong>Kapitals</strong>, also<br />

Baulichkeiten, Maschinen usw. im Belaufe von 1.500, die dem tatsächlichen Verschleiß <strong>des</strong> fixen<br />

<strong>Kapitals</strong> entspricht, stattfinden muß; zusammen 6.000 c, die auch im Schema angenommen wurden. Fährt<br />

die Abteilung I fort, in dieser Weise jährlich ein Zehntel <strong>des</strong> fixen <strong>Kapitals</strong> in seiner Gebrauchsgestalt zu<br />

erneuern, so wird sich finden, daß alle zehn Jahre das ganze fixe Kapital der Gesellschaft an Kopf und<br />

Gliedern durch neue Exemplare ersetzt worden ist, daß also die Reproduktion auch derjenigen seiner<br />

Teile, die wir, dem Wert nach, außer Betracht gelassen haben, im obigen Schema vollkommen<br />

berücksichtigt ist.<br />

Praktisch äußert sich dieser Vorgang darin, daß jeder Kapitalist aus seiner jährlichen Produktion nach der<br />

Realisierung der Waren eine gewisse Geldsumme für Amortisation <strong>des</strong> fixen <strong>Kapitals</strong> auf die Seite legt.<br />

<strong>Die</strong>se einzelnen Jahresabschreibungen müssen erst einen Betrag von gewisser Höhe ausmachen, bevor der<br />

Kapitalist tatsächlich sein fixes Kapital erneuert resp. durch andere, leistungsfähigere Exemplare ersetzt.<br />

<strong>Die</strong>se abwechselnde Tätigkeit jährlicher Rücklagen von Geldbeträgen für die Er- neuerung <strong>des</strong><br />

fixen <strong>Kapitals</strong> und einer periodischen Verwendung der angesammelten Summe zur tatsächlichen<br />

Erneuerung <strong>des</strong> fixen <strong>Kapitals</strong> fällt aber bei verschiedenen individuellen Kapitalisten auseinander, so daß<br />

die einen noch Rücklagen machen, während andere bereits die Renovierung vornehmen. Auf diese Weise<br />

ergibt je<strong>des</strong> Jahr die Erneuerung eines Teils <strong>des</strong> fixen <strong>Kapitals</strong>. <strong>Die</strong> Geldvorgänge maskieren hier nur den<br />

wirklichen Vorgang, der den Reproduktionsprozeß <strong>des</strong> fixen <strong>Kapitals</strong> charakterisiert.<br />

Das ist bei näherem Zusehen auch ganz in der Ordnung. Das fixe Kapital nimmt zwar in seiner Totalität<br />

am Produktionsprozeß teil, aber nur als eine Masse von Gebrauchsgegenständen. Baulichkeiten,<br />

Maschinen, Arbeitsvieh werden in ihrer ganzen Körperlichkeit im Arbeitsprozeß in Anspruch genommen.<br />

In die Wertproduktion jedoch gehen sie - darin besteht gerade ihre Besonderheit als fixes Kapital - nur mit<br />

einem Teil ihres Wertes ein. Da im Prozeß der Reproduktion (unter Voraussetzung einfacher<br />

Reproduktion) es nur darauf ankommt, die während der Jahresproduktion an Lebensmitteln wie an<br />

Produktionsmitteln tatsächlich verzehrten Werte in ihrer Naturalgestalt wieder zu ersetzen, so kommt<br />

auch das fixe Kapital für die Reproduktion nur in dem Maße in Betracht, als es tatsächlich in die<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 4. Kapitel<br />

produzierten Waren eingegangen ist. Der übrige in der gesamten Gebrauchsgestalt <strong>des</strong> fixen <strong>Kapitals</strong><br />

verkörperte Wertteil ist von entscheidender Wichtigkeit für die Produktion als Arbeitsprozeß, existiert<br />

aber nicht für die jährliche Reproduktion der Gesellschaft als Wertbildungsprozeß.<br />

Übrigens trifft der Vorgang, der hier in Wertverhältnissen zum Ausdruck kommt, genauso für jede auch<br />

nicht warenproduzierende Gesellschaft zu. Wenn es z.B. zur Herstellung <strong>des</strong> berühmten Mörissees nebst<br />

dazugehörigen Nilkanälen im alten Ägypten, jenem Wundersee, von dem uns Herodot erzählt, daß er<br />

"von Händen gemacht" war, sagen wir, einst einer zehnjährigen Arbeit von 1.000 Fellachen bedurft hatte<br />

und wenn zur Instandhaltung dieser großartigsten Wasseranlage der Welt je<strong>des</strong> Jahr die volle Arbeitskraft<br />

von weiteren 100 Fellachen erforderlich war (die Zahlen sind, versteht sich, willkürlich), so kann man<br />

sagen, daß das Mörisstaubecken mit Kanälen nach hundert Jahren allemal neureproduziert wurde, ohne<br />

daß in Wirklichkeit je<strong>des</strong> Jahrhundert die Anlage in ihrer Gesamtheit auf einmal hergestellt worden wäre.<br />

<strong>Die</strong>s ist so wahr, daß, als mit den stürmischen Wechselfällen der politischen Geschichte und den fremden<br />

Eroberungen die übliche rohe Vernachlässigung der alten Kulturwerke eintrat, wie sie z.B. auch von den<br />

Engländern in Indien an den Tag gelegt wurde, als für die Reproduktionsbedürfnisse der altertümlichen<br />

Kultur das Verständnis geschwunden war, da verschwand mit der Zeit der ganze Mörissee, mit<br />

Wasser, Dämmen und Kanälen, mit den beiden Pyramiden in seiner Mitte, dem Koloß darauf und anderen<br />

Wunderdingen, so spurlos, wie wenn er nie errichtet worden wäre. Nur zehn Zeilen im Herodot, ein Fleck<br />

auf der Weltkarte <strong>des</strong> Ptolemäus sowie Spuren alter Kulturen und großer Dörfer und Städte zeugen, daß<br />

einst reiches Leben aus der grandiosen Wasseranlage quoll, wo sich heute öde Sandwüsten im inneren<br />

Libyen und öde Sümpfe entlang der Seeküste erstrecken.<br />

In einem Falle könnte uns nur das Marxsche Schema der einfachen Reproduktion vom Standpunkte <strong>des</strong><br />

fixen <strong>Kapitals</strong> ungenügend oder lückenhaft erscheinen. Wenn wir uns nämlich in die Produktionsperiode<br />

zurückversetzen, wo das gesamte fixe Kapital erst geschaffen wurde. In der Tat, die Gesellschaft besitzt<br />

an geleisteter Arbeit mehr als den Teil <strong>des</strong> fixen <strong>Kapitals</strong>, der jeweilig in den Wert <strong>des</strong> Jahresprodukts<br />

eingeht und von ihm wieder ersetzt wird. In den Zahlen unseres Beispiels: das gesellschaftliche<br />

Gesamtkapital beträgt nicht 6.000 c + 1.500 v wie im Schema, sondern 19.500 c + 1.500 v. Jährlich wird<br />

zwar von dem fixen Kapital, das nach unserer Annahme 15.000 c beträgt, 1.500 in Gestalt von<br />

entsprechenden Produktionsmitteln reproduziert. Aber so viel wird auch jährlich in derselben Produktion<br />

verzehrt. Nach zehn Jahren wird zwar das ganze fixe Kapital als Gebrauchsgestalt, als eine Summe von<br />

Gegenständen total erneuert. Aber nach zehn Jahren wie in jedem Jahre besitzt die Gesellschaft 15.000 c<br />

an fixem Kapital, während sie nur 1.500 c jährlich leistet, oder an konstantem Kapital besitzt sie im<br />

ganzen 19.500, während sie nur 6.000 c schafft. Offenbar muß sie diesen Überschuß an 13.500 fixem<br />

Kapital durch ihre Arbeit geschaffen haben; sie besitzt an aufgespeicherter vergangener Arbeit mehr, als<br />

es aus unserem Reproduktionsschema hervorgeht. Jeder gesellschaftliche jährliche Arbeitstag stützt sich<br />

schon hier, als auf gegebene Basis, auf einige vorgeleistete, aufgespeicherte jährliche Arbeitstage. Doch<br />

mit dieser Frage nach der vergangenen Arbeit, die die Grundlage aller jetzigen Arbeit ist, versetzen wir<br />

uns an den "Anfang aller Anfänge", der in der wirtschaftlichen Entwicklung der Menschen ebensowenig<br />

gilt wie in der natürlichen Entwicklung <strong>des</strong> Stoffes. Das Reproduktionsschema will und soll nicht den<br />

Anfangsmoment, den gesellschaftlichen Prozeß in statu nascendi darstellen, sondern es packt ihn mitten<br />

im Fluß, als ein Glied in "<strong>des</strong> Daseins unendlicher Kette". <strong>Die</strong> vergangene Arbeit ist stets die<br />

Voraussetzung <strong>des</strong> gesellschaftlichen Reproduktionsprozesses, mögen wir ihn so weit zurückverfolgen,<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 4. Kapitel<br />

wie wir wollen. Wie die gesellschaftliche Arbeit kein Ende, so hat sie auch keinen Anfang. <strong>Die</strong> Anfänge<br />

der Grundlagen <strong>des</strong> Reproduktionsprozesses verlieren sich in jener sagenhaften Dämmerung der<br />

Kulturgeschichte, in der sich auch die Entstehungsgeschichte <strong>des</strong> Mörissees <strong>des</strong> Herodot verliert. Mit dem<br />

technischen Fortschritt und der Kulturentwicklung ändert sieh die Gestalt der Produktionsmittel, plumpe<br />

Paläolithen werden durch geschliffene Werkzeuge ersetzt, Steinwerkzeuge durch elegante Bronze- und<br />

Eisengeräte, Handwerkzeug durch Dampfmaschine. Aber bei all dem Wechsel in der Gestalt der<br />

Produktionsmittel und den gesellschaftlichen Formen <strong>des</strong> Produktionsprozesses besitzt die Gesellschaft<br />

als Grundlage ihres Arbeitsprozesses stets eine gewisse Menge vergegenständlichter vergangener Arbeit,<br />

die ihr als Basis für die jährliche Reproduktion dient.<br />

Bei der kapitalistischen Produktionsweise erhält die in den Produktionsmitteln aufgespeicherte<br />

vergangene Arbeit der Gesellschaft die Gestalt von Kapital, und die Frage nach der Herkunft der<br />

vergangenen Arbeit. welche die Grundlage <strong>des</strong> Reproduktionsprozesses bildet, verwandelt sich in die<br />

Frage nach der Genesis <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>. <strong>Die</strong>se ist freilich viel weniger sagenhaft, vielmehr mit blutigen<br />

Lettern in die neuzeitliche Geschichte eingetragen als das Kapitel von der sogenannten ursprünglichen<br />

<strong>Akkumulation</strong>. <strong>Die</strong> Tatsache selbst aber, daß wir uns die einfache Reproduktion nicht anders als unter<br />

Voraussetzung vergangener aufgespeicherter Arbeit denken können, die an Umfang die jährlich zur<br />

Erhaltung der Gesellschaft geleistete Arbeit übertrifft, berührt die wunde Stelle der einfachen<br />

Reproduktion und beweist, daß sie nicht bloß für die kapitalistische Produktion, sondern für den<br />

Kulturfortschritt im allgemeinen bloß eine Fiktion ist. Um uns nur diese Fiktion selbst exakt - im Schema -<br />

vorzustellen, müssen wir als ihre Voraussetzung die Ergebnisse eines vergangenen Produktionsprozesses<br />

annehmen, der selbst unmöglich auf die einfache Reproduktion beschränkt, vielmehr bereits auf die<br />

erweiterte Reproduktion gerichtet war. Zur Erläuterung dieser Tatsache an einem Beispiel können wir das<br />

gesamte fixe Kapital der Gesellschaft mit einer Eisenbahn vergleichen. <strong>Die</strong> Dauerhaftigkeit und also auch<br />

der jährliche Verschleiß verschiedener Teile der Eisenbahn sind sehr verschieden. Solche Teile wie<br />

Viadukte, Tunnels können Jahrhunderte dauern, Lokomotiven Jahrzehnte, sonstiges rollen<strong>des</strong> Material<br />

wird sich in ganz kurzen Fristen. zum Teil in wenigen Monaten abnutzen. Es ergibt sich aber dabei ein<br />

gewisser durchschnittlicher Verschleiß, der, sagen wir, 30 Jahre ausmachen, also jährlich auf den<br />

Wertverlust von 1/30 <strong>des</strong> Ganzen hinauslaufen wird. <strong>Die</strong>ser Wertverlust wird nun fortlaufend wieder<br />

ersetzt durch teilweise Reproduktion der Eisenbahn (die als Reparaturen figu- rieren mag), indem<br />

heute ein Wagen, morgen ein Lokomotiventeil, übermorgen eine Strecke Gleise erneuert wird. Auf diese<br />

Weise wird nach Verlauf von 30 Jahren (bei unserer Annahme) die alte Eisenbahn durch eine neue<br />

ersetzt, wobei jahrein, jahraus dieselbe Arbeitsmenge von der Gesellschaft geleistet wird, also einfache<br />

Reproduktion stattfindet. Aber so kann eine Eisenbahn bloß reproduziert, so kann sie nicht produziert<br />

werden. Um sie in Gebrauch nehmen und ihren allmählichen Verschleiß durch den Gebrauch allmählich<br />

ersetzen zu können, muß die Eisenbahn erst einmal ganz fertiggestellt werden. Man kann die Eisenbahn<br />

stückweise reparieren, man kann sie aber nicht stückweise - heute eine Achse, morgen einen Wagen -<br />

gebrauchsfähig machen. Denn dies charakterisiert gerade das fixe Kapital, daß es sachlich, als<br />

Gebrauchswert, jederzeit in seiner Totalität in den Arbeitsprozeß eingeht. Um seine Gebrauchsgestalt also<br />

einmal erst fertigzustellen, muß die Gesellschaft auf einmal eine größere Arbeitsmenge auf seine<br />

Herstellung konzentrieren. Sie muß - um in den Zahlen unseres Beispiels zu sprechen - zur Herstellung<br />

der Eisenbahn ihre dreißigjährige, auf die Reparaturen verwendete Arbeitsmenge, sagen wir, auf zwei<br />

oder drei Jahre konzentrieren. In dieser Herstellungsperiode muß sie demnach eine über den Durchschnitt<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 4. Kapitel<br />

hinausgehende Arbeitsmenge leisten, also zur erweiterten Reproduktion greifen, worauf sie - nach<br />

Fertigstellung der Eisenbahn - zur einfachen Reproduktion zurückkehren mag. Freilich darf man sich<br />

dabei das jeweilige gesamte fixe Kapital der Gesellschaft nicht als einen zusammenhängenden<br />

Gebrauchsgegenstand oder Komplex von Gegenständen vorstellen, der immer auf einmal geschaffen<br />

werden müsse. Aber alle wichtigeren Arbeitsinstrumente, Gebäude, Verkehrsmittel, landwirtschaftlichen<br />

Konstruktionen bedürfen zu ihrer Herstellung einer größeren konzentrierten Arbeitsausgabe, was so gut<br />

auf die moderne Eisenbahn und das Luftschiff wie auf das ungeschliffene Stein und die Handmühle<br />

zutrifft. Daraus folgt, daß die einfache Reproduktion an sich nur in periodischer Abwechslung mit<br />

erweiterter Reproduktion gedacht werden kann, was nicht bloß durch den Kulturfortschritt und das<br />

Wachstum der Bevölkerung im allgemeinen, sondern durch die ökonomische Form <strong>des</strong> fixen <strong>Kapitals</strong><br />

oder der Produktionsmittel bedingt ist, die in jeder Gesellschaft dem fixen Kapital entsprechen.<br />

Marx befaßt sich mit diesem Widerspruch zwischen der Form <strong>des</strong> fixen <strong>Kapitals</strong> und der einfachen<br />

Reproduktion nicht direkt. Was er hervorhebt, ist nur die Notwendigkeit einer ständigen<br />

"Überproduktion", also erweiterten Reproduktion im Zusammenhang mit der unregelmäßigen<br />

Verschleißquote <strong>des</strong> fixen <strong>Kapitals</strong>, die in einem Jahre größer, in einem ande- ren geringer ist, was<br />

periodisch ein Defizit in der Reproduktion zur Folge haben müßte, falls einfache Reproduktion streng<br />

eingehalten wäre. Er faßt hier also die erweiterte Reproduktion unter dem Gesichtspunkt <strong>des</strong><br />

Assekuranzfonds der Gesellschaft für das fixe Kapital ins Auge, nicht vom Standpunkte seiner<br />

Herstellung selbst.(5)<br />

In einem ganz anderen Zusammenhang bestätigt Marx indirekt, wie es uns scheint, vollkommen die oben<br />

ausgesprochene Auffassung. Bei der Analyse der Verwandlung von Revenue in Kapital im Band II, Teil 2<br />

der "Theorien über den Mehrwert" bespricht er die eigentümliche Reproduktion <strong>des</strong> fixen <strong>Kapitals</strong>,<br />

<strong>des</strong>sen Ersatz an sich schon einen <strong>Akkumulation</strong>sfonds liefere, und zieht die folgenden Schlüsse:<br />

"Aber worauf wir hier kommen wollen, ist folgen<strong>des</strong>. Wäre das in dem Maschinenbau angewandte<br />

Gesamtkapital auch nur groß genug, um den jährlichen déchet der Maschinerie zu ersetzen, so würde es<br />

viel mehr Maschinerie produzieren als jährlich bedurft wird, da der déchet zum Teil nur idealiter existiert<br />

und realiter erst nach einer gewissen Reihe von Jahren in natura zu ersetzen ist. Das so angewandte<br />

Kapital liefert jährlich eine Masse Maschinerie, die für neue Kapitalanlagen vorhanden ist und diese<br />

neuen Kapitalanlagen antizipiert. Z.B. während dieses Jahrs beginnt der Maschinenbauer seine Fabrik. Er<br />

liefere für 12.000 l. Maschinerie während <strong>des</strong> Jahrs. So hätte er während der 11 folgenden Jahre bei<br />

bloßer Reproduktion der von ihm produzierten Maschinerie nur für 1.000 1. zu produzieren, und selbst<br />

diese jährliche Produktion würde nicht jährlich konsumiert. Noch weniger, wenn er sein ganzes Kapital<br />

anwendet. Damit dies in Gange bleibe und sich bloß fortwährend jährlich reproduziere, ist neue<br />

fortwährende Erweiterung der Fabrikation, die diese Maschinen braucht, nötig. (Noch mehr wenn er<br />

selbst akkumuliert.)<br />

Hier ist also, selbst wenn in dieser Produktionssphäre das in ihr investierte Kapital nur reproduziert wird,<br />

beständige <strong>Akkumulation</strong> in den übrigen Produktionssphären nötig."(6)<br />

Der Maschinenbauer <strong>des</strong> Marxschen Beispiels können wir uns als die Produktionssphäre <strong>des</strong> fixen<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 4. Kapitel<br />

<strong>Kapitals</strong> der Gesamtgesellschaft denken. Dann folgt daraus, daß bei Erhaltung der einfachen<br />

Reproduktion in dieser Sphäre, d.h. wenn die Gesellschaft jährlich dasselbe Quantum Ar- beit auf<br />

die Herstellung <strong>des</strong> fixen <strong>Kapitals</strong> verwendet (was ja praktisch ausgeschlossen), sie in den übrigen<br />

Produktionssphären je<strong>des</strong> Jahr eine Erweiterung der Produktion vornehmen muß. Hält sie aber hier nur<br />

die einfache Reproduktion ein, dann muß sie zur bloßen Erneuerung <strong>des</strong> einmal geschaffenen fixen<br />

<strong>Kapitals</strong> nur einen geringen Teil der zu seiner Schaffung angewandten Arbeit verausgaben. Oder - um die<br />

Sache umgekehrt zu formulieren - die Gesellschaft muß von Zeit zu Zeit, um sich große Anlagen fixen<br />

<strong>Kapitals</strong> zu schaffen, auch unter Voraussetzung der einfachen Reproduktion im ganzen periodisch<br />

erweiterte Reproduktion anwenden.<br />

Mit dem Kulturfortschritt wechselt nicht bloß die Gestalt, sondern auch der Wertumfang der<br />

Produktionsmittel - richtiger: die in ihnen aufgespeicherte gesellschaftliche Arbeit. <strong>Die</strong> Gesellschaft<br />

erübrigt außer der zu ihrer unmittelbaren Erhaltung notwendigen Arbeit immer mehr Arbeitszeit und<br />

Arbeitskräfte, die sie zur Herstellung von Produktionsmitteln in immer größerem Umfang verwendet. Wie<br />

kommt dies nun im Reproduktionsprozeß zum Ausdruck? Wie schafft die Gesellschaft - kapitalistisch<br />

gesprochen - aus ihrer jährlichen Arbeit mehr Kapital, als sie ehedem besaß? <strong>Die</strong>se Frage greift in die<br />

erweiterte Reproduktion hinüber, mit der wir uns hier noch nicht zu befassen haben.<br />

Fußnoten von <strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong><br />

(1) Wir sprechen hier wie im folgenden der <strong>Ein</strong>fachheit halber und im Sinne <strong>des</strong> gewohnten<br />

Sprachgebrauchs immer von jährlicher Produktion, was meist nur für die Landwirtschaft stimmt. <strong>Die</strong><br />

industrielle Produktionsperiode und der Kapitalumschlag brauchen sich mit dem Jahreswechsel gar nicht<br />

zu decken.


<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 4. Kapitel<br />

Marx/Friedrich Engels Werke, Bd. 24. S. 431.]


<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 5. Kapitel<br />

4. Kapitel | Inhalt | 6. Kapitel<br />

<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - Gesammelte Werke. Herausgegeben vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Band<br />

5. <strong>Berlin</strong>/DDR. 1975. "<strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>", S. 66-79.<br />

1. Korrektur.<br />

Erstellt am 20.10.1998<br />

Fünftes Kapitel<br />

<strong>Die</strong> Geldzirkulation<br />

Bis jetzt haben wir bei der Betrachtung <strong>des</strong> Reproduktionsprozesses von der Geldzirkulation ganz<br />

abgesehen. Nicht vom Geld als Wertdarstellung und Wettmesser; alle Verhältnisse der gesellschaftlichen<br />

Arbeit wurden vielmehr als in Geld ausgedrückt angenommen und gemessen. Nun ist es auch notwendig,<br />

das gegebene Schema der einfachen Reproduktion vom Standpunkte <strong>des</strong> Gel<strong>des</strong> als Austauschmittel zu<br />

prüfen.<br />

Wie schon der alte Quesnay annahm, muß zum Verständnis <strong>des</strong> gesellschaftlichen<br />

Reproduktionsprozesses im Besitz der Gesellschaft außer gewissen Produktions- und<br />

Konsumtionsmitteln noch eine gewisse Geldsumme vorausgesetzt werden.(1) Es fragt sich zweierlei: in<br />

wessen Händen und wie groß die Summe sein muß. Das erste, was außer Zweifel ist, ist die<br />

Tatsache, daß die Lohnarbeiter ihren Lohn in Geld erhalten, um sich Lebensmittel dafür zu kaufen.<br />

Gesellschaftlich läuft das im Reproduktionsprozeß darauf hinaus, daß die Arbeiter bloße Anweisung auf<br />

einen bestimmten Lebensmittelfonds bekommen, der ihnen zugewiesen wird wie in jeder Gesellschaft,<br />

gleichgültig welcher geschichtlichen Produktionsform. Der Umstand aber, daß die Arbeitenden hier ihre<br />

Lebensmittel nicht direkt, sondern durch Warenaustausch kriegen, ist ebenso wesentlich für die<br />

kapitalistische Produktionsform, wie daß sie ihre Arbeitskraft nicht direkt auf Grund eines persönlichen<br />

Herrschaftsverhältnisses, sondern durch Warenaustausch, nämlich Verkauf der Arbeitskraft, den<br />

Besitzern der Produktionsmittel zur Verfügung stellen. Der Verkauf der Arbeitskraft und der freie Kauf<br />

der Lebensmittel durch die Arbeiter sind das entscheidende Moment der Kapitalproduktion. Bei<strong>des</strong><br />

drückt sich aus und wird vermittelt durch die Geldform <strong>des</strong> variablen <strong>Kapitals</strong> v.<br />

Vor allem kommt also Geld in Zirkulation durch die Auszahlung der Löhne. <strong>Die</strong> Kapitalisten beider<br />

Abteilungen, alle Kapitalisten müssen also vor allem Geld in den Verkehr werfen, jeder im Betrage der<br />

von ihm gezahlten Löhne. Kapitalisten I müssen im Besitz von 1.000, Kapitalisten II von 500 in Geld<br />

sein, die sie ihren Arbeitern auszahlen. In unserem Schema kämmen auf diese Weise zwei Geldbeträge in<br />

Zirkulation: I 1.000 v und II 500 v. Beide werden durch die Arbeiter angelegt in Lebensmitteln, d.h. in<br />

Produkten der Abteilung II. Dadurch wird die Arbeitskraft erhalten, d.h. das variable Kapital der<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 5. Kapitel<br />

Gesellschaft in seiner Naturalform reproduziert - als die Grundlage der übrigen Kapitalreproduktion.<br />

Ferner werden zugleich auf diese Weise die Kapitalisten II von ihrem Gesamtprodukt 1.500 los, und zwar<br />

500 an die eigenen Arbeiter, 1.000 an die der anderen Abteilung. <strong>Die</strong> Kapitalisten II sind durch diesen<br />

Austausch in den Besitz von 1.500 Geld gekommen: 500 sind zu ihnen zurückgekehrt als eigenes<br />

variables Kapital, das von neuem wird als solches zirkulieren können, also vorläufig seine Bewegung<br />

abgeschlossen hat. 1.000 sind her neu erworben aus der Realisierung eines Drittels <strong>des</strong> eigenen Produkts.<br />

Mit diesen 1.000 in Geld kaufen die Kapitalisten II von den Kapitalisten I Produktionsmittel zur<br />

Erneuerung <strong>des</strong> verbrauchten eigenen konstanten <strong>Kapitals</strong>. Durch diesen Kauf hat die Abteilung II die<br />

Hälfte <strong>des</strong> benötigten konstanten <strong>Kapitals</strong> (II c) in Naturalform erneuert, dafür ist die eigene<br />

Geldsumme, die sie als Löhne an ihre Arbeiter ausgezahlt hatten und die jetzt nach zwei Austauschakten<br />

zu ihnen zurückkehrt, um später wieder als variables Kapital fungieren zu können, womit vorläufig die<br />

Bewegung dieser Geldsumme erschöpft ist. <strong>Die</strong> gesellschaftliche Zirkulation ist jedoch noch nicht zu<br />

Ende. Noch haben die Kapitalisten I ihr Mehrwertprodukt. das für sie in der ungenießbaren Gestalt von<br />

Produktionsmitteln steckt, nicht realisiert, um Lebensmittel für sich zu kaufen, und noch haben die<br />

Kapitalisten II die andere Hälfte ihres konstanten <strong>Kapitals</strong> nicht erneuert. <strong>Die</strong>se zwei Austauschakte<br />

decken sich in Wertgröße wie materiell, denn die Kapitalisten I kriegen die Lebensmittel von der<br />

Abteilung II zur Realisierung <strong>des</strong> eigenen Mehrwerts I 1.000 m, indem sie ihrerseits den Kapitalisten II<br />

dafür die diesen fehlenden Produktionsmittel II 1.000 liefern. In<strong>des</strong> zur Vermittlung dieses Austausches<br />

bedarf es einer neuen Geldsumme Wir könnten zwar die früher in Bewegung gesetzten Geldsummen<br />

noch einigemal in Zirkulation werfen lassen, wogegen theoretisch nichts einzuwenden wäre. Praktisch<br />

jedoch kommt dies nicht in Betracht, denn die Konsumtionsbedürfnisse der <strong>Kapitals</strong>ten müssen ebenso<br />

ununterbrochen befriedigt werden wie die der Arbeiter, beide laufen also parallel mit dem<br />

Produktionsprozeß und müssen durch besondere Geldsummen vermittelt werden. Es folgt daraus, daß die<br />

Kapitalisten beider Abteilungen, alle Kapitalisten, außer einem Geldbetrag für das variable Kapital auch<br />

noch Vorratsgeld zur Realisierung <strong>des</strong> eigenen Mehrwerts in Konsumgegenständen in der Hand haben<br />

müssen. Andererseits läuft parallel mit der Produktion - also vor der Realisierung <strong>des</strong> Gesamtprodukts -<br />

der fortlaufende Ankauf gewisser Teile <strong>des</strong> konstanten <strong>Kapitals</strong>, nämlich <strong>des</strong>sen zirkulierender Teil (Roh-<br />

und Hilfsstoffe, Beleuchtungsmittel usw.). Daraus ergibt sich, daß nicht bloß die Kapitalisten I zur<br />

Deckung ihrer eigenen Konsumtion, sondern auch die Kapitalisten II zur Deckung ihres Bedarfs an<br />

konstantem Kapital gewisse Geldbeträge in der Hand haben müssen. Der Austausch von I 1.000 m in<br />

Produktionsmitteln gegen II 1.000 c in Lebensmitteln wird also durch Geld vermittelt, das zum Teil von<br />

den Kapitalisten I für ihre Konsumbedürfnisse, zum Teil von den Kapitalisten II für ihren<br />

Produktionsbedarf vorgestreckt wird. (2) Von der zu diesem Austausch notwendigen Geldsumme 1.000<br />

mag jede Kapitalistenabteilung je 500 vorstrecken oder sich in anderer Proportion darin teilen;<br />

jedenfalls steht zweierlei fest: 1. ihre gemeinsame vorrätige Geldsumme muß ausreichen, den Austausch<br />

zwischen I 1.000 m und II 1.000 c zu vermitteln; 2. wie die Geldsumme auch verteilt war, nach dem<br />

vollzogenen gesellschaftlichen Gesamtaustausch befindet sich jede Kapitalistengruppe wieder im Besitz<br />

der gleichen Geldsumme, die sie in die Zirkulation geworfen hatte. Letzteres gilt ganz allgemein von der<br />

gesellschaftlichen Gesamtzirkulation: Nachdem die Zirkulation vollzogen, kehrt das Geld immer zu<br />

seinem Ausgangspunkt zurück, so daß nach allseitigem Ausrausch alle Kapitalisten zweierlei erreicht<br />

haben: erstens haben sie ihre Produkte, deren Naturalform ihnen gleichgültig war, gegen solche<br />

ausgetauscht, deren Naturalform sie, sei es als Produktionsmittel, sei es als eigene Konsummittel,<br />

brauchen, und zweitens ist das Geld, das sie selbst zur Vermittlung dieser Austauschakte in den Verkehr<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 5. Kapitel<br />

geworfen haben, wieder in ihrer Hand.<br />

Vom Standpunkte der einfachen Warenzirkulation ist dies ein unbegreifliches Phänomen. Hier wechseln<br />

vielmehr Ware und Geld beständig ihren Platz, der Besitz der Ware schließt den Besitz <strong>des</strong> Gel<strong>des</strong> aus,<br />

das Geld nimmt ständig den von der Ware geräumten Platz ein und umgekehrt. Das stimmt auch<br />

vollkommen für jeden individuellen Akt <strong>des</strong> Warenaustausches, unter <strong>des</strong>sen Form die gesellschaftliche<br />

Zirkulation vor sich geht. Sie selbst ist aber mehr als Warenaustausch, nämlich Kapitalzirkulation. Für<br />

diese ist aber gerade charakteristisch und wesentlich, daß sie das Kapital nicht bloß als Wertgröße mit<br />

Zuwachs, nämlich Mehrwert, in die Hände der Kapitalisten zurückführt, sondern daß sie auch die<br />

gesellschaftliche Reproduktion vermittelt, also die Naturalform <strong>des</strong> produktiven <strong>Kapitals</strong><br />

(Produktionsmittel und Arbeitskraft), und die Erhaltung der Nichtarbeitenden sichert. Da der ganze<br />

gesellschaftliche Prozeß der Zirkulation von den Kapitalisten ausgeht, die sowohl im Besitze der<br />

Produktionsmittel wie <strong>des</strong> zur Vermittlung der Zirkulation nötigen Gel<strong>des</strong> sind, so muß nach jedem<br />

Kreislauf <strong>des</strong> gesellschaftlichen <strong>Kapitals</strong> alles wieder in ihre Hände, und zwar bei jeder Gruppe und<br />

jedem <strong>Ein</strong>zelkapitalisten nach Maßgabe ihrer <strong>Ein</strong>lagen sich zurückfinden. In den Händen der Arbeiter<br />

befindet sich das Geld nur vorübergehend, um den Austausch <strong>des</strong> variablen <strong>Kapitals</strong> zwischen seiner<br />

Geldform und seiner Naturalform zu vermitteln, in den Händen der Kapitalisten ist es die<br />

Erscheinungsform eines Teils ihres <strong>Kapitals</strong>, muß also immer wieder zu ihnen zurückkehren.<br />

Bis jetzt haben wir die Zirkulation nur betrachtet, sofern sie zwischen den beiden großen Abteilungen der<br />

Produktion stattfindet. Außerdem sind aber noch übriggeblieben: vom Produkt der ersten Abteilung<br />

4.000 in Gestalt von Produktionsmitteln, die in der Abteilung I verbleiben, um ihr eigenes konstantes<br />

Kapital 4.000 c zu erneuern, ferner in der zweiten Abteilung 500 in Lebensmitteln, die gleichfalls in<br />

derselben Abteilung verbleiben, nämlich als Konsummittel der eigenen Kapitalistenklasse, im Betrage<br />

ihres Mehrwerts II 500 m. Da die Produktion in beiden Abteilungen kapitalistisch, d.h. ungeregelte<br />

Privatproduktion ist, so kann die Verteilung <strong>des</strong> eigenen Produkts jeder Abteilung unter ihre<br />

<strong>Ein</strong>zelkapitalisten - als Produktionsmittel der Abteilung I oder als Konsummittel der Abteilung II - nicht<br />

anders vor sich gehen als auf dem Wege <strong>des</strong> Warenaustausches, also einer großen Anzahl einzelner Kauf-<br />

und Verkaufsakte unter Kapitalisten derselben Abteilung. Zu diesem Austausch, also sowohl zur<br />

Erneuerung der Produktionsmittel in I 4.000 c wie zur Erneuerung der Konsummittel der<br />

Kapitalistenklasse in II 500 m, bedarf es gleichfalls gewisser Geldbeträge in den Händen der Kapitalisten<br />

beider Abteilungen. <strong>Die</strong>ser Teil der Zirkulation bietet an sich kein besonderes Interesse, denn er trägt den<br />

Charakter einfacher Warenzirkulation, da hier Käufer wie Verkäufer zu einer und derselben Kategorie<br />

von Agenten der Produktion gehören, und sie bewirkt bloß den Stellenwechsel von Geld und Ware<br />

innerhalb derselben Klasse und Abteilung. Gleichwohl muß das Geld, das zu dieser Zirkulation<br />

erforderlich ist, im voraus in den Händen der Kapitalistenklasse sein und ist ein Teil ihres <strong>Kapitals</strong>.<br />

Bis jetzt bot die Zirkulation <strong>des</strong> gesellschaftlichen Gesamtkapitals auch unter Berücksichtigung der<br />

Geldzirkulation an sich nichts Merkwürdiges. Daß zu dieser Zirkulation im Besitze der Gesellschaft eine<br />

gewisse Geldsumme notwendig ist, muß aus zwei Gründen von vornherein als selbstverständlich<br />

erscheinen: Erstens ist die allgemeine Form der kapitalistischen Produktionsweise die Warenproduktion,<br />

womit auch Geldzirkulation gegeben ist, zweitens beruht die Kapitalzirkulation auf beständiger<br />

Verwandlung der drei Formen <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>: Geldkapital, produktives Kapital, Warenkapital. Um diese<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 5. Kapitel<br />

Verwandlungen zu ermöglichen, muß auch Geld vorhanden sein, das die Rolle <strong>des</strong> Geldkapitals spielen<br />

kann. Und endlich, da dieses Geld eben als Kapital fungiert - in unserem Schema haben wir<br />

ausschließlich mit kapitalistischer Produktion zu tun -, so ist damit gegeben, daß dieses Geld sich wie<br />

Kapital in jeder Gestalt im Besitz der Kapitalistenklasse befinden muß, von ihr in Zirkulation geworfen<br />

wird, um zu ihr aus der Zirkulation zurückzukehren.<br />

Nur ein Detail kann auf den ersten Blick frappieren. Wenn das ganze Geld, das in der Gesellschaft<br />

zirkuliert, von den Kapitalisten hineinge- worfen wird, so folgt daraus, daß die Kapitalisten auch<br />

zur Realisierung ihres eigenen Mehrwerts das Geld selbst vorschießen müssen. <strong>Die</strong> Sache sieht so aus,<br />

als wenn sich die Kapitalisten als Klasse ihren eigenen Mehrwert mit eigenem Geld bezahlen müßten,<br />

und da das entsprechende Geld auch noch vor der jeweiligen Realisierung <strong>des</strong> Produkts jeder<br />

Produktionsperiode, bereits von früher her, im Besitze der Kapitalistenklasse sein muß, so kann es auf<br />

den ersten Blick scheinen, daß die Mehrwertaneignung nicht, wie tatsächlich, auf unbezahlter Arbeit der<br />

Lohnarbeiter beruht, sondern ein Resultat <strong>des</strong> bloßen Warenaustausches ist, zu dem die<br />

Kapitalistenklasse selbst das Geld im gleichen Betrage liefert. <strong>Ein</strong>e kurze Überlegung verscheucht den<br />

falschen Schein. Nach dem allgemeinen Ablauf der Zirkulation befindet sich die Kapitalistenklasse nach<br />

wie vor im Besitz ihres Geldbetrages, der zu ihr zurückkehrt oder in ihren Händen bleibt, während sie<br />

außerdem Lebensmittel in gleichem Betrage erworben und verzehrt hat - wir bleiben wohlgemerkt immer<br />

bei der Hauptvoraussetzung <strong>des</strong> Reproduktionsschemas einfache Reproduktion, d.h. Erneuerung der<br />

Produktion im alten Umfang und Verwendung <strong>des</strong> ganzen produzierten Mehrwerts zu persönlichen<br />

Konsumtionszwecken der Kapitalistenklasse.<br />

Der falsche Schein verschwindet übrigens ganz, wenn wir nicht bei einer Reproduktionsperiode<br />

stehenbleiben, sondern mehrere Perioden in ihrer Aufeinanderfolge und gegenseitigen Verschlingung<br />

betrachten. Das, was die Kapitalisten heute als Geld zur Realisierung ihres eigenen Mehrwertes in die<br />

Zirkulation werfen, ist nämlich nichts anderes als die Geldgestalt ihres Mehrwertes aus der vergangenen<br />

Produktionsperiode. Wenn der Kapitalist zum Ankauf seiner Lebensmittel Geld aus der eigenen Tasche<br />

vorschießen muß, während sein neuproduzierter Mehrwert in ungenießbarer Naturalform oder <strong>des</strong>sen<br />

genießbare Naturalform in fremden Händen sich befindet, so kam andererseits das Geld, das er jetzt sich<br />

selbst vorschießt, in seine Tasche als Resultat der Realisierung seines Mehrwertes aus der vorigen<br />

Periode. Und dieses Geld wird zu ihm wieder zurückkehren, wenn er seinen neuen in Warenform<br />

steckenden Mehrwert realisiert hat. Im Laufe mehrerer Perioden ergibt sich also, daß die<br />

Kapitalistenklasse regelmäßig aus der Zirkulation außer allen Naturalformen ihres <strong>Kapitals</strong> auch noch<br />

ihre eigenen Konsummittel herausfischt, wobei aber ihr ursprünglicher Geldbetrag ständig in ihrem<br />

Besitz unverändert bleibt.<br />

Für den <strong>Ein</strong>zelkapitalisten ergibt sich aus der Betrachtung der Geldzirkulation, daß er nie sein<br />

Geldkapital zum vollen Betrag in Produk- tionsmittel verwandeln kann, vielmehr stets einen<br />

gewissen Kapitalteil in Geldform zu Zwecken <strong>des</strong> variablen <strong>Kapitals</strong>, für Löhne, übriglassen und ferner<br />

Kapitalreserven für fortlaufenden Ankauf von Produktionsmitteln im Verlaufe der Produktionsperiode<br />

zurücklegen muß. Außer diesen Kapitalreserven muß er aber Geldvorrat für Zwecke der persönlichen<br />

Konsumtion besitzen.<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 5. Kapitel<br />

Für den Reproduktionsprozeß <strong>des</strong> gesellschaftlichen Gesamtkapitals ergibt sich daraus die Notwendigkeit<br />

der Produktion und Reproduktion <strong>des</strong> Geldmaterials. Da diese in unserer Annahme gleichfalls als<br />

kapitalistische gedacht werden muß - nach dem besprochenen Marxschen Schema kennen wir keine<br />

andere als kapitalistische Produktion -, so muß das Schema eigentlich als unvollständig erscheinen. Den<br />

beiden großen Abteilungen der gesellschaftlichen Produktion: der Produktion von Produktionsmitteln<br />

und der Produktion von Konsumtionsmitteln, müßte als dritte Abteilung beigeordnet werden die<br />

Produktion von Austauschmitteln, für die es gerade charakteristisch ist, daß sie weder zur Produktion<br />

noch zur Konsumtion dienen, sondern die gesellschaftliche Arbeit in unterschiedsloser<br />

gebrauchsunfähiger Wate darstellen. Zwar sind Geld und Geldproduktion wie auch der Austausch und<br />

die Warenproduktion viel älter als die kapitalistische Produktionsweise. Bei letzterer aber ist die<br />

Geldzirkulation erst zur allgemeinen Form der gesellschaftlichen Zirkulation und dadurch zum<br />

wesentlichen Element <strong>des</strong> gesellschaftlichen Reproduktionsprozesses geworden. <strong>Die</strong> Darstellung der<br />

Geldproduktion und -reproduktion in ihrer organischen Verschlingung mit den beiden anderen<br />

Abteilungen der gesellschaftlichen Produktion würde erst das erschöpfende Schema <strong>des</strong> kapitalistischen<br />

Gesamtprozesses in seinen wesentlichen Punkten liefern.<br />

Hier weichen wir allerdings von Marx ab. Marx reiht die Goldproduktion (der <strong>Ein</strong>fachheit halber wird die<br />

gesamte Geldproduktion auf die Herstellung <strong>des</strong> Gel<strong>des</strong> reduziert) der ersten Abteilung der<br />

gesellschaftlichen Produktion ein. "<strong>Die</strong> Produktion von Gold gehört, wie die Metallproduktion überhaupt,<br />

zur Klasse I, der Kategorie, die die Produktion von Produktionsmitteln umfaßt."(3) Das stimmt nur<br />

soweit, als es sich eben um Goldproduktion im Sinne der Metallproduktion, d.h. Metall zu gewerblichen<br />

Zwecken (Schmucksachen, Zahnplomben usw.) handelt. Als Geld ist Gold nicht Metall, sondern<br />

Verkörperung der abstrakten gesellschaftlichen Arbeit und als solche sowenig Produktionsmittel wie<br />

Konsumtionsmittel. Übrigens zeigt ein Blick auf das Reproduktionsschema selbst, zu welchen<br />

Unzuträglichkeiten die Verwechselung der Austauschmittel mit Produktionsmitteln fuhren müßte. Stellen<br />

wir neben die beiden Abteilungen der gesellschaftlichen Produktion die schematische Darstellung der<br />

jährlichen Goldproduktion (im Sinne <strong>des</strong> Geldmaterials), so bekommen wir die folgenden drei Reihen:<br />

I. 4.000 c + 1.000 v + 1.000 m = 6.000 Produktionsmittel.<br />

II: 2.000 c + 500 v + 500 m = 3.000 Konsummittel.<br />

III. 20 c + 5 v + 5 m = 30 Geldmittel.<br />

<strong>Die</strong> (von Marx als Beispiel gewählte) Wertgröße 30 entspricht offenbar nicht dem jährlich in der<br />

Gesellschaft umlaufenden Geldquantum, sondern lediglich dem jährlich reproduzierten Teil dieses<br />

Geldquantums, also dem jährlichen Verschleiß <strong>des</strong> Geldmaterials, der bei gleichbleibendem Umfang der<br />

gesellschaftlichen Reproduktion und gleichbleibender Dauer <strong>des</strong> Kapitalumschlags sowie<br />

gleichbleibender Raschheit der Warenzirkulation im Durchschnitt derselbe bleibt. Betrachten wir die<br />

dritte Reihe, wie Marx will, als integrierenden Teil der ersten, so ergibt sich die folgende Schwierigkeit.<br />

Das konstante Kapital der dritten Abteilung 20 c besteht aus wirklichen, konkreten Produktionsmitteln<br />

wie in den beiden anderen (Baulichkeiten, Werkzeuge, Hilfsstoffe, Gefäße usw.), das Produkt jedoch<br />

dieser Abteilung, 30 g, das Geld darstellt, kann in keinerlei Produktionsprozeß in seiner Naturalgestalt als<br />

konstantes Kapital fungieren. Zählen wir also dieses Produkt 30 g als integrierenden Teil <strong>des</strong> Produkts<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 5. Kapitel<br />

der ersten Abteilung 6.000 p, dann bekommen wir ein gesellschaftliches Defizit an Produktionsmitteln<br />

zum gleichen Wertbetrag, das die Reproduktion im gleichen Umfang entweder in der Abteilung I oder in<br />

der Abteilung II unmöglich machen wird. Nach der bisherigen Annahme - die die Grundlage <strong>des</strong> ganzen<br />

Marxschen Schemas bildet - ist das Produkt jeder der beiden Abteilungen in seiner sachlichen<br />

Gebrauchsgestalt der Ausgangspunkt der Reproduktion im ganzen, die Proportionen <strong>des</strong> Schemas<br />

basieren auf dieser Annahme, ohne die sie sich in Chaos auflösen. So beruhte der erste grundlegende<br />

Wertzusammenhang auf der Gleichung. I 6.000 p = I 4.000 c + II 2.000 c. Für das Produkt III 30 kann<br />

dies nicht stimmen, denn das Gold kann nicht (etwa in der Proportion I 20 e + II 10 c) von den beiden<br />

Abteilungen als Produktionsmittel verwendet werden. Der zweite vom ersten abgeleitete grundlegende<br />

Zusammenhang beruhte auf der Gleichung I 1.000 v + I 1.000 m = II 2.000 c. Für die Goldproduktion<br />

würde das bedeuten, daß sie soviel Konsummittel der zweiten Abteilung entzieht, wie sie ihr<br />

Produktionsmittel lie- fert. Das stimmt jedoch genausowenig. <strong>Die</strong> Goldproduktion entzieht zwar<br />

dem gesellschaftlichen Gesamtprodukt sowohl konkrete Produktionsmittel, die sie als konstantes Kapital<br />

verwendet, wie auch konkrete Konsummittel für ihre Arbeiter und Kapitalisten zum Betrage ihres<br />

variablen <strong>Kapitals</strong> und Mehrwerts. Allein ihr eigenes Produkt kann sowenig in irgendeiner Produktion als<br />

Produktionsmittel fungieren, wie es als Lebensmittel in die menschliche Konsumtion eingehen kann. <strong>Die</strong><br />

<strong>Ein</strong>reihung der Geldproduktion in die Abteilung I würde also alle sachlichen und Wertproportionen <strong>des</strong><br />

Marxschen Schemas verletzen und ihm seine Geltung nehmen.<br />

Der Versuch Marxens, die Goldproduktion als Teil der Abteilung I (Produktionsmittel) unterzubringen,<br />

führt ihn auch zu bedenklichen Resultaten. Der erste Zirkulationsakt zwischen dieser neuen<br />

Unterabteilung, die Marx I g nennt, und der Abteilung II (Konsummittel) besteht, wie üblich, darin, daß<br />

die Arbeiter der Abteilung I g mit dem von den Kapitalisten an Löhnen erhaltenen Geldbetrag (5 v)<br />

Konsummittel von der Abteilung II kaufen. Das hierbei gebrauchte Geld ist noch nicht Produkt der neuen<br />

Produktion, sondern Geldvorrat der Kapitalisten I g aus dem im Lande vordem befindlichen<br />

Geldquantum, was ja ganz in der Ordnung ist. Nun läßt aber Marx die Kapitalisten II mit dem erhaltenen<br />

5 an Geld erstens von I g für 2 Gold "als Warenmaterial" kaufen, springt also aus der Geldproduktion in<br />

die gewerbliche Goldproduktion über, die so wenig mit dem Problem der Geldproduktion zu tun hat wie<br />

die Produktion von Stiefelwichse. Da aber von den eingenommenen I g 5 v immer noch 3 übrigbleiben,<br />

mit denen die Kapitalisten II nichts anzufangen wissen, da sie sie nicht als konstantes Kapital gebrauchen<br />

können, so läßt sie Marx diesen Geldbetrag - aufschatzen! Um aber dadurch kein Defizit im konstanten<br />

Kapital von II entstehen zu lassen, daß ja ganz gegen Produktionsmittel (I v + m) auszutauschen ist.<br />

findet Marx folgenden Ausweg: "So muß dies Geld ganz aus II c übertragen werden in II m, ob dies nun<br />

in notwendigen Lebensmitteln oder in Luxusmitteln existiere, und dagegen entsprechender Warenwert<br />

übertragen werden aus II m in II c. Resultat: <strong>Ein</strong> Teil <strong>des</strong> Mehrwerts wird als Geldschatz<br />

aufgespeichert."(4) Das Resultat ist seltsam genug. Indem wir die Reproduktion bloß <strong>des</strong> jährlichen<br />

Verschleißes <strong>des</strong> Geldmaterials berücksichtigt haben, ergab sich plötzlich Aufschatzung <strong>des</strong> Gel<strong>des</strong>, also<br />

ein Überschuß an Geldmaterial. <strong>Die</strong>ser Überschuß entsteht - man weiß nicht weshalb - auf Kosten der<br />

Kapitalisten der Lebensmittelabteilung, die sich kasteien sollen, nicht etwa, um ihre eigene<br />

Mehrwertproduktion zu erweitern, sondern damit Lebensmittel genug da sind für die Arbeiter der<br />

Goldproduktion.<br />

Für diese christliche Tugend werden aber die Kapitalisten der Abteilung II schlecht genug belohnt. Nicht<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 5. Kapitel<br />

bloß können sie trotz "Abstinenz" keine Erweiterung ihrer Produktion vornehmen, sondern sie sind nicht<br />

einmal in der Lage, ihre Produktion im früheren Umfang in Angriff zu nehmen. Denn mag der<br />

entsprechende "Warenwert" auch aus II m in II c übertragen werden, es kommt nicht bloß auf Wert,<br />

sondern auf sachliche, konkrete Gestalt dieses Wertes an, und da jetzt ein Teil <strong>des</strong> Produkts von I in Geld<br />

besteht, das nicht als Produktionsmittel gebraucht werden kann, so kann II trotz Abstinenz sein<br />

konstantes Kapital sachlich nicht in vollem Umfange erneuern. Und so wäre die Voraussetzung <strong>des</strong><br />

Schemas - einfache Reproduktion - nach zwei Richtungen verletzt: Aufschatzung <strong>des</strong> Mehrwerts und<br />

Defizit <strong>des</strong> konstanten <strong>Kapitals</strong>. <strong>Die</strong>se von Marx erzielten Resultate beweisen selbst, daß die<br />

Goldproduktion unmöglich in einer der beiden Abteilungen seines Schemas untergebracht werden kann,<br />

ohne das Schema selbst umzuschmeißen. <strong>Die</strong>s schon auf Grund <strong>des</strong> ersten Austausches zwischen den<br />

Abteilungen I und II. <strong>Die</strong> Untersuchung über den Austausch von neuproduziertem Gold innerhalb <strong>des</strong><br />

konstanten <strong>Kapitals</strong> der Abteilung I, die sich Marx vorgenommen hatte, fand sich im Manuskript nicht,<br />

wie Fr. Engels (Kap. II, S. 449, Fußnote 55 [Karl Marx: Das Kapital. Zweiter Band. In: Karl<br />

Marx/Friedrich Engels: Werke, Bd. 24, S. 469.]) hervorhebt. Sie hätte die Unzuträglichkeiten noch<br />

gesteigert. Übrigens bestätigt Marx selbst unsere Auffassung und erschöpft die Frage mit zwei Worten,<br />

wenn er so knapp wie treffend sagt: "Geld an sich selbst ist kein Element der wirklichen<br />

Reproduktion."(5)<br />

<strong>Ein</strong>e Darstellung der Geldproduktion als gesonderte dritte Abteilung der gesellschaftlichen<br />

Gesamtproduktion hat noch einen gewichtigen Grund. Das Marxsche Schema der einfachen<br />

Reproduktion hat Geltung als Grundlage und Ausgangspunkt <strong>des</strong> Reproduktionsprozesses nicht bloß für<br />

kapitalistische, sondern - mutatis mutandis - auch für jede geregelte planmäßige Wirtschaftsordnung, z.B.<br />

für die sozialistische. <strong>Die</strong> Geldproduktion hingegen fällt mit der Warenform der Produkte, d.h. mit dem<br />

Privateigentum an Produktionsmitteln, weg. Sie bildet die "falschen Kosten" der anarchischen<br />

Wirtschaftsweise <strong>des</strong> Kapitalismus, eine spezifische Last der privatwirtschaftlichen Gesellschaft, die in<br />

der jährlichen Ausgabe einer beträchtlichen Arbeitsmenge zur Herstellung von Produkten zum<br />

Ausdruck kommt, Produkte, die weder als Produktionsmittel noch als Konsummittel dienen. <strong>Die</strong>se<br />

spezifische Arbeitsausgabe der kapitalistisch produzierenden Gesellschaft, die in einer gesellschaftlich<br />

geregelten Wirtschaft in Wegfall kommt, findet am exaktesten Ausdruck als gesonderte Abteilung im<br />

allgemeinen Reproduktionsprozeß <strong>des</strong> Gesamtkapitals. Es ist dabei ganz gleichgültig, ob wir uns ein<br />

Land vorstellen, das selbst Gold produziert, oder ein solches, das es aus dem Auslande bezieht. Im<br />

letzteren Falle vermittelt nur der Austausch dieselbe Ausgabe an gesellschaftlicher Arbeit, die direkt zur<br />

Produktion <strong>des</strong> Gol<strong>des</strong> notwendig war.<br />

Man ersieht aus dem bisherigen, daß das Problem der Reproduktion <strong>des</strong> Gesamtkapitals nicht so roh ist,<br />

wie es oft vom reinen Krisenstandpunkt aufgefaßt wird, wobei die Frage etwa so gestellt wird: Wie ist es<br />

möglich, daß bei der planlosen Wirtschaft zahlloser <strong>Ein</strong>zelkapitale die Gesamtbedürfnisse der<br />

Gesellschaft durch ihre Gesamtproduktion gedeckt werden? Worauf dann der Hinweis auf die ständigen<br />

Oszillationen der Produktion um die Nachfrage, d.h. auf den periodischen Konjunkturwechsel etwa, die<br />

Antwort geben soll. Bei dieser Auffassung, die das gesellschaftliche Gesamtprodukt als einen<br />

unterschiedslosen Warenbrei und das gesellschaftliche Bedürfnis in entsprechend abstruser Weise<br />

behandelt, wird das Wichtigste: die Differentia specifica der kapitalistischen Produktionsweise<br />

übersehen. Das kapitalistische Reproduktionsproblem birgt in sich, wie wir sahen, eine ganze Anzahl<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 5. Kapitel<br />

exakter Verhältnisse, die sich sowohl auf die spezifisch kapitalistischen Kategorien wie - mutatis<br />

mutands - auf die allgemeinen Kategorien der menschlichen Arbeit beziehen und deren Vereinigung<br />

sowohl in ihrem Widerspruch wie in ihrer Übereinstimmung das eigentliche Problem darstellt. Das<br />

Marxsche Schema ist die wissenschaftliche Lösung <strong>des</strong> Problems.<br />

Wir haben uns zu fragen, welche Bedeutung das analysierte Schema <strong>des</strong> Reproduktionsprozesses für die<br />

Wirklichkeit hat. Nach diesem Schema geht das gesellschaftliche Gesamtprodukt hübsch restlos in der<br />

Zirkulation auf, Konsumbedürfnisse sind sämtlich befriedigt, die Reproduktion geht glatt vonstatten, die<br />

Geldzirkulation folgt der Warenzirkulation, der Kreislauf <strong>des</strong> gesellschaftlichen <strong>Kapitals</strong> schließt sich<br />

genau. Wie sieht die Sache im Leben aus? Für eine planmäßig geleitete Produktion gibt das Schema in<br />

seinen Verhältnissen eine genaue Grundlage der <strong>Ein</strong>teilung der gesellschaftlichen Arbeit - immer<br />

vorausgesetzt einfache Reproduktion, d.h. gleichbleibenden Produktionsumfang. In der kapita- <br />

listischen Wirtschaft fehlt jede planmäßige Organisation <strong>des</strong> Gesamtprozesses. Deshalb geht in ihr auch<br />

nichts so glatt nach der mathematischen Formel, wie es im Schema aussieht. Der Kreislauf der<br />

Reproduktion verläuft vielmehr unter ständigen Abweichungen von den Verhältnissen <strong>des</strong> Schemas, was<br />

sich äußert<br />

im täglichen Oszillieren der Preise,<br />

im beständigen Schwanken der Profite,<br />

im unaufhörlichen Fluktuieren der Kapitale aus einem Produktionszweig in die anderen,<br />

im periodischen zyklischen Pendeln der Reproduktion zwischen Überspannung und Krise.<br />

Bei all diesen Abweichungen jedoch stellt das Schema jenen gesellschaftlich notwendigen Durchschnitt<br />

dar, um den sich jene Bewegungen vollziehen und dem sie immer wieder zustreben, nachdem sie sich<br />

von ihm entfernt haben. <strong>Die</strong>ser Durchschnitt macht es, daß die schwankenden Bewegungen der<br />

<strong>Ein</strong>zelkapitale nicht in ein Chaos ausarten, sondern auf eine bestimmte Gesetzmäßigkeit zurückgeführt<br />

werden, welche die Fortexistenz der Gesellschaft trotz ihrer Planlosigkeit sichert.<br />

Vergleicht man das Marxsche Reproduktionsschema mit dem "Tableau éconimique" Quesnays, so<br />

springt die Ähnlichkeit sowohl wie der große Abstand sofort in die Äugen. <strong>Die</strong> beiden Schemata, die die<br />

Entwicklungsstrecke der klassischen Nationalökonomie flankieren, sind die beiden einzigen Versuche<br />

der exakten Darstellung <strong>des</strong> scheinbaren Chaos, das die Gesamtbewegung der kapitalistischen Produktion<br />

und Konsumtion in ihre gegenseitigen Verschlingung und ihrem Auseinanderfallen zahlloser<br />

Privatproduzenten und Konsumenten darstellt. Beide reduzieren das wirre Durcheinander in der<br />

Bewegung der <strong>Ein</strong>zelkapitale auf einige einfache Zusammenhänge, in denen die Möglichkeit der<br />

Existenz und der Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaft trotz ihres ungeregelten anarchischen<br />

Getriebes verankert ist. Beide vereinigen nämlich den doppelten Gesichtspunkt, welcher der<br />

Gesamtbewegung <strong>des</strong> gesellschaftlichen <strong>Kapitals</strong> zugrunde liegt: daß sie zugleich als Kapitalbewegung<br />

eine Produktion und Aneignung von Mehrwert und als gesellschaftliche Bewegung Produktion und<br />

Konsumtion von sachlichen Notwendigkeiten der menschlichen Kulturexistenz ist. In beiden vermittelt<br />

die Zirkulation der Produkte als Warenzirkulation den Gesamtprozeß, und in beiden folgt die Bewegung<br />

<strong>des</strong> Gel<strong>des</strong> nur als äußerer Ausdruck an der Oberfläche der Bewegung der Warenzirkulation.<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 5. Kapitel<br />

In der Ausführung dieser großen Grundlinien liegt aber ein tiefer Ab- stand. Das Quesnaysche<br />

"Tableau" macht zwar die Mehrwertproduktion zu einem Angelpunkt der Gesamtreproduktion, faßt aber<br />

den Mehrwert noch unter der naiven feudalen Form der Grundrente auf, versieht also eine Teilform für<br />

das Ganze.<br />

Es macht ebenso die sachliche Unterscheidung in der Masse <strong>des</strong> Gesamtprodukts zum anderen<br />

Angelpunkt der gesellschaftlichen Reproduktion, faßt sie aber unter dem naiven Gegensatz zwischen<br />

landwirtschaftlichen und manufakturmäßigen Produkten auf, versieht also äußere Unterschiede in den<br />

Stoffen, mit denen der arbeitende Mensch zu tun hat, für grundlegende Kategorien <strong>des</strong> menschlichen<br />

Arbeitsprozesses überhaupt.<br />

Bei Marx ist die Mehrwertproduktion in ihrer reinen und allgemeinen, also absoluten Form der<br />

Kapitalproduktion aufgefaßt. Zugleich sind die ewigen sachlichen Bedingungen der Produktion in der<br />

grundlegenden Unterscheidung von Produktionsmitteln und Konsumtionsmitteln berücksichtigt und das<br />

Verhältnis beider auf ein exaktes Wertverhältnis zurückgeführt.<br />

Fragt man, warum die von Quesnay so glücklich angeschnittene Lösung <strong>des</strong> Problems bei der späteren<br />

bürgerlichen Nationalökonomie scheiterte und was zu dem gewaltigen Sprung, den die Analyse mit dem<br />

Marxschen Schema macht, erforderlich war, so ergeben sich hauptsächlich zwei Vorbedingungen. Vor<br />

allem fußt das Marxsche Reproduktionsschema auf der klaren und scharfen Unterscheidung der beiden<br />

Seiten der Arbeit in der Warenproduktion: der konkreten nützlichen Arbeit, die bestimmte<br />

Gebrauchswerte schafft, und der abstrakten allgemeinmenschlichen Arbeit, die als gesellschaftlich<br />

notwendige Werte schafft. <strong>Die</strong>ser geniale Grundgedanke der Marxschen Werttheorie, der ihm u.a. die<br />

Lösung <strong>des</strong> Geldproblems ermöglicht hat, führte ihn auch zu der Auseinanderhaltung und zur<br />

Vereinigung der beiden Gesichtspunkte im Gesamtreproduktionsprozeß: der Wertstandpunkte und der<br />

sachlichen Zusammenhänge. Zweitens liegt dem Schema die scharfe Unterscheidung von konstantem<br />

und variablem Kapital zugrunde, bei der erst die Mehrwertproduktion in ihrem inneren Mechanismus<br />

aufgedeckt und als Wertverhältnis mit den beiden sachlichen Kategorien der Produktion:<br />

Produktionsmittel und Konsumtionsmittel, in ein exaktes Verhältnis gebracht werden konnte.<br />

An alle diese Standpunkte stieß die klassische Ökonomie nach Quesnay, namentlich bei Smith und<br />

Ricardo, annähernd. Bei Ricardo erhielt die Werttheorie jene strenge Fassung, die es macht, daß man sie<br />

häufig sogar mit der Marxsehen verwechselt. Vom Standpunkte seiner Werttheorie hat Ricardo auch die<br />

Smithsche Auflösung <strong>des</strong> Preises aller Waren in v + m, die soviel Unheil in der Analyse der<br />

Reproduktion angerichtet hat, als falsch eingesehen; doch kümmerte er sich um diesen Smithschen<br />

Schnitzer nicht weiter, wie er sich für das Problem der Gesamtreproduktion im ganzen nicht erwärmte.<br />

Überhaupt brachte die Ricardosche Analyse in gewisser Hinsicht einen Rückschritt hinter Smith, wie<br />

dieser zum Teil einen Rückschritt hinter die Physiokraten machte. Wenn Ricardo die Grundkategorien<br />

der bürgerlichen Ökonomie: Wert, Lohn, Mehrwert, Kapital, viel schärfer und einheitlicher<br />

herausgearbeitet hat als alle seine Vorgänger, so hat er sie dafür starrer behandelt. Ad. Smith hatte viel<br />

mehr Sinn für die lebendigen Zusammenhänge, für die große Bewegung <strong>des</strong> Ganzen. Kam es ihm auch<br />

gelegentlich nicht darauf an, für ein und dasselbe Problem zwei oder, wie bei dem Wertproblem, gar drei<br />

bis vier verschiedene Lösungen zu geben und sich in verschiedenen Teilen der Analyse selbst munter zu<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 5. Kapitel<br />

widersprechen, so führten doch gerade seine Widersprüche darauf, das Ganze immer wieder von anderer<br />

Seite anzupacken und in der Bewegung zu fassen. <strong>Die</strong> Schranke, an der beide - Smith wie Ricardo -<br />

scheitern mußten, war ihr bürgerlich begrenzter Horizont. Um die Grundkategorien der kapitalistischen<br />

Produktion: Wert und Mehrwert, in ihrer lebendigen Bewegung, als gesellschaftlichen<br />

Reproduktionsprozeß zu erfassen, mußte man diese Bewegung historisch, die Kategorien selbst als<br />

geschichtlich bedingte Formen allgemeiner Arbeitsverhältnisse auffassen. Damit ist gegeben, daß das<br />

Problem der Reproduktion <strong>des</strong> Gesamtkapitals nur von einem Sozialisten gelöst werden konnte.<br />

Zwischen dem "Tableau économique" und dem Reproduktionsschema im zweiten Band <strong>des</strong> "<strong>Kapitals</strong>"<br />

liegt nicht bloß zeitlich, sondern auch inhaltlich das Glück und Ende der bürgerlichen Ökonomie.<br />

Fußnoten von <strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong><br />

(1) In seiner siebenten Bemerkung zum "Tableau" sagt Quesnay, nachdem er gegen die merkantilistische<br />

Theorie vom Geld, das mit Reichtum identisch sei, polemisiert hat: "La masse d'argent ne peut accroître<br />

dans une nation qu'autant que cette reproduction elle-même s'y accroît; autrement, l'accroissement de la<br />

masse d'argent ne pourrait se faire qu'au préjudice de la reproduction annuelle <strong>des</strong> richesses ... Ce n'est<br />

pas par le plus ou le moins d'argent qu'on doit juger de l'opulence <strong>des</strong> États; aussi estime-t-on qu'un<br />

pécule, égal au revenu de propriétaires <strong>des</strong> terres, est beaucoup plus que suffisant pour une nation<br />

agricole où la circulation se fait régulièrement et où le commerce s'exerce avec confiance et en pleine<br />

liberté." (Analyse du Tableau économique, Ausgabe Oncken, S. 324/325.)


<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 6. Kapitel<br />

5. Kapitel | Inhalt | 7. Kapitel<br />

<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - Gesammelte Werke. Herausgegeben vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Band<br />

5. <strong>Berlin</strong>/DDR. 1975. "<strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>", S. 79-91.<br />

1. Korrektur.<br />

Erstellt am 20.10.1998<br />

Sechstes Kapitel<br />

<strong>Die</strong> erweiterte Reproduktion<br />

Das Mangelhafte <strong>des</strong> Schemas der einfachen Reproduktion liegt auf der Hand: Es legt die Gesetze<br />

einer Reproduktionsform dar, die unter kapitalistischen Produktionsverhältnissen nur als gelegentliche<br />

Ausnahme stattfinden kann. <strong>Die</strong> Regel der kapitalistischen Wirtschaftsweise noch mehr als jeder anderen<br />

ist nicht einfache, sondern erweiterte Reproduktion.(1) Trotzdem hat das Schema seine volle<br />

wissenschaftliche Bedeutung. <strong>Die</strong>s in zwiefacher Hinsicht. Praktisch fällt auch bei erweiterter<br />

Reproduktion stets der allergrößte Teil <strong>des</strong> Gesamtprodukts unter die Gesichtspunkte der einfachen<br />

Reproduktion. Letztere bildet die breite Basis, auf der jeweilig die Ausdehnung der Produktion über die<br />

bisherigen Schranken hinaus stattfindet. Theoretisch bildet ebenso die Analyse der einfachen<br />

Reproduktion den unumgänglichen Ausgangspunkt jeder exakten wissenschaftlichen Darstellung der<br />

erweiterten Reproduktion. Das Schema der einfachen Reproduktion <strong>des</strong> gesellschaftlichen<br />

Gesamtkapitals führt somit von selbst über sich hinaus: zum Problem der erweiterten Reproduktion <strong>des</strong><br />

Gesamtkapitals.<br />

Wir kennen schon die historische Eigentümlichkeit der erweiterten Reproduktion auf kapitalistischer<br />

Basis: Sie muß sich darstellen als Kapitalakkumulation, dies ihre spezifische Form und Bedingung<br />

zugleich. Das heißt, die gesellschaftliche Gesamtproduktion - die auf kapitalistischer Basis eine<br />

Produktion von Mehrwert ist - kann nur in dem Sinne und in dem Maße jeweilig erweitert werden, wie<br />

das bisherige tätige Kapital der Gesellschaft einen Zuwachs aus dem von ihm produzierten Mehrwert<br />

erhält. <strong>Die</strong> Verwendung eines Teils <strong>des</strong> Mehrwerts - und zwar eines wachsenden Teils - zu produktiven<br />

Zwecken statt zur persönlichen Konsumtion der Kapitalistenklasse oder zur Aufschatzung - dies ist die<br />

Basis der erweiterten Reproduktion unter kapitalistischen Produktionsverhältnissen.<br />

Element der erweiterten Reproduktion <strong>des</strong> gesellschaftlichen Gesamtkapitals ist - genau wie bei der<br />

früher vorausgesetzten einfachen - die Reproduktion <strong>des</strong> <strong>Ein</strong>zelkapitals. Geht doch die<br />

Gesamtproduktion - ob sie als einfache oder als erweiterte betrachtet wird - tatsächlich nur unter der<br />

Form von zahllosen selbständigen Reproduktionsbewegungen privater <strong>Ein</strong>zelkapitale vor sich. <strong>Die</strong> erste<br />

erschöpfende Analyse der <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Ein</strong>zelkapitals ist gegeben im Band I <strong>des</strong> Marxschen<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 6. Kapitel<br />

"<strong>Kapitals</strong>", siebenter Abschnitt, Kapitel 22 und 23. Hier behandelt Marx die Teilung <strong>des</strong> Mehrwerts in<br />

Kapital und <strong>Ein</strong>kommen, die Umstände, die unabhängig von der Teilung <strong>des</strong> Mehrwerts in Kapital und<br />

Revenue die <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong> bestimmen, wie Ausbeutungsgrad der Arbeitskraft und<br />

Produktivität der Arbeit, ferner das Wachstum <strong>des</strong> fixen <strong>Kapitals</strong> im Verhältnis zum zirkulierenden als<br />

Moment der <strong>Akkumulation</strong>, endlich die fortschreitende Bildung der industriellen Reservearmee<br />

zugleich als Folge und Voraussetzung <strong>des</strong> <strong>Akkumulation</strong>sprozesses. Unterwegs setzt sich Marx hier mit<br />

zwei <strong>Ein</strong>fällen der bürgerlichen Ökonomie in bezug auf die <strong>Akkumulation</strong> auseinander: mit der mehr<br />

vulgärökonomischen "Abstinenztheorie", welche die Teilung <strong>des</strong> Mehrwerts in Kapital und <strong>Ein</strong>kommen<br />

und somit die <strong>Akkumulation</strong> selbst für eine ethische Heldentat der Kapitalisten ausgibt, und mit dem<br />

Irrtum der klassischen Ökonomie, wonach der ganze kapitalisierte Teil <strong>des</strong> Mehrwertes ausschließlich<br />

dazu verwendet wird, "von produktiven Arbeitern verzehrt zu werden", d.h. in Löhnen für<br />

neuanzustellende Arbeiter draufzugehen. <strong>Die</strong>se irrige Annahme, die völlig außer acht läßt, daß jede<br />

Produktionserweiterung nicht bloß in der Vergrößerung der Zahl der beschäftigten Arbeiter, sondern<br />

auch in der Vermehrung der sachlichen Produktionsmittel (Baulichkeiten, Instrumente, zum min<strong>des</strong>ten<br />

und auf jeden Fall Rohstoffe) zum Ausdruck kommen muß, fußt offenbar auf dem bereits besprochenen<br />

falschen "Dogma" von Ad. Smith. Aus dem Mißverständnis, wonach der Preis aller Waren sich unter<br />

völliger Auslassung <strong>des</strong> konstanten <strong>Kapitals</strong> - in lauter Löhne und Mehrwert restlos auflöst, ergab sich<br />

auch die Annahme, zur Erweiterung der Produktion genüge es, mehr Kapital in Löhnen auszugeben.<br />

Merkwürdigerweise übernimmt auch Ricardo, der das Irrtümliche der Smithschen Lehre wenigstens<br />

gelegentlich eingesehen hat, ihre irrtümliche Schlußfolgerung mit vielem Nachdruck, indem er sagt:<br />

"Man muß verstehen, daß alle Produkte eines Lan<strong>des</strong> konsumiert werden; aber es macht den denkbar<br />

größten Unterschied, ob sie konsumiert werden durch solche, die einen anderen Wert reproduzieren, oder<br />

durch solche, die ihn nicht reproduzieren. Wenn wir sagen, daß <strong>Ein</strong>kommen erspart und zu Kapital<br />

geschlagen wird, so meinen wir, daß der Teil <strong>des</strong> <strong>Ein</strong>kommens, von dem es heißt, er sei zum Kapital<br />

geschlagen, durch produktive statt durch unproduktive Arbeiter verzehrt wird." Nach dieser seltsamen<br />

Vorstellung, die alle hergestellten Produkte von den Menschen verzehren läßt, also für unverzehrbare<br />

Produktionsmittel: Werkzeuge und Maschinen, Rohstoffe und Baulichkeiten, im gesellschaftlichen<br />

Gesamtprodukt gar keinen Platz übrig hat, geht auch die erweiterte Reproduktion in der merkwürdigen<br />

Weise vonstatten, daß statt eines Teils feinerer Lebensmittel für die Kapitalistenklasse im Betrage <strong>des</strong><br />

kapitalisierten Teils <strong>des</strong> Mehrwerts einfache Lebensmittel für neue Arbeiter produziert werden. <strong>Ein</strong>er<br />

andere Verschiebung als innerhalb der Lebensmittelproduktion kennt die klassische Theorie der<br />

erweiterten Reproduktion nicht. Daß Marx mit diesem elementaren Schnitzer Smith-Ricardos spielend<br />

fertig wurde, ver- steht sich nach dem Bisherigen von selbst. Genauso wie bei der einfachen<br />

Reproduktion neben der Herstellung der erforderlichen Menge Lebensmittel für Arbeiter und<br />

Kapitalisten die regelmäßige Erneuerung <strong>des</strong> konstanten <strong>Kapitals</strong> - der sachlichen Produktionsmittel -<br />

stattfinden muß, ebenso muß bei der Erweiterung der Produktion ein Teil <strong>des</strong> neuen, zuschüssigen<br />

<strong>Kapitals</strong> zur Vergrößerung <strong>des</strong> konstanten Kapitalteils, d.h. zur Vermehrung der sachlichen<br />

Produktionsmittel, verwendet werden. Hier kommt noch ein anderes von Marx entdecktes Gesetz in<br />

Betracht. Der von der klassischen Ökonomie ständig vergessene konstante Kapitalteil wächst im<br />

Verhältnis zum variablen, in Löhnen verausgabten Teil beständig. <strong>Die</strong>s nur der kapitalistische Ausdruck<br />

der allgemeinen Wirkungen der zunehmenden Produktivität der Arbeit. Mit dem technischen Fortschritt<br />

vermag die lebendige Arbeit in immer kürzerer Zeit immer größere Massen Produktionsmittel in<br />

Bewegung zu setzen und zu Produkten zu verarbeiten. Kapitalistisch bedeutet dies eine fortschreitende<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 6. Kapitel<br />

Abnahme der Ausgaben für lebendige Arbeit, für Löhne, im Verhältnis zu Ausgaben für tote<br />

Produktionsmittel. <strong>Die</strong> erweiterte Reproduktion muß also nicht bloß entgegen der Smith-Ricardoschen<br />

Annahme jeweilig mit der Teilung <strong>des</strong> kapitalisierten Teils <strong>des</strong> Mehrwerts in konstantes und variables<br />

Kapital beginnen, sondern diese Teilung muß mit dem technischen Fortschritt der Produktion eine relativ<br />

immer größere Portion für den konstanten und eine relativ immer kleinere für den variablen Kapitalteil<br />

zuweisen. <strong>Die</strong>ser fortwährende qualitative Wechsel in der Zusammensetzung <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong> bildet die<br />

spezifische Erscheinungsform der <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, d.h. der erweiterten Reproduktion auf<br />

kapitalistischer Basis.(2)<br />

<strong>Die</strong> andere Seite dieser beständigen Verschiebung im Verhältnis <strong>des</strong> konstanten zum variablen<br />

Kapitalteil ist das, was Marx die Bildung der relativen, d.h. für die mittleren Verwertungsbedürfnisse <strong>des</strong><br />

<strong>Kapitals</strong> überschüssigen, daher überflüssigen oder Zuschuß-Arbeiterbevölkerung nennt. <strong>Die</strong> Produktion<br />

dieser stets vorrätigen Reserve nichtbeschäftigter Industriearbeiter (hier im weiteren Sinne, mit <strong>Ein</strong>schluß<br />

der Proletarier, die unter dem Kommando <strong>des</strong> Handelskapitals stehen), die ihrerseits die notwendige<br />

Voraussetzung der plötzlichen Ausdehnungen der Produktion in den Zeiten der Hochkonjunktur bildet,<br />

ist in die spezifischen Bedingungen der <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong> eingeschlossen.(3)<br />

Folgende vier Momente der erweiterten Reproduktion haben wir also aus der <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong><br />

<strong>Ein</strong>zelkapitals abzuleiten:<br />

1. Umfang der erweiterten Reproduktion ist in gewissen Grenzen unabhängig von dem Wachstum <strong>des</strong><br />

<strong>Kapitals</strong> und kann über dasselbe hinausgehen. <strong>Die</strong> Methoden, die hierzu führen, sind: Erhöhung der<br />

Ausbeutung der Arbeitskraft und der Naturkräfte, Erhöhung der Produktivität der Arbeit (in letzterer<br />

eingeschlossen die Erhöhung der Wirksamkeit <strong>des</strong> fixen Kapitalteils).<br />

2. Ausgangspunkt jeder wirklichen <strong>Akkumulation</strong> ist Teilung <strong>des</strong> zu kapitalisierenden Teils <strong>des</strong><br />

Mehrwerts in konstantes und variables Kapital.<br />

3. <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> als gesellschaftlicher Prozeß wird begleitet von einer ständigen Verschiebung im<br />

Verhältnis <strong>des</strong> konstanten <strong>Kapitals</strong> zum variablen, wobei der in toten Produktionsmitteln ausgelegte<br />

Kapitalteil im Verhältnis zu dem in Löhnen ausgelegten ständig wächst.<br />

4. <strong>Die</strong> andere Begleiterscheinung und Bedingung <strong>des</strong> <strong>Akkumulation</strong>sprozesses ist Bildung der<br />

industriellen Reservearmee.<br />

<strong>Die</strong>se schon der Reproduktionsbewegung <strong>des</strong> <strong>Ein</strong>zelkapitals abgewonnenen Momente sind ein enormer<br />

Schritt über die Analyse der bürgerlichen Ökonomie hinaus. Jetzt galt es aber, von der Bewegung <strong>des</strong><br />

<strong>Ein</strong>zel- kapitals ausgehend, die <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> Gesamtkapitals darzustellen. Nach dem Schema<br />

der einfachen Reproduktion mußten nun auch für die erweiterte Reproduktion sowohl die<br />

Wertstandpunkte einer Mehrwertproduktion wie die sachlichen Gesichtspunkte <strong>des</strong> Arbeitsprozesses<br />

(Produktion von Produktionsmitteln und Produktion von Konsummitteln) unter dem Gesichtswinkel der<br />

<strong>Akkumulation</strong> miteinander in exakte Verhältnisse gebracht werden.<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 6. Kapitel<br />

Der entscheidende Unterschied der erweiterten Reproduktion von der einfachen besteht darin, daß bei<br />

dieser der ganze Mehrwert von der Kapitalistenklasse nebst Anhang konsumiert wird, während bei jener<br />

ein Teil <strong>des</strong> Mehrwerts der persönlichen Konsumtion seiner Besitzer entzogen wird, jedoch nicht um<br />

aufgeschatzt, sondern um zum tätigen Kapital geschlagen, kapitalisiert zu werden. Damit jedoch letzteres<br />

auch wirklich stattfinden kann, ist erforderlich, daß das neue, zuschüssige Kapital auch die sachlichen<br />

Vorbedingungen seiner Betätigung vorfindet. Hier kommt also die konkrete Zusammensetzung <strong>des</strong><br />

gesellschaftlichen Gesamtprodukts in Betracht. Marx sagt schon im ersten Band <strong>des</strong> "<strong>Kapitals</strong>" bei der<br />

Betrachtung der <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Ein</strong>zelkapitals:<br />

"Zunächst muß die Jahresproduktion alle die Gegenstände (Gebrauchswerte) liefern, aus denen die im<br />

Laufe <strong>des</strong> Jahres verbrauchten sachlichen Bestandteile <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong> zu ersetzen sind. Nach Abzug dieser<br />

bleibt das Netto- oder Mehrprodukt. worin der Mehrwert steckt. Und woraus besteht dies Mehrprodukt?<br />

Vielleicht in Dingen, bestimmt zur Befriedigung der Bedürfnisse und Gelüste der Kapitalistenklasse, die<br />

also in ihren Konsumtionsfonds eingehen? Wäre das alles, so würde der Mehrwert verjubelt bis auf die<br />

Hefen, und es fände bloß einfache Reproduktion statt.<br />

Um zu akkumulieren, muß man einen Teil <strong>des</strong> Mehrprodukts in Kapital verwandeln. Aber, ohne Wunder<br />

zu tun, kann man nur solche Dinge in Kapital verwandeln, die im Arbeitsprozeß verwendbar sind, d.h.<br />

Produktionsmittel, und <strong>des</strong> ferneren Dinge, von denen der Arbeiter sich erhalten kann, d.h. Lebensmittel.<br />

Folglich muß ein Teil der jährlichen Mehrarbeit verwandt worden sein zur Herstellung zusätzlicher<br />

Produktions- und Lebensmittel, im Überschuß über das Quantum, das zum Ersatz <strong>des</strong> vorgeschossenen<br />

<strong>Kapitals</strong> erforderlich war. Mit einem Wort: der Mehrwert ist nur <strong>des</strong>halb in Kapital verwandelbar, weil<br />

das Mehrprodukt, <strong>des</strong>sen Wert er ist, bereits die sachlichen Bestandteile eines neuen <strong>Kapitals</strong> enthält."(4)<br />

Freilich genügen auch zuschüssige Produktionsmittel und zuschüssige Lebensmittel für die<br />

Arbeiter nicht, es sind noch zuschüssige Arbeitskräfte erforderlich, um die erweiterte Reproduktion in<br />

Fluß zu bringen. <strong>Die</strong>se Bedingung bietet aber nach Marx keine besondere Schwierigkeit. "Dafür hat der<br />

Mechanismus der kapitalistischen Produktion ebenfalls schon gesorgt, indem er die Arbeiterklasse<br />

reproduziert als vom Arbeitslohn abhängige Klasse, deren gewöhnlicher Lohn hinreicht, nicht nur ihre<br />

Erhaltung zu sichern, sondern auch ihre Vermehrung. <strong>Die</strong>se ihm durch die Arbeiterklasse auf<br />

verschiednen Altersstufen jährlich gelieferten zuschüssigen Arbeitskräfte braucht das Kapital nur noch<br />

den in der Jahresproduktion schon enthaltnen zuschüssigen Produktionsmitteln einzuverleiben, und die<br />

Verwandlung <strong>des</strong> Mehrwerts in Kapital ist fertig."(5)<br />

Hier haben wir die erste Lösung, die Marx dem <strong>Akkumulation</strong>sproblem <strong>des</strong> Gesamtkapitals gibt. Ohne<br />

sich weiter im Band I <strong>des</strong> "<strong>Kapitals</strong>" mit dieser Seite der Frage näher zu befassen, kehrt Marx zu dem<br />

Problem erst am Schluß <strong>des</strong> zweiten Ban<strong>des</strong> seines Hauptwerks zurück: Das letzte, 21. Kapitel ist der<br />

<strong>Akkumulation</strong> und erweiterten Reproduktion <strong>des</strong> Gesamtkapitals gewidmet.<br />

Sehen wir uns jetzt näher die schematische Darstellung der <strong>Akkumulation</strong> bei Marx an. Nach dem<br />

Beispiel <strong>des</strong> uns bereits bekannten Schemas der einfachen Reproduktion konstruiert Marx ein Schema<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 6. Kapitel<br />

der erweiterten Reproduktion. <strong>Ein</strong> Vergleich beider läßt ihren Unterschied am deutlichsten heraustreten.<br />

Nehmen wir an, das jährliche Gesamtprodukt der Gesellschaft stelle eine Wertgröße von 9.000 dar<br />

(worunter Millionen Arbeitsstunden oder, kapitalistisch in Geld ausgedrückt, beliebiger Geldbetrag<br />

verstanden werden kann). <strong>Die</strong>ses Gesamtprodukt sei folgendermaßen verteilt:<br />

I. 4.000 c + 1.000 v + 1.000 m = 6.000<br />

} Summa 9.000<br />

II. 2.000 c + 500 v + 500 m = 3.000<br />

<strong>Die</strong> erste Abteilung stellt Produktionsmittel, die zweite Lebensmittel dar. <strong>Ein</strong> Blick auf die<br />

Zahlenverhältnisse zeigt, daß hier nur einfache Reproduktion stattfinden kann. <strong>Die</strong> in der ersten<br />

Abteilung hergestellten Produktionsmittel gleichen der Summe der von den beiden Abteilungen<br />

tatsächlich verbrauchten Produktionsmittel, deren bloße Erneuerung auch nur die Wiederholung der<br />

Produktion in dem früheren Umfang gestattet. Andererseits gleicht das ganze Produkt der<br />

Lebensmittelabteilung der Summe der Löhne sowie der Mehrwerte in beiden Abteilungen; das<br />

zeigt, daß die vorhandenen Lebensmittel auch nur die Beschäftigung der früheren Anzahl von<br />

Arbeitskräften gestatten, daß zugleich aber auch der ganze Mehrwert in Lebensmitteln, d.h. in<br />

persönlichen Konsumtion der Kapitalistenklasse, draufgeht.<br />

Nun nehmen wir aber dasselbe Gesamtprodukt von 9.000 in folgender Zusammensetzung:<br />

I. 4.000 c + 1.000 v + 1.000 m = 6.000<br />

} Summa 9.000<br />

II. 1.500 c + 750 v + 750 m = 3.000<br />

Hier springt zweierlei Mißverhältnis in die Augen. <strong>Die</strong> angefertigte Menge von Produktionsmitteln<br />

(6.000) übersteigt in ihrem Wert die in der Gesellschaft tatsächlich verbrauchten (4.000 c + 1.500 c) um<br />

500. Zugleich stellt die Menge der hergestellten Lebensmittel (3.000) im Vergleich mit der Summe der<br />

gezahlten Löhne, d.h. den Bedürfnissen der Arbeiter (1.000 v + 750 v), sowie der Summe <strong>des</strong> erzielten<br />

Mehrwerts (1000 m + 750 m) ein Defizit von 500 dar. Daraus folgt, daß - da die Verringerung der<br />

Anzahl der beschäftigten Arbeitet ausgeschlossen ist - die Konsumtion der Kapitalistenklasse geringer<br />

sein muß als der von ihr eingeheimste Mehrwert. Damit sind die beiden Vorbedingungen eingehalten, die<br />

zur erweiterten Reproduktion auf kapitalistischer Basis erforderlich sind: <strong>Ein</strong> Teil <strong>des</strong> angeeigneten<br />

Mehrwerts wird nicht verzehrt, sondern zu produktiven Zwecken verwendet, zugleich werden in<br />

vermehrter Menge Produktionsmittel hergestellt, damit der kapitalisierte Mehrwert auch tatsächlich zur<br />

Erweiterung der Produktion verwendet werden kann.<br />

Haben wir bei dem Schema der einfachen Reproduktion gefunden, daß ihre gesellschaftlichen<br />

Grundbedingungen in dem folgenden exakten Verhältnis eingeschlossen sind: die Summe der<br />

hergestellten Produktionsmittel (Produkt der Abteilung I) muß in ihrem Wert dem konstanten Kapital<br />

beider Abteilungen gleich sein, die Summe der hergestellten Lebensmittel aber (Produkt der Abteilung<br />

II) der Summe der variablen Kapitale wie <strong>des</strong> Mehrwerts in beiden Abteilungen, so müssen wir für die<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 6. Kapitel<br />

erweiterte Reproduktion ein umgekehrtes exaktes Doppelverhältnis folgern. <strong>Die</strong> allgemeine<br />

Voraussetzung der erweiterten Reproduktion ist: Das Produkt der Abteilung I ist, dem Werte nach,<br />

größer als das konstante Kapital der beiden Abteilungen zusammen, das Produkt der Abteilung II ist,<br />

gleichfalls dem Werte nach, geringer als die Summe der variablen Kapitale und <strong>des</strong> Mehrwerts in beiden<br />

Abteilungen.<br />

Damit haben wir jedoch die Analyse der erweiterten Reproduktion noch lange nicht erschöpft, wir<br />

stehen vielmehr kaum erst an ihrer Schwelle.<br />

<strong>Die</strong> abgeleiteten Verhältnisse <strong>des</strong> Schemas müssen jetzt nämlich in ihrer weiteren Betätigung, im Fluß<br />

der Zirkulation und Fortgang der Reproduktion verfolgt werden. Ist die einfache Reproduktion einem<br />

und demselben immer von neuem durchlaufenen Kreise zu vergleichen, so gleicht die erweiterte<br />

Reproduktion nach dem Ausdruck Sismondis einer Spirale, die immer höher geht. Wir haben also<br />

zunächst die Windungen dieser Spirale näher zu untersuchen. <strong>Die</strong> erste allgemeine Frage ist dabei die:<br />

Wie vollzieht sich nun bei den uns jetzt bekannten Voraussetzungen die tatsächliche <strong>Akkumulation</strong> in<br />

beiden Abteilungen, so daß alle Kapitalisten einen Teil ihres Mehrwerts kapitalisieren und zugleich die<br />

notwendigen sachlichen Vorbedingungen der erweiterten Reproduktion vorfinden?<br />

Marx erläutert die Frage an der Hand der folgenden schematischen Darstellung.<br />

Nehmen wir an, daß die Hälfte <strong>des</strong> Mehrwerts von I akkumuliert wird. <strong>Die</strong> Kapitalisten verwenden also<br />

500 zu ihrer Konsumtion, 500 aber schlagen sie zum Kapital. <strong>Die</strong>ses zuschüssige Kapital von 500 muß,<br />

wie wir nun wissen, um sich zu betätigen, in konstantes und variables verteilt werden. Nehmen wir an,<br />

daß das Verhältnis beider trotz der Erweiterung der Produktion dasselbe bleibt wie bei dem<br />

Originalkapital, d.h. 4 : 1. Dann werden die Kapitalisten der Abteilung I ihr zuschüssiges Kapital von<br />

500 so verteilen, daß sie für 400 neue Produktionsmittel und für 100 neue Arbeitskräfte ankaufen. <strong>Die</strong><br />

Beschäftigung neuer Produktionsmittel für 400 bietet keine Schwierigkeiten, wir wissen, daß die<br />

Abteilung I für 500 überschüssige Produktionsmittel bereits hergestellt hat. Davon wurden 4/5 also<br />

verwendet innerhalb der Abteilung I, um die Erweiterung der Produktion zu bewerkstelligen. Aber die<br />

entsprechende Vergrößerung <strong>des</strong> variablen <strong>Kapitals</strong> um 100 in Geld genügt nicht, die neuen,<br />

zuschüssigen Arbeitskräfte müssen auch die entsprechenden Lebensmittel vorfinden, und diese können<br />

nur der Abteilung II entnommen werden. Jetzt verschiebt sich also die Zirkulation zwischen den beiden<br />

großen Abteilungen. Früher, bei der einfachen Reproduktion, entnahm die Abteilung I für 1.000<br />

Lebensmittel von II für die eigenen Arbeiter, jetzt muß sie darüber hinaus um 100 mehr Lebensmittel für<br />

Arbeiter entnehmen. <strong>Die</strong> Abteilung I wird auf diese Weise die erweiterte Reproduktion folgendermaßen<br />

beginnen: 4.400 c + 1.100 v.<br />

Ihrerseits kommt die Abteilung II durch den Verkauf der zuschüssigen Lebensmittel von 100 in die Lage,<br />

um denselben Betrag mehr als bis jetzt von der Abteilung I Produktionsmittel zu erwerben. In der<br />

Tat sind von dem Gesamtüberschuß <strong>des</strong> Produkts in der Abteilung I gerade 100 noch übriggeblieben.<br />

<strong>Die</strong>se erwirbt nun die Abteilung II, um auch ihrerseits eine Erweiterung der Produktion vorzunehmen.<br />

Aber auch hier kann mit mehr Produktionsmitteln allein nicht viel ausgerichtet werden, um sie in<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 6. Kapitel<br />

Bewegung zu setzen, sind zuschüssige Arbeitskräfte nötig. Nehmen wir auch hier an, daß die bisherige<br />

Zusammensetzung <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong> beibehalten wird, also das Verhältnis <strong>des</strong> konstanten zum variablen<br />

Kapital 2:1 ist, dann bedarf es zur Betätigung der zuschüssigen Produktionsmittel von 100 neuer<br />

Arbeitskräfte für 50. Für diese neuen Arbeitskräfte bedarf es aber auch im Betrage ihrer Löhne neuer<br />

Lebensmittel, welche die Abteilung II ja selbst liefert. Von dem Gesamtprodukt der Abteilung II müssen<br />

demnach außer den zuschüssigen Lebensmitteln von 100 für die neuen Arbeiter der Abteilung I noch<br />

Lebensmittel für 50 für die eigenen Arbeiter der Abteilung II mehr als bisher verwendet werden. <strong>Die</strong><br />

zweite Abteilung beginnt also die erweiterte Reproduktion mit folgenden Verhältnissen: 1.600 c + 800 v.<br />

Jetzt ist das Gesamtprodukt der Abteilung I (6.000) in der Zirkulation glatt draufgegangen: 5.500 waren<br />

nötig zur bloßen Erneuerung der alten verbrauchten Produktionsmittel in beiden Abteilungen, 400<br />

wurden zur Erweiterung der Produktion der Abteilung I, 100 zum gleichen Zweck in der Abteilung II<br />

gebraucht. Was das Gesamtprodukt der Abteilung II (3.000) betrifft, so sind davon 1.900 für den<br />

gewachsenen Stab der Arbeitskräfte in beiden Abteilungen verwendet. <strong>Die</strong> übrigen 1.100 an<br />

Lebensmitteln dienen dem persönlichen Konsum der Kapitalisten, dem Verzehr ihres Mehrwertes, und<br />

zwar: 500 in der Abteilung I, 600 für die Kapitalisten der Abteilung II, die ja von ihrem Mehrwert 750<br />

nur 150 kapitalisiert haben (100 für Produktionsmittel und 50 für Arbeiterlöhne).<br />

Jetzt kann die erweiterte Reproduktion vonstatten gehen. Behalten wir den Ausbeutungsgrad = 100<br />

Prozent, wie beim Originalkapital, dann wird sich in der nächsten Periode ergeben:<br />

I. 4.400 c + 1.100 v + 1.100 m = 6.600<br />

} Summa 9.800<br />

II. 1.600 c + 800 v + 800 m = 3.200<br />

Das Gesamtprodukt der Gesellschaft ist gewachsen von 9.000 auf 9.800, der Mehrwert in der ersten<br />

Abteilung von 1.000 auf 1.100, in der zweiten Abteilung von 750 auf 800, der Zweck der kapitalistischen<br />

Erweiterung der Produktion: die gesteigerte Mehrwerterzeugung, ist erreicht. Zugleich ergibt die<br />

sachliche Zusammensetzung <strong>des</strong> gesellschaftlichen Gesamtpro- dukts wieder einen Überschuß der<br />

Produktionsmittel (6.600) über die tatsächlich verbrauchten (4.400 + 1.600) um 600 sowie ein Defizit der<br />

Lebensmittel (3.200) im Vergleich mit den bisher gezahlten Löhnen (1.100 v + 800 v) und erzieltem<br />

Mehrwert (1.100 m + 800 m). Damit ist bereits wieder eine sachliche Grundlage wie eine Notwendigkeit<br />

gegeben, einen Teil <strong>des</strong> Mehrwerts nicht zur Konsumtion der Kapitalistenklasse, sondern zur erneuten<br />

Erweiterung der Produktion zu verwenden.<br />

<strong>Die</strong> zweite Erweiterung der Produktion und gesteigerte Mehrwerterzeugung ergibt sich so von selbst mit<br />

ihren mathematisch exakten Verhältnissen aus der ersten. <strong>Die</strong> einmal begonnene <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong><br />

<strong>Kapitals</strong> fuhrt mechanisch immer weiter über sich selbst hinaus. Der Kreis hat sich in eine Spirale<br />

verwandelt, die sich immer höher windet wie unter dem Zwang eines mathematisch meßbaren<br />

Naturgesetzes. Nehmen wir in folgenden Jahren immer dieselbe Kapitalisierung <strong>des</strong> halben Mehrwertes<br />

bei der Abteilung I an, wobei wir die Zusammensetzung <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong> und den Ausbeutungsgrad<br />

beibehalten, so ergibt sich die folgende Progression in der Reproduktion <strong>des</strong> Gesamtkapitals:<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 6. Kapitel<br />

Zweites Jahr<br />

Drittes Jahr<br />

Viertes Jahr<br />

Fünftes Jahr<br />

I. 4.840 c + 1.210 v + 1.210 m = 7.260<br />

} Summa 10.780<br />

II. 1.760 c + 880 v + 880 m = 3.520<br />

I. 5.324c + 1.331 v + 1.331 m = 7.986<br />

} Summa 11.858<br />

II. 1.936 c + 968 v + 968 m = 3.872<br />

I. 5.856 c + 1.464 v + 1.464 m = 8.784<br />

} Summa 13.033<br />

II. 2.129 c + 1.065 v + 1.065 m = 4.249<br />

I. 6.442 c + 1.610 v + 1.610 m = 9.662<br />

} Summa 14.348<br />

II. 2.342 c + 1.172 v + 1.172 m = 4.686<br />

So wäre nach fünf Jahren der <strong>Akkumulation</strong> das gesellschaftliche Gesamtprodukt von 9.000 auf 14.348<br />

gewachsen, das gesellschaftliche Gesamtkapital von 5.400 c + 1.750 v = 7.150 auf 8.784 c + 2.782 v =<br />

11.566 und der Mehrwert von 1.000 m + 500 m = 1.500 auf 1.464 m + 1.065 m = 2.529, wobei der<br />

persönlich verzehrte Mehrwert von 1.500 vor Beginn der <strong>Akkumulation</strong> auf 732 + 958 (im letzten Jahre)<br />

= 1.690 gestiegen ist.(6) <strong>Die</strong> Kapitalistenklasse hat also mehr kapitalisiert, mehr "Enthaltsamkeit"<br />

geübt und doch zugleich flotter leben können. <strong>Die</strong> Gesellschaft ist reicher geworden, in sachlicher<br />

Beziehung reicher an Produktionsmitteln, reicher an Lebensmitteln, und zugleich in kapitalistischem<br />

Sinne: Sie produziert immer größeren Mehrwert. Das Gesamtprodukt geht in der gesellschaftlichen<br />

Zirkulation glatt auf, es dient teils zur Erweiterung der Reproduktion, teils zu Konsumtionszwecken. <strong>Die</strong><br />

<strong>Akkumulation</strong>sbedürfnisse der Kapitalisten decken sich zugleich mit der sachlichen Zusammensetzung<br />

<strong>des</strong> gesellschaftlichen Gesamtprodukts; es ist, wie Marx im ersten Band <strong>des</strong> "<strong>Kapitals</strong>" gesagt hat: Der<br />

gewachsene Mehrwert kann eben <strong>des</strong>halb zum Kapital geschlagen werden, weil das gesellschaftliche<br />

Mehrprodukt von vornherein in der sachlichen Gestalt von Produktionsmitteln zur Welt kommt, in einer<br />

Gestalt, die eben keinen anderen Gebrauch zuläßt als die Verwendung im Produktionsprozeß. Zugleich<br />

vollzieht sich die Erweiterung der Reproduktion unter strenger <strong>Ein</strong>haltung der Zirkulationsgesetze: <strong>Die</strong><br />

gegenseitige Versorgung der beiden Abteilungen der Produktion mit zuschüssigen Produktionsmitteln<br />

und Lebensmitteln vollzieht sich als Austausch von Äquivalenten, als Warenaustausch, wobei die<br />

<strong>Akkumulation</strong> in der einen Abteilung gerade die <strong>Akkumulation</strong> der anderen ermöglicht und bedingt. Das<br />

komplizierte Problem der <strong>Akkumulation</strong> ist so in eine schematische Progression von erstaunlicher<br />

<strong>Ein</strong>fachheit verwandelt. Man kann die oben begonnene Kette von Gleichungen ins unendliche fortführen.<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 6. Kapitel<br />

Man braucht nur die folgenden einfachen Regeln zu beobachten: Der Vergrößerung <strong>des</strong> konstanten<br />

<strong>Kapitals</strong> in der ersten Abteilung muß stets eine bestimmte Vergrößerung ihres variablen <strong>Kapitals</strong><br />

entsprechen, mit dieser letzteren ist aber von vornherein gegeben, wie stark die Vergrößerung <strong>des</strong><br />

konstanten <strong>Kapitals</strong> in der zweiten Abteilung sein kann; dieser wiederum muß eine entsprechende<br />

Vergrößerung <strong>des</strong> variablen <strong>Kapitals</strong> beigesetzt werden. Endlich mit der Größe <strong>des</strong> gewachsenen<br />

variablen <strong>Kapitals</strong> in beiden Abteilungen ist stets gegeben, wieviel von der Gesamtsumme der<br />

Lebensmittel für die persönliche Konsumtion der Kapitalistenklasse übrigbleibt. Es wird sich auch<br />

finden, daß diese für den Privatverzehr der Kapitalisten verbleibende Menge an Lebensmitteln sich an<br />

Wert mit dem nichtkapitalisierten Teil <strong>des</strong> Mehrwerts in beiden Abteilungen aufs genaueste deckt.<br />

<strong>Die</strong> Fortsetzung der schematisch en Entwicklung der <strong>Akkumulation</strong> unter den angegebenen leichten paar<br />

Regeln findet, wie gesagt, keine Schranken. Hier ist es aber an der Zeit aufzupassen, ob wir nicht<br />

<strong>des</strong>halb zu so erstaunlich glatten Resultaten gelangen, weil wir immer bloß gewisse mathematische<br />

Übungen mit Addition und Subtraktion machen, die keine Überraschungen bieten können, und ob die<br />

<strong>Akkumulation</strong> nicht <strong>des</strong>halb so ins unendliche störungslos verläuft, weil das Papier sich geduldig mit<br />

mathematischen Gleichungen beschreiben läßt. Mit anderen Worten, es ist an der Zeit, sich nach den<br />

konkreten gesellschaftlichen Bedingungen der <strong>Akkumulation</strong> umzusehen.<br />

Fußnoten von <strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong><br />

(1) "<strong>Die</strong> Voraussetzung der einfachen Reproduktion, daß I (v + m) = II c sei, ist nicht nur unverträglich<br />

mit der kapitalistischen Produktion, was übrigens nicht ausschließt, daß im industriellen Zyklus von 10-<br />

11 Jahren ein Jahr oft geringer Gesamtreproduktion hat als das vorhergehende, also nicht einmal einfache<br />

Reproduktion stattfindet im Verhältnis zum vorhergehenden Jahr. Sondern auch bei dem natürlichen<br />

jährlichen Wachstum der Bevölkerung könnte einfache Reproduktion nur insofern stattfinden, als von<br />

den 1.500, die den Gesamtmehrwert repräsentieren, eine entsprechend größre Zahl unproduktiver<br />

<strong>Die</strong>nstleute mitzehrten. <strong>Akkumulation</strong> von Kapital, also wirkliche kapitalistische Produktion wäre<br />

dagegen hierbei unmöglich." (Das Kapital, Bd. II, S. 497.) [Karl Marx: Das Kapital. Zweiter Band. In<br />

Karl Marx/Friedrich Engel: Werke, Bd. 24, S. 515.]


<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 6. Kapitel<br />

Gesamtkapitals, sondern durch den seines variablen Bestandteils bestimmt ist, fällt sie also progressiv<br />

mir dem Wachstum <strong>des</strong> Gesamtkapitals, statt, wie vorhin unterstellt, verhältnismäßig mit ihm zu<br />

wachsen. Sie fällt relativ zur Größe <strong>des</strong> Gesamtkapitals und in beschleunigter Progression mit dem<br />

Wachstum dieser Größe. Mit dem Wachstum <strong>des</strong> Gesamtkapitals wächst zwar auch sein variabler<br />

Bestandteil oder die ihm einverleibte Arbeitskraft, aber in beständig abnehmender Proportion. <strong>Die</strong><br />

Zwischenpausen, worin die <strong>Akkumulation</strong> als bloße Erweiterung der Produktion auf gegebner<br />

technischer Grundlage wirkt, verkürzen sich. Nicht nur wird eine in wachsender Progression<br />

beschleunigte <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> Gesamtkapitals erheischt, um eine zusätzliche Arbeiterzahl von<br />

gegebner Größe zu absorbieren oder selbst, wegen der beständigen Metamorphose <strong>des</strong> alten <strong>Kapitals</strong>, die<br />

bereits funktionierende zu beschäftigen. Ihrerseits schlägt diese wachsende <strong>Akkumulation</strong> und<br />

Zentralisation selbst wieder in eine Quelle neuer Wechsel der Zusammensetzung <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong> oder<br />

abermalig beschleunigter Abnahme seines variablen Bestandteils, verglichen mit dem konstanten." (Das<br />

Kapital, Bd. I, S. 593.) [Karl Marx: Das Kapital, Erster Band. In: Karl Marx/Friedrich Engels: Werke,<br />

Bd. 23. S. 657/658.]


<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 7. Kapitel<br />

6. Kapitel | Inhalt | 8. Kapitel<br />

<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - Gesammelte Werke. Herausgegeben vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Band<br />

5. <strong>Berlin</strong>/DDR. 1975. "<strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>", S. 91-107.<br />

1. Korrektur.<br />

Erstellt am 20.10.1998<br />

Siebentes Kapitel<br />

Analyse <strong>des</strong> Marxschen Schemas der erweiterten<br />

Reproduktion<br />

<strong>Die</strong> erste Erweiterung der Produktion sah folgendermaßen aus:<br />

I. 4.400 c + 1.100 v + 1.100 m = 6.600<br />

} Summa 9.800<br />

II. 1.600 c + 800 v + 800 m = 3.200<br />

Hier kommt schon die gegenseitige Abhängigkeit der <strong>Akkumulation</strong> in beiden Abteilungen deutlich zum<br />

Ausdruck. Aber diese Abhängigkeit ist eigentümlicher Natur. <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> geht hier von der<br />

Abteilung I aus, die Abteilung II folgt nur der Bewegung, und zwar wird der Umfang der <strong>Akkumulation</strong><br />

lediglich von der Abteilung I bestimmt. Marx bringt hier die <strong>Akkumulation</strong> fertig, indem er in I den<br />

halben Mehrwert kapitalisieren läßt, in II aber gerade nur soviel wie nötig ist, um die Produktion und<br />

<strong>Akkumulation</strong> I zu sichern. Dabei läßt er die Kapitalisten der Abteilung II 600 m verzehren, während die<br />

Kapitalisten der I. Abteilung, die sich einen doppelt so großen Wert und viel größeren Mehrwert<br />

aneignen. nur 500 m verzehren. Im folgenden Jahr läßt er die Kapitalisten I wieder die Hälfte ihres<br />

Mehrwerts kapitalisieren und diesmal "zwingt" er die Kapitalisten II, mehr als im Vorjahre und<br />

willkürlich soviel zu kapitalisieren, wie I braucht, wobei für die Konsumtion der Kapitalisten II diesmal<br />

560 m bleiben - weniger als im Vorjahre, was jedenfalls ein ziemlich seltsames Ergebnis der<br />

<strong>Akkumulation</strong> ist. Marx schildert den Vorgang folgendermaßen:<br />

"Es werde nun sub I derselben Proportion fortakkumuliert: also 550 m als Revenue verausgabt, 550 m<br />

akkumuliert. Zunächst werden dann 1.100 I v ersetzt durch 1.100 II c, ferner sind noch 550 I m zu<br />

realisieren in einem gleichen Betrag von Waren II: also zusammen 1.650 I (v + m). Aber das zu<br />

ersetzende konstante Kapital von II ist nur = 1.600, die übrigen 50 müssen also (!) ergänzt werden aus<br />

800 II m. Wenn wir hier zunächst vom Geld absehn, so haben wir als Resultat dieser Transaktion:<br />

I. 4.400 c + 550 m (welche zu kapitalisieren sind); daneben in Konsumtionsfonds der Kapitalisten und<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 7. Kapitel<br />

Arbeiter 1.650 (v + m), realisiert in Waren II c.<br />

II. 1.650 c (nämlich 50 zugefügt nach Obigem aus II m) + 800 v + 750 m (Konsumtionsfonds der<br />

Kapitalisten).<br />

Wenn aber das alte Verhältnis v zu c in II bleibt, so müssen für 50 c weitre 25 v ausgelegt werden; diese<br />

sind zu nehmen von den 750 in; wir erhalten also:<br />

II. 1.650 c + 825 v + 725 m.<br />

Sub I ist zu kapitalisieren 550 in; wenn das frühere Verhältnis bleibt, so bilden davon 440 konstantes<br />

Kapital und 110 variables Kapital. <strong>Die</strong>se 110 sind eventuell (!) zu schöpfen aus 725 II in, d.h.<br />

Konsumtionsmittel zum Wert von 110 werden von den Arbeitern I verzehrt statt von Kapitalisten II,<br />

diese letztren also gezwungen (!), diese 110 in, die sie nicht verzehren können, zu kapitalisieren. <strong>Die</strong>s<br />

läßt von den 725 II m übrig 615 II m. Wenn aber so II diese 110 in zusätzliches konstantes Kapital<br />

verwandelt, so braucht es ein ferneres zusätzliches variables Kapital von 55, dies muß wieder von seinem<br />

Mehrwert gestellt werden; abgezogen von 615 II m läßt es übrig 560 für Konsumtion der Kapitalisten II,<br />

und wir erhalten nun, nach Vollziehung aller aktuellen und potentiellen Übertragungen, an Kapitalwert:<br />

I. (4.400 c + 440 c) + (1.100 v + 110 v) = 4.840 c + 1.210 v = 6050<br />

II. (1.600 c + 50 c + 110 c) + (800 v + 25 v + 55 v) = 1.760 c + 880 v = 2.640<br />

8.690." (1)<br />

Wir haben das ausführliche Zitat gebracht, weil es drastisch zeigt, wie Marx hier die <strong>Akkumulation</strong> in I<br />

auf Kosten der Abteilung II durchsetzt. Ebenso unsanft verfährt er mit den Kapitalisten der<br />

Lebensmittelabteilung in den folgenden Jahren. Im dritten Jahr läßt er sie nach derselben Regel 264 m<br />

akkumulieren und 616 verzehren, diesmal mehr als in den beiden vorhergehenden Jahren. Im vierten Jahr<br />

läßt er sie 290 m kapitalisieren und 678 verzehren, im fünften akkumulieren sie 320 m und verzehren 745<br />

m. Dabei sagt Marx gar: "Soll die Sache normal abgehn, so muß die <strong>Akkumulation</strong> in II sich rascher<br />

vollziehn als in I, weil der Teil von I (v + m), der in Waren II c umzusetzen ist, sonst rascher<br />

wächst als II c, gegen das allein er sich umsetzen kann."(2) <strong>Die</strong> angeführten Zahlen zeigen aber nicht<br />

bloß keine raschere, sondern eher eine schwankende <strong>Akkumulation</strong> in der II. Abteilung, wobei als Regel<br />

folgen<strong>des</strong> dient: Marx führt die <strong>Akkumulation</strong> immer weiter, indem er die Abteilung I auf breiterer Basis<br />

produzieren läßt; die <strong>Akkumulation</strong> in der II. Abteilung erscheint nur als Folge und Bedingung der<br />

anderen: erstens, um die überschüssigen Produktionsmittel aufzunehmen, zweitens, um das erforderliche<br />

Mehr an Konsummitteln für die zuschüssigen Arbeitskräfte zu liefern. <strong>Die</strong> Initiative der Bewegung liegt<br />

die ganze Zeit über auf seiten der I. Abteilung, die II. ist passives Anhängsel. So dürfen je<strong>des</strong>mal die<br />

Kapitalisten II nur soviel akkumulieren und müssen soviel verzehren, wie es für die <strong>Akkumulation</strong> in I<br />

erforderlich ist. Während die Abteilung I je<strong>des</strong>mal den halben Mehrwert kapitalisiert und den halben<br />

verzehrt, was sowohl eine regelmäßige Erweiterung der Produktion wie der persönlichen Konsumtion der<br />

Kapitalistenklasse ergibt, geht die Doppelbewegung in der Abteilung II in folgender sprunghafter Weise<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 7. Kapitel<br />

vor sich.<br />

Im 4. Jahr wird kapitalisiert 150, verzehrt 600<br />

Im 2. Jahr wird kapitalisiert 240, verzehrt 560<br />

Im 3. Jahr wird kapitalisiert 254, verzehrt 626<br />

Im 4. Jahr wird kapitalisiert 290, verzehrt 678<br />

Im 5. Jahr wird kapitalisiert 320, verzehrt 745<br />

Es besteht gar keine ersichtliche Regel in dieser <strong>Akkumulation</strong> und Konsumtion, beide dienen bloß den<br />

Bedürfnissen der <strong>Akkumulation</strong> in I. Daß die absoluten Zahlen <strong>des</strong> Schemas in jeder Gleichung<br />

willkürlich sind, versteht sich von selbst und verringert nicht ihren wissenschaftlichen Wert. Worauf es<br />

ankommt, sind die Größenverhältnisse, die exakte Beziehungen ausdrücken sollen. <strong>Die</strong> von klarer<br />

Gesetzmäßigkeit diktierten <strong>Akkumulation</strong>sverhältnisse in Abteilung I scheinen nun aber durch eine völlig<br />

willkürliche Konstruktion der Verhältnisse in Abteilung II erkauft zu sein, und dieser Umstand ist<br />

geeignet, zur Nachprüfung der inneren Zusammenhänge der Analyse zu veranlassen.<br />

Man könnte jedoch annehmen, daß hier nur ein nicht besonders glücklich gewähltes Beispiel vorliegt.<br />

Marx selbst begnügt sich mit dem angeführten Schema nicht, sondern gibt gleich darauf ein zweites<br />

Beispiel zur Erläuterung der <strong>Akkumulation</strong>sbewegung. Nun sind die Zahlen der Gleichung<br />

folgendermaßen geordnet:<br />

I. 5.000 c + 1.000 v + 1.000 m = 7.000<br />

} = 9.000.(3)<br />

II. 1.430 c + 285 v + 285 m = 2.000<br />

Hier sehen wir, daß im Unterschied von dem früheren Beispiel in beiden Abteilungen die gleiche<br />

Zusammensetzung <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong> besteht, nämlich das Verhältnis von konstant zu variabel gleich 5:1. Es<br />

setzt dies voraus: schon bedeutende Entwickelung der kapitalistischen Produktion und dementsprechend<br />

der Produktivkraft der gesellschaftlichen Arbeit; bedeutende, schon vorhergegangene Erweiterung der<br />

Produktionsleiter; endlich Entwickelung aller der Umstände, die eine relative Übervölkerung in der<br />

Arbeiterklasse produzieren. Wir machen also nicht mehr wie im ersten Beispiel den anfänglichen ersten<br />

Übergang von der einfachen zur erweiterten Reproduktion, der ja auch nur einen abstrakten,<br />

theoretischen Wert hat, sondern fassen die <strong>Akkumulation</strong>sbewegung mitten im Fluß, auf einer bereits<br />

hohen Entwickelungsstufe. An sich sind diese Annahmen völlig zulässig und ändern auch nichts an den<br />

Regeln, die uns bei der Entwickelung der einzelnen Windungen der Reproduktionsspirale leiten müssen.<br />

Auch hier wieder nimmt Marx zum Ausgangspunkt die Kapitalisierung <strong>des</strong> halben Mehrwerts der<br />

Abteilung I:<br />

"Gesetzt jetzt, die Kapitalistenklasse I konsumiere den halben Mehrwert = 500 und akkumuliere die<br />

andre Hälfte. Dann wären (1.000 v + 500 m) I = 1.500 umzusetzen in 1.500 II c. Da hier II c nur = 1.430,<br />

so ist vom Mehrwert 70 zuzusetzen; dies von 285 II in abgezogen, läßt 215 II m. Wir erhalten also:<br />

I. 5.000 c + 500 m (zu kapitalisieren) + 1.500 (v + m) in Konsumtionsfonds der Kapitalisten und<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 7. Kapitel<br />

Arbeiter.<br />

II. 1.430 c + 70 m (zu kapitalisieren) + 285 v + 215 m.<br />

Da hier 70 II m direkt annexiert werden an II c, so ist erheischt, um dies zuschüssige konstante Kapital in<br />

Bewegung zu setzen, ein variables Kapital von 70/5 = 14; diese 14 gehn also weiter ab von 215 II m;<br />

bleibt 201 II m, und wir haben<br />

II. (1.430 c + 70 c) + (285 v + 14 v) + 201 m."<br />

Nach diesen ersten Anordnungen kann die Kapitalisierung vonstatten gehen. Sie vollzieht sich<br />

folgendermaßen:<br />

In I teilen sich die 500 m, die kapitalisiert werden, in 5/6 = 417 c + 1/6 = 83 v. <strong>Die</strong> 83 v entziehen<br />

einen gleichen Betrag von II m, der Elemente <strong>des</strong> konstanten <strong>Kapitals</strong> kauft, also zu II c geschlagen wird.<br />

<strong>Ein</strong>e Vermehrung von II c um 83 bedingt eine Vermehrung von II v um 1/5 von 83 = 17. Wir haben also<br />

nach dem Umsatz:<br />

I. (5.000 c + 417 m) + ( 1.000 v + 83 m) v = 5.417 c + 1.083 v = 6.500<br />

II. (1.500 c + 83 m) + ( 299 v + 17 m) v = 1.583 c + 316 v = 1.899<br />

Summa 8.399.<br />

Das Kapital in I ist gewachsen von 6.000 auf 6.500, also um 1/12, in II von 1.715 auf 1.899, also um nicht<br />

ganz 1/9.<br />

<strong>Die</strong> Reproduktion auf dieser Grundlage im nächsten Jahr ergibt am Jahresschluß:<br />

I. 5.417 c + 1.083 v + 1.083 m = 7.583<br />

} Summa 9.798<br />

II. 1.583 c + 316 v + 316 m = 2.215<br />

Wenn in derselben Proportion weiter akkumuliert wird, so erhalten wir am Schluß <strong>des</strong> zweiten Jahres:<br />

I. 5.869 c + 1.173 v + 1.173 m = 8.215<br />

} Summa 10.614<br />

II. 1.715 c + 342 v + 342 m = 2.399<br />

Und am Schluß <strong>des</strong> dritten Jahres:<br />

I. 6.358 c + 1.271 v + 1.271 m = 8.900<br />

} Summa 11.500<br />

II. 1.858 c + 371 v + 371 m = 2.600<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 7. Kapitel<br />

In drei Jahren hat sich das gesellschaftliche Gesamtkapital von 6.000 I + 1.715 II = 7.715 auf 7.629 I +<br />

2.229 II = 9.858, das Gesamtprodukt von 9.000 auf 11.500 vermehrt.<br />

Hier ging die <strong>Akkumulation</strong>, im Unterschied vom ersten Beispiel, gleichmäßig in beiden Abteilungen vor<br />

sich, in I wie in II wurde vom zweiten Jahr ab die Hälfte <strong>des</strong> Mehrwerts kapitalisiert und die Hälfte<br />

verzehrt. Das Willkürliche <strong>des</strong> ersten Beispiels scheint also nur an schlecht gewählten Zahlenreihen zu<br />

liegen. Doch haben wir nachzuprüfen, ob diesmal der glatte Fortgang der <strong>Akkumulation</strong> etwas mehr als<br />

mathematische Operationen mit geschickt gewählten Zahlen darstellt.<br />

Was als allgemeine Regel der <strong>Akkumulation</strong> gleichmäßig im ersten wie im zweiten Beispiel in die Augen<br />

springt, ist immer wieder folgen<strong>des</strong>: Damit die <strong>Akkumulation</strong> überhaupt vonstatten gehen kann, muß die<br />

II. Abteilung je<strong>des</strong>mal soviel an Erweiterung <strong>des</strong> konstanten <strong>Kapitals</strong> vornehmen, wie die<br />

Abteilung I erstens an Vergrößerung <strong>des</strong> konsumierten Teils <strong>des</strong> Mehrwerts, zweitens an Vergrößerung<br />

<strong>des</strong> variablen <strong>Kapitals</strong> vornimmt. Am Beispiel <strong>des</strong> ersten Jahres illustriert, muß nämlich erst ein Zuschuß<br />

zum konstanten Kapital in II um 70 stattfinden. Weshalb? Weil dieses Kapital bisher 1.430 darstellt.<br />

Wollen aber die Kapitalisten I die Hälfte ihres Mehrwerts (1.000) akkumulieren und die Hälfte verzehren,<br />

so brauchen sie nun Lebensmittel für sich wie für ihre Arbeiter im Betrage von 1.500. <strong>Die</strong>se können sie<br />

von der Abteilung II nur im Austausch gegen das eigene Produkt - die Produktionsmittel - kriegen. Da<br />

aber die Abteilung II ihren eigenen Bedarf an Produktionsmitteln nur im Betrage <strong>des</strong> eigenen konstanten<br />

<strong>Kapitals</strong> (1.430) deckte, so kann der Austausch nur in dem Falle zustande kommen, wenn die Abteilung<br />

II sich entschließt, ihr konstantes Kapital um 70 zu vergrößern, d.h. die eigene Produktion zu erweitern.<br />

was ja nicht anders bewerkstelligt werden kann als durch Kapitalisierung eines entsprechenden Teils <strong>des</strong><br />

Mehrwerts. Beträgt dieser in der Abteilung II 285 in, so müssen davon 70 zum konstanten Kapital<br />

geschlagen werden. Hier wird der erste Schritt in der Erweiterung der Produktion bei II als Bedingung<br />

und Folge einer Erweiterung der Konsumtion der Kapitalisten I bestimmt. Gehen wir weiter. Bis jetzt ist<br />

die Kapitalistenklasse I erst befähigt, die Hälfte ihres Mehrwerts (500) in persönlichem Konsum zu<br />

verzehren. Um die andere Hälfte kapitalisieren zu können, muß sie den Betrag von 500 min<strong>des</strong>tens<br />

entsprechend der bisherigen Zusammensetzung verteilen, also 417 zu konstantem, 83 zu variablem<br />

Kapital schlagen. <strong>Die</strong> erstere Operation bietet keine Schwierigkeiten. <strong>Die</strong> Kapitalisten I besitzen in ihrem<br />

eigenen Produkt einen Überschuß von 500, der in Produktionsmitteln besteht, <strong>des</strong>sen Naturalgestalt also<br />

ihn befähigt, direkt in den Produktionsprozeß aufgenommen zu werden; so bildet sich eine Erweiterung<br />

<strong>des</strong> konstanten <strong>Kapitals</strong> der Abteilung I aus dem entsprechenden Betrag <strong>des</strong> eigenen Produkts dieser<br />

Abteilung. Um aber die entsprechenden 85 als variables Kapital auch betätigen zu können, sind im<br />

gleichen Betrage Lebensmittel für die neuanzustellenden Arbeiter nötig, Hier kommt zum zweitenmal die<br />

Abhängigkeit der <strong>Akkumulation</strong> in I von der Abteilung II zum Vorschein: I muß von II um 83 mehr<br />

Lebensmittel als bisher für ihre Arbeiter entnehmen. Da dies wiederum nur auf dem Wege <strong>des</strong><br />

Warenaustausches geschieht, so kann dieses Bedürfnis der Abteilung I nur unter der Bedingung<br />

befriedigt werden. daß die Abteilung II ihrerseits sich bereit erklärt, Produkte von I, d.h.<br />

Produktionsmittel, für 83 anzunehmen. Da sie mit Produktionsmitteln nichts anderes anfangen kann, als<br />

sie im Produktionsprozeß zu verwenden, so ergibt sich für die Abteilung II die Möglichkeit und<br />

zugleich Notwendigkeit, ihr konstantes Kapital wiederum zu erweitern, und zwar um 83, wodurch vom<br />

Mehrwert dieser Abteilung wiederum 83 dem persönlichen Konsum entzogen und zur Kapitalisierung<br />

verwendet werden. Der zweite Schritt in der Erweiterung der Produktion von II ist bedingt durch die<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 7. Kapitel<br />

Erweiterung <strong>des</strong> variablen <strong>Kapitals</strong> bei I. Jetzt sind bei I alle sachlichen Bedingungen der <strong>Akkumulation</strong><br />

vorhanden, und die erweiterte Reproduktion kann vonstatten gehen. Bei II hingegen hat vorerst nur eine<br />

zweimalige Erweiterung <strong>des</strong> konstanten <strong>Kapitals</strong> stattgefunden. Aus ihr ergibt sich, daß, wenn die<br />

neuerworbenen Produktionsmittel auch wirklich benutzt werden sollen, eine entsprechende Vergrößerung<br />

der Zahl der Arbeitskräfte erforderlich ist. Unter Beibehaltung <strong>des</strong> bisherigen Verhältnisses ist für das<br />

neue konstante Kapital von 153 ein neues variables von 31 notwendig. Damit ist gesagt, daß ein<br />

ebensolcher Betrag wiederum vom Mehrwert kapitalisiert werden muß. Der persönliche<br />

Konsumtionsfonds der Kapitalisten II ergibt sich alsdann als der Restbetrag <strong>des</strong> Mehrworts (285 m) nach<br />

Abzug der zweimaligen Vergrößerung <strong>des</strong> konstanten <strong>Kapitals</strong> (70 + 83) und der entsprechenden<br />

Vergrößerung <strong>des</strong> variablen (31), insgesamt 184, in der Höhe von 101. Nach ähnlichen Manipulationen<br />

ergibt sich im zweiten Jahr der <strong>Akkumulation</strong> bei der Abteilung II eine Verteilung <strong>des</strong> Mehrwerts in 158<br />

zur Kapitalisierung und 158 für den Konsum der Kapitalisten, im dritten Jahr 172 und 170.<br />

Wir haben den Vorgang <strong>des</strong>halb so genau betrachtet und Schritt für Schritt verfolgt, weil dabei mit<br />

Deutlichkeit hervorgeht, daß die <strong>Akkumulation</strong> in der Abteilung II vollkommen abhängig und beherrscht<br />

ist von der <strong>Akkumulation</strong> in I. Zwar kommt diese Abhängigkeit nicht mehr in den willkürlichen<br />

Verschiebungen bei der <strong>Ein</strong>teilung <strong>des</strong> Mehrwerts in II zum Ausdruck, wie das beim ersten Beispiel <strong>des</strong><br />

Marxschen Schemas der Fall war, aber die Tatsache selbst bleibt bestehen, auch wenn der Mehrwert sich<br />

jetzt in beiden Abteilungen jeweilig hübsch in zwei Hälften - für Kapitalisierungszwecke und für<br />

persönliche Konsumtion - aufteilt. Trotz dieser ziffernmäßigen Gleichstellung der Kapitalistenklasse in<br />

beiden Abteilungen ist es klar ersichtlich, daß die ganze <strong>Akkumulation</strong>sbewegung von I eingeleitet und<br />

aktiv betätigt, von II passiv mitgemacht wird. <strong>Die</strong>se Abhängigkeit findet auch den Ausdruck in der<br />

folgenden exakten Regel: <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> kann nur in beiden Abteilungen zugleich, und zwar nur<br />

unter der Bedingung stattfinden, daß die Abteilung der Lebensmittel jeweilig genau um soviel ihr<br />

konstantes Kapital erweitert, wie die Kapitalisten der Produktionsmittelabteilung ihr variables Kapital<br />

und ihren per- sönlichen Konsumtionsfonds erweitern. <strong>Die</strong>se Proportion (Zuwachs II c = Zuwachs I<br />

v + Zuwachs I mk) ist die mathematische Grundlage <strong>des</strong> <strong>Akkumulation</strong>sschemas von Marx, in welchen<br />

Zahlenproportionen wir es auch exemplifizieren mögen.<br />

Wir haben nun nachzuprüfen, ob diese strenge Regel der kapitalistischen <strong>Akkumulation</strong> den tatsächlichen<br />

Verhältnissen entspricht.<br />

Kehren wir zunächst zur einfachen Reproduktion zurück. Das Marxsche Schema lautete, wie erinnerlich:<br />

I. 4.000 c + 1.000 v + 1.000 m = 6.000 Produktionsmittel.<br />

II. 2.000 c + 500 v + 500 m = 3.000 Konsummittel.<br />

Summa 9.000 Gesamtproduktion.<br />

Auch hier haben wir bestimmte Proportionen festgestellt, auf denen die einfache Reproduktion beruht.<br />

<strong>Die</strong>se Proportionen waren:<br />

1. Das Produkt der Abteilung I gleicht (an Wert) der Summe der beiden konstanten Kapitale in I und II.<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 7. Kapitel<br />

2. Was sich selbst aus 1 ergibt: Das konstante Kapital der Abteilung II gleicht der Summe <strong>des</strong> variablen<br />

<strong>Kapitals</strong> und <strong>des</strong> Mehrwerts in der Abteilung I.<br />

3. Was schon aus 1 und 2 folgt: Das Produkt der Abteilung II gleicht der Summe der variablen Kapitale<br />

und der Mehrwerte in beiden Abteilungen.<br />

<strong>Die</strong>se Verhältnisse <strong>des</strong> Schemas entsprechen den Bedingungen der kapitalistischen Warenproduktion<br />

(reduziert allerdings auf die einfache Reproduktion). So z.B. ist die Proportion 2 bedingt durch die<br />

Warenproduktion, d.h. durch den Umstand, daß die Unternehmer jeder Abteilung die Produkte der<br />

anderen Abteilung nur im Austausch gegen Äquivalente bekommen können. Das variable Kapital und der<br />

Mehrwert der Abteilung I drücken zusammen den Bedarf dieser Abteilung an Lebensmitteln aus. <strong>Die</strong>se<br />

müssen aus dem Produkt der Abteilung II gedeckt werden, doch sind sie nur im Austausch gegen die<br />

gleiche Wertmenge <strong>des</strong> Produkts I, d.h. Produktionsmittel, erhältlich. Da die Abteilung II mit diesem<br />

Äquivalent seiner Naturalgestalt wegen nichts anderes anfangen kann, als es im Produktionsprozeß als<br />

konstantes Kapital zu verwenden, so ist damit die Größe <strong>des</strong> konstanten <strong>Kapitals</strong> der Abteilung II<br />

gegeben. Wäre hier eine Disproportion vorhanden, wäre z.B. das konstante Kapital in II (als Wertgröße)<br />

größer als (v + m) I, so könnte es nicht ganz in Produktionsmittel verwandelt werden, denn die Abteilung<br />

I hätte einen zu geringen Bedarf nach Lebensmitteln. Wäre das konstante Kapital II kleiner als (v +<br />

m) I, dann könnten die Arbeitskräfte dieser Abteilung nicht im früheren Umfang beschäftigt werden oder<br />

die Kapitalisten nicht ihren ganzen Mehrwert verzehren. In allen Fällen waren die Voraussetzungen der<br />

einfachen Reproduktion verletzt.<br />

<strong>Die</strong>se Proportionen sind jedoch nicht bloße mathematische Übungen und auch nicht bloß durch die<br />

Warenform der Produktion bedingt. Um uns davon zu überzeugen, haben wir ein einfaches Mittel. Stellen<br />

wir uns für einen Augenblick statt der kapitalistischen die sozialistische Produktionsweise, also eine<br />

planmäßig geregelte Wirtschaft vor, in der gesellschaftliche Arbeitsteilung an Stelle <strong>des</strong> Austausches<br />

getreten ist. In dieser Gesellschaft gäbe es gleichfalls eine <strong>Ein</strong>teilung der Arbeit in Produktion von<br />

Produktionsmitteln und in Produktion von Lebensmitteln. Stellen wir uns ferner vor, daß die technische<br />

Höhe der Arbeit es bedingt, daß zwei Drittel gesellschaftlicher Arbeit auf Herstellung von<br />

Produktionsmitteln, ein Drittel auf Verstellung von Lebensmitteln verwendet werden. Nehmen wir an,<br />

daß unter diesen Bedingungen zur Erhaltung <strong>des</strong> ganzen arbeitenden Teils der Gesellschaft jährlich 1.500<br />

Arbeitseinheiten (Tage, Monate oder Jahre) genügen würden, und zwar nach Annahme: 1.000 davon in<br />

der Abteilung der Produktionsmittel, 500 in Lebensmitteln, wobei je<strong>des</strong> Jahr Produktionsmittel aus<br />

früherer Arbeitsperiode vernutzt werden, die selbst das Produkt von 3.000 Arbeitseinheiten darstellen.<br />

<strong>Die</strong>ses Arbeitspensum genügt jedoch nicht für die Gesellschaft, denn die Erhaltung aller nichtarbeitenden<br />

(im materiellen, produktiven Sinne) Mitglieder der Gesellschaft - Kinder, Greise, Kranke, öffentliche<br />

Beamte, Künstler und Wissenschaftler - erfordert einen bedeutenden Zuschuß an Arbeit. Außerdem<br />

braucht jede Kulturgesellschaft zur Sicherung vor Notfällen elementarer Natur einen gewissen<br />

Assekuranzfonds. Nehmen wir an, daß die Erhaltung aller Nichtarbeitenden samt Assekuranzfonds genau<br />

noch einmal soviel Arbeit erfordert wie die eigene Erhaltung der Arbeitenden, also auch noch einmal<br />

soviel Produktionsmittel. Dann bekämen wir nach früher angenommenen Zahlen das folgende Schema<br />

einer geregelten Produktion<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 7. Kapitel<br />

I. 4.000 c + 1.000 v + 1.000 m = 6.000 Produktionsmittel.<br />

II. 2.000 c + 500 v + 500 m = 3.000 Konsummittel.<br />

wobei c die verbrauchten sachlichen Produktionsmittel, ausgedrückt in gesellschaftlicher Arbeitszeit,<br />

bedeutet, v die zur eigenen Erhaltung der Arbeitenden, m die zur Erhaltung der Nichtarbeitenden nebst<br />

Assekuranzfonds gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit ausdrückt.<br />

Prüfen wir jetzt die Proportionen <strong>des</strong> Schemas nach, so erhalten wir folgen<strong>des</strong>: Warenproduktion,<br />

also auch Austausch, existiert hier nicht, wohl aber gesellschaftliche Arbeitsteilung. <strong>Die</strong> Produkte von I<br />

werden in erforderlichem Quantum den Arbeitenden in II zugewiesen, die Produkte von II werden allen<br />

Arbeitenden und Nichtarbeitenden (in beiden Abteilungen) sowie dem Assekuranzfonds zugewiesen -<br />

nicht weil hier Äquivalentaustausch vorgeht, sondern weil die gesellschaftliche Organisation planmäßig<br />

den Gesamtprozeß leitet, weil die bestehenden Bedürfnisse gedeckt werden müssen, weil die Produktion<br />

eben keinen anderen Zweck als die Deckung der gesellschaftlichen Bedürfnisse kennt.<br />

Trotzdem behalten die Größenproportionen volle Gültigkeit. Das Produkt in I muß I c + II c gleichen; das<br />

bedeutet einfach, daß in der I. Abteilung alle von der Gesellschaft in ihrem jährlichen Arbeitsprozeß<br />

vernutzten Produktionsmittel jährlich erneuert werden müssen. Das Produkt II muß der Summe (v + m) I<br />

+ (v + m) II gleichen; das bedeutet, daß an Lebensmitteln von der Gesellschaft je<strong>des</strong> Jahr soviel<br />

hergestellt werden, wie es den Bedürfnissen aller ihrer arbeitenden und nichtarbeitenden Mitglieder<br />

entspricht, nebst Rücklagen für Versicherungsfonds.<br />

<strong>Die</strong> Proportionen <strong>des</strong> Schemas erscheinen ebenso natürlich und notwendig in einer planmäßig geregelten<br />

wie in der kapitalistischen, auf Warenaustausch und Anarchie gegründeten Wirtschaftsweise. Damit ist<br />

die objektive gesellschaftliche Gültigkeit <strong>des</strong> Schemas erwiesen - ob es gleichwohl gerade als einfache<br />

Reproduktion sowohl in der kapitalistischen wie in der geregelten Gesellschaft nur theoretisch gedacht, in<br />

der Praxis nur ausnahmsweise vorkommen kann.<br />

Versuchen wir jetzt in derselben Weise das Schema der erweiterten Reproduktion nachzuprüfen.<br />

Stellen wir uns eine sozialistische Gesellschaft vor, und legen wir der Nachprüfung das Schema <strong>des</strong><br />

zweiten Marxschen Beispiels zugrunde. Vom Standpunkt der geregelten Gesellschaft muß die Sache<br />

natürlich nicht von der Abteilung I, sondern von der Abteilung II angefaßt werden. Denken wir uns, daß<br />

die Gesellschaft rapid wächst, woraus sich ein wachsender Bedarf nach Lebensmitteln für Arbeitende und<br />

Nichtarbeitende ergibt. <strong>Die</strong>ser Bedarf steigt so rasch, daß - die Fortschritte der Produktivität der Arbeit<br />

vorläufig beiseite gelassen - eine stets wachsende Menge Arbeit zur Herstellung von Lebensmitteln<br />

notwendig wird. <strong>Die</strong> erforderliche Menge Lebensmittel, ausgedrückt in der in ihnen steckenden<br />

gesellschaftlichen Arbeit, steige von Jahr zu Jahr, sagen wir, im Verhältnis 2.000 - 2.215 - 2.399 - 2.600<br />

usw. Um diese wachsende Menge Lebensmittel her- zustellen, sei technisch eine wachsende<br />

Menge von Produktionsmitteln erforderlich, die, in gesellschaftlicher Arbeitszeit gemessen, im folgenden<br />

Verhältnis von Jahr zu Jahr wachse: 7.000 - 7.583 - 8.215 - 8.900 usw. Ferner sei, nach Annahme, zu<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 7. Kapitel<br />

dieser Erweiterung der Produktion eine jährliche Arbeitsleistung von 2.570 - 2798 - 3030 - 3284 (die<br />

Zahlen entsprechen den respektiven Summen von (v + m) I + (v + m) II) erforderlich. Und endlich sei die<br />

Verteilung der jährlich geleisteten Arbeit derart, daß die Hälfte davon je<strong>des</strong>mal zur Erhaltung der<br />

Arbeitenden selbst, ein Viertel zur Erhaltung der Nichtarbeitenden, ein letztes Viertel zur Erweiterung der<br />

Produktion <strong>des</strong> nächsten Jahres verwendet werden. Wir erhalten dann für die sozialistische Gesellschaft<br />

die Proportionen <strong>des</strong> zweiten marxschen Schemas der erweiterten Reproduktion. In der Tat ist eine<br />

Erweiterung der Produktion in jeder Gesellschaft, so auch in der geregelten, nur dann möglich, 1. wenn<br />

die Gesellschaft über eine wachsende Anzahl Arbeitskräfte verfügt, 2. wenn die unmittelbare Erhaltung<br />

der Gesellschaft in jeder Arbeitsperiode nicht ihre ganze Arbeitszeit in Anspruch nimmt, so daß ein Teil<br />

der Zeit der Sorge für die Zukunft und ihre wachsenden Anforderungen gewidmet werden kann, 3. wenn<br />

von Jahr zu Jahr eine genügend zunehmende Menge von Produktionsmitteln angefertigt wird, ohne die<br />

eine fortschreitende Erweiterung der Produktion nicht bewerkstelligt werden kann.<br />

Von diesen allgemeinen Gesichtspunkten behält also das Marxsche Schema der erweiterten Reproduktion<br />

- mutatis inutandis - seine objektive Gültigkeit auch für die geregelte Gesellschaft.<br />

Prüfen wir jetzt die Gültigkeit <strong>des</strong> Schemas für die kapitalistische Wirtschaft. Hier haben wir vor allein<br />

zu fragen: Was ist der Ausgangspunkt für die <strong>Akkumulation</strong>? Von diesem Standpunkte haben wir die<br />

gegenseitige Abhängigkeit <strong>des</strong> <strong>Akkumulation</strong>sprozesses in beiden Abteilungen der Produktion zu<br />

verfolgen. Zweifellos ist auch kapitalistisch die Abteilung II insofern auf I angewiesen, als ihre<br />

<strong>Akkumulation</strong> an eine entsprechende Menge verfügbarer zuschüssiger Produktionsmittel gebunden ist.<br />

Umgekehrt ist die <strong>Akkumulation</strong> in der Abteilung I an eine entsprechende zuschüssige Menge von<br />

Lebensmitteln für zuschüssige Arbeitskräfte gebunden. Daraus folgt nun aber durchaus nicht, daß es<br />

genügt, beide Bedingungen einzuhalten, damit die <strong>Akkumulation</strong> in beiden Abteilungen auch tatsächlich<br />

vonstatten geht und von Jahr zu Jahr sich ganz automatisch vollzieht, wie das nach dem Marxschen<br />

Schema den Anschein hat. <strong>Die</strong> angeführten Bedingungen der <strong>Akkumulation</strong> sind eben nur Bedingungen,<br />

ohne die die <strong>Akkumulation</strong> nicht stattfinden kann. Auch der Wille zur <strong>Akkumulation</strong> mag in I wie<br />

in II vorhanden sein. Allein der Wille und die technischen Vorbedingungen der <strong>Akkumulation</strong> genügen in<br />

einer kapitalistischen Warenwirtschaft nicht. Damit tatsächlich akkumuliert, d.h. die Produktion erweitert<br />

wird, dazu ist noch eine andere Bedingung notwendig: eine Erweiterung der zahlungsfähigen Nachfrage<br />

nach Waren. Wo rührt nun die ständig wachsende Nachfrage her, die der fortschreitenden Erweiterung<br />

der Produktion im Marxschen Schema zugrunde liegt?<br />

Soviel ist zunächst klar: Sie kann unmöglich von den Kapitalisten I und II selbst, d.h. von ihrem<br />

persönlichen Konsum herrühren. Im Gegenteil, die <strong>Akkumulation</strong> besteht gerade darin, daß sie einen -<br />

und zwar min<strong>des</strong>tens absolut wachsenden - Teil <strong>des</strong> Mehrwerts nicht selbst konsumieren, sondern dafür<br />

Güter schaffen, die von anderen verwendet werden. <strong>Die</strong> persönliche Konsumtion der Kapitalisten wächst<br />

zwar mit der <strong>Akkumulation</strong>, sie mag selbst dem verzehrten Wert nach wachsen. Immerhin ist es nur ein<br />

Teil <strong>des</strong> Mehrwerts, der für die Konsumtion der Kapitalisten verwendet wird. Grundlage der<br />

<strong>Akkumulation</strong> ist gerade die Nichtkonsumtion <strong>des</strong> Mehrwerts durch die Kapitalisten. Für wen produziert<br />

dieser andere, akkumulierte Teil <strong>des</strong> Mehrwerts? Nach dem Marxschen Schema geht die Bewegung von<br />

der Abteilung I aus, von der Produktion der Produktionsmittel. Wer braucht diese vermehrten<br />

Produktionsmittel? Das Schema antwortet: <strong>Die</strong> Abteilung II braucht sie, um mehr Lebensmittel herstellen<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 7. Kapitel<br />

zu können. Wer braucht aber die vermehrten Lebensmittel? Das Schema antwortet: eben die Abteilung I,<br />

weil sie jetzt mehr Arbeiter beschäftigt. Wir drehen uns offenbar im Kreise. Lediglich <strong>des</strong>halb mehr<br />

Konsummittel herstellen, um mehr Arbeiter erhalten zu können, und lediglich <strong>des</strong>halb mehr<br />

Produktionsmittel herstellen, um jenes Mehr an Arbeitern zu beschäftigen, ist vom kapitalistischen<br />

Standpunkt eine Absurdität. Für den einzelnen Kapitalisten ist freilich der Arbeiter ein ebenso guter<br />

Konsument, d.h. Abnehmer seiner Ware - falls er sie zahlen kann - wie ein Kapitalist oder sonst jemand.<br />

Im Preise der Ware, die er dem Arbeiter verkauft, realisiert jeder einzelne Kapitalist seinen Mehrwert<br />

genauso wie im Preise jeder Ware, die er einem anderen beliebigen Abnehmer verkauft. Nicht so vom<br />

Standpunkte der Kapitalistenklasse im ganzen. <strong>Die</strong>se gibt der Arbeiterklasse im ganzen nur eine<br />

Anweisung auf einen genau bestimmten Teil <strong>des</strong> gesellschaftlichen Gesamtprodukts im Betrage <strong>des</strong><br />

variablen <strong>Kapitals</strong>. Wenn also die Arbeiter Lebensmittel kaufen, so erstatten sie der Kapitalistenklasse<br />

nur die von ihr erhaltene Lohnsumme, die Anweisung, bis zur Höhe <strong>des</strong> variablen <strong>Kapitals</strong> zurück.<br />

Mehr können sie nicht um einen Deut zurückgeben, eher etwas weniger, nämlich, wenn sie<br />

"sparen" können, um selbständig, um zu kleinen Unternehmern zu werden, was jedoch eine Ausnahme<br />

ist. <strong>Ein</strong>en Teil <strong>des</strong> Mehrwerts verzehrt die Kapitalistenklasse selbst in Gestalt von Lebensmitteln und<br />

behält in ihrer Tasche das dafür gegenseitig ausgetauschte Geld. Wer aber nimmt ihr die Produkte ab, in<br />

denen der andere, kapitalisierte Teil <strong>des</strong> Mehrwerts verkörpert ist? Das Schema antwortet: zum Teil die<br />

Kapitalisten selbst, indem sie neue Produktionsmittel herstellen behufs Erweiterung der Produktion, zum<br />

Teil neue Arbeiter, die zur Anwendung jener neuen Produktionsmittel nötig sind. Aber um neue Arbeiter<br />

mit neuen Produktionsmitteln arbeiten zu lassen, muß man - kapitalistisch - vorher einen Zweck für die<br />

Erweiterung der Produktion haben, eine neue Nachfrage nach Produkten, die anzufertigen sind.<br />

<strong>Die</strong> Antwort kann vielleicht lauten: Der natürliche Zuwachs der Bevölkerung schafft diese wachsende<br />

Nachfrage. Tatsächlich sind wir bei unserer hypothetischen Untersuchung der erweiterten Reproduktion<br />

in einer sozialistischen Gesellschaft von dem Wachstum der Bevölkerung und ihrer Bedürfnisse<br />

ausgegangen. Aber hier war das Bedürfnis der Gesellschaft die ausreichende Grundlage, wie es der<br />

einzige Zweck der Produktion ist. In der kapitalistischen Gesellschaft sieht das Problem anders aus. Um<br />

welche Bevölkerung handelt es sich, wenn wir von ihrem Zuwachs reden? Wir kennen hier - im<br />

marxschen Schema - nur zwei Bevölkerungsklassen: Kapitalisten und Arbeiter. Der Zuwachs der<br />

Kapitalistenklasse ist ohnehin in der wachsenden absoluten Größe <strong>des</strong> verzehrten Teils <strong>des</strong> Mehrwertes<br />

inbegriffen. Jedenfalls kann er nicht den Mehrwert restlos verzehren, denn dann würden wir zur<br />

einfachen Reproduktion zurückkehren. Es bleiben die Arbeiter. Auch die Arbeiterklasse vermehrt sich<br />

durch natürlichen Zuwachs. Aber dieser Zuwachs geht die kapitalistische Wirtschaft als Ausgangspunkt<br />

wachsender Bedürfnisse an sich nichts an.<br />

<strong>Die</strong> Produktion von Lebensmitteln zur Deckung von I v und II v ist nicht Selbstzweck, wie in einer<br />

Gesellschaft, wo die Arbeitenden und die Befriedigung ihrer Bedürfnisse die Grundlage <strong>des</strong><br />

Wirtschaftssystems bilden. Nicht <strong>des</strong>halb werden in der Abteilung II (kapitalistisch) soviel Lebensmittel<br />

produziert, weil die Arbeiterklasse von I und II ernährt werden müsse. Umgekehrt. Es können jeweilig<br />

soviel Arbeiter in I und II sich ernähren, weil ihre Arbeitskraft unter den gegebenen Absatzbedingungen<br />

verwertet werden kann. Das heißt, nicht eine gegebene Anzahl Arbeiter und ihr Bedarf sind<br />

Ausgangspunkt für die kapitalistische Produktion, sondern diese Größen selbst sind ständig<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 7. Kapitel<br />

schwankende "abhängige Variable" der kapitalistischen Profitaussichten. Es fragt sich also, ob der<br />

natürliche Zuwachs der Arbeiterbevölkerung auch einen neuen Zuwachs der zahlungsfähigen Nachfrage<br />

über das variable Kapital hinaus bedeutet. Das kann nicht der Fall sein. In unserem Schema ist die einzige<br />

Quelle der Geldmittel für die Arbeiterklasse das variable Kapital. Das variable Kapital begreift also im<br />

voraus den Zuwachs der Arbeiterschaft mit ein. <strong>Ein</strong>s von beiden: Entweder sind die Löhne so bemessen,<br />

daß sie auch den Nachwuchs der Arbeiter ernähren, dann kann der Nachwuchs nicht noch einmal als<br />

Grundlage der erweiterten Konsumtion in Rechnung gezogen werden. Oder das ist nicht der Fall, dann<br />

müssen jugendliche Arbeiter, der Nachwuchs, selbst Arbeit liefern, um Lohn und Lebensmittel zu<br />

bekommen. Dann ist der arbeitende Nachwuchs eben in der Zahl der beschäftigten Arbeiter bereits<br />

einbegriffen. Der natürliche Zuwachs der Bevölkerung kann uns also den <strong>Akkumulation</strong>sprozeß im<br />

Marxschen Schema nicht erklären.<br />

Doch halt! <strong>Die</strong> Gesellschaft besteht - auch unter der Herrschaft <strong>des</strong> Kapitalismus - nicht bloß aus<br />

Kapitalisten und Lohnarbeitern. Außer diesen beiden Klassen gibt es noch eine große Masse der<br />

Bevölkerung: Grundbesitzer, Angestellte, liberale Berufe: Ärzte, Rechtsanwälte, Künstler,<br />

Wissenschaftler, es besteht noch die Kirche mit ihren <strong>Die</strong>nern, der Geistlichkeit, und endlich der Staat<br />

mit seinen Beamten und dem Militär. Alle diese Bevölkerungsschichten sind weder den Kapitalisten noch<br />

den Lohnarbeitern im kategorischen Sinne beizuzählen. Sie müssen aber von der Gesellschaft ernährt und<br />

erhalten werden. Es werden also wohl diese außer den Kapitalisten und Arbeitern bestehenden Schichten<br />

sein, deren Nachfrage die Erweiterung der Produktion erforderlich macht. Doch ist dieser Ausweg bei<br />

näherem Zusehen nur ein scheinbarer. <strong>Die</strong> Grundbesitzer sind als Verzehrer der Rente, d.h. eines Teils<br />

<strong>des</strong> kapitalistischen Mehrwerts, augenscheinlich der Kapitalistenklasse zuzuzählen, ihre Konsumtion ist<br />

hier, wo wir den Mehrwert in seiner ungeteilten, primären Form betrachten, in der Konsumtion der<br />

Kapitalistenklasse bereits berücksichtigt. <strong>Die</strong> liberalen Berufe bekommen ihre Geldmittel, d.h. ihre<br />

Anweisungen auf einen Teil <strong>des</strong> gesellschaftlichen Produkts, meist direkt oder indirekt aus der Hand der<br />

Kapitalistenklasse, die sie mit Splittern ihres Mehrwerts abfindet. Soweit sind sie als Verzehrer <strong>des</strong><br />

Mehrwerts mit ihrer Konsumtion der Kapitalistenklasse beizuzählen. Dasselbe gilt von der Geistlichkeit,<br />

nur daß diese zum Teil ihre Mittel auch von den Arbeitenden, also aus den Arbeiterlöhnen bezieht.<br />

Endlich der Staat mit seinen Beamten und dem Militär wird aus den Steuern erhalten, diese aber<br />

liegen entweder auf dem Mehrwert oder auf Arbeiterlöhnen. Überhaupt kennen wir hier - in den Grenzen<br />

<strong>des</strong> Marxschen Schemas - nur zwei Quellen <strong>des</strong> <strong>Ein</strong>kommens in der Gesellschaft: Arbeiterlöhne oder<br />

Mehrwert. So können alle die außer den Kapitalisten und den Arbeitern angeführten<br />

Bevölkerungsschichten nur als Mitverzehrer dieser beiden <strong>Ein</strong>kommensarten gelten. Marx selbst lehnt<br />

den Hinweis auf diese "dritten Personen" als Abnehmer als eine Ausflucht ab: "Alle nicht direkt in der<br />

Reproduktion, mit oder ohne Arbeit, figurierenden Gesellschaftsglieder können ihren Anteil am<br />

jährlichen Warenprodukt - also ihre Konsumtionsmittel - in erster Hand nur beziehn aus den Händen der<br />

Klassen, denen das Produkt in erster Hand zufällt - produktiven Arbeitern, industriellen Kapitalisten und<br />

Grundbesitzern. Insofern sind ihre Revenuen materialiter abgeleitet von Arbeitslohn (der produktiven<br />

Arbeiter), Profit und Bodenrente und erscheinen daher jenen Originalrevenuen gegenüber als abgeleitete.<br />

Andrerseits jedoch beziehn die Empfänger dieser in diesem Sinn abgeleiteten Revenuen dieselben<br />

vermittelst ihrer gesellschaftlichen Funktion als König, Pfaff, Professor, Hure, Kriegsknecht etc., und sie<br />

können also diese ihre Funktionen als die Originalquellen ihrer Revenue betrachten."(4) Gegenüber<br />

Verweisen auf die Verzehrer von Zins und Grundrente als Abnehmer sagt Marx: "Ist aber der Teil <strong>des</strong><br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 7. Kapitel<br />

Mehrwerts der Waren, den der industrielle Kapitalist als Grundrente oder Zins an andre Miteigentümer<br />

<strong>des</strong> Mehrwerts abzutreten hat, auf die Dauer nicht realisierbar durch den Verkauf der Waren selbst, so hat<br />

es auch mit der Zahlung von Rente oder Zins ein Ende, und können daher Grundeigentümer oder<br />

Zinsbezieher durch deren Verausgabung nicht als dei ex machina dienen zu beliebiger Versilberung<br />

bestimmter Teile der jährlichen Reproduktion. Ebenso verhält es sich mit den Ausgaben sämtlicher sog.<br />

unproduktiver Arbeiter, Staatsbeamte, Ärzte, Advokaten etc., und was sonst in der Form <strong>des</strong> 'großen<br />

Publikums' den politischen Ökonomen '<strong>Die</strong>nste' leistet, um von ihnen Unerklärtes zu erklären."(5)<br />

Da auf diese Weise innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft schlechterdings keine ersichtlichen<br />

Abnehmer für die Waren zu entdecken sind, in denen der akkumulierte Teil <strong>des</strong> Mehrwertes steckt, so<br />

bleibt nur noch eins übrig: der auswärtige Handel. Mehrere <strong>Ein</strong>wände entstehen jedoch gegen diese<br />

Methode, den auswärtigen Handel als eine bequeme Ablade- stätte für Produkte zu betrachten, mit<br />

denen man sonst im Reproduktionsprozeß nichts anzufangen weiß. Der Hinweis auf auswärtigen Handel<br />

kommt nur auf die Ausflucht hinaus, die Schwierigkeit, der man in der Analyse begegnet ist, aus einem<br />

Lande in ein anderes zu verlegen, ohne sie aber zu lösen. <strong>Die</strong> Analyse <strong>des</strong> Reproduktionsprozesses<br />

bezieht sich überhaupt nicht auf ein einzelnes kapitalistisches Land, sondern auf den kapitalistischen<br />

Weltmarkt, für den alle Länder Inland sind. Marx hebt dies schon im ersten Bande <strong>des</strong> "<strong>Kapitals</strong>" bei der<br />

Behandlung der <strong>Akkumulation</strong> ausdrücklich hervor: "Es wird hier abstrahiert vom Ausfuhrhandel,<br />

vermittelst <strong>des</strong>sen eine Nation Luxusartikel in Produktions- oder Lebensmittel umsetzen kann und<br />

umgekehrt. Um den Gegenstand der Untersuchung in seiner Reinheit, frei von störenden<br />

Nebenumständen aufzufassen, müssen wir hier die gesamte Handelswelt als eine Nation ansehn und<br />

voraussetzen, daß die kapitalistische Produktion sich überall fortgesetzt und sich aller Industriezweige<br />

bemächtigt hat."(6)<br />

<strong>Die</strong> Analyse bietet dieselbe Schwierigkeit, wenn wir die Sache noch von einer anderen Seite betrachten.<br />

In dem Marxschen Schema der <strong>Akkumulation</strong> ist vorausgesetzt, daß der zu kapitalisierende Teil <strong>des</strong><br />

gesellschaftlichen Mehrwertes von vornherein in der Naturalgestalt zur Welt kommt, die seine<br />

Verwendung zur <strong>Akkumulation</strong> bedingt und gestattet: "Mit einem Wort: der Mehrwert ist nur <strong>des</strong>halb in<br />

Kapital verwandelbar, weil das Mehrprodukt, <strong>des</strong>sen Wert er ist, bereits die sachlichen Bestandteile eines<br />

neuen <strong>Kapitals</strong> enthält."(7) In den Ziffern <strong>des</strong> Schemas ausgedrückt:<br />

I. 5.000 c + 1.000 v + 1.000 m = 7.000 Produktionsmittel.<br />

II. 1.430 c + 285 v + 285 m = 2.000 Konsummittel.<br />

Hier kann der Mehrwert im Betrage von 570 m kapitalisiert werden, denn er besteht von vornherein in<br />

Produktionsmitteln; dieser Menge Produktionsmittel entspricht aber eine überschüssige Menge von<br />

Lebensmitteln im Betrage von 114 m, zusammen also können 684 m kapitalisiert werden. Aber der hier<br />

angenommene Vorgang der einfachen Übertragung der entsprechenden Produktionsmittel in das<br />

konstante Kapital, der Lebensmittel in das variable Kapital widerspricht den Grundlagen der<br />

kapitalistischen Warenproduktion. Der Mehrwert kann, in welcher Naturalgestalt er auch stecken mag,<br />

nicht direkt zur <strong>Akkumulation</strong> in die Produktionsstätte übertragen, sondern er muß erst realisiert, in Geld<br />

aus- getauscht werden.(8) Der Mehrwert <strong>des</strong> I im Belaufe von 500 könnte kapitalisiert werden, er<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 7. Kapitel<br />

muß aber zu diesem Zwecke erst überhaupt realisiert werden, er muß seine Naturalgestalt erst abstreifen<br />

und seine reine Wertgestalt annehmen, ehe er wieder zum produktiven Kapital geschlagen wird. Das<br />

bezieht sich auf jeden <strong>Ein</strong>zelkapitalisten, trifft aber auch auf den gesellschaftlichen Gesamtkapitalisten<br />

zu, denn die Realisierung <strong>des</strong> Mehrwertes in reiner Wertgestalt ist eine der Grundbedingungen der<br />

kapitalistischen Produktion, und bei gesellschaftlicher Betrachtung der Reproduktion "muß man nicht in<br />

die von Proudhon der bürgerlichen Ökonomie nachgemachte Manier verfallen und die Sache so<br />

betrachten, als wenn eine Gesellschaft kapitalistischer Produktionsweise, en bloc, als Totalität betrachtet,<br />

diesen ihren spezifischen, historisch ökonomischen Charakter verlöre. Umgekehrt. Man hat es dann mit<br />

dem Gesamtkapitalisten zu tun."(9) Der Mehrwert muß also unbedingt die Geldform passieren, er muß<br />

die Form <strong>des</strong> Mehrprodukts erst abstoßen, ehe er sie wieder zum Zwecke der <strong>Akkumulation</strong> annimmt.<br />

Was und wer sind aber die Abnehmer <strong>des</strong> Mehrprodukts von I und II? Um nur den Mehrwert von I und II<br />

zu realisieren, muß nach dem Vorhergehenden schon ein Absatz außerhalb I und II vorhanden sein. So<br />

wäre aber der Mehrwert erst in Geld verwandelt. Damit dieser realisierte Mehrwert auch noch zur<br />

Erweiterung der Produktion, zur <strong>Akkumulation</strong> verwendet werden kann, dazu ist eine Aussicht auf noch<br />

größeren künftigen Absatz erforderlich, der gleichfalls außerhalb I und II selbst liegt. <strong>Die</strong>ser Absatz für<br />

das Mehrprodukt muß also in jedem Jahre um die akkumulierte Rate <strong>des</strong> Mehrwertes wachsen. Oder<br />

umgekehrt: <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> kann nur in dem Maße stattfinden, als Absatz außerhalb I und II wächst.<br />

Fußnoten von <strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong><br />

(1) Das Kapital, Bd. II, S. 488. [Karl Marx: Das Kapital, Zweiter Band. In: Karl Marx/Friedrich Engels:<br />

Werke, Bd. 24, S. 507.]


<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 7. Kapitel<br />

607.]


<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 8. Kapitel<br />

7. Kapitel | Inhalt | 9. Kapitel<br />

<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - Gesammelte Werke. Herausgegeben vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Band<br />

5. <strong>Berlin</strong>/DDR. 1975. "<strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>", S. 107-122.<br />

1. Korrektur.<br />

Erstellt am 20.10.1998<br />

Achtes Kapitel<br />

<strong>Die</strong> Versuche der Lösung der Schwierigkeit bei Marx<br />

Wir finden daß das völlige Absehen von der Geldzirkulation im Schema der erweiterten<br />

Reproduktion, das uns den <strong>Akkumulation</strong>sprozeß so glatt und einfach erscheinen ließ, zu großen<br />

Unzuträglichkeiten führt. Bei der Analyse der einfachen Reproduktion war dieses Verfahren vollkommen<br />

gerechtfertigt. Dort, wo die Produktion ausschließlich für die Konsumtion stattfand und auf sie berechnet<br />

war, diente das Geld nur als verschwindender Vermittler der Verteilung <strong>des</strong> gesellschaftlichen Produkts<br />

unter die verschiedenen Konsumentengruppen und der Erneuerung <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>. Hier bei der<br />

<strong>Akkumulation</strong> spielt die Geldform eine wesentliche Funktion: Sie dient nicht mehr bloß als Vermittler in<br />

der Warenzirkulation, sondern als Erscheinungsform <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, als Moment in der Kapitalzirkulation.<br />

<strong>Die</strong> Verwandlung <strong>des</strong> Mehrwertes in Geldgestalt ist die wesentliche ökonomische Voraussetzung der<br />

kapitalistischen <strong>Akkumulation</strong>, wenn auch kein wesentliches Moment der wirklichen Reproduktion.<br />

Zwischen der Produktion und der Reproduktion liegen also hier zwei Metamorphosen <strong>des</strong> Mehrprodukts:<br />

die Abstoßung der Gebrauchsform und dann die Annahme der den Zwecken der <strong>Akkumulation</strong><br />

entsprechenden Naturalform. Es kommt nicht darauf an, daß es sich etwa um Jahresabschnitte handelt,<br />

die zwischen den einzelnen Produktionsperioden lägen. Es seien unseretwegen Monate, oder die<br />

Metamorphosen einzelner Portionen <strong>des</strong> Mehrwertes in I und II mögen sich zeitlich in ihrer Reihenfolge<br />

kreuzen. Was diese Jahresfolgen in Wirklichkeit bedeuten, sind nicht Zeitabschnitte, sondern<br />

Reihenfolge ökonomischer Verwandlungen. <strong>Die</strong>se Reihenfolge muß aber eingehalten werden, ob sie<br />

kürzere oder längere Zeit beansprucht, soll der kapitalistische Charakter der <strong>Akkumulation</strong> eingehalten<br />

werden.<br />

Wir kommen damit wieder auf die Frage: Wer realisiert den akkumulierten Mehrwert?<br />

Marx fühlt selbst die Lücke in seinem äußerlich lückenlosen Schema der <strong>Akkumulation</strong> und faßt das<br />

Problem mehrfach von verschiedenen Seiten an. Hören wir zu:<br />

"Es wurde in Buch I gezeigt, wie die <strong>Akkumulation</strong> für den einzelnen Kapitalisten verläuft. Durch die<br />

Versilberung <strong>des</strong> Warenkapitals wird auch das Mehrprodukt versilbert, in dem sich der Mehrwert<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 8. Kapitel<br />

darstellt. <strong>Die</strong>sen so in Geld verwandelten Mehrwert rückverwandelt der Kapitalist in zuschüssige<br />

Naturalelemente seines produktiven <strong>Kapitals</strong>. Im nächsten Kreislauf der Produktion liefert das<br />

vergrößerte Kapital ein vergrößertes Produkt. Was aber beim individuellen Kapital, muß auch erscheinen<br />

in der jährlichen Gesamtreproduktion, ganz wie wir gesehn bei Betrachtung der einfachen Reproduktion,<br />

daß der sukzessive Niederschlag - beim individuellen Kapital - seiner verbrauchten fixen Bestandteile in<br />

Geld, das aufgeschatzt wird, sich auch in der jährlichen gesellschaftlichen Reproduktion<br />

ausdrückt."(1) [Hervorhebung - R. L.]<br />

Weiter untersucht Marx den Mechanismus der <strong>Akkumulation</strong> gerade von diesem Standpunkt. d.h. unter<br />

dem Gesichtswinkel, daß der Mehrwert, bevor er akkumuliert wird, die Geldform passieren muß:<br />

"Wenn Kapitalist A z.B. während eines Jahrs oder einer größren Anzahl von Jahren die sukzessive von<br />

ihm produzierten Mengen von Warenprodukt verkauft, so verwandelt er auch damit den Teil <strong>des</strong><br />

Warenprodukts, der Träger <strong>des</strong> Mehrwerts ist - das Mehrprodukt -, also den von ihm in Warenform<br />

produzierten Mehrwert selbst sukzessive in Geld, speichert dies nach und nach auf und bildet sich so<br />

potentielles neues Geldkapital; potentiell wegen seiner Fähigkeit und Bestimmung, in Elemente von<br />

produktivem Kapital umgesetzt zu werden. Tatsächlich aber vollzieht er nur einfache Schatzbildung, die<br />

kein Element der wirklichen Reproduktion ist. Seine Tätigkeit besteht dabei zunächst nur im sukzessiven<br />

Entziehn von zirkulierendem Geld aus der Zirkulation, wobei natürlich nicht ausgeschlossen ist, daß das<br />

zirkulierende Geld, das er so unter Schloß und Riegel sperrt, eben selbst noch - vor seinem <strong>Ein</strong>tritt in die<br />

Zirkulation - Teil eines andern Schatzes war ...<br />

Geld wird der Zirkulation entzogen und als Schatz aufgespeichert durch Verkauf der Ware ohne<br />

nachfolgenden Kauf. Wird diese Operation also als allgemein vorsichgehend aufgefaßt, so scheint nicht<br />

abzusehn, wo die Käufer herkommen sollen, da in diesem Prozeß - und er muß allgemein aufgefaßt<br />

werden, indem je<strong>des</strong> individuelle Kapital sich in <strong>Akkumulation</strong>sprozedur befinden kann - jeder<br />

verkaufen will, um aufzuschatzen, keiner kaufen.<br />

Stellte man sich den Zirkulationsprozeß zwischen den verschiednen Teilen der jährlichen Reproduktion<br />

als in gerader Linie verlaufend vor - was falsch, da er mit wenigen Ausnahmen allzumal aus<br />

gegeneinander rückläufigen Bewegungen besteht -, so müßte man mit dem Gold- (resp. Silber-)<br />

Produzenten beginnen, der kauft, ohne zu verkaufen, und voraussetzen, daß alle andren an ihn verkaufen.<br />

Dann ginge das gesamte jährliche gesellschaftliche Mehrprodukt (der Träger <strong>des</strong> gesamten Mehrwerts)<br />

an ihn über, und sämtliche andre Kapitalisten verteilen pro rata unter sich sein von Natur in Geld<br />

existieren<strong>des</strong> Mehrprodukt, die Naturalvergoldung seines Mehrwerts; denn der Teil <strong>des</strong> Produkts <strong>des</strong><br />

Goldproduzenten, der sein fungieren<strong>des</strong> Kapital zu ersetzen hat, ist schon gebunden und darüber <br />

verfügt. Der in Gold produzierte Mehrwert <strong>des</strong> Goldproduzenten wäre dann der einzige Fonds, aus dem<br />

alle übrigen Kapitalisten die Materie für Vergoldung ihres jährlichen Mehrprodukts ziehn. Er müßte also<br />

der Wertgröße nach gleich sein dem ganzen gesellschaftlichen jährlichen Mehrwert, der erst in die Form<br />

von Schatz sich verpuppen muß. So abgeschmackt diese Voraussetzungen, so hülfen sie zu weiter nichts,<br />

als die Möglichkeit einer allgemeinen gleichzeitigen Schatzbildung zu erklären, womit die Reproduktion<br />

selbst, außer auf Seite der Goldproduzenten, um keinen Schritt weiter wäre.<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 8. Kapitel<br />

Bevor wir diese scheinbare Schwierigkeit lösen, ist zu unterscheiden" usw.(2) [Hervorhebung - R. L.]<br />

Hier nennt Marx die Schwierigkeit in der Realisierung <strong>des</strong> Mehrwertes eine scheinbare. <strong>Die</strong> ganze<br />

weitere Untersuchung bis zu Ende <strong>des</strong> zweiten Ban<strong>des</strong> <strong>des</strong> "<strong>Kapitals</strong>" dient aber der Überwindung dieser<br />

Schwierigkeit. Zuerst versucht Marx die Frage zu lösen durch den Hinweis auf die Schatzbildung, die<br />

sich bei der kapitalistischen Produktion unvermeidlich ergibt aus dem Auseinanderfallen in dem<br />

Zirkulationsprozeß verschiedener konstanter Kapitale. Da sich verschiedene individuelle Kapitalanlagen<br />

in verschiedenem Alter befinden, ein Teil der Anlagen aber immer erst nach einer längeren Periode<br />

erneuert wird, so sehen wir, daß zu jedem Zeitpunkt irgendwelche <strong>Ein</strong>zelkapitalisten bereits ihre Anlagen<br />

erneuern, während andere dafür nur aus dem Verkauf ihrer Waren Rücklagen machen, bis diese die<br />

nötige Höhe zur Erneuerung <strong>des</strong> fixen <strong>Kapitals</strong> erreicht haben. So geht auf kapitalistischer Basis die<br />

Schatzbildung stets parallel mit dem gesellschaftlichen Reproduktionsprozeß als Äußerung und<br />

Bedingung <strong>des</strong> eigenartigen Umschlags <strong>des</strong> fixen <strong>Kapitals</strong>. "A verkaufe z.B. 600 (= 400 c + 100 v + 100<br />

m) an B (der mehr als einen Käufer repräsentieren mag). Er hat für 600 Waren verkauft, gegen 600 in<br />

Geld, wovon 100 Mehrwert darstellen. die er der Zirkulation entzieht, sie aufschatzt als Geld; aber diese<br />

100 Geld sind nur die Geldform <strong>des</strong> Mehrprodukts, das der Träger eines Werts von 100 war. (Um das<br />

Problem rein aufzufassen, nimmt Marx hier an, der gesamte Mehrwert werde kapitalisiert, sieht also von<br />

dem zur persönlichen Konsumtion <strong>des</strong> Kapitalisten verwendeten Teil <strong>des</strong> Mehrwertes ganz ab; zugleich<br />

gehören hier sowohl die A', A'', A''' wie die B', B'', B''' der Abteilung I an. - R. L.) <strong>Die</strong> Schatzbildung ist<br />

überhaupt keine Produktion, also von vornherein auch kein Inkrement der Produktion. <strong>Die</strong> Aktion <strong>des</strong><br />

Kapitalisten dabei be- steht nur darin, daß er das durch Verkauf <strong>des</strong> Mehrprodukts von 100<br />

ergatterte Geld der Zirkulation entzieht, festhält und mit Beschlag belegt. <strong>Die</strong>se Operation findet nicht<br />

nur statt auf seiten <strong>des</strong> A, sondern auf zahlreichen Punkten der Zirkulationsperipherie von andren A', A'',<br />

A''' ...<br />

A vollbringt diese Schatzbildung aber nur, sofern er - mit Bezug auf sein Mehrprodukt - nur als<br />

Verkäufer, nicht hintennach als Käufer auftritt. Seine sukzessive Produktion von Mehrprodukt - dem<br />

Träger seines zu vergoldenden Mehrwerts - ist also die Voraussetzung seiner Schatzbildung. Im<br />

gegebnen Fall, wo die Zirkulation nur innerhalb Kategorie I betrachtet wird, ist die Naturalform <strong>des</strong><br />

Mehrprodukts, wie die <strong>des</strong> Gesamtprodukts, von dem es einen Teil bildet, Naturalform eines Elements<br />

<strong>des</strong> konstanten <strong>Kapitals</strong> I, d.h. gehört in die Kategorie der Produktionsmittel von Produktionsmitteln.<br />

Was daraus wird, d.h. zu welcher Funktion es dient, in der Hand der Käufer B, B', B'' etc., werden wir<br />

gleich sehn.<br />

Was aber hier zunächst festzuhalten, ist dies: Obgleich A Geld für seinen Mehrwert der Zirkulation<br />

entzieht und es aufschatzt, wirft er andrerseits Ware in sie hinein, ohne ihr andre Ware dafür zu entziehn,<br />

wodurch B, B' B'' etc. ihrerseits befähigt werden, Geld hineinzuwerfen und dafür nur Ware ihr zu<br />

entziehn. Im gegebnen Fall geht diese Ware, ihrer Naturalform wie ihrer Bestimmung nach, als fixes<br />

oder flüssiges Element in das konstante Kapital von B, B' etc. ein."(3)<br />

Der ganze hier geschilderte Vorgang ist uns nicht neu. Marx hat ihn bereits eingehend bei der einfachen<br />

Reproduktion dargestellt, denn er ist unerläßlich zur Erklärung, wie das konstante Kapital der<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 8. Kapitel<br />

Gesellschaft unter den Bedingungen der kapitalistischen Reproduktion erneuert wird. Es ist <strong>des</strong>halb<br />

vorerst gar nicht ersichtlich, wie uns dieser Vorgang über die besondere Schwierigkeit hinweghelfen soll,<br />

die uns bei der Analyse der erweiterten Reproduktion aufgestoßen ist. <strong>Die</strong> Schwierigkeit war ja die<br />

folgende: Für Zwecke der <strong>Akkumulation</strong> wird ein Teil <strong>des</strong> Mehrwertes nicht von den Kapitalisten<br />

verzehrt, sondern zum Kapital geschlagen behufs Erweiterung der Produktion. Es fragt sich nun: Wo sind<br />

die Käufer für dieses zuschüssige Produkt, das die Kapitalisten selbst nicht verzehren und das die<br />

Arbeiter noch weniger verzehren können, da ihre Konsumtion durch den Betrag <strong>des</strong> jeweiligen variablen<br />

<strong>Kapitals</strong> total gedeckt ist? Wo ist die Nachfrage für den akkumulierten Mehrwert, oder, wie Marx<br />

formuliert: Wo kommt das Geld her, um den akkumulierten Mehr- wert zu bezahlen? Wenn wir<br />

als Antwort darauf auf den Vorgang der Schatzbildung verwiesen werden, der sich aus der stufenweisen<br />

und zeitlich auseinanderfallenden Erneuerung <strong>des</strong> konstanten <strong>Kapitals</strong> bei den einzelnen Kapitalisten<br />

ergibt, so ist der Zusammenhang dieser Dinge miteinander nicht einzusehen. Kaufen die B, B', B'' usw.<br />

Produktionsmittel von ihren Kollegen A, A', A'' zum Zwecke der Erneuerung ihres tatsächlich<br />

verbrauchten konstanten <strong>Kapitals</strong>, dann befinden wir uns in den Grenzen der einfachen Reproduktion,<br />

und die Sache hat mit unserer Schwierigkeit gar nichts zu tun. Wird aber unterstellt, daß der Ankauf der<br />

Produktionsmittel durch B, B', B'' usw. der Erweiterung ihres konstanten <strong>Kapitals</strong> für Zwecke der<br />

<strong>Akkumulation</strong> dient, so knüpfen sich daran sofort mehrere Fragen. Vor allem: Woher haben denn B, B',<br />

B'' das Geld, um zuschüssiges Mehrprodukt den A, A', A'' usw. abzukaufen? Sie können doch ihrerseits<br />

auch nur durch Verkauf <strong>des</strong> eigenen Mehrprodukts zu Geld gekommen sein. Bevor sie neue<br />

Produktionsmittel zur Erweiterung ihrer Unternehmungen anschaffen, d.h. als Käufer <strong>des</strong> zu<br />

akkumulierenden Mehrprodukts auftreten, müssen sie ihr eigenes Mehrprodukt erst losgeworden, d.h. als<br />

Verkäufer aufgetreten sein. An wen haben nun die B, B', B'' usw. ihr Mehrprodukt verkauft? Man sieht,<br />

die Schwierigkeit ist nur von den A, A', A'' auf die B, B', B'' abgewälzt, nicht aber beseitigt worden.<br />

<strong>Ein</strong>en Moment lang scheint es während der Analyse, als sei die Schwierigkeit doch gelöst. Nach einer<br />

kleinen Abschweifung nimmt Marx den Faden der Untersuchung folgendermaßen auf:<br />

"Im hier betrachteten Fall besteht dies Mehrprodukt von vornherein aus Produktionsmitteln von<br />

Produktionsmitteln. Erst in der Hand von B, B', B'' etc. (I) fungiert dies Mehrprodukt als zuschüssiges<br />

konstantes Kapital; aber es ist dies virtualiter schon, bevor es verkauft wird, schon in der Hand der<br />

Schatzbildner A, A', A'' (I). Wenn wir bloß den Wertumfang der Reproduktion seitens I betrachten, so<br />

befinden wir uns noch innerhalb der Grenzen der einfachen Reproduktion, denn kein zusätzliches Kapital<br />

ist in Bewegung gesetzt worden, um dies virtualiter zuschüssige konstante Kapital (das Mehrprodukt) zu<br />

schaffen, auch keine größre Mehrarbeit als die auf Grundlage der einfachen Reproduktion verausgabte.<br />

Der Unterschied liegt hier nur in der Form der angewandten Mehrarbeit, der konkreten Natur ihrer<br />

besondren nützlichen Weise. Sie ist verausgabt worden in Produktionsmitteln für I c statt für II c, in<br />

Produktionsmitteln für Produktionsmittel statt in Produktionsmitteln für Konsumtionsmittel. Bei der<br />

einfachen Reproduktion wurde vorausgesetzt, daß der ganze Mehrwert I verausgabt wird als<br />

Revenue, also in Waren II; er bestand also nur aus solchen Produktionsmitteln, die das konstante Kapital<br />

II c in seiner Naturalform wieder zu ersetzen haben. Damit also der Übergang von der einfachen zur<br />

erweiterten Reproduktion vor sich gehe, muß die Produktion in Abteilung I im Stand sein, weniger<br />

Elemente <strong>des</strong> konstanten <strong>Kapitals</strong> für II, aber um ebensoviel mehr für I herzustellen ...<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 8. Kapitel<br />

Es folgt also, daß - bloß dem Wertumfang nach betrachtet - innerhalb der einfachen Reproduktion das<br />

materielle Substrat der erweiterten Reproduktion produziert wird. Es ist einfach direkt in Produktion von<br />

Produktionsmitteln, in Schöpfung von virtuellem zuschüssigem Kapital I verausgabte Mehrarbeit der<br />

Arbeiterklasse I. <strong>Die</strong> Bildung von virtuellem zusätzlichem Geldkapital seitens A, A', A'' (I) - durch<br />

sukzessiven Verkauf ihres Mehrprodukts, das ohne alle kapitalistische Geldausgabe gebildet - ist also<br />

hier die bloße Geldform von zuschüssig produzierten Produktionsmitteln I."(4)<br />

Hier scheint sich die Schwierigkeit unter unseren Händen in Dunst aufgelöst zu haben. <strong>Die</strong><br />

<strong>Akkumulation</strong> erfordert gar keine neuen Geldquellen: Früher verzehrten die Kapitalisten ihren Mehrwert<br />

selbst, mußten also einen entsprechenden Geldvorrat in den Händen haben, denn wir wissen schon aus<br />

der Analyse der einfachen Reproduktion, daß die Kapitalistenklasse selbst das Geld in die Zirkulation<br />

werfen muß, das zur Realisierung ihres Mehrwerts erforderlich ist. Nun kauft die Kapitalistenklasse für<br />

einen Teil dieses Geldvorrats (nämlich B, B', B'' usw.) statt Konsumtionsmittel zum gleichen<br />

Wertbetrage neue, zuschüssige Produktionsmittel, um ihre Produktion zu erweitern. Dadurch sammelt<br />

sich Geld im gleichen Betrage in den Händen <strong>des</strong> anderen Teils der Kapitalisten (nämlich der A, A', A''<br />

usw.). "<strong>Die</strong>se Schatzbildung ... unterstellt in keiner Weise zusätzlichen Edelmetallreichtum, sondern nur<br />

veränderte Funktion von bisher umlaufendem Geld. Eben fungierte es als Zirkulationsmittel, jetzt<br />

fungiert es als Schatz, als sich bilden<strong>des</strong>, virtuell neues Geldkapital."<br />

So wären wir aus der Schwierigkeit heraus. Allein, es ist unschwer herauszufinden, welcher Umstand uns<br />

hier die Lösung leicht gemacht hat: Marx faßt hier die <strong>Akkumulation</strong> bei ihrer ersten Regung, in statu<br />

nascendi, wo sie gerade aus der einfachen Reproduktion als Knospe her- vorsprießt. Dem<br />

Wertumfang nach ist die Produktion hier noch nicht erweitert, nur ihr Arrangement und ihre sachlichen<br />

Elemente sind anders geordnet. Und da ist es kein Wunder, daß dann auch die Geldquellen als<br />

ausreichend erscheinen. <strong>Die</strong> Lösung, die wir gefunden, hält aber auch nur einen Moment lang an: nur für<br />

den Übergang von der einfachen zur erweiterten Reproduktion, d.h. gerade für einen nur theoretisch<br />

gedachten, für die Wirklichkeit gar nicht in Betracht kommenden Fall. Ist aber die <strong>Akkumulation</strong> schon<br />

längst eingebürgert und wirft jede Produktionsperiode eine größere Wertmasse auf den Markt als die<br />

frühere, dann fragt es sich: Wo sind die Käufer für diese zuschüssigen Werte? <strong>Die</strong> Lösung, die wir<br />

gefunden, läßt uns da vollkommen im Stich. Außerdem ist sie auch selbst nur scheinbar. Bei näherem<br />

Zusehen schlägt sie uns gerade in demselben Augenblick, wo sie uns anscheinend aus der Patsche<br />

geholfen hat. Wenn wir nämlich die <strong>Akkumulation</strong> gerade in dem Moment fassen, wo sie auf dem<br />

Sprung ist, aus dem Schoße der einfachen Reproduktion hervorzugehen, so ist ihre erste Voraussetzung<br />

eine Verminderung in der Konsumtion der Kapitalistenklasse. Im selben Moment, wo wir die<br />

Möglichkeit finden, mit den früheren Zirkulationsmitteln eine Erweiterung der Produktion vorzunehmen,<br />

verlieren wir im gleichen Maße alte Konsumenten. Für wen soll denn da die Erweiterung der Produktion<br />

vorgenommen werden, d.h., wer kauft morgen von den B, B', B'' (I) die vergrößerte Produktenmenge, die<br />

sie dadurch hergestellt haben, daß sie sich das Geld "vom Munde absparten", um damit den A, A', A'' (I)<br />

neue Produktionsmittel abzukaufen?<br />

Man sieht, die Lösung, nicht die Schwierigkeit, war hier eine scheinbare, und Marx kehrt selbst im<br />

nächsten Augenblick zu der Frage zurück, wo denn die B, B', B'' das Geld hernehmen, um den A, A', A''<br />

ihr Mehrprodukt abzukaufen:<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 8. Kapitel<br />

"Soweit die Produkte, die B, B', B'' etc. (I) produzieren, selbst wieder in natura in ihren Prozeß eingehn,<br />

versteht es sich von selbst, daß pro tanto ein Teil ihres eignen Mehrprodukts direkt (ohne<br />

Zirkulationsvermittlung) übertragen wird in ihr produktives Kapital und hier eingeht als zuschüssiges<br />

Element <strong>des</strong> konstanten <strong>Kapitals</strong>. Pro tanto sind sie aber auch keine Vergolder <strong>des</strong> Mehrprodukts von A,<br />

A' etc. (I). Hiervon abgesehn, wo kommt das Geld her? Wir wissen, daß sie ihren Schatz gebildet wie A,<br />

A' etc., durch Verkauf ihrer respektiven Mehrprodukte, und nun ans Ziel gelangt sind, wo ihr als Schatz<br />

aufgehäuftes, nur virtuelles Geldkapital nun effektiv als zusätzliches Geldkapital fungieren soll. Aber<br />

damit drehn wir uns nur im Zirkel. <strong>Die</strong> Frage ist immer noch, wo das Geld herkomme, das die B's<br />

(I) früher der Zirkulation entzogen und aufgehäuft?"(5)<br />

<strong>Die</strong> Antwort, die Marx sogleich gibt, scheint wieder von überraschender <strong>Ein</strong>fachheit zu sein. "Wir<br />

wissen jedoch schon aus der Betrachtung der einfachen Reproduktion, daß sich eine gewisse Geldmasse<br />

in den Händen der Kapitalisten I und II befinden muß, um ihr Mehrprodukt umzusetzen. Dort kehrte das<br />

Geld, das nur zur Verausgabung als Revenue in Konsumtionsmitteln diente, zu den Kapitalisten zurück,<br />

im Maß, wie sie es vorgeschossen zum Umsatz ihrer respektiven Waren; hier erscheint dasselbe Geld<br />

wieder, aber mit veränderter Funktion. <strong>Die</strong> A's und die B's (I) liefern sich abwechselnd das Geld zur<br />

Verwandlung von Mehrprodukt in zusätzliches virtuelles Geldkapital und werfen abwechselnd das<br />

neugebildete Geldkapital als Kaufmittel in die Zirkulation zurück."(6)<br />

Hier sind wir wieder in die einfache Reproduktion zurückgefallen. Es stimmt vollkommen, daß die<br />

Kapitalisten A und die Kapitalisten B stets einen Geldschatz allmählich anhäufen, um von Zeit zu Zeit<br />

ihr konstantes (fixes) Kapital zu erneuern, und so einander zur Realisierung ihres Produkts gegenseitig<br />

verhelfen. Aber dieser sich ansammelnde Schatz fällt nicht vom Himmel. Er ist nur der allmählich<br />

herabrieselnde Niederschlag <strong>des</strong> stufenweise auf die Produkte übertragenen Wertes <strong>des</strong> fixen <strong>Kapitals</strong>,<br />

der mit dem Verkauf der Produkte stückweise realisiert wird. Auf diese Weise kann der angesammelte<br />

Schatz immer nur ausreichen zur Erneuerung <strong>des</strong> alten <strong>Kapitals</strong>, er kann unmöglich darüber hinaus zum<br />

Ankauf eines zuschüssigen konstanten <strong>Kapitals</strong> dienen. Damit wären wir immer noch nicht über die<br />

Schranken der einfachen Reproduktion hinaus. Oder aber es kommt als neue, zuschüssige Geldquelle ein<br />

Teil der Zirkulationsmittel hinzu, die bisher Kapitalisten zu ihrer persönlichen Konsumtion dienten und<br />

die nun kapitalisiert werden sollen. Damit kommen wir aber wieder auf den nur theoretisch denkbaren<br />

kurzen Ausnahmemoment: den Übergang von der einfachen Reproduktion zur erweiterten. Weiter als bis<br />

zu diesem Sprung kommt die <strong>Akkumulation</strong> nicht vom Fleck, wir drehen uns in der Tat nur im Zirkel.<br />

<strong>Die</strong> kapitalistische Schatzbildung kann uns also aus der Schwierigkeit nicht heraushelfen. Und das war<br />

vorauszusehen, denn die Fragestellung selbst ist hier eine schiefe. Es handelt sich bei dem Problem der<br />

<strong>Akkumulation</strong> nicht darum: Wo kommt das Geld her?, sondern darum: Wo kommt die Nachfrage<br />

für das zuschüssige Produkt her, das aus dem kapitalisierten Mehrwert entspringt? Es ist nicht eine<br />

technische Frage der Geldzirkulation, sondern eine ökonomische Frage der Reproduktion <strong>des</strong><br />

gesellschaftlichen Gesamtkapitals. Denn sogar, wenn wir von der Frage absehen, mit der sich Marx bis<br />

jetzt allein befaßt hat: Wo hatten die B, B' usw. (I) Geld her, um zuschüssige Produktionsmittel von den<br />

A, A' usw. (I) zu kaufen?, so ersteht nach der vollzogenen <strong>Akkumulation</strong> die viel wichtigere Frage: An<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 8. Kapitel<br />

wen wollen denn die B, B' usw. (I) ihr gewachsenes Mehrprodukt jetzt verkaufen? Marx läßt sie<br />

schließlich ihre Produkte aneinander verkaufen!<br />

"Es können die verschiednen B, B', B'' etc. (I), deren virtuelles neues Geldkapital als aktives in Operation<br />

tritt, wechselseitig ihre Produkte (Teile ihres Mehrprodukts) voneinander zu kaufen und aneinander zu<br />

verkaufen haben. Pro tanto fließt das der Zirkulation <strong>des</strong> Mehrprodukts vorgeschoßne Geld - bei<br />

normalem Verlauf - an die verschiednen B's zurück, in derselben Proportion, worin sie solches zur<br />

Zirkulation ihrer respektiven Waren vorgeschossen haben."(7)<br />

"Pro tanto" ist das keine Lösung der Frage, denn schließlich haben die B, B', B'' usw. (I) wohl nicht<br />

<strong>des</strong>halb auf einen Teil der Konsumtion verzichtet und ihre Produktion erweitert, um nachher ihr<br />

vermehrtes Produkt - nämlich Produktionsmittel - einander abzukaufen. Übrigens ist dies auch nur in<br />

sehr beschränktem Maße möglich. Nach der Marxschen Annahme besteht nämlich eine gewisse<br />

Arbeitsteilung innerhalb I, wobei die A, A', A'' usw. (I) Produktionsmittel von Produktionsmitteln<br />

herstellen, die B, B', B" usw. (I) hingegen Produktionsmittel von Konsumtionsmitteln herstellen. Wenn<br />

also das Produkt der A, A' usw. innerhalb der Abteilung I verbleiben konnte, so ist das Produkt der B, B',<br />

B'' usw. von vornherein seiner Naturalgestalt wegen für die Abteilung II (Herstellung von Lebensmitteln)<br />

bestimmt. <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> bei den B, B' usw. führt uns also bereits zur Zirkulation zwischen I und II.<br />

Damit bestätigt der Gang der Marxschen Analyse selbst, daß, wenn innerhalb der Abteilung I<br />

<strong>Akkumulation</strong> stattfinden soll, schließlich - direkt oder indirekt - eine vergrößerte Nachfrage nach<br />

Produktionsmitteln in der Abteilung der Lebensmittel vorhanden sein muß. Hier also, bei den<br />

Kapitalisten II, haben wir die Abnehmer für das zuschüssige Produkt der Abteilung I zu suchen.<br />

In der Tat richtet sich der zweite Versuch von Marx, das Problem zu lösen, auf die Nachfrage der<br />

Kapitalisten II. Ihre Nachfrage nach zuschüs- sigen Produktionsmitteln kann nur den Sinn haben,<br />

daß sie ihr konstantes Kapital II c vergrößern. Hier springt aber die ganze Schwierigkeit deutlich in die<br />

Augen:<br />

"Gesetzt aber, A (I) vergolde sein Mehrprodukt durch Verkauf an einen B aus Abteilung II. <strong>Die</strong>s kann<br />

nur dadurch geschehn, daß, nachdem A (I) an B (II) Produktionsmittel verkauft, er nicht hinterher<br />

Konsumtionsmittel kauft; also nur durch einseitigen Verkauf seinerseits. Sofern nun II c aus Form von<br />

Warenkapital in die Naturalform von produktivem, konstantem Kapital nur umsetzbar dadurch, daß nicht<br />

nur I v, sondern auch wenigstens ein Teil von I m sich umsetzt gegen einen Teil von II c, welches II c in<br />

Form von Konsumtionsmitteln existiert; nun aber A sein I m dadurch vergoldet, daß dieser Umsatz nicht<br />

vollzogen wird, unser A vielmehr das im Verkauf seines I m von II gelöste Geld der Zirkulation entzieht,<br />

statt es in Kauf von Konsumtionsmitteln II c umzusetzen - so findet zwar auf Seite <strong>des</strong> A (I) Bildung von<br />

zusätzlichem virtuellem Geldkapital statt; aber auf der andren Seite liegt ein dem Wertumfang nach<br />

gleicher Teil <strong>des</strong> konstanten <strong>Kapitals</strong> von B (II) fest in der Form von Warenkapital, ohne sich in die<br />

Naturalform von produktivem, konstantem Kapital umsetzen zu können. In andern Worten: <strong>Ein</strong> Teil der<br />

Waren <strong>des</strong> B (II), und zwar prima facie ein Teil, ohne <strong>des</strong>sen Verkauf er sein konstantes Kapital nicht<br />

ganz in produktive Form rückverwandeln kann, ist unverkäuflich geworden; mit Bezug auf ihn findet<br />

daher Überproduktion statt, welche ebenfalls mit Bezug auf ihn die Reproduktion - selbst auf<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 8. Kapitel<br />

gleichbleibender Stufenleiter hemmt."(8)<br />

Der Versuch der <strong>Akkumulation</strong> auf seiten der Abteilung I durch Verkauf <strong>des</strong> zuschüssigen Mehrprodukts<br />

an die Abteilung II hat hier ein ganz unerwartetes Ergebnis gezeitigt: ein Defizit auf seiten der<br />

Kapitalisten II, die nicht einmal die einfache Reproduktion wieder aufnehmen können. An diesem<br />

Knotenpunkt angelangt, vertieft sich Marx ganz eingehend in die Analyse, um der Sache auf den Sprung<br />

zu kommen:<br />

"Betrachten wir nun die <strong>Akkumulation</strong> in Abteilung II etwas näher.<br />

<strong>Die</strong> erste Schwierigkeit mit Bezug auf II c, d.h. seine Rückverwandlung aus einem Bestandteil <strong>des</strong><br />

Warenkapitals II in die Naturalform von konstantem Kapital II, betrifft die einfache Reproduktion.<br />

Nehmen wir das frühere Schema:<br />

(1.000 v + 1.000 m) I setzen sich um gegen<br />

2.000 II c.<br />

Wird nun z.B. die Hälfte <strong>des</strong> Mehrprodukts I, also 1.000/2 m oder 500 I m wieder selbst als<br />

konstantes Kapital der Abteilung I einverleibt, so kann dieser in I rückbehaltne Teil <strong>des</strong> Mehrprodukts<br />

keinen Teil von II c ersetzen. Statt in Konsumtionsmittel umgesetzt zu werden ..., soll es als zusätzliches<br />

Produktionsmittel in I selbst dienen. Es kann diese Funktion nicht gleichzeitig in I und II verrichten. Der<br />

Kapitalist kann den Wert seines Mehrprodukts nicht in Konsumtionsmitteln verausgaben und gleichzeitig<br />

das Mehrprodukt selbst produktiv konsumieren, d.h. seinem produktiven Kapital einverleiben. Statt<br />

2.000 I (v + m) sind also nur 1.500, nämlich (1.000 v + 500 m) I umsetzbar in 2.000 II c; es sind also 500<br />

II c aus ihrer Warenform nicht rückverwandelbar in produktives (konstantes) Kapital II."(9)<br />

Bis jetzt haben wir uns noch klarer von dem Bestehen der Schwierigkeit überzeugt, keinen Schritt aber<br />

zu ihrer Lösung vorwärts getan. Übrigens rächt sich hier an der Analyse, daß Marx zur Aufklärung <strong>des</strong><br />

Problems der <strong>Akkumulation</strong> immer wieder als Grundlage die Fiktion eines anfänglichen Übergangs von<br />

der einfachen zur erweiterten Reproduktion, also die Geburtsstunde der <strong>Akkumulation</strong> gebraucht, statt<br />

die <strong>Akkumulation</strong> mitten in ihrem Fluß zu packen. <strong>Die</strong>se Fiktion nun, die uns, solange wir die<br />

<strong>Akkumulation</strong> nur innerhalb der Abteilung I betrachteten, wenigstens für einen Augenblick eine<br />

scheinbare Lösung bot - die Kapitalisten I hatten plötzlich, da sie auf einen Teil ihrer gestrigen<br />

Privatkonsumtion verzichteten, einen neuen Geldschatz in der Hand, mit dem sie die Kapitalisierung<br />

beginnen konnten -, selbe Fiktion vergrößert jetzt, wo wir uns an die Abteilung II wenden, nur noch mehr<br />

die Schwierigkeit. Denn hier äußert sich die "Entsagung" auf seiten der Kapitalisten I in einem<br />

schmerzlichen Verlust von Konsumenten, auf deren Nachfrage die Produktion berechnet war. <strong>Die</strong><br />

Kapitalisten der Abteilung II, mit denen wir das Experiment anstellen wollten, ob sie nicht die lange<br />

gesuchten Abnehmer für das zuschüssige Produkt der <strong>Akkumulation</strong> in Abteilung I darstellen, können<br />

uns um so weniger aus der Schwierigkeit heraushelfen, als sie selbst in der Klemme sitzen und vorerst<br />

noch nicht wissen, wo sie mit ihrem eigenen unverkauften Produkt hin sollen. Man sieht, zu welchen<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 8. Kapitel<br />

Unzuträglichkeiten der Versuch führt, die <strong>Akkumulation</strong> bei den einen Kapitalisten auf Kosten anderer<br />

Kapitalisten vollziehen zu lassen.<br />

Marx führt dann einen Versuch an, die Schwierigkeit zu umgehen, um ihn alsbald selbst als eine<br />

Ausflucht abzuweisen. Man könnte nämlich den aus der <strong>Akkumulation</strong> in I sich ergebenden<br />

unverkäuflichen Überschuß in II als einen notwendigen Warenvorrat der Gesellschaft für das nächste<br />

Jahr betrachten. Darauf erwidert Marx mit seiner gewohnten Gründlichkeit: "1. solche Vorratbildung und<br />

ihre Notwendigkeit gilt für alle Kapitalisten, sowohl I wie II. Als bloße Warenverkäufer betrachtet,<br />

unterscheiden sie sich nur dadurch, daß sie Waren verschiedner Sorten verkaufen. Der Vorrat in Waren II<br />

unterstellt einen frühern Vorrat in Waren I. Vernachlässigen wir diesen Vorrat auf der einen Seite, so<br />

müssen wir es auch auf der andern. Ziehn wir ihn aber auf beiden Seiten in Betracht, so wird am Problem<br />

nichts geändert. - 2. Wie dies Jahr auf Seite II mit einem Warenvorrat für nächstes abschließt, so hat es<br />

begonnen mit einem Warenvorrat auf derselben Seite, überliefert vom vorigen Jahr. Bei Analyse der<br />

jährlichen Reproduktion - auf ihren abstraktesten Ausdruck reduziert - müssen wir ihn also beidemal<br />

streichen. Indem wir diesem Jahr seine ganze Produktion lassen, also auch das, was es als Warenvorrat<br />

an nächstes Jahr abgibt, nehmen wir ihm aber auch andrerseits den Warenvorrat, den es vom vorigen Jahr<br />

bekommen, und haben damit in der Tat das Gesamtprodukt eines Durchschnittsjahrs als Gegenstand der<br />

Analyse vor uns. - 3. Der einfache Umstand, daß die Schwierigkeit, die umgangen werden soll, uns nicht<br />

aufstieß bei Betrachtung der einfachen Reproduktion, beweist, daß es sich um ein spezifisches Phänomen<br />

handelt, das nur der verschiednen Gruppierung (mit Bezug auf Reproduktion) der Elemente I geschuldet<br />

ist, einer veränderten Gruppierung, ohne welche überhaupt keine Reproduktion auf erweiterter<br />

Stufenleiter stattfinden könnte."(10)<br />

<strong>Die</strong> letztere Bemerkung richtet sich aber gegen die bisherigen Versuche von Marx selbst, die spezifische<br />

Schwierigkeit der <strong>Akkumulation</strong> durch Momente auflösen zu wollen, die schon der einfachen<br />

Reproduktion gehören, nämlich jene mit dem allmählichen Umschlag <strong>des</strong> fixen <strong>Kapitals</strong> verbundene<br />

Schatzbildung in den Händen der Kapitalisten, die uns früher, innerhalb der Abteilung I, die<br />

<strong>Akkumulation</strong> erklären sollte.<br />

Marx geht weiter zur schematischen Darstellung der erweiterten Reproduktion über, stößt aber im<br />

nächsten Augenblick, bei der Analyse seines Schemas, wieder auf dieselbe Schwierigkeit unter einer<br />

etwas anderen Form. Er unterstellt, daß die Kapitalisten der Abteilung I 500 m akkumulieren, die der<br />

Abteilung II aber ihrerseits 140 m in konstantes Kapital verwandeln müssen, um jenen die <strong>Akkumulation</strong><br />

zu ermöglichen, und fragt:<br />

"II muß 140 I m also mit barem Geld kaufen, ohne daß dies Geld zu ihm zurückflösse durch<br />

nachfolgenden Verkauf seiner Ware an I. Und zwar ist dies ein beständig, bei jeder jährlichen<br />

Neuproduktion, soweit sie Reproduktion auf erweiterter Stufenleiter, sich wiederholender Prozeß. Wo<br />

springt dafür die Geldquelle in II?"(11)<br />

Marx versucht im weiteren Verlauf diese Quelle von verschiedenen Seiten ausfindig zu machen.<br />

Zunächst betrachtet er näher die Ausgabe der Kapitalisten II für variables Kapital. <strong>Die</strong>ses ist freilich in<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 8. Kapitel<br />

Geldform vorhanden. Es kann aber auch unmöglich seinem Zweck, dem Ankauf der Arbeitskraft,<br />

entzogen werden, um etwa zum Ankauf jener zuschüssigen Produktionsmittel zu dienen. "<strong>Die</strong>se<br />

beständig sich wiederholende Entfernung (<strong>des</strong> variablen <strong>Kapitals</strong> - R. L.) vom und Rückkehr zum<br />

Ausgangspunkt - der Tusche <strong>des</strong> Kapitalisten - vermehrt das in diesem Kreislauf sich herumtreibende<br />

Geld in keiner Weise. <strong>Die</strong>s ist also keine Quelle von Geldakkumulation." Marx zieht sodann selbst alle<br />

denkbaren Ausflüchte in Erwägung, um sie als solche abzulehnen. "Aber halt! ist hier nicht ein<br />

Profitchen zu machen?" ruft er, und untersucht, ob die Kapitalisten nicht durch Herabdrückung der<br />

Löhne ihrer Arbeiter unter die normale Durchschnittshöhe zur Ersparnis <strong>des</strong> variablen <strong>Kapitals</strong> und so zu<br />

einer neuen Geldquelle für Zwecke der <strong>Akkumulation</strong> gelangen können. <strong>Die</strong>sen <strong>Ein</strong>fall schiebt er<br />

natürlich mit einer Handbewegung auf die Seite: "Es darf aber nicht vergessen werden, daß der wirklich<br />

gezahlte normale Arbeitslohn (der ceteris paribus die Größe <strong>des</strong> variablen <strong>Kapitals</strong> bestimmt) keineswegs<br />

aus Güte der Kapitalisten gezahlt wird, sondern unter gegebnen Verhältnissen gezahlt werden muß.<br />

Damit ist diese Erklärungsweise beseitigt."(12) Selbst auf versteckte Methoden der "Ersparnisse" beim<br />

variablen Kapital - Trucksystem, Fälschungen usw. - geht er ein, um zum Schluß zu bemerken: "Es ist<br />

dies dieselbe Operation wie sub 1, nur verkleidet und auf einem Umweg exekutiert. Sie ist also hier<br />

ebensosehr zurückzuweisen wie jene."(13) Auf diese Weise sind alle Versuche, aus dem variablen<br />

Kapital eine neue Geldquelle für Zwecke der <strong>Akkumulation</strong> herauszuschlagen, resultatlos: "Mit 376 II v<br />

ist also zu dem erwähnten Zweck nichts anzustellen."<br />

Marx wendet sich dann an den Geldvorrat der Kapitalisten II, den sie zur Zirkulation ihrer<br />

eigenen Konsumtion in der Tasche haben, um nachzusehen, ob sich hier nicht ein Geldquantum für<br />

Zwecke der Kapitalisierung erübrigen ließe. Er nennt aber diesen Versuch selbst "noch bedenklicher" als<br />

den früheren: "Hier stehn sich nur Kapitalisten derselben Klasse gegenüber, die die von ihnen<br />

produzierten Konsumtionsmittel wechselseitig aneinander verkaufen und voneinander kaufen. Das zu<br />

diesem Umsatz nötige Geld fungiert nur als Zirkulationsmittel und muß bei normalem Verlauf zu den<br />

Beteiligten zurückfließen, in dem Maß, wie sie es der Zirkulation vorgeschossen haben, um stets von<br />

neuem dieselbe Bahn zu durchlaufen." Dann folgt noch ein Versuch, der natürlich in die Kategorie jener<br />

"Ausflüchte" gehört, die Marx rücksichtslos zurückweist: die Bildung von Geldkapital in den Händen der<br />

einen Kapitalisten II durch Beschwindelung der anderen Kapitalisten derselben Abteilung zu erklären,<br />

nämlich beim gegenseitigen Verkauf von Konsummitteln. Es erübrigt sich, auf diesen Versuch<br />

einzugeben.<br />

Darauf noch ein ernstgemeinter Versuch:<br />

"Oder aber, ein in notwendigen Lebensmitteln sich darstellender Teil von II m wird direkt in neues<br />

variables Kapital innerhalb Abteilung II verwandelt."(14)<br />

Wie uns dieser Versuch aus der Schwierigkeit heraushelfen, d.h. die <strong>Akkumulation</strong> in Fluß bringen soll,<br />

ist nicht ganz klar. Denn 1. hilft uns die Bildung von zusätzlichem variablem Kapital in der Abteilung II<br />

noch nicht weiter, da wir ja noch nicht das zuschüssige konstante Kapital II zustande gebracht haben und<br />

gerade dabei waren, es erst zu ermöglichen; 2. handelte es sich diesmal bei der Untersuchung um die<br />

Aufdeckung einer Geldquelle in II zum Ankauf zuschüssiger Produktionsmittel von I nicht darum, das<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 8. Kapitel<br />

eigene überschüssige Produkt von II irgendwie in der eigenen Produktion unterzubringen; 3. soll der<br />

Versuch bedeuten, daß die betreffenden Lebensmittel "direkt", d.h. ohne Vermittelung <strong>des</strong> Gel<strong>des</strong>, in der<br />

Produktion von II wieder als variables Kapital verwendet werden können, wodurch die entsprechende<br />

Geldmenge aus dem variablen Kapital frei würde für <strong>Akkumulation</strong>szwecke, so müßten wir den Versuch<br />

ablehnen. <strong>Die</strong> kapitalistische Produktion schließt unter normalen Bedingungen die direkte Entlohnung<br />

der Arbeiter in Lebensmitteln aus; die Geldform <strong>des</strong> variablen <strong>Kapitals</strong>, die selbständige<br />

Transaktion zwischen dem Arbeiter als Warenkäufer und den Produzenten der Konsummittel ist eine der<br />

wesentlichsten Grundlagen der kapitalistischen Wirtschaft. Marx betont selbst in einem anderen<br />

Zusammenhang: "Wir wissen: das wirkliche variable Kapital besteht aus Arbeitskraft, also auch das<br />

zusätzliche. Es ist nicht der Kapitalist I, der etwa von II notwendige Lebensmittel auf Vorrat kauft oder<br />

aufhäuft für die von ihm zu verwendende zusätzliche Arbeitskraft, wie es der Sklavenhalter tun mußte.<br />

Es sind die Arbeiter selbst, die mit II handeln."(15) Das Gesagte trifft auf die Kapitalisten II genauso zu<br />

wie auf die Kapitalisten I. Damit ist der obige Versuch von Marx erschöpft.<br />

Zum Schluß verweist er uns auf den letzten Teil <strong>des</strong> "<strong>Kapitals</strong>", 21. Kapitel im Band II, den Engels sub<br />

IV. als "Nachträgliches" gesetzt hat. Hier finden wir die kürze Erklärung:<br />

"<strong>Die</strong> ursprüngliche Geldquelle für II ist v + m der Goldproduktion I, ausgetauscht gegen einen Teil von<br />

II c; nur soweit der Goldproduzent Mehrwert aufhäuft oder in Produktionsmittel I verwandelt, also seine<br />

Produktion ausdehnt, geht sein v + m nicht in II ein; andrerseits, soweit <strong>Akkumulation</strong> von Geld, seitens<br />

<strong>des</strong> Goldproduzenten selbst, schließlich zur erweiterten Reproduktion führt, geht ein nicht als Revenue<br />

ausgegebner Teil <strong>des</strong> Mehrwerts der Goldproduktion für zuschüssiges variables Kapital <strong>des</strong><br />

Goldproduzenten in II ein, fördert hier neue Schatzbildung oder gibt neue Mittel von I zu kaufen, ohne<br />

direkt wieder an es zu verkaufen."(16)<br />

So sind wir, nachdem alle möglichen Versuche zur Erklärung der <strong>Akkumulation</strong> fehlgeschlagen sind,<br />

nachdem wir von Pontius zu Pilatus, von A I zu B I, von B I zu B II herumgeschickt worden sind,<br />

schließlich bei demselben Goldproduzenten angelangt, <strong>des</strong>sen Heranziehung Marx gleich zu Beginn<br />

seiner Analyse als "abgeschmackt" bezeichnet hatte. Damit endet die Analyse <strong>des</strong><br />

Reproduktionsprozesses und der zweite Band <strong>des</strong> "<strong>Kapitals</strong>", ohne uns die lange gesuchte Lösung der<br />

Schwierigkeit gebracht zu haben.<br />

Fußnoten von <strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong><br />

(1) Das Kapital, Bd. II, S. 465. [Karl Marx: Das Kapital, Zweiter Band. In: Karl Marx/Friedrich Engels:<br />

Werke, Bd. 24, S. 485.]


<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 8. Kapitel<br />

(3) Das Kapital, Bd. II, S. 469. [Karl Marx: Das Kapital, Zweiter Band. In: Karl Marx/Friedrich Engels:<br />

Werke, Bd. 24, S. 488-489.]


<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 9. Kapitel<br />

8. Kapitel | Inhalt | 10. Kapitel<br />

<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - Gesammelte Werke. Herausgegeben vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Band<br />

5. <strong>Berlin</strong>/DDR. 1975. "<strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>", S. 123-137.<br />

1. Korrektur.<br />

Erstellt am 20.10.1998<br />

Neuntes Kapitel<br />

<strong>Die</strong> Schwierigkeit unter dem Gesichtswinkel <strong>des</strong><br />

Zirkulationsprozesses<br />

<strong>Die</strong> Analyse litt u.E. darunter, daß Marx das Problem unter der schiefen Form der Frage nach<br />

"Geldquellen" zu beantworten suchte. Es handelt sich aber in Wirklichkeit um tatsächliche Nachfrage, um<br />

Verwendung für Waren, nicht um Geldquellen zu ihrer Bezahlung. In bezug auf Geld als Medium der<br />

Zirkulation müssen wir hier, bei der Betrachtung <strong>des</strong> Reproduktionsprozesses im ganzen, annehmen, daß<br />

die kapitalistische Gesellschaft stets die zu ihrem Zirkulationsprozeß erforderliche Geldmenge zur<br />

Verfügung hat oder sich dafür Surrogate zu beschaffen weiß. Was zu erklären ist, sind die großen<br />

gesellschaftlichen Austauschakte, die durch reale ökonomische Bedürfnisse hervorgerufen werden. Daß<br />

der kapitalistische Mehrwert, bevor er akkumuliert werden kann, unbedingt die Geldform passieren muß,<br />

darf nicht außer acht gelassen werden. Dennoch suchen wir aber die ökonomische Nachfrage nach dem<br />

Mehrprodukt ausfindig zu machen, ohne uns weiter um die Herkunft <strong>des</strong> Gel<strong>des</strong> zu kümmern. Denn, wie<br />

Marx selbst an einer anderen Stelle sagt: "Das Geld auf der einen Seite ruft dann die erweiterte<br />

Reproduktion auf der andern ins Leben, weil deren Möglichkeit ohne das Geld da ist, denn Geld an sich<br />

selbst ist kein Element der wirklichen Reproduktion."(1)<br />

Daß die Frage nach der "Geldquelle" zur <strong>Akkumulation</strong> eine ganz sterile Formulierung <strong>des</strong> Problems der<br />

<strong>Akkumulation</strong> ist, zeigt sich bei Marx selbst in einem anderen Zusammenhang.<br />

<strong>Die</strong>selbe Schwierigkeit beschäftigte ihn nämlich schon einmal im zweiten Bande <strong>des</strong> "<strong>Kapitals</strong>" bei der<br />

Untersuchung <strong>des</strong> Zirkulationsprozesses. Schon bei der Betrachtung der einfachen Reproduktion stellt er<br />

bei der Zirkulation <strong>des</strong> Mehrwerts die Frage:<br />

"Aber das Warenkapital, vor seiner Rückverwandlung in produktives Kapital und vor der Verausgabung<br />

<strong>des</strong> in ihm steckenden Mehrwerts, muß versilbert werden. Wo kommt das Geld dazu her? <strong>Die</strong>se Frage<br />

erscheint auf den ersten Blick schwierig, und weder Tooke noch ein andrer hat sie bisher beantwortet."(2)<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 9. Kapitel<br />

Und er geht mit aller Rücksichtslosigkeit der Sache auf den Grund:<br />

"Das in der Form von Geldkapital vorgeschoßne zirkulierende Kapital von 500 Pfd.St., welches<br />

immer seine Umschlagsperiode, sei das zirkulierende Gesamtkapital der Gesellschaft, d.h. der<br />

Kapitalistenklasse. Der Mehrwert sei 100 Pfd.St. Wie kann nun die ganze Kapitalistenklasse beständig<br />

600 Pfd.St. aus der Zirkulation herausziehn, wenn sie beständig nur 500 Pfd.St. hineinwirft?"<br />

Wir sind hier wohlgemerkt bei der einfachen Reproduktion, wo der gesamte Mehrwert von der<br />

Kapitalistenklasse zu persönlicher Konsumtion verwendet wird. <strong>Die</strong> Frage müßte also von vornherein<br />

präziser so gefaßt werden: Wie können die Kapitalisten, nachdem sie für konstantes und variables Kapital<br />

im ganzen 500 Pfund Sterling in Geld in Umlauf setzen, ihrer Konsummittel im Betrage <strong>des</strong> Mehrwerts =<br />

100 Pfund Sterling habhaft werden? Es ist dann sofort klar, daß jene 500 Pfund Sterling, die als Kapital<br />

ständig zum Ankauf von Produktionsmitteln und zur Entlohnung der Arbeiter dienen, nicht zugleich zur<br />

Deckung der persönlichen Konsumtion der Kapitalisten dienen können. Wo kommt also das zuschüssige<br />

Geld von 100 Pfund Sterling her, das die Kapitalisten zur Realisierung ihres eigenen Mehrwerts<br />

brauchen? Marx lehnt sofort alle theoretischen Ausflüchte ab, die etwa zur Beantwortung der Frage<br />

versucht werden könnten.<br />

"Man muß nun die Schwierigkeit nicht durch plausible Ausflüchte zu umgehn suchen.<br />

Zum Beispiel: Was das konstante zirkulierende Kapital betrifft, so ist klar, daß nicht alle es gleichzeitig<br />

auslegen. Während Kapitalist A seine Ware verkauft, also für ihn vorgeschoßnes Kapital Geldform<br />

annimmt, nimmt für den Käufer B umgekehrt sein in Geldform vorhandnes Kapital die Form seiner<br />

Produktionsmittel an, die gerade A produziert. Durch denselben Akt, wodurch A seinem produzierten<br />

Warenkapital die Geldform wiedergibt, gibt B dem seinigen die produktive Form wieder, verwandelt es<br />

aus Geldform in Produktionsmittel und Arbeitskraft; dieselbe Geldsumme fungiert in dem doppelseitigen<br />

Prozeß wie in jedem einfachen Kauf W - G. Andrerseits, wenn A das Geld wieder in Produktionsmittel<br />

verwandelt, kauft er von C, und dieser zahlt damit B etc. So wäre dann der Hergang erklärt. Aber:<br />

Alle in bezug auf das Quantum <strong>des</strong> zirkulierenden Gel<strong>des</strong> bei der Warenzirkulation (Buch I, Kap. III)<br />

aufgestellten Gesetze werden in keiner Art durch den kapitalistischen Charakter <strong>des</strong> Produktionsprozesses<br />

geändert.<br />

Wenn also gesagt wird, das in Geldform vorzuschießende zirkulierende Kapital der Gesellschaft<br />

beträgt 500 Pfd.St., so ist dabei schon in Berechnung gebracht, daß dies einerseits die Summe ist, die<br />

gleichzeitig vorgeschossen war, daß aber andrerseits diese Summe mehr produktives Kapital in<br />

Bewegung setzt als 500 Pfd.St., weil sie abwechselnd als Geldfonds verschiedner produktiver Kapitale<br />

dient. <strong>Die</strong>se Erklärungsweise setzt also schon das Geld als vorhanden voraus, <strong>des</strong>sen Dasein sie erklären<br />

soll. -<br />

Es könnte ferner gesagt werden: Kapitalist A produziert Artikel, die Kapitalist B individuell, unproduktiv<br />

konsumiert. Das Geld von B versilbert also das Warenkapital von A, und so dient dieselbe Geldsumme<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 9. Kapitel<br />

zur Versilbrung <strong>des</strong> Mehrwerts von B und <strong>des</strong> zirkulierenden konstanten <strong>Kapitals</strong> von A. Hier ist aber die<br />

Lösung der Frage, die beantwortet werden soll, noch direkter unterstellt. Nämlich, wo kriegt B dies Geld<br />

zur Bestreitung seiner Revenue her? Wie hat er selbst diesen Mehrwertteil seines Produkts versilbert? -<br />

Ferner könnte gesagt werden, der Teil <strong>des</strong> zirkulierenden variablen <strong>Kapitals</strong>, den A seinen Arbeitern<br />

beständig vorschießt, strömt ihm beständig aus der Zirkulation zurück; und nur ein abwechselnder Teil<br />

davon liegt beständig bei ihm selbst zur Zahlung <strong>des</strong> Arbeitslohns fest. Zwischen der Ausgabe und dem<br />

Rückstrom verfließt jedoch eine gewisse Zeit, während deren das in Arbeitslohn ausgezahlte Geld unter<br />

andrem auch zur Versilberung von Mehrwert dienen kann. - Aber wir wissen erstens, daß, je größer diese<br />

Zeit, um so größer auch die Masse <strong>des</strong> Geldvorrats sein muß, die der Kapitalist A beständig in petto<br />

halten muß. Zweitens gibt der Arbeiter das Geld aus, kauft Waren damit, versilbert daher den in diesen<br />

Waren steckenden Mehrwert pro tanto. Also dient dasselbe Geld, das in der Form <strong>des</strong> variablen <strong>Kapitals</strong><br />

vorgeschossen wird, pro tanto auch dazu, Mehrwert zu versilbern. Ohne hier noch tiefer auf diese Frage<br />

einzugehn, hier nur so viel: daß die Konsumtion der ganzen Kapitalistenklasse und der von ihr<br />

abhängigen unproduktiven Personen gleichzeitig Schritt hält mit der für die Arbeiterklasse; also<br />

gleichzeitig mit dem von den Arbeitern in Zirkulation geworfnen Geld, von den Kapitalisten Geld in die<br />

Zirkulation geworfen werden muß, um ihren Mehrwert als Revenue zu verausgaben; also für denselben<br />

der Zirkulation Geld entzogen sein muß. <strong>Die</strong> eben gegebne Erklärung würde nur das so nötige Quantum<br />

verringern, nicht beseitigen. -<br />

Endlich könnte gesagt werden: Es wird doch beständig ein großes Quantum Geld in Zirkulation geworfen<br />

bei der ersten Anlage <strong>des</strong> fixen <strong>Kapitals</strong>, das der Zirkulation nur allmählich, stückweis, im Lauf von<br />

Jahren, von dem wieder entzogen wird, der es hineinwarf. Kann diese Summe nicht hinreichen,<br />

um den Mehrwert zu versilbern? - Hierauf ist zu antworten, daß vielleicht in der Summe von 500 Pfd.St.<br />

(die auch Schatzbildung für nötige Reservefonds einschließt) schon die Anwendung dieser Summe als<br />

fixes Kapital, wenn nicht durch den, der sie hineinwarf, so doch durch jemand anders, einbegriffen ist.<br />

Außerdem ist bei der Summe, die für Beschaffung der als fixes Kapital dienenden Produkte ausgegeben<br />

wird, schon unterstellt, daß auch der in diesen Waren steckende Mehrwert gezahlt ist, und es fragt sich<br />

eben, wo dies Geld herkommt."<br />

Auf diesen letzten Punkt müssen wir nebenbei besondere Aufmerksamkeit lenken. Denn hier lehnt es<br />

Marx ab, die Schatzbildung für die periodische Erneuerung <strong>des</strong> fixen <strong>Kapitals</strong> zur Erklärung der<br />

Realisierung <strong>des</strong> Mehrwerts selbst bei einfacher Reproduktion heranzuziehen. Später, wo es sich um die<br />

viel schwierigere Realisierung <strong>des</strong> Mehrwertes bei der <strong>Akkumulation</strong> handelt, greift er, wie wir gesehen,<br />

versuchsweise mehrfach auf dieselbe von ihm als "plausible Ausflucht" abgetane Erklärung zurück.<br />

Dann folgt die Lösung, die etwas unerwartet klingt:<br />

"<strong>Die</strong> allgemeine Antwort ist bereits gegeben: Wenn eine Warenmasse von x × 1.000 Pfd.St. zu<br />

zirkulieren, so ändert es absolut nichts am Quantum der zu dieser Zirkulation nötigen Geldsumme, ob der<br />

Wert dieser Warenmasse Mehrwert enthält oder nicht, ob die Warenmasse kapitalistisch produziert ist<br />

oder nicht. Das Problem selbst existiert also nicht. Bei sonst gegebnen Bedingungen,<br />

Umlaufsgeschwindigkeit <strong>des</strong> Gel<strong>des</strong> etc., ist eine bestimmte Geldsumme erheischt, um den Warenwert<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 9. Kapitel<br />

von x × 1.000 Pfd.St. zu zirkulieren, ganz unabhängig von dem Umstand, wie viel oder wie wenig von<br />

diesem Wert den unmittelbaren Produzenten dieser Waren zufällt. Soweit hier ein Problem existiert, fällt<br />

es zusammen mit dem allgemeinen Problem: woher die zur Zirkulation der Waren in einem Lande nötige<br />

Geldsumme kommt."(3)<br />

<strong>Die</strong> Antwort ist vollkommen richtig. <strong>Die</strong> Frage: Woher kommt das Geld zur Zirkulation <strong>des</strong> Mehrwerts?<br />

ist mit beantwortet bei der allgemeinen Frage: Wo kommt das Geld her, um eine gewisse Warenmasse im<br />

Lande in Zirkulation zu setzen? <strong>Die</strong> <strong>Ein</strong>teilung der Wertmasse dieser Waren in konstantes Kapital,<br />

variables Kapital und Mehrwert existiert gar nicht vom Standpunkte der Geldzirkulation als solcher und<br />

hat von diesem Standpunkt keinen Sinn. Also nur unter dem Gesichtswinkel der Geldzirkulation oder der<br />

einfachen Warenzirkulation "existiert das Pro- blem nicht". Das Problem existiert aber wohl vom<br />

Standpunkte der gesellschaftlichen Reproduktion im ganzen, nur darf es nicht so schief formuliert<br />

werden, daß uns die Antwort in die einfache Warenzirkulation zurückbringt, wo das Problem nicht<br />

existiert. <strong>Die</strong> Frage lautet also nicht: Wo kommt das Geld her, um den Mehrwert zu realisieren?, sondern<br />

sie muß lauten: Wo sind die Konsumenten für den Mehrwert? Daß das Geld in der Hand dieser<br />

Konsumenten sich befinden und von ihnen in die Zirkulation geworfen werden muß, versteht sich dann<br />

von selbst. Marx selbst kehrt denn auch zu dem Problem, obwohl er es soeben für nicht existierend erklärt<br />

hat, immer wieder zurück:<br />

"Nun aber existieren nur zwei Ausgangspunkte: der Kapitalist und der Arbeiter. Alle dritten<br />

Personenrubriken müssen entweder für <strong>Die</strong>nstleistungen Geld von diesen beiden Klassen erhalten, oder<br />

soweit sie es ohne Gegenleistung erhalten, sind sie Mitbesitzer <strong>des</strong> Mehrwerts in der Form von Rente,<br />

Zins etc. Daß der Mehrwert nicht ganz in der Tasche es industriellen Kapitalisten bleibt, sondern von ihm<br />

mit andern Personen geteilt werden muß, hat mit der vorliegenden Frage nichts zu tun. Es ragt sich, wie<br />

er seinen Mehrwert versilbert, nicht wie das dafür gelöste Silber sich später verteilt. Es ist also für unsern<br />

Fall der Kapitalist noch als einziger Besitzer <strong>des</strong> Mehrwerts zu betrachten. Was aber den Arbeiter betrifft,<br />

so ist bereits gesagt, daß er nur sekundärer Ausgangspunkt, der Kapitalist aber der primäre<br />

Ausgangspunkt <strong>des</strong> vom Arbeiter in die Zirkulation geworfnen Gel<strong>des</strong> ist. Das zuerst als variables<br />

Kapital vorgeschoßne Geld vollzieht bereits seinen zweiten Umlauf, wenn der Arbeiter es zur Zahlung<br />

von Lebensmitteln ausgibt.<br />

<strong>Die</strong> Kapitalistenklasse bleibt also der einzige Ausgangspunkt der Geldzirkulation. Wenn sie zur Zahlung<br />

von Produktionsmitteln 400 Pfd.St., zur Zahlung der Arbeitskraft 100 Pfd.St. braucht, so wirft sie 500<br />

Pfd.St. in Zirkulation. Aber der in dem Produkt steckende Mehrwert, bei Mehrwertsrate von 100%, ist<br />

gleich einem Wert von 100 Pfd.St. Wie kann sie 600 Pfd.St. aus der Zirkulation beständig herausziehn,<br />

wenn sie beständig nur 500 Pfd.St. hineinwirft? Aus nichts wird nichts. <strong>Die</strong> Gesamtklasse der<br />

Kapitalisten kann nichts aus der Zirkulation herausziehn, was nicht vorher hineingeworfen war."<br />

Weiter weist Marx noch eine Ausflucht zurück, die zur Erklärung <strong>des</strong> Problems etwa versucht werden<br />

könnte, nämlich die Heranziehung der Geschwindigkeit im Umlauf <strong>des</strong> Gel<strong>des</strong>, die es erlaubt, mit<br />

weniger Geld eine größere Wertmasse in Zirkulation zu bringen. <strong>Die</strong> Ausflucht führt natürlich zu<br />

nichts, denn die Umlaufsgeschwindigkeit <strong>des</strong> Gel<strong>des</strong> ist bereits mit in Berechnung gezogen, wenn man<br />

annimmt, daß zur Zirkulation der Warenmasse soundso viel Pfund Sterling erforderlich sind. Darauf<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 9. Kapitel<br />

kommt endlich die Auflösung <strong>des</strong> Problems:<br />

"In der Tat, so paradox es auf den ersten Blick scheint, die Kapitalistenklasse selbst wirft das Geld in die<br />

Zirkulation, das zur Realisierung <strong>des</strong> in den Waren steckenden Mehrwerts dient. Aber notabene: sie wirft<br />

es hinein nicht als vorgeschoßnes Geld, also nicht als Kapital. Sie verausgabt es als Kaufmittel für ihre<br />

individuelle Konsumtion. Es ist also nicht von ihr vorgeschossen, obgleich sie der Ausgangspunkt seiner<br />

Zirkulation ist."(4)<br />

<strong>Die</strong>se deutliche und erschöpfende Lösung beweist am besten, daß das Problem kein scheinbares war. Sie<br />

beruht auch nicht darauf, daß wir eine neue "Geldquelle" entdeckt haben, um den Mehrwert zu<br />

realisieren, sondern daß wir die Konsumenten dieses Mehrwerts gefunden haben. Wir stehen noch hier<br />

nach Marxscher Voraussetzung auf dem Boden der einfachen Reproduktion. Das bedeutet, daß die<br />

Kapitalistenklasse ihren ganzen Mehrwert zur persönlichen Konsumtion verwendet. Da die Kapitalisten<br />

Konsumenten <strong>des</strong> Mehrwerts sind, so ist es nicht sowohl paradox als vielmehr selbstverständlich, daß sie<br />

das Geld in der Tasche haben müssen, um sich die Naturalgestalt <strong>des</strong> Mehrwerts, die<br />

Konsumgegenstände, anzueignen. Der Zirkulationsakt <strong>des</strong> Austausches ergibt sich als eine Notwendigkeit<br />

aus der Tatsache, daß die <strong>Ein</strong>zelkapitalisten nicht ihren individuellen Mehrwert - resp. das individuelle<br />

Mehrprodukt, wie der Sklavenhalter - direkt verzehren können. Seine sachliche Naturalgestalt schließt<br />

vielmehr in der Regel diesen Verbrauch aus. Der Gesamtmehrwert aller Kapitalisten befindet sich aber -<br />

unter der Voraussetzung der einfachen Reproduktion - im gesellschaftlichen Gesamtprodukt in einer<br />

entsprechenden Menge von Konsummitteln für die Kapitalistenklasse ausgedrückt, wie der<br />

Gesamtsumme der variablen Kapitale eine wertgleiche Menge von Lebensmitteln für die Arbeiterklasse<br />

entspricht und wie dem konstanten Kapital aller <strong>Ein</strong>zelkapitalisten zusammen eine wertgleiche Menge<br />

von sachlichen Produktionsmitteln entspricht. Um den individuellen ungenießbaren Mehrwert gegen die<br />

entsprechende Menge Lebensmittel einzutauschen, ist ein doppelter Akt der Warenzirkulation nötig: der<br />

Verkauf <strong>des</strong> eigenen Mehrprodukts und der <strong>Ein</strong>kauf der Lebensmittel aus dem gesellschaftlichen<br />

Mehrprodukt. Da diese zwei Akte ausschließlich innerhalb der Kapitalistenklasse vor sich gehen,<br />

unter einzelnen Kapitalisten stattfinden, so geht auch das vermittelnde Geldmedium hierbei nur aus einer<br />

Hand der Kapitalisten in die andere und bleibt immer in der Tasche der Kapitalistenklasse hängen. Da die<br />

einfache Reproduktion stets dieselben Mengen Werte zum Ausrausch bringt, so dient zur Zirkulation <strong>des</strong><br />

Mehrwert je<strong>des</strong> Jahr dieselbe Geldmenge, und man könnte höchstens, bei ausnahmsweiser Gründlichkeit,<br />

etwa die Frage stellen: Wo kam diese zur Vermittelung der eigenen Konsumtion der Kapitalisten<br />

dienende Geldmenge einst in die Taschen der Kapitalisten her? Aber diese Frage löst sich in die andere<br />

allgemeinere Frage auf: Wo kam überhaupt das erste Geldkapital einst in die Hände der Kapitalisten her,<br />

jenes Geldkapital, von dem sie neben der Verwendung für produktive Anlagen einen gewissen Teil stets<br />

in der Tasche behalten mußten für die Zwecke der persönlichen Konsumtion.? <strong>Die</strong> so gestellte Frage<br />

schlägt aber in das Kapitel der sogenannten "primitiven <strong>Akkumulation</strong>", d.h. der geschichtlichen Genesis<br />

<strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, und fällt aus dem Rahmen der Analyse sowohl <strong>des</strong> Zirkulations- wie <strong>des</strong><br />

Reproduktionsprozesses.<br />

So ist die Sache klar und unzweideutig - wohlgemerkt: solange wir auf dem Boden der einfachen<br />

Reproduktion stehen. Hier wird das Problem der Realisierung <strong>des</strong> Mehrwertes durch die Voraussetzungen<br />

selbst gelöst, es ist eigentlich schon antizipiert im Begriff der einfachen Reproduktion. <strong>Die</strong>se beruht eben<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 9. Kapitel<br />

darauf, daß der ganze Mehrwert von der Kapitalistenklasse konsumiert wird, und damit ist gesagt, daß er<br />

von ihr auch gekauft, d.h. von den <strong>Ein</strong>zelkapitalisten einander abgekauft werden muß.<br />

"In diesem Fall", sagt Marx selbst, "war angenommen, daß die Geldsumme, die der Kapitalist bis zum<br />

ersten Rückfluß seines <strong>Kapitals</strong> zur Bestreitung seiner individuellen Konsumtion in Zirkulation wirft,<br />

exakt gleich ist dem von ihm produzierten und daher zu versilbernden Mehrwert. <strong>Die</strong>s ist offenbar, mit<br />

Bezug auf den einzelnen Kapitalisten, eine willkürliche Annahme. Aber sie muß richtig sein für die<br />

gesamte Kapitalistenklasse, bei Unterstellung einfacher Reproduktion. Sie drückt nur dasselbe aus, was<br />

diese Unterstellung besagt, nämlich daß der ganze Mehrwert, aber auch nur dieser, also kein Bruchteil <strong>des</strong><br />

ursprünglichen <strong>Kapitals</strong>tocks, unproduktiv verzehrt wird."(5)<br />

Aber die einfache Reproduktion auf kapitalistischer Basis ist in der theoretischen Ökonomie eine<br />

imaginäre Größe, eine wissenschaftlich so berechtigte und unentbehrliche imaginäre Größe wie in<br />

der Mathe- matik. jedoch das Problem der Realisierung <strong>des</strong> Mehrwertes ist damit für die<br />

Wirklichkeit, d.h. für die erweiterte Reproduktion oder <strong>Akkumulation</strong>, durchaus nicht gelöst. Und das<br />

bestätigt Marx selbst zum zweitenmal, sobald er seine Analyse fortsetzt.<br />

Wo kommt das Geld zur Realisierung <strong>des</strong> Mehrwerts her unter Voraussetzung der <strong>Akkumulation</strong>, d.h. <strong>des</strong><br />

Nichtverzehrs, der Kapitalisierung eines Teils <strong>des</strong> Mehrwerts? <strong>Die</strong> erste Antwort, die Marx gibt, lautet:<br />

"Was zunächst das zuschüssige Geldkapital betrifft, erheischt zur Funktion <strong>des</strong> wachsenden produktiven<br />

<strong>Kapitals</strong>, so wird es geliefert durch den Teil <strong>des</strong> realisierten Mehrwerts, der als Geldkapital, statt als<br />

Geldform der Revenue, von den Kapitalisten in Zirkulation geworfen wird. Das Geld ist bereits in der<br />

Hand der Kapitalisten. Bloß seine Anwendung ist verschieden."<br />

<strong>Die</strong>se Erklärung ist uns schon bekannt aus der Untersuchung <strong>des</strong> Reproduktionsprozesses und ebenso ihre<br />

Unzulänglichkeit. <strong>Die</strong> Antwort stützt sich nämlich ausschließlich auf den Moment <strong>des</strong> ersten Übergangs<br />

von einfacher Reproduktion zur <strong>Akkumulation</strong>: Eben erst, gestern, verzehrten die Kapitalisten ihren<br />

ganzen Mehrwert, hatten also auch die entsprechende Geldmenge zu <strong>des</strong>sen Zirkulation in der Tasche.<br />

Heute entschließen sie sich, einen Teil <strong>des</strong> Mehrwerts zu "sparen" und produktiv anzulegen, statt ihn zu<br />

verjubeln. Sie brauchen dazu - vorausgesetzt, daß sachliche Produktionsmittel statt Luxus produziert<br />

worden sind - nur einen Teil ihres persönlichen Geldfonds anders zu verwenden. Aber der Übergang von<br />

einfacher zur erweiterten Produktion ist ebenso theoretische Fiktion wie die einfache Reproduktion <strong>des</strong><br />

<strong>Kapitals</strong> selbst. Marx geht denn auch sogleich weiter:<br />

"Nun wird aber infolge <strong>des</strong> zuschüssigen produktiven <strong>Kapitals</strong>, als sein Produkt, eine zuschüssige<br />

Warenmasse in Zirkulation geworfen. Mit dieser zuschüssigen Warenmasse wurde zugleich ein Teil <strong>des</strong><br />

zu ihrer Realisation nötigen zuschüssigen Gel<strong>des</strong> in Zirkulation geworfen, soweit nämlich der Wert dieser<br />

Warenmasse gleich ist dem Wert <strong>des</strong> in ihrer Produktion verzehrten produktiven <strong>Kapitals</strong>. <strong>Die</strong>se<br />

zuschüssige Geldmasse ist gerade als zuschüssiges Geldkapital vorgeschossen worden und fließt daher<br />

zum Kapitalisten zurück durch den Umschlag seines <strong>Kapitals</strong>. Hier tritt wieder dieselbe Frage auf wie<br />

oben. Wo kommt das zuschüssige Geld her, um den jetzt in Warenform vorhandnen zuschüssigen<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 9. Kapitel<br />

Mehrwert zu realisieren?"<br />

Nun aber, wo das Problem in aller Schärfe wieder gestellt ist, bekommen wir statt einer Lösung<br />

die folgende unerwartete Antwort:<br />

"<strong>Die</strong> allgemeine Antwort ist wieder dieselbe. <strong>Die</strong> Preissumme der zirkulierenden Warenmasse ist<br />

vermehrt, nicht, weil die Preise einer gegebnen Warenmasse gestiegen, sondern, weil die Masse der jetzt<br />

zirkulierenden Waren größer ist als die der früher zirkulierenden Waren, ohne daß dies durch einen Fall<br />

der Preise ausgeglichen wäre. Das zur Zirkulation dieser größern Warenmasse von größtem Wert<br />

erforderte zuschüssige Geld muß beschafft werden entweder durch erhöhte Ökonomisierung der<br />

zirkulierenden Geldmasse - sei es durch Ausgleichung der Zahlungen etc., sei es durch Mittel, welche den<br />

Umlauf derselben Geldstücke beschleunigen - oder aber durch Verwandlung von Geld aus der<br />

Schatzform in die zirkulierende Form."(6)<br />

<strong>Die</strong>se Lösung geht auf die folgende Erklärung hinaus: <strong>Die</strong> kapitalistische Reproduktion wirft unter den<br />

Bedingungen einer im Fluß befindlichen und wachsenden <strong>Akkumulation</strong> eine immer größere Masse<br />

Warenwert auf den Markt. Um diese im Wert wachsende Warenmasse in Zirkulation zu bringen, ist eine<br />

immer größere Geldmenge notwendig. <strong>Die</strong>se wachsende Geldmenge muß eben - beschafft werden. Das<br />

ist alles unzweifelhaft richtig und einleuchtend, aber das Problem, um das es sich handelte, ist damit nicht<br />

gelöst, sondern verschwunden.<br />

<strong>Ein</strong>s von beiden. Entweder betrachtet man das gesellschaftliche Gesamtprodukt (der kapitalistischen<br />

Wirtschaft) einfach als eine Warenmasse von bestimmtem Wert, als einen "Warenbrei", und sieht, bei<br />

Bedingungen der <strong>Akkumulation</strong>, nur ein Anwachsen dieses unterschiedslosen Warenbreis und <strong>des</strong>sen<br />

Wertmasse. Dann wird nur zu konstatieren sein, daß zur Zirkulation dieser Wertmasse eine entsprechende<br />

Geldmenge notwendig ist, daß diese Geldmenge wachsen muß, wenn die Wertmasse wächst - falls die<br />

Beschleunigung <strong>des</strong> Verkehrs und seine Ökonomisierung den Wertzuwachs nicht aufwiegen. Und etwa<br />

auf eine letzte Frage, woher denn schließlich alles Geld komme, kann man mit Marx die Antwort geben:<br />

aus den Goldgruben. Das ist auch ein Standpunkt, nämlich der Standpunkt der einfachen<br />

Warenzirkulation. Aber dann braucht man nicht Begriffe wie konstantes und variables Kapital und<br />

Mehrwert hineinzubringen, die nicht zur einfachen Warenzirkulation, sondern zur Kapitalzirkulation und<br />

zur gesellschaftlichen Reproduktion gehören, und man braucht dann nicht die Frage zu stellen: Wo<br />

kommt das Geld her, um den gesellschaftlichen Mehrwert, und zwar 1. sub einfacher<br />

Reproduktion, 2. sub erweiterter Reproduktion zu realisieren? Solche Fragen haben vom Standpunkte der<br />

einfachen Waren- und Geldzirkulation gar keinen Sinn und Inhalt. Hat man aber einmal diese Fragen<br />

gestellt und die Untersuchung auf das Geleise der Kapitalzirkulation und der gesellschaftlichen<br />

Reproduktion eingestellt, dann darf man nicht die Antwort im Bereiche der einfachen Warenzirkulation<br />

suchen, um - da hier das Problem nicht existiert und nicht beantwortet werden kann - hinterher zu<br />

erklären: das Problem sei schon längst beantwortet, es existiere überhaupt nicht.<br />

<strong>Die</strong> Fragestellung selbst ist also bei Marx die ganze Zeit schief gewesen. Es hat keinen ersichtlichen<br />

Zweck zu fragen: Wo kommt das Geld her, um den Mehrwert zu realisieren? Sondern die Frage muß<br />

lauten: Wo kommt die Nachfrage her, wo ist das zahlungsfähige Bedürfnis für den Mehrwert? War die<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 9. Kapitel<br />

Frage von Anfang an so gestellt, so hätte es nicht so langwieriger Umwege bedurft, um ihre Lösbarkeit<br />

respektive Unlösbarkeit klar hervortreten zu lassen. Unter der Annahme der einfachen Reproduktion ist<br />

die Sache einfach genug: Da der ganze Mehrwert von den Kapitalisten verzehrt wird, so sind sie eben<br />

selbst die Abnehmer, die Nachfrage für den gesellschaftlichen Mehrwert in seinem ganzen Umfang,<br />

müssen also auch das zur Zirkulation <strong>des</strong> Mehrwerts nötige Kleingeld in der Tasche haben. Aber gerade<br />

aus derselben Tatsache ergibt sich mit Evidenz, daß unter der Bedingung der <strong>Akkumulation</strong>, d.h. der<br />

Kapitalisierung eines Teils <strong>des</strong> Mehrwerts, die Kapitalistenklasse selbst unmöglich ihren ganzen<br />

Mehrwert abkaufen, realisieren kann. Es stimmt schon, daß genug Geld beschafft werden muß, um den<br />

kapitalisierten Mehrwert zu realisieren - wenn er überhaupt realisiert werden soll. Aber dieses Geld kann<br />

unmöglich aus der Tasche der Kapitalisten selbst kommen. Sie sind vielmehr gerade durch Annahme der<br />

<strong>Akkumulation</strong> Nichtabnehmer ihres Mehrwerts, auch wenn sie - abstrakt genommen - hierfür Geld genug<br />

in der Tasche hätten. Wer kann aber sonst die Nachfrage nach den Waren darstellen, in denen der<br />

kapitalisierte Mehrwert steckt?<br />

"Außer dieser Klasse (der Kapitalisten - R. L.) gibt es nach unsrer Unterstellung - allgemeine und<br />

ausschließliche Herrschaft der kapitalistischen Produktion - überhaupt keine andre Klasse als die<br />

Arbeiterklasse. Alles, was die Arbeiterklasse kauft, ist gleich der Summe ihres Arbeitslohns gleich der<br />

Summe <strong>des</strong> von der gesamten Kapitalistenklasse vorgeschoßnen variablen <strong>Kapitals</strong>."<br />

<strong>Die</strong> Arbeiter können also den kapitalisierten Mehrwert noch weniger realisieren als die<br />

Kapitalistenklasse. Aber irgend jemand muß ihn doch abkaufen, sollen die Kapitalisten das<br />

vorgeschossene akkumulierte Kapital immer wieder in die Hände kriegen. Und doch ist außer<br />

Kapitalisten und Arbeitern kein Abnehmer denkbar. "Wie soll da also die gesamte Kapitalistenklasse<br />

Geld akkumulieren?"(7) <strong>Die</strong> Realisierung <strong>des</strong> Mehrwerts außerhalb der beiden einzig existierenden<br />

Klassen der Gesellschaft scheint ebenso notwendig wie unmöglich. <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong> ist in<br />

einen fehlerhaften Zirkel geraten. Im zweiten Bande <strong>des</strong> "<strong>Kapitals</strong>" finden wir jedenfalls keine Lösung<br />

<strong>des</strong> Problems.<br />

Wenn man nun fragen wollte, weshalb die Lösung dieses wichtigen Problems der kapitalistischen<br />

<strong>Akkumulation</strong> in dem Marxschen "Kapital" nicht zu finden ist, so muß vor allem der Umstand in Betracht<br />

gezogen werden, daß der zweite Band <strong>des</strong> "<strong>Kapitals</strong>" kein abgeschlossenes Werk, sondern Manuskript<br />

war, das mitten im Wort abgebrochen wurde.<br />

Schon die äußere Form namentlich der letzten Kapitel dieses Ban<strong>des</strong> zeigt, daß es mehr Aufzeichnungen<br />

zur Selbstverständigung <strong>des</strong> Denkers sind als fertige Ergebnisse, bestimmt zur Aufklärung <strong>des</strong> Lesers.<br />

<strong>Die</strong>se Tatsache bestätigt uns zur Genüge der berufenste Zeuge - nämlich der Herausgeber <strong>des</strong> zweiten<br />

Ban<strong>des</strong>, Friedrich Engels. In seinem Vorwort zum zweiten Band berichtet er über den Stand der von<br />

Marx hinterlassenen Vorarbeiten und Manuskripte, die als Grundlage für diesen Band dienen sollten, in<br />

folgender eingehender Weise:<br />

"<strong>Die</strong> bloße Aufzählung <strong>des</strong> von Marx hinterlaßnen handschriftlichen Materials zu Buch II beweist, mit<br />

welcher Gewissenhaftigkeit ohnegleichen, mit welcher strengen Selbstkritik er seine großen<br />

ökonomischen Entdeckungen bis zur äußersten Vollendung auszuarbeiten strebte, ehe er sie<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 9. Kapitel<br />

veröffentlichte; eine Selbstkritik, die ihn nur selten dazu kommen ließ, die Darstellung nach Inhalt und<br />

Form seinem stets durch neue Studien sich erweiternden Gesichtskreis anzupassen. <strong>Die</strong>s Material besteht<br />

nun aus folgendem.<br />

Zuerst ein Manuskript 'Zur Kritik der politischen Oekonomie', 1.472 Quartseiten in 23 Heften,<br />

geschrieben August 1861 bis Juni 1863. Es ist die Fortsetzung <strong>des</strong> 1859 in <strong>Berlin</strong> erschienenen ersten<br />

Hefts <strong>des</strong>selben Titels ... So wertvoll dies Manuskript, so wenig war es für die gegenwärtige Ausgabe <strong>des</strong><br />

Buch II zu benutzen.<br />

Das dem Datum nach jetzt folgende Manuskript ist das von Buch III ...<br />

Aus der nächsten Periode - nach Erscheinen <strong>des</strong> Buch I - liegt vor für Buch II eine Sammlung von<br />

vier Manuskripten in Folio, von Marx selbst I-IV numeriert. Davon ist Manuskript I (150 Seiten),<br />

vermutlich von 1865 oder 1867 datierend, die erste selbständige, aber mehr oder weniger fragmentarische<br />

Bearbeitung von Buch II in seiner gegenwärtigen <strong>Ein</strong>teilung. Auch hiervon war nichts benutzbar.<br />

Manuskript III besteht teils aus einer Zusammenstellung von Zitaten und Hinweisen auf Marx'<br />

Auszugshefte - meist auf den ersten Abschnitt <strong>des</strong> Buch II bezüglich -, teils aus Bearbeitungen einzelner<br />

Punkte, namentlich der Kritik der A. Smithschen Sätze über fixes und zirkulieren<strong>des</strong> Kapital und über die<br />

Quelle <strong>des</strong> Profits; ferner eine Darstellung <strong>des</strong> Verhältnisses der Mehrwertsrate zur Profitrate, die in Buch<br />

III gehört. <strong>Die</strong> Hinweise lieferten wenig neue Ausbeute, die Ausarbeitungen waren sowohl für Buch II<br />

wie Buch III durch spätere Redaktionen überholt, mußten also auch meist beiseitegelegt werden. -<br />

Manuskript IV ist eine druckfertige Bearbeitung <strong>des</strong> ersten und der ersten Kapitel <strong>des</strong> zweiten Abschnitts<br />

von Buch II und ist da, wo es an die Reihe kommt, auch benutzt worden. Obwohl sich herausstellte, daß<br />

es früher abgefaßt ist als Manuskript II, so konnte es doch, weil vollendeter in der Form, für den<br />

betreffenden Teil <strong>des</strong> Buchs mit Vorteil benutzt werden; es genügte, aus Manuskript II einige Zusätze zu<br />

machen. - <strong>Die</strong>s letztre Manuskript ist die einzige einigermaßen fertig vorliegende Bearbeitung <strong>des</strong> Buch II<br />

und datiert von 1870. <strong>Die</strong> gleich zu erwähnenden Notizen für die schließliche Redaktion sagen<br />

ausdrücklich: '<strong>Die</strong> zweite Bearbeitung muß zugrunde gelegt werden.'<br />

Nach 1870 trat wieder eine Pause ein, bedingt hauptsächlich durch Krankheitszustände. Wie gewöhnlich<br />

füllte Marx diese Zeit durch Studien aus; Agronomie, amerikanische und namentlich russische ländliche<br />

Verhältnisse, Geldmarkt und Bankwesen, endlich Naturwissenschaften: Geologie und Physiologie, und<br />

namentlich selbständige mathematische Arbeiten bilden den Inhalt der zahlreichen Auszugshefte aus<br />

dieser Zeit. Anfang 1877 fühlte er sich soweit hergestellt, daß er wieder an seine eigentliche Arbeit gehn<br />

konnte. Von Ende März 1877 datieren Hinweise und Notizen aus obigen vier Manuskripten als<br />

Grundlage einer Neubearbeitung von Buch II, deren Anfang in Manuskript V (56 Seiten Folio) vorliegt.<br />

Es umfaßt die ersten vier Kapitel und ist noch wenig ausgearbeitet; wesentliche Punkte werden in Noten<br />

unter dem Text behandelt; der Stoff ist mehr gesammelt als gesichtet, aber es ist die letzte vollständige<br />

Darstellung dieses wichtigsten Teils <strong>des</strong> ersten Abschnitts. - <strong>Ein</strong> erster Versuch, hieraus ein druckfertiges<br />

Manuskript zu machen, liegt vor in Manuskript VI (nach Oktober 1877 und vor Juli 1878); nur 17<br />

Quartseiten, den größten Teil <strong>des</strong> ersten Kapitels umfassend, ein zweiter - der letzte - in Manuskript VII,<br />

'2. Juli 1878', nur 7 Folioseiten.<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 9. Kapitel<br />

Um diese Zeit scheint Marx sich darüber klar geworden zu sein, daß ohne eine vollständige Revolution<br />

seines Gesundheitszustan<strong>des</strong> er nie dahin kommen werde, eine ihm selbst genügende Bearbeitung <strong>des</strong><br />

zweiten und dritten Buchs zu vollenden. In der Tat tragen die Manuskripte V bis VIII die Spuren<br />

gewaltsamen Ankämpfens gegen niederdrückende Krankheitszustände nur zu oft an sich. Das<br />

schwierigste Stück <strong>des</strong> ersten Abschnitts war in Manuskript V neu bearbeitet; der Rest <strong>des</strong> ersten und der<br />

ganze zweite Abschnitt (mit Ausnahme <strong>des</strong> siebzehnten Kapitels) boten keine bedeutenden theoretischen<br />

Schwierigkeiten; der dritte Abschnitt dagegen, die Reproduktion und Zirkulation <strong>des</strong> gesellschaftlichen<br />

<strong>Kapitals</strong>, schien ihm einer Umarbeitung dringend bedürftig. In Manuskript II war nämlich die<br />

Reproduktion behandelt zuerst ohne Berücksichtigung der sie vermittelnden Geldzirkulation und sodann<br />

nochmals mit Rücksicht auf diese. <strong>Die</strong>s sollte beseitigt und der ganze Abschnitt überhaupt so<br />

umgearbeitet werden, daß er dem erweiterten Gesichtskreis <strong>des</strong> Verfassers entsprach. So entstand<br />

Manuskript VIII, ein Heft von nur 70 Quartseiten; was Marx aber auf diesen Raum zusammenzudrängen<br />

verstand, beweist die Vergleichung von Abschnitt III im Druck, nach Abzug der aus Manuskript II<br />

eingeschobenen Stücke.<br />

Auch dies Manuskript ist nur eine vorläufige Behandlung <strong>des</strong> Gegenstands, bei der es vor allem darauf<br />

ankam, die gewonnenen neuen Gesichtspunkte gegenüber Manuskript II festzustellen und zu entwickeln,<br />

unter Vernachlässigung der Punkte, über die nichts Neues zu sagen war. Auch ein wesentliches Stück von<br />

Kapitel XVII <strong>des</strong> zweiten Abschnitts, das ohnehin einigermaßen in den dritten Abschnitt übergreift, wird<br />

wieder hineingezogen und erweitert. <strong>Die</strong> logische Folge wird öfters unterbrochen, die Behandlung ist<br />

stellenweise lückenhaft und namentlich am Schluß ganz fragmentarisch. Aber was Marx sagen wollte, ist<br />

in dieser oder jener Weise darin gesagt.<br />

Das ist das Material zu Buch II, woraus, nach einer Äußerung von Marx zu seiner Tochter Eleanor kurz<br />

vor seinem Tode, ich 'etwas machen' sollte."<br />

Man muß dies "etwas" bewundern. das Engels aus einem so beschaffenen Material zu machen verstanden<br />

hat. Aus seinem genauen Bericht geht aber für die uns interessierende Frage mit aller Deutlichkeit<br />

hervor, daß von den drei Abschnitten, die den Band II bilden, für die ersten zwei: über den Kreislauf <strong>des</strong><br />

Geld- und Warenkapitals sowie die Zirkulationskosten und über den Umschlag <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, das von<br />

Marx hinterlassene Manuskript am ehesten druckreif war. Hingegen stellte der dritte Abschnitt, der die<br />

Reproduktion <strong>des</strong> Gesamtkapitals behandelt, nur eine Sammlung von Fragmenten dar, die Marx selbst<br />

einer Umarbeitung "dringend bedürftig" schienen. Von diesem Abschnitt ist aber das letzte<br />

einundzwanzigste Kapitel, auf das es gerade ankommt: die <strong>Akkumulation</strong> und erweiterte Reproduktion,<br />

am unfertigsten vom ganzen Buch geblieben. Es umfaßt alles in allem bloß 35 Druckseiten und bricht<br />

mitten in der Analyse ab.<br />

Außer diesem äußeren Umstand war u.E. noch ein anderes Moment von großem <strong>Ein</strong>fluß. <strong>Die</strong><br />

Untersuchung <strong>des</strong> gesellschaftlichen Reproduktionsprozesses nimmt bei Marx. wie wir gesehen, ihren<br />

Ausgangspunkt von der Ad. Smithschen Analyse, die u.a. an dem falschen Satz von der<br />

Preiszusammensetzung aller Waren aus v + m gescheitert ist. <strong>Die</strong> Auseinandersetzung mit diesem Dogma<br />

beherrscht nun die ganze Analyse <strong>des</strong> Reproduktionsprozesses bei Marx. Der Beweisführung, daß das<br />

gesellschaftliche Gesamtprodukt nicht bloß der Konsumtion im Betrage der verschiedenen<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 9. Kapitel<br />

<strong>Ein</strong>kommensquellen, sondern auch der Erneuerung <strong>des</strong> konstanten <strong>Kapitals</strong> dienen muß, widmet Marx<br />

seine ganze Aufmerksamkeit. Da aber für diese Beweisführung die theoretisch reinste Form nicht bei der<br />

erweiterten, sondern bei der einfachen Reproduktion gegeben ist, so betrachtet Marx vorwiegend die<br />

Reproduktion unter einem der <strong>Akkumulation</strong> gerade entgegengesetzten Gesichtswinkel: unter der<br />

Annahme, daß der ganze Mehrwert von den Kapitalisten verzehrt wird. Wie sehr die Polemik gegen<br />

Smith die Marxsche Analyse beherrschte, dafür zeugt, daß er zu dieser Polemik im Verlaufe seiner<br />

ganzen Arbeit unzählige Male von verschiedensten Seiten zurückkehrt. So sind ihr gewidmet gleich im<br />

ersten Band 7. Abschnitt, 22. Kapitel, S. 551-554, im zweiten Band S. 335-370, S. 383, S. 409-412, S.451-<br />

453. Im Band III/2 nimmt Marx das Problem der Gesamtreproduktion wieder auf, stürzt sich aber dabei<br />

wieder sofort in das von Smith aufgegebene Rätsel und widmet ihm das ganze 49. Kapitel (S. 367-388)<br />

und eigentlich auch noch das ganze 50. Kapitel (S. 388 bis 413). Endlich in den "Theorien über den<br />

Mehrwert" finden wir wieder ausführliche Polemiken gegen das Smithsche Dogma in Band I, S.164-253,<br />

Band II/2, S. 92, 95 126, 233-262. Wiederholt betont und unterstreicht Marx selbst, daß er gerade in dem<br />

Problem <strong>des</strong> Ersatzes <strong>des</strong> konstanten <strong>Kapitals</strong> aus dem gesellschaftlichen Gesamtprodukt die<br />

schwierigste und wichtigste Frage der Reproduktion erblickte.(8) So wurde das andere Problem, das der<br />

<strong>Akkumulation</strong>, nämlich die Realisierung <strong>des</strong> Mehrwerts zu Zwecken der Kapitalisierung, in den<br />

Hintergrund gedrängt und ist schließlich von Marx kaum angeschnitten worden.<br />

Bei der großen Bedeutung dieses Problems für die kapitalistische Wirtschaft ist es kein Wunder, daß es<br />

die bürgerliche Ökonomie immer und immer wieder beschäftigte. <strong>Die</strong> Versuche, mit der Lebensfrage der<br />

kapitalistischen Wirtschaft, nämlich mit der Frage, ob die Kapitalakkumulation praktisch möglich sei,<br />

fertig zu werden, tauchen im Verlaufe der Geschichte der Ökonomie immer wieder auf. Zu diesen<br />

geschichtlichen Versuchen vor wie nach Marx, die Frage zu lösen, wollen wir uns jetzt wenden.<br />

Fußnoten von <strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong><br />

(1) Das Kapital, Bd. II, S. 466. [Karl Marx: Das Kapital, Zweiter Band. In: Karl Marx/Friedrich Engels:<br />

Werke, Bd. 24, S. 486.]


<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 9. Kapitel<br />

(6) Das Kapital, Bd. II, S. 318. [Karl Marx: Das Kapital, Zweiter Band. In: Karl Marx/Friedrich Engels:<br />

Werke, Bd. 24, S. 346.]


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9. Kapitel | Inhalt | 11. Kapitel<br />

<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - Gesammelte Werke. Herausgegeben vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Band<br />

5. <strong>Berlin</strong>/DDR. 1975. "<strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>", S. 9-24<br />

1. Korrektur.<br />

Erstellt am 20.10.1998<br />

Zweiter Abschnitt<br />

Geschichtliche Darstellung <strong>des</strong> Problems<br />

Erster Waffengang<br />

Kontoverse zwischen Sismondi - Malthus<br />

und Say - Ricardo - MacCulloch<br />

Zehntes Kapitel<br />

<strong>Die</strong> Sismondische Theorie der Reproduktion<br />

<strong>Die</strong> ersten starken Zweifel an der Gottähnlichkeit der kapitalistischen Ordnung stiegen in der<br />

bürgerlichen Nationalökonomie unter dem unmittelbaren <strong>Ein</strong>druck der ersten Krisen in England im Jahre<br />

1815 und 1818/19 auf. Noch waren die Umstände, die zu diesen Krisen geführt hatten, eigentlich<br />

äußerer, scheinbar zufälliger Natur. Zum Teil war dies die Napoleonische Kontinentalsperre, die England<br />

künstlich von seinen europäischen Absatzmärkten für eine Zeitlang abgeschnitten und inzwischen in<br />

kurzer Zeit eine bedeutende Entwicklung der eigenen Industrie auf einigen Gebieten in den kontinentalen<br />

Staaten begünstigt hatte; zum Teil war es die materielle Erschöpfung <strong>des</strong> Kontinents durch die lange<br />

Kriegsperiode, was nach der Aufhebung der Kontinentalsperre den erwarteten Absatz für englische<br />

Produkte verringerte. <strong>Die</strong>se ersten Krisen genügten jedoch, um den Zeitgenossen die Kehrseite der<br />

Medaille der besten aller Gesellschaftsformen in ihrer ganzen Grauenhaftigkeit vor die Augen zu führen.<br />

Überfüllte Märkte, Magazine voll Waren, die keine Abnehmer fanden, zahlreiche Bankrotte, andererseits<br />

ein schreien<strong>des</strong> Elend der Arbeitermassen - alles das stieg zum erstenmal vor den Augen der Theoretiker<br />

auf, die in allen Tonarten die harmonischen Schönheiten <strong>des</strong> bürgerlichen laissez faire gepriesen und<br />

verkündet hatten. Alle zeitgenössischen Handelsnachrichten, Zeitschriften, Erzählungen der Reisen-<br />

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den berichteten über Verluste der englischen Warenhändler. In Italien, Deutschland, Rußland, in<br />

Brasilien schlugen die Engländer ihre Warenvorräte einem Verlust von 1/4 bis 3/4 los. 1818 beklagte man<br />

sich am Kap der Guten Hoffnung, daß alle Läden mit europäischen Waren angefüllt waren, die man zu<br />

niedrigeren Preisen als in Europa anbot, ohne sie loswerden zu können. Aus Kalkutta ertönten ähnliche<br />

Klagen. Ganze Warenladungen kamen aus Neuholland nach England zurück. In den<br />

Vereinigten Staaten gab es nach dem Reisebericht eines Zeitgenossen "von einem Ende dieses<br />

ungeheuren und so wohlhabenden Festlan<strong>des</strong> bis zum anderen keine Stadt, keinen Marktflecken, in dem<br />

die Menge der zum Verkaufe ausliegenden Waren die Mittel der Käufer nicht bedeutend überstiege,<br />

obgleich die Verkäufer sich bemühten, durch sehr lange Kredite und zahlreiche Arten von<br />

Zahlungserleichterungen, durch Abzahlungen und Annahme von Waren an Zahlungs Statt die Kunden<br />

anzulocken".<br />

Gleichzeitig ertönte in England der Verzweiflungsschrei der Arbeiter. In der "Edinburgh Review" vom<br />

Mai 1820 ist die Adresse der Strumpfwirker von Nottingham angeführt, die folgende Worte enthält: "Bei<br />

einer vierzehn- bis sechzehnstündigen täglichen Arbeit verdienen wir nur vier bis sieben Schilling die<br />

Woche, von welchem Verdienst wir unsere Frauen und Kinder ernähren müssen. Wir stellen ferner fest,<br />

daß, trotzdem wir Brot und Wasser oder Kartoffeln mit Salz an Stelle der gesünderen Nahrung haben<br />

setzen müssen, welche ehemals stets reichlich auf den englischen Tischen zu sehen war, wir nach der<br />

ermüdenden Arbeit eines ganzen Tages häufig gezwungen gewesen sind, unsere Kinder hungrig zu Bett<br />

zu schicken um ihr Schreien nach Brot nicht zu hören. Wir erklären auf das feierlichste, daß wir während<br />

der letzten achtzehn Monate kaum je das Gefühl der Sättigung gehabt haben."(1)<br />

Fast gleichzeitig erhoben dann ihre Stimme zu einer wuchtigen Anklage gegen die kapitalistische<br />

Gesellschaft Owen in England und Sismondi in Frankreich. Während Owen jedoch, als praktischer<br />

Engländer und als Bürger <strong>des</strong> ersten Industriestaates, sich zum Wortführer einer großzügigen sozialen<br />

Reform machte, verlief sich der schweizerische Kleinbürger in breite Anklagen gegen die<br />

Unvollkommenheiten der bestehenden Gesellschaftsordnung und gegen die klassische Ökonomie. Doch<br />

dadurch gerade hat Sismondi der bürgerlichen Ökonomie viel härtere Nüsse zu knacken gegeben als<br />

Owen, <strong>des</strong>sen fruchtbare praktische Wirksamkeit sich direkt an das Proletariat wendete.<br />

Daß es England und namentlich die erste englische Krise war, wovon Sismondi zu seiner sozialen Kritik<br />

Anstoß erhielt, schildert er uns selbst ausführlich in der Vorrede zur 2. Auflage seiner "Nouveaux<br />

principes d'économie politique ou de la richesse dans ses rapports avec la population". (<strong>Die</strong> erste Auflage<br />

ist 1819, die zweite acht Jahre später erschienen.)<br />

"In England war es, wo ich diese Aufgabe gelöst habe. England hat die berühmtesten Volkswirte<br />

hervorgebracht. Ihre Lehren werden dort heute noch mit einer verdoppelten Wärme vorgetragen ... Der<br />

allgemeine Wettbewerb oder der Wunsch, immer mehr zu produzieren und zu immer billigerem Preise,<br />

ist seit langer Zeit das in England maßgebende System. Ich habe dieses System als gefährlich<br />

angegriffen, dies System, das Englands Industrie die ungeheuerlichsten Fortschritte hat machen lassen,<br />

aber das in seinem Verlauf die Arbeiter in ein erschrecken<strong>des</strong> Elend gestürzt hat. Neben diese Zuckungen<br />

<strong>des</strong> Reichtums habe ich geglaubt mich stellen zu sollen, um meine Ausführungen noch einmal zu<br />

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überlegen und sie mit den Tatsachen zu vergleichen.<br />

Das Studium Englands hat mich in meinen 'neuen Grundsätzen' befestigt. In diesem überraschenden<br />

Lande, das eine große Erfahrung zur Belehrung der übrigen Welt in sich zu bergen scheint, habe ich die<br />

Produktion zunehmen und die Genüsse abnehmen sehen. <strong>Die</strong> Masse der Bevölkerung scheint dort ebenso<br />

wie die Philosophen zu vergessen, daß das Anwachsen der Reichtümer nicht der Zweck der politischen<br />

Ökonomie ist, sondern das Mittel, <strong>des</strong>sen sie sich bedient, um das Glück aller zu fördern. Ich habe dieses<br />

Glück in allen Klassen gesucht, es aber nirgends finden können. Tatsächlich ist die hohe englische<br />

Aristokratie bei einem Grad <strong>des</strong> Reichtums und <strong>des</strong> Luxus angelangt, der alles übersteigt, was man bei<br />

allen übrigen Völkern zu sehen bekommt. In<strong>des</strong>sen erfreut sie sich selbst nicht der Fülle, die sie auf<br />

Kosten der anderen Klassen erworben zu haben scheint; es mangelt ihr die Sicherheit: Entbehrung macht<br />

sich in jeder Familie noch mehr bemerkbar als der Überfluß ... Unter dieser betitelten und nicht<br />

betitelten Aristokratie nimmt der Handel eine hervorragende Stellung ein, seine Unternehmungen<br />

umfassen die ganze Welt, seine Angestellten bieten dem Polareise und der Hitze <strong>des</strong> Äquators Trotz,<br />

während jeder der Chefs, die sich auf der Börse versammeln, über Millionen gebietet. Zu gleicher Zeit<br />

stellen in allen Straßen Londons sowie in denen der anderen großen Städte Englands die Läden Waren<br />

zur Schau, die dem Verbrauch <strong>des</strong> Weltalls genügen würden. Bringt aber der Reichtum dem englischen<br />

Händler die Art von Glück, die er zu gewähren imstande ist? Nein, in keinem Lande sind die Bankrotte<br />

so häufig. Nirgends werden diese ungeheuren Vermögen, von denen je<strong>des</strong> für eine öffentliche Anleihe<br />

zur Erhaltung eines Reiches oder einer Republik ausreichen würde, mit solcher Schnelligkeit in alle<br />

Winde zerstreut. Alle beklagen sich, daß die Geschäfte nicht ausreichend, daß sie schwierig und wenig<br />

einträglich sind. Vor wenigen Jahren haben zwei schreckliche Krisen einen Teil der Bankiers zugrunde<br />

gerichtet, und die Verheerung hat sich auf alle englischen Manufakturen erstreckt. Zu gleicher Zeit hat<br />

eine andere Krise die Pächter zugrunde gerichtet und hat ihre Rückwirkung den Kleinhandel fühlen<br />

lassen. Andererseits ist dieser Handel trotz seiner ungeheuren Ausdehnung nicht imstande, jungen Leuten<br />

einen Platz zu bieten; alle Stellen sind besetzt, und in den oberen Schichten der Gesellschaft wie in den<br />

niederen bietet der größre Teil vergebens seine Arbeit an, ohne einen Lohn erhalten zu können.<br />

Hat dieser nationale Wohlstand, <strong>des</strong>sen materielle Fortschritte alle Augen blenden, hat dieser endlich<br />

zum Vorteil der Armen gedient? Nichts weniger als das. In England hat das Volk ebensowenig<br />

Behaglichkeit in der Gegenwart wie die Sicherung für die Zukunft. Keine Bauern gibt es mehr auf dem<br />

Lande; man hat sie gezwungen, Taglöhnern Platz zu machen; fast keine Handwerker mehr in den Städten<br />

oder unabhängige Kleinindustrielle, sondern nur Fabrikarbeiter. Der Industrielle (soll heißen<br />

Lohnarbeiter - R. L.), um ein Wort anzuwenden, das dieses System selbst aufgebracht hat, weiß nicht<br />

mehr, was es heißt, einen Beruf zu haben, er erhält einfach Lohn, und da dieser Lohn ihm nicht<br />

gleichmäßig zu allen Zeiten genügen kann ist er fast in jedem Jahr gezwungen, von der Börse der Armen<br />

ein Almosen zu erbitten.<br />

<strong>Die</strong>se reiche Nation hat es für vorteilhafter befunden, alles Gold und Silber, das sie besaß, zu verkaufen,<br />

zu Anweisungen überzugehen und ihren ganzen Umlauf mittels Papier zu bewirken. Sie hat sich so<br />

freiwillig <strong>des</strong> bedeutendsten Vorteils <strong>des</strong> Zahlmittels beraubt, der Beständigkeit <strong>des</strong> Preises; die<br />

Inhaber von Anweisungen auf Provinzialbanken laufen täglich Gefahr, durch häufige und gewissermaßen<br />

epidemisch auftretende Bankrotte der Bankiers zugrunde gerichtet zu werden, und der ganze Staat ist in<br />

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allen seinen Vermögensbeziehungen den größten Zuckungen ausgesetzt, wenn ein feindlicher <strong>Ein</strong>fall<br />

oder eine Revolution den Kredit der Nationalbank erschüttert. <strong>Die</strong> englische Nation hat es für sparsamer<br />

befunden, auf die Bodenbestellungsarten zu verzichten, die viel Handarbeit erfordern, und hat die Hälfte<br />

der Landbebauer, die seine Felder bewohnten, verabschiedet ebenso wie die Handwerker in den Städten;<br />

die Weber machen Platz den 'power looms' (Dampfwebstuhl) und erliegen heute dem Hunger; sie hat es<br />

für sparsamer befunden, alle Arbeiter auf den niedrigsten Lohn zu setzen, mit dem sie leben können, so<br />

daß die Arbeiter, die nur noch Proletarier sind, keine Furcht hegen, sich in ein noch tieferes Elend zu<br />

stützen, wenn sie immer zahlreichere Familien aufziehen; sie hat es für sparsamer befunden, die Irländer<br />

nur mit Kartoffeln zu nähren und ihnen nur Lumpen zur Kleidung zu geben, und so bringt je<strong>des</strong> Schiff<br />

täglich Legionen Irländer, die zu billigerem Preise arbeiten als die Engländer und diese aus allen<br />

Gewerben vertreiben. Was sind also die Früchte dieses ungeheuren angehäuften Reichtums? Haben sie<br />

eine andere Wirkung gehabt, als die Sorgen, die Entbehrungen, die Gefahr eines vollständigen<br />

Untergangs allen Klassen mitzuteilen? Hat England, als es die Menschen über den Dingen vergaß, nicht<br />

den Zweck den Mitteln geopfert?"(2)<br />

Man muß gestehen, daß dieser der kapitalistischen Gesellschaft vor bald hundert Jahren vorgehaltene<br />

Spiegel an Deutlichkeit wie an Vollständigkeit nichts zu wünschen übrigläßt. Sismondi legt den Finger in<br />

alle wunden Stellen der bürgerlichen Ökonomie: Ruin <strong>des</strong> Kleingewerbes, Entvölkerung <strong>des</strong> platten<br />

Lan<strong>des</strong>, Proletarisierung der Mittelschichten, Verelendung der Arbeiter, Verdrängung der Arbeiter durch<br />

Maschinerie, Arbeitslosigkeit, Gefahren <strong>des</strong> Kreditsystems, soziale Kontraste, Unsicherheit der Existenz,<br />

Krisen, Anarchie. Seine herbe und eindringliche Skepsis fiel namentlich wie ein schriller Mißton in den<br />

satten Optimismus der vulgärökonomischen Harmonieduselei, die sich bereits in England wie in<br />

Frankreich in den Personen dort MacCullochs, hier J. B. Says breitmachte und die ganze offizielle<br />

Wissenschaft beherrschte. Man kann sich leicht vorstellen. welchen tiefen und peinlichen <strong>Ein</strong>druck<br />

Äußerungen machen mußten wie die folgenden:<br />

"Der Luxus ist nur möglich, wenn man ihn mit der Arbeit eines anderen kauft, angestrengte<br />

Arbeit ohne Erholung ist nur möglich, wenn man sich nicht leichtfertigen Tand, sondern<br />

Lebensbedürfnisse verschaffen will." (Bd. I, S.60.)<br />

"Obgleich die Erfindung der Maschinen, die die Kräfte <strong>des</strong> Menschen vervielfacht, eine Wohltat für die<br />

Menschen ist, verwandelt die ungerechte Verteilung ihrer Wohltaten sie in Geißeln der Armen." (Bd. I,<br />

S. XXI.)<br />

"Der Profit <strong>des</strong> Unternehmers ist nichts als ein Raub an dem Arbeiter, er gewinnt nicht, weil sein<br />

Unternehmen viel mehr einbringt, als es kostet, sondern weil er nicht bezahlt, was es kostet, weil er dem<br />

Arbeiter einen genügenden Entgelt für seine Arbeit nicht gewährt. <strong>Ein</strong>e solche Industrie ist ein<br />

gesellschaftliches Übel, sie stößt diejenigen, welche arbeiten, in das äußerste Elend, während sie nur den<br />

gewöhnlichen Kapitalprofit dem Leiter zu gewähren vorgibt." (Bd. I, S. 71.)<br />

"Von denen, die sich in das Nationaleinkommen teilen, erwerben die einen je<strong>des</strong> Jahr ein neues Recht<br />

auf dasselbe durch eine neue Arbeit, die anderen haben von alters her ein dauern<strong>des</strong> Recht durch eine<br />

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frühere Arbeit erworben, welche die jährliche Arbeit lohnender gemacht hat." (Bd. I, S.86.)<br />

"Nichts kann verhindern, daß jede neue Erfindung in der angewandten Mechanik nicht die arbeitende<br />

Bevölkerung vermindert. <strong>Die</strong>ser Gefahr ist sie stets ausgesetzt, und die bürgerliche Gesellschaft kennt<br />

kein Mittel dagegen." (Bd. II, S. 258.)<br />

"Ohne Zweifel wird eine Zeit kommen, in der unsere Enkel uns als nicht minder barbarisch ansehen<br />

werden, weil wir die arbeitenden Klassen ohne Garantie gelassen haben, wie sie und wir selbst die<br />

Nationen als barbarisch ansehen, die diese selben Klassen als Sklaven behandelt haben." (Bd. II, S. 337.)<br />

Sismondi geht also in seiner Kritik aufs Ganze; er lehnt jede Schönfärberei und jede Ausflucht ab, die<br />

etwa die von ihm aufgezeigten Schattenseiten der kapitalistischen Bereicherung bloß als temporäre<br />

Schäden einer Übergangsperiode zu entschuldigen suchte, und er schließt seine Untersuchung mit der<br />

folgenden Bemerkung gegen Say: "Seit sieben Jahren habe ich diese Krankheit <strong>des</strong> sozialen Körpers<br />

dargelegt, sieben Jahre hat sie nicht aufgehört zuzunehmen. Ich kann in einem so fortgesetzten Leiden<br />

nicht nur Unbequemlichkeiten sehen, die stets die Übergänge begleiten, und ich glaube dadurch, daß ich<br />

auf den Ursprung <strong>des</strong> <strong>Ein</strong>kommens zurückgegangen bin, gezeigt zu haben, daß die Übel, unter denen wir<br />

leiden, die notwendige Folge der Fehler unserer Organisation sind, die keineswegs nahe daran<br />

sind aufzuhören."(3)<br />

<strong>Die</strong> Quelle aller Übel sieht Sismondi nämlich in dem Mißverhältnis zwischen der kapitalistischen<br />

Produktion und der durch sie bedingten <strong>Ein</strong>kommensverteilung, und hier greift er in das uns<br />

interessierende Problem der <strong>Akkumulation</strong> ein.<br />

Das Leitmotiv seiner Kritik gegenüber der klassischen Ökonomie ist dies: <strong>Die</strong> kapitalistische Produktion<br />

wird ermuntert zur schrankenlosen Erweiterung ohne jede Rücksicht auf die Konsumtion, diese aber ist<br />

bemessen durch das <strong>Ein</strong>kommen. "Alle neueren Volkswirte", sagt er, "haben tatsächlich anerkannt, daß<br />

das öffentliche Vermögen, insofern es nur die Zusammensetzung <strong>des</strong> Privatvermögens ist, durch<br />

dieselben Vorgänge wie das je<strong>des</strong> Privatmannes entsteht, sich vermehrt, verteilt wird, zugrunde geht.<br />

Alle wußten gar wohl, daß bei einem Privatvermögen der Teil, der ganz besonders beachtet werden muß,<br />

das <strong>Ein</strong>kommen ist, daß nach dem <strong>Ein</strong>kommen der Verbrauch oder die Ausgabe sich richten muß, wenn<br />

man nicht das Kapital zerstören will. Da aber in dem öffentlichen Vermögen aus dem Kapital <strong>des</strong> einen<br />

das <strong>Ein</strong>kommen <strong>des</strong> anderen wird, waren sie in Verlegenheit zu entscheiden, was Kapital ist und was<br />

<strong>Ein</strong>kommen, und haben es <strong>des</strong>halb für das einfachste gehalten, das letztere vollständig bei ihren<br />

Berechnungen beiseite zu lassen. Durch die Unterlassung der Bestimmung einer so wesentlichen Menge<br />

sind Say und Ricardo zu dem Glauben gelangt, daß der Verbrauch eine unbegrenzte Macht sei oder<br />

wenigstens daß seine Grenzen lediglich durch die Produktion bestimmt werden, während er doch<br />

tatsächlich durch das <strong>Ein</strong>kommen begrenzt wird. Sie haben gemeint, daß jeder produzierte Reichtum<br />

stets Verbraucher finde, und sie haben die Produzenten zu dieser Überfüllung der Märkte ermutigt, die<br />

heute das Elend der gesitteten Welt ausmacht, anstatt daß sie die Produzenten hätten darauf hinweisen<br />

sollen, daß sie nur auf Verbraucher rechnen können, die ein <strong>Ein</strong>kommen haben."(4)<br />

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Sismondi legt seiner Auffassung also eine Lehre vom <strong>Ein</strong>kommen zugrunde. Was ist <strong>Ein</strong>kommen und<br />

was Kapital? - dieser Unterscheidung wendet er die größte Aufmerksamkeit zu und nennt sie "die<br />

abstrakteste und schwierigste Frage der Volkswirtschaft". Das IV. Kapitel im Buch II ist dieser Frage<br />

gewidmet. Sismondi beginnt die Untersuchung wie üblich mit einer Robinsonade. Für den<br />

"<strong>Ein</strong>zelmenschen" war die Unterscheidung zwischen Kapital und <strong>Ein</strong>kommen "noch eine dunkle", erst in<br />

der Gesell- schaft wurde sie "grundstürzend". Aber auch in der Gesellschaft wird diese<br />

Unterscheidung sehr schwierig, nämlich durch die uns bereits bekannte Fabel der bürgerlichen<br />

Ökonomie, wonach "das, was für den einen Kapital, für den anderen <strong>Ein</strong>kommen wird" und umgekehrt.<br />

Sismondi übernimmt diesen Wirrwarr, den Smith angerichtet und Say zum Dogma und zum legitimen<br />

Rechtfertigungsgrund der Gedankenfaulheit und Oberflächlichkeit erhoben hatte, getreulich: "<strong>Die</strong> Natur<br />

<strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong> und <strong>des</strong> <strong>Ein</strong>kommens vermengen sich in unserem Geiste fortwährend; wir sehen das, was<br />

für den einen <strong>Ein</strong>kommen ist, zum Kapital für den anderen werden und denselben Gegenstand, während<br />

er aus einer Hand in die andere geht, nach und nach die verschiedensten Bezeichnungen annehmen,<br />

während sein Wert, der sich von dem verzehrten Gegenstande ablöst, eine übersinnliche Menge scheint,<br />

welche der eine verausgabt und der andere austauscht, welche bei dem einen mit dem Gegenstand selbst<br />

untergeht und sich bei dem anderen wieder erneut und so lange andauert wie der Umlauf." Nach dieser<br />

vielversprechenden <strong>Ein</strong>leitung stürzt er sich in das schwierige Problem und erklärt: Aller Reichtum ist<br />

das Produkt der Arbeit. Das <strong>Ein</strong>kommen ist ein Teil <strong>des</strong> Reichtums, folglich muß es denselben Ursprung<br />

haben. Es sei in<strong>des</strong>sen "üblich", drei Arten <strong>des</strong> <strong>Ein</strong>kommens anzuerkennen, welche man Rente, Gewinn<br />

und Lohn nennt und die drei verschiedenen Quellen entstammen: "... der Erde, dem angesammelten<br />

Kapital und der Arbeit." Was den ersten Satz betrifft, so ist er natürlich schief; unter Reichtum versteht<br />

man im gesellschaftlichen Sinne die Summe nützlicher Gegenstände, Gebrauchswerte, diese sind aber<br />

nicht bloß Produkte der Arbeit, sondern auch der Natur, die dazu Stoff liefert und die menschliche Arbeit<br />

durch ihre Kräfte unterstützt. Das <strong>Ein</strong>kommen hingegen bedeutet einen Wertbegriff, den Umfang der<br />

Verfügung <strong>des</strong> oder der einzelnen über einen Teil <strong>des</strong> Reichtums oder <strong>des</strong> gesellschaftlichen<br />

Gesamtprodukts. Da Sismondi das gesellschaftliche <strong>Ein</strong>kommen für einen Teil <strong>des</strong> gesellschaftlichen<br />

Reichtums erklärt, könnte man annehmen, er verstehe unter <strong>Ein</strong>kommen der Gesellschaft ihren<br />

tatsächlichen jährlichen Konsumtionsfonds. Der übrige nicht konsumierte Teil <strong>des</strong> Reichtums wäre<br />

alsdann das gesellschaftliche Kapital, und wir näherten uns so wenigstens in schwachen Umrissen der<br />

gesuchten Unterscheidung von Kapital und <strong>Ein</strong>kommen au gesellschaftlicher Basis. Allein schon im<br />

nächsten Augenblick akzeptiert Sismondi die "übliche" Unterscheidung von drei <strong>Ein</strong>kommensarten,<br />

deren eine nur aus dem "angesammelten Kapital" stammt, während bei den anderen neben das Kapital<br />

noch "die Erde" und "die Arbeit" treten. Der Kapitalbegriff verschwimmt dabei sofort wieder ins<br />

Nebelhafte. Doch folgen wir Sismondi weiter. Er bemüht sich, die drei Arten <strong>des</strong> <strong>Ein</strong>kommens, die eine<br />

antagonistische Gesellschaftsbasis verraten, in ihrer Entstehung zu erklären. Ganz richtig nimmt er zum<br />

Ausgangspunkt eine gewisse Höhe der Produktivität der Arbeit: "Dank den Fortschritten <strong>des</strong><br />

Gewerbefleißes und der Wissenschaft, welche dem Menschen alle Naturkräfte unterworfen haben, kann<br />

jeder Arbeiter jeden Tag mehr und mehr herstellen, als er zur Verzehrung bedarf." Nachdem er aber so<br />

richtig die Produktivität der Arbeit als die unumgängliche Voraussetzung und die geschichtliche<br />

Grundlage der Ausbeutung hervorgehoben hat, gibt er für die tatsächliche Entstehung der Ausbeutung<br />

eine typische Erklärung im Sinne der bürgerlichen Ökonomie: "Aber zu der gleichen Zeit, in der seine<br />

(<strong>des</strong> Arbeiters) Arbeit Reichtum schafft, würde der Reichtum, wenn er ihn genießen sollte, ihn wenig<br />

geschickt zur Arbeit machen; so bleibt der Reichtum fast nie in der Hand <strong>des</strong>jenigen, welcher seine<br />

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Hände zu seinem Lebensunterhalt zu gebrauchen genötigt ist." Nachdem er so die Ausbeutung und den<br />

Klassengegensatz ganz in Übereinstimmung mit den Ricardianern und Malthusianern zum<br />

unentbehrlichen Stachel der Produktion gemacht hat, kommt er auf den wirklichen Grund der<br />

Ausbeutung: die Trennung der Arbeitskraft von den Produktionsmitteln..<br />

"Im allgemeinen hat der Arbeiter das Eigentum an dem Grund und Boden nicht festhalten können; der<br />

Boden hat in<strong>des</strong>sen eine Produktivkraft, welche die menschliche Arbeit sich begnügt hat nach den<br />

Bedürfnissen <strong>des</strong> Menschen zu regeln. Derjenige, der den Boden besitzt, auf dem die Arbeit sich<br />

vollzieht, behält sich als Belohnung für die Vorteile, welche dieser Produktivkraft verdankt werden,<br />

einen Teil in den Früchten der Arbeit vor, an deren Erzeugung sein Grund und Boden mitgewirkt hat."<br />

<strong>Die</strong>s ist die Rente. Weiter:<br />

"Der Arbeiter hat in dem jetzigen Zustande der Zivilisation das Eigentum an einem genügenden Vorrat<br />

von Gegenständen der Verzehrung sich nicht bewahren können, deren er während der Ausführung seiner<br />

Arbeit bis zu dem Zeitpunkte, zu welchem er einen Käufer für sie findet, bedarf. Er besitzt nicht mehr die<br />

Rohstoffe, welche oft von weit her bezogen werden müssen und welche er zur Ausführung seiner Arbeit<br />

bedarf. Noch weniger besitzt er die kostbaren Maschinen, welche seine Arbeit erleichtert und unendlich<br />

produktiver gemacht haben. Der Reiche, welcher diese Nahrungsmittel, diese Rohstoffe, diese<br />

Maschinen besitzt, kann sich selbst der Arbeit enthalten, da er ja in gewissem Sinne Herr der Arbeit<br />

<strong>des</strong>sen ist, dem er die Mittel zur Arbeit liefert. Als Entgelt für die Vorteile, welche er dem<br />

Arbeiter zur Verfügung gestellt hat, nimmt er für sich vorweg den größten Teil der Früchte der Arbeit."<br />

<strong>Die</strong>s ist der Kapitalgewinn. Das, was von dem Reichtum nach der zweimaligen Abschöpfung durch den<br />

Grundbesitzer und den Kapitalisten übrigbleibt, ist Arbeitslohn, <strong>Ein</strong>kommen <strong>des</strong> Arbeiters. Und<br />

Sismondi fügt hinzu: "Er verzehrt es, ohne daß es sich erneuert." Sismondi stellt hier beim Lohn - ebenso<br />

wie bei der Rente - das Sich-nicht-wieder-Erneuern als das Merkmal <strong>des</strong> <strong>Ein</strong>kommens - im Unterschied<br />

vom Kapital auf. <strong>Die</strong>s ist jedoch nur in bezug auf die Rente und den konsumierten Teil <strong>des</strong><br />

Kapitalgewinns richtig; der als Lohn verzehrte Teil <strong>des</strong> gesellschaftlichen Produkts hingegen erneuert<br />

sich wohl: in der Arbeitskraft <strong>des</strong> Lohnarbeiters - für ihn selbst als die Ware, die er stets von neuem auf<br />

den Markt bringen kann, um von ihrem Verkauf zu leben, und für die Gesellschaft als die sachliche<br />

Gestalt <strong>des</strong> variablen <strong>Kapitals</strong>, die bei der jährlichen Gesamtreproduktion stets wiedererscheinen muß,<br />

wenn die Reproduktion nicht ein Defizit erleiden soll.<br />

Doch so weit, so gut. Wir haben bis jetzt nur zwei Tatsachen erfahren: <strong>Die</strong> Produktivität der Arbeit<br />

erlaubt die Ausbeutung der Arbeitenden durch Nichtarbeitende. die Trennung der Arbeitenden von den<br />

Produktionsmitteln macht die Ausbeutung der Arbeitenden zur tatsächlichen Grundlage der Teilung <strong>des</strong><br />

<strong>Ein</strong>kommens. Was jedoch <strong>Ein</strong>kommen, was Kapital ist, wissen wir noch immer nicht, und Sismondi geht<br />

daran, es aufzuklären. Wie es Leute gibt, die nur tanzen können, wenn sie von der Ofenecke aus<br />

anfangen, so muß Sismondi immer wieder von seinem Robinson den Anlauf nehmen. "In den Augen <strong>des</strong><br />

<strong>Ein</strong>zelmenschen ... war aller Reichtum nichts anderes als ein Vorrat, aufgesammelt für den Augenblick<br />

<strong>des</strong> Bedürfnisses. In<strong>des</strong>sen unterschied auch er schon zwei Dinge bei dieser Aufbewahrung; einen Teil,<br />

welchen er aufbewahrte, um ihn später für seinen unmittelbaren oder nahezu unmittelbaren Gebrauch zu<br />

verwenden, und einen anderen, den er bestimmt hatte zur Verwendung für eine neue Produktion. So<br />

sollte ein Teil seines Getrei<strong>des</strong> ihn bis zur künftigen Ernte ernähren, ein anderer Teil, welchen er zur<br />

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Aussaat bestimmt hatte, sollte im folgenden Jahre Frucht tragen. <strong>Die</strong> Bildung der Gesellschaft und die<br />

<strong>Ein</strong>führung <strong>des</strong> Tausches gestattete fast bis ins unendliche die Vermehrung dieser Aussaat, dieses<br />

fruchtbringenden Teils <strong>des</strong> angesammelten Reichtums: <strong>Die</strong>s heißt man Kapital."<br />

<strong>Die</strong>s heißt man nur Galimathias. Nach Analogie der Aussaat identifiziert hier Sismondi<br />

Produktionsmittel mit Kapital, was in zweifacher Hinsicht falsch ist. Erstens sind die Produktionsmittel<br />

nicht an sich, son- dern nur unter ganz bestimmten historischen Verhältnissen Kapital, zweitens<br />

ist der Begriff <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong> mit Produktionsmitteln nicht erschöpft. In der kapitalistischen Gesellschaft -<br />

alles andere, was Sismondi außer acht gelassen, vorausgesetzt - sind Produktionsmittel nur ein Teil <strong>des</strong><br />

<strong>Kapitals</strong>, nämlich konstantes Kapital.<br />

Was Sismondi hier aus dem Konzept gebracht hat, ist offenbar der Versuch, den Begriff <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong> mit<br />

sachlichen Gesichtspunkten der gesellschaftlichen Reproduktion in Zusammenhang zu bringen. Solange<br />

er oben den <strong>Ein</strong>zelkapitalisten im Auge hatte, zählte er als Bestandteile <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong> neben<br />

Produktionsmitteln auch die Lebensmittel <strong>des</strong> Arbeiters auf - was wiederum vom sachlichen Standpunkte<br />

der Reproduktion <strong>des</strong> <strong>Ein</strong>zelkapitals schief ist. Sobald er dann den Versuch macht, die sachlichen<br />

Grundlagen der gesellschaftlichen Reproduktion ins Auge zu fassen und den Anlauf zur richtigen<br />

Unterscheidung zwischen Konsummitteln und Produktionsmitteln macht, zerrinnt ihm der Begriff <strong>des</strong><br />

<strong>Kapitals</strong> unter den Händen.<br />

Sismondi fühlt aber selbst, daß mit Produktionsmitteln allein weder Produktion noch Ausbeutung<br />

vonstatten gehen kann, ja, er hat das richtige Empfinden, daß der Schwerpunkt <strong>des</strong><br />

Ausbeutungsverhältnisses gerade im Austausch mit der lebendigen Arbeitskraft liegt. Und nachdem er<br />

soeben das Kapital ganz auf konstantes Kapital reduziert hatte, reduziert er es im nächsten Augenblick<br />

ganz auf variables:<br />

"Der Landbebauer, der alles Getreide zurückgelegt hatte, <strong>des</strong>sen er bis zur nächsten Ernte zu bedürfen<br />

glaubte, sah ein, daß es für ihn vorteilhafter wäre, den Überschuß seines Getrei<strong>des</strong> dazu zu benutzen, um<br />

andere Menschen, die für ihn die Erde bearbeiteten und neues Getreide entstehen ließen, zu ernähren;<br />

ferner die, welche seinen Flachs spinnen und seine Wolle weben" usw. "Bei dieser Tätigkeit tauschte der<br />

Landbebauer einen Teil seines <strong>Ein</strong>kommens gegen Kapital ein (so in der entsetzlichen Übersetzung <strong>des</strong><br />

Herrn Prager; in Wirklichkeit muß es heißen: verwandelte einen Teil seines <strong>Ein</strong>kommens in Kapital - R.<br />

L.), und so ist in der Tat der Vorgang, wie neues Kapital sich bildet.(5) Das Korn, was er geerntet hatte<br />

über das hinaus, <strong>des</strong>sen er bei seiner eigenen Arbeit zur Ernährung bedurfte, und über das hinaus, was er<br />

aussäen mußte, um seinen Betrieb auf der alten Höhe zu erhalten, bildete einen Reichtum, welchen er<br />

fortgeben, verschwenden, im Müßiggang verbrauchen konnte, ohne da- durch ärmer zu werden,<br />

es war ein <strong>Ein</strong>kommen, aber wenn er es nutzte zur Erhaltung von Neues schaffenden Arbeitern oder es<br />

eintauschte gegen Arbeit oder gegen die Früchte von Arbeit seiner Handarbeiter, seiner Weber, seiner<br />

Bergleute, wurde es zu einem dauernden Werte, der sich vermehrte und nicht untergehen konnte: Es<br />

wurde zum Kapital."<br />

Hier läuft viel Krauses mit Richtigem kunterbunt durcheinander. Zur Erhaltung der Produktion auf alter<br />

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Höhe, d.h. zur einfachen Reproduktion, scheint noch konstantes Kapital nötig zu sein, wenn dieses<br />

konstante Kapital seltsamerweise auch nur auf zirkulieren<strong>des</strong> (Aussaat) reduziert, die Reproduktion <strong>des</strong><br />

fixen hingegen ganz vernachlässigt ist. Zur Erweiterung jedoch der Reproduktion, zur <strong>Akkumulation</strong>, ist<br />

auch das zirkulierende Kapital scheinbar überflüssig: Der ganze kapitalisierte Teil <strong>des</strong> Mehrwerts wird in<br />

Löhne für neue Arbeiter verwandelt, die offenbar in der Luft arbeiten, ohne jegliche Produktionsmittel.<br />

<strong>Die</strong>selbe Ansicht formuliert Sismondi noch deutlicher an einer anderen Stelle: "Der Reiche sorgt also für<br />

das Wohl <strong>des</strong> Armen, wenn er an seinem <strong>Ein</strong>kommen Ersparnisse macht und sie seinem Kapital<br />

hinzufügt, denn indem er selbst die Teilung der jährlichen Produktion vornimmt, bewahrt er alles das,<br />

was er <strong>Ein</strong>kommen nennt. auf, um es selbst zu verbrauchen, dagegen überläßt er alles das, was er Kapital<br />

nennt, dem Armen als <strong>Ein</strong>kommen." (l.c., Bd. I, S. 84.) Zugleich aber hebt Sismondi das Geheimnis der<br />

Plusmacherei und den Geburtsakt <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong> treffend hervor: Mehrwert entsteht aus dem Austausch<br />

von Kapital gegen Arbeit, aus dem variablen Kapital, Kapital entsteht aus der <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong><br />

Mehrwertes.<br />

Bei alledem sind wir jedoch in der Unterscheidung von Kapital und <strong>Ein</strong>kommen nicht viel<br />

vorwärtsgekommen. Sismondi macht jetzt den Versuch, die verschiedenen Elemente der Produktion und<br />

<strong>des</strong> <strong>Ein</strong>kommens in entsprechenden Portionen <strong>des</strong> gesellschaftlichen Gesamtprodukts darzustellen: "Der<br />

Unternehmer ebenso wie der Landbebauer verwendet nicht seinen ganzen produktiven Reichtum auf die<br />

Aussaat; einen Teil verwendet er auf Gebäude, auf Maschinen, auf Werkzeuge, welche die Arbeit<br />

leichter und fruchttragender machen; ebenso wie ein Teil <strong>des</strong> Reichtums <strong>des</strong> Landbebauers den<br />

dauernden Arbeiten zufließt, welche den Boden fruchtbarer machen. So sehen wir die verschiedenen<br />

Arten <strong>des</strong> Reichtums entstehen und sich nach und nach trennen. <strong>Ein</strong> Teil <strong>des</strong> Reichtums, den die<br />

Gesellschaft aufgehäuft hat, wird von jedem seiner Inhaber dazu verwandt, die Arbeit lohnender zu<br />

machen dadurch, daß er nach und nach aufgezehrt wird, ferner dazu, den blinden Naturkräften die Arbeit<br />

<strong>des</strong> Menschen zu übertragen; dies nennt man das feststehende Kapi- tal und versteht darunter den<br />

Neubruch, die Kanäle zur Bewässerung, die Fabriken und die Maschinen jeder Art. <strong>Ein</strong> anderer Teil <strong>des</strong><br />

Reichtums ist dazu bestimmt, verzehrt zu werden, um sich in dem Werk, welches er geschaffen hat, zu<br />

erneuern, ohne Aufhören seine Gestalt zu wechseln, dabei aber seinen Wert zu bewahren; dieser Teil,<br />

den man das umlaufende Kapital nennt, begreift in sich die Aussaat, die zur Verarbeitung bestimmten<br />

Rohstoffe und die Löhne. <strong>Ein</strong> dritter Teil <strong>des</strong> Reichtums endlich löst sich von diesem zweiten ab: der<br />

Wert, um den das fertige Werk die darauf gemachten Vorschüsse übersteigt. <strong>Die</strong>ser Wert, welchen man<br />

das <strong>Ein</strong>kommen von dem Kapital genannt hat, ist dazu bestimmt, ohne Wiedererzeugung verzehrt zu<br />

werden."<br />

Nachdem so mit Mühe die <strong>Ein</strong>teilung <strong>des</strong> gesellschaftlichen Gesamtprodukts nach den<br />

inkommensurablen Kategorien: fixes Kapital, zirkulieren<strong>des</strong> Kapital und Mehrwert, versucht worden ist,<br />

zeigt sich im nächsten Moment, daß Sismondi, wenn er vom fixen Kapital spricht, eigentlich konstantes,<br />

und wenn er vom zirkulierenden spricht, variables meint, denn "alles, was geschaffen ist", ist zur<br />

menschlichen Konsumtion bestimmt, aber das fixe Kapital wird nur "indirekt" verzehrt, das zirkulierende<br />

Kapital hingegen "dient dem Fonds, welcher zur Ernährung <strong>des</strong> Arbeiters bestimmt ist in Form <strong>des</strong><br />

Lohnes". Wir wären so einigermaßen wieder der <strong>Ein</strong>teilung <strong>des</strong> Gesamtprodukts in konstantes Kapital<br />

(Produktionsmittel), variables Kapital (Lebensmittel der Arbeiter) und Mehrwert (Lebensmittel der<br />

Kapitalisten) nähergerückt. Immerhin aber läßt sich bis jetzt den Aufklärungen Sismondis über diesen<br />

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von ihm selbst als grundlegend bezeichneten Gegenstand keine besondere Klarheit nachrühmen, und<br />

man merkt in diesem Wirrwarr jedenfalls keinen Fortschritt über die Smithschen "Gedankenböcke"<br />

hinaus.<br />

Sismondi fühlt das selbst und versucht mit einem Seufzer, daß "diese Bewegung <strong>des</strong> Reichtums<br />

vollständig abstrakt sei und eine so gespannte Aufmerksamkeit zu seinem Verständnis verlange", nun das<br />

Problem "in der einfachsten aller Behandlungen" klarzulegen. Wir begeben uns also wieder in die<br />

Ofenecke, d.h. zu Robinson, nur daß Robinson jetzt Pater familias und Pionier der Kolonialpolitik ist.<br />

"<strong>Ein</strong> einsamer Farmer in einer entfernten Kolonie am Saum der Wüste hat in einem Jahre hundert Sack<br />

Getreide geerntet: Kein Markt ist in der Nahe, wohin er sie bringen kann; auf alle Fälle muß dieses<br />

Getreide binnen Jahresfrist verzehrt werden, wenn es Wert für den Farmer haben soll; aber dieser kann<br />

mit seiner ganzen Familie nicht mehr als dreißig Sack verzehren; dies wird sein Aufwand sein, der<br />

Tausch seines <strong>Ein</strong>kom- mens, diese dreißig Sack erzeugen sich für niemand wieder. Er wird dann<br />

Arbeiter heranziehen, er wird sie Wälder ausroden, Sümpfe in seiner Nachbarschaft trockenlegen und<br />

einen Teil der Wüste unter Kultur legen lassen. <strong>Die</strong>se Arbeiter werden weitere dreißig Sack Getreide<br />

aufessen; für sie wird dies ein Aufwand sein, sie sind imstande, diesen Aufwand zu machen als Preis<br />

ihres <strong>Ein</strong>kommens, will sagen ihrer Arbeit; für den Farmer wird es ein Tausch sein, er wird diese dreißig<br />

Sack in fixes Kapital verwandelt haben. (Hier verwandelt Sismondi variables Kapital gar in fixes! Er will<br />

sagen: Für diese dreißig Sack, die sie als Lohn kriegten, stellen die Arbeiter Produktionsmittel her, die<br />

der Farmer zur Erweiterung seines fixen <strong>Kapitals</strong> wird verwenden können - R. L.) Es bleiben ihm nun<br />

noch vierzig Sack; diese wird er in diesem Jahre aussäen anstatt der zwanzig, die er im vorigen Jahre<br />

gesät hat, dies wird sein Umlaufkapital sein, welches er verdoppelt hat. So sind die hundert Sack verzehrt<br />

worden, aber von diesen hundert sind siebzig für ihn sicher angelegt worden, welche erheblich vermehrt<br />

wiedererscheinen, die einen in der nächsten Ernte, die anderen in den darauffolgenden Ernten. <strong>Die</strong><br />

Vereinzelung <strong>des</strong> Farmers, den wir als Beispiel gewählt haben, läßt uns die Schranken einer solchen<br />

Tätigkeit noch besser erkennen. Wenn er in diesem Jahre nur sechzig Sack von den hundert, die er<br />

geerntet, hat verzehren können, wer wird im folgenden Jahre die zweihundert Sack essen, welche durch<br />

die Vermehrung seiner Aussaat gewonnen worden sind? Man wird sagen: seine Familie, welche sich<br />

vermehrt hat. Gewiß, aber die menschlichen Generationen vermehren sich nicht so schnell wie die<br />

Unterhaltsmittel. Wenn unser Farmer genug Arme hätte, um je<strong>des</strong> Jahr die eben erwähnte Tätigkeit zu<br />

verdoppeln, würde sich seine Getreideernte je<strong>des</strong> Jahr verdoppeln, während sich seine Familie höchstens<br />

alle fünfundzwanzig Jahre verdoppeln könnte."<br />

Trotz der Kindlichkeit <strong>des</strong> Beispiels kommt zum Schluß die entscheidende Frage zum Vorschein: Wo ist<br />

der Absatz für den kapitalisierten Mehrwert? <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong> kann die Produktion der<br />

Gesellschaft ins ungemessene steigern. Wie ist es aber mit der Konsumtion der Gesellschaft? <strong>Die</strong>se ist<br />

durch das <strong>Ein</strong>kommen verschiedener Art bestimmt. Der wichtige Gegenstand wird von Sismondi im V.<br />

Kapitel <strong>des</strong> zweiten Buches dargelegt: "Teilung <strong>des</strong> Nationaleinkommens unter die verschiedenen<br />

Klassen der Bürger."<br />

Hier macht Sismondi einen neuen Versuch, das Gesamtprodukt der Gesellschaft in Teilen darzustellen:<br />

"Unter diesem Gesichtspunkt besteht das Nationaleinkommen aus zwei Teilen: Der eine begreift die<br />

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jährliche Pro- duktion, dies ist der Nutzen, welcher aus dem Reichtum entsteht; der zweite ist die<br />

Fähigkeit zu arbeiten, die sich aus dem Leben selbst ergibt. Unter dem Namen Reichtum verstehen wir<br />

jetzt ebenso das Grundeigentum wie das Kapital, und unter dem Namen Nutzen begreifen wir ebenso das<br />

Nettoeinkommen, welches den Eigentümern gegeben wird, wie den Gewinn <strong>des</strong> Kapitalisten." Also<br />

sämtliche Produktionsmittel werden als "Reichtum" aus dem "Nationaleinkommen" ausgeschieden;<br />

[welch] letzteres aber in Mehrwert und in Arbeitskraft oder richtiger deren Äquivalent - variables Kapital<br />

- zerfällt. Wir hätten hier also, wenn auch nicht deutlich genug herausgehoben, die <strong>Ein</strong>teilung in<br />

konstantes Kapital, variables Kapital und Mehrwert. Im nächsten Augenblick stellt sich aber heraus, daß<br />

Sismondi unter "Nationaleinkommen" das jährliche gesellschaftliche Gesamtprodukt versteht: "Ebenso<br />

besteht die jährliche Produktion oder das Ergebnis aller Jahresarbeiten aus zwei Teilen; der eine ist der<br />

Nutzen, der sich aus dem Reichtum ergibt, der andere ist die Fähigkeit zu arbeiten, den wir dem Teil <strong>des</strong><br />

Reichtums gleichsetzen, gegen welchen er in Tausch gegeben wird, oder den Unterhaltsmitteln der<br />

Arbeiter." Hier wird das Gesamtprodukt der Gesellschaft dem Werte nach in zwei Teile, variables<br />

Kapital und Mehrwert. aufgelöst, das konstante Kapital verschwindet, und wir sind angelangt bei dem<br />

Smithschen Dogma, wonach der Preis aller Waren sich in v + m auflöst (oder aus v + m zusammensetzt)<br />

oder, mit anderen Worten, das Gesamtprodukt nur aus Konsummitteln (für Arbeiter und Kapitalisten)<br />

besteht.<br />

Von hier aus tritt Sismondi an die Frage der Realisierung <strong>des</strong> Gesamtprodukts heran. Da einerseits die<br />

Summe der <strong>Ein</strong>kommen in der Gesellschaft aus Löhnen und Profiten vom Kapital sowie aus Grundrente<br />

besteht, also v + m darstellt, andererseits das Gesamtprodukt der Gesellschaft sich gleichfalls dem Werte<br />

nach in v + m auflöst, so "halten sich das Nationaleinkommen und die jährliche Produktion gegenseitig<br />

die Waage" und müssen einander (an Wert) gleich sein: "<strong>Die</strong> ganze jährliche Produktion wird jährlich<br />

verzehrt, aber da dies zum Teil durch Arbeiter geschieht, welche ihre Arbeit dagegen in Tausch geben,<br />

verwandeln sie sie in (variables) Kapital und erzeugen sie aufs neue; der andere Teil wird von den<br />

Kapitalisten, welche dagegen ihr <strong>Ein</strong>kommen eintauschen, verbraucht." "<strong>Die</strong> Gesamtheit <strong>des</strong> jährlichen<br />

<strong>Ein</strong>kommens ist dazu bestimmt, gegen die Gesamtheit der jährlichen Produktion eingetauscht zu<br />

werden." Daraus konstruiert Sismondi endlich im VI. Kapitel <strong>des</strong> zweiten Buches: "Wechselseitige<br />

Bestimmung der Produktion durch die Konsumtion und der Ausgaben durch das <strong>Ein</strong>kommen", das<br />

folgende exakte Gesetz der Re- produktion: "Das <strong>Ein</strong>kommen <strong>des</strong> vergangenen Jahres muß die<br />

Produktion dieses Jahres bezahlen." Wie soll nun unter solchen Voraussetzungen die kapitalistische<br />

<strong>Akkumulation</strong> stattfinden? Wenn das Gesamtprodukt von den Arbeitern und den Kapitalisten restlos<br />

verzehrt werden muß, so kommen wir offenbar aus der einfachen Reproduktion nicht heraus, und daß<br />

Problem der <strong>Akkumulation</strong> wird unlösbar. In der Tat läuft die Sismondische Theorie darauf hinaus, die<br />

<strong>Akkumulation</strong> für unmöglich zu erklären. Denn wer soll das überschüssige Produkt im Falle der<br />

Erweiterung der Reproduktion kaufen, da die gesamte gesellschaftliche Nachfrage durch die Lohnsumme<br />

der Arbeiter und durch den persönlichen Konsum der Kapitalisten dargestellt ist? Sismondi formuliert<br />

auch die objektive Unmöglichkeit der <strong>Akkumulation</strong> in folgendem Satz: "Nach allem diesem muß man<br />

sagen, daß es niemals möglich ist, die Gesamtheit der Erzeugung <strong>des</strong> Jahres (bei erweiterter<br />

Reproduktion - R. L.) gegen die Gesamtheit <strong>des</strong> vorhergehenden Jahres auszutauschen. Wenn die<br />

Erzeugung stufenweise fortschreitend wächst, muß der Austausch je<strong>des</strong> Jahres einen kleinen Verlust<br />

verursachen, welcher zu gleicher Zeit eine Vergütung der zukünftigen Lage darstellt." Mit anderen<br />

Worten, die <strong>Akkumulation</strong> muß je<strong>des</strong> Jahr bei der Realisierung <strong>des</strong> Gesamtprodukts einen unabsetzbaren<br />

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Überschuß in die Welt setzen. Sismondi schreckt aber vor der letzten Konsequenz zurück und rettet sich<br />

sofort "auf die mittlere Linie" durch eine wenig verständliche Ausflucht: "Wenn dieser Verlust gering ist<br />

und gut verteilt wird, so erträgt ihn jeder, ohne sich über sein <strong>Ein</strong>kommen zu beklagen. Hierin gerade<br />

besteht die Wirtschaftlichkeit <strong>des</strong> Volkes, und die Reihe dieser kleinen Opfer vermehrt das Kapital und<br />

das Nationalvermögen." Wird hingegen die <strong>Akkumulation</strong> rücksichtslos betrieben, dann wächst sich der<br />

unabsetzbare Überschuß zur öffentlichen Kalamität aus, und wir haben die Krise. So bildet die<br />

kleinbürgerliche Ausflucht der Dämpfung der <strong>Akkumulation</strong> die Lösung Sismondis. <strong>Die</strong> Polemik gegen<br />

die klassische Schule, die die unumschränkte Entfaltung der Produktivkräfte und Erweiterung der<br />

Produktion befürwortete, ist ein ständiger Kehrreim Sismondis, und der Warnung vor den fatalen Folgen<br />

<strong>des</strong> unumschränkten Dranges zur <strong>Akkumulation</strong> ist sein ganzes Werk gewidmet.<br />

<strong>Die</strong> Darlegung Sismondis hat seine Unfähigkeit bewiesen, den Prozeß der Reproduktion als Ganzes zu<br />

begreifen. Von seinem mißlungenen Versuch abgesehen, die Kategorien Kapital und <strong>Ein</strong>kommen<br />

gesellschaftlich auseinanderzuhalten, leidet seine Reproduktionstheorie an dem fundamentalen Irrtum,<br />

den er von Ad. Smith übernommen, nämlich an der Vorstellung, daß das jährliche Gesamtprodukt in<br />

persönlicher Konsum- tion restlos auf gehe, ohne für die Erneuerung <strong>des</strong> konstanten <strong>Kapitals</strong> der<br />

Gesellschaft einen Wertteil übrigzulassen, <strong>des</strong>gleichen, daß die <strong>Akkumulation</strong> nur in der Verwandlung<br />

<strong>des</strong> kapitalisierten Mehrwerts in zuschüssiges variables Kapital bestehe. Wenn jedoch spätere Kritiker<br />

Sismondis, wie z.B. der russische Marxist Iljin (6), mit dem Hinweis auf diesen fundamentalen Schnitzer<br />

in der Wertanalyse <strong>des</strong> Gesamtprodukts die ganze <strong>Akkumulation</strong>stheorie Sismondis als hinfällig, als<br />

"Unsinn" mit einem überlegenen Lächeln abtun zu können glaubten, so bewiesen sie dadurch nur, daß sie<br />

ihrerseits das eigentliche Problem gar nicht bemerkten, um das es sich bei Sismondi handelte. Daß durch<br />

die Beachtung <strong>des</strong> Wertteils im Gesamtprodukt, der dem konstanten Kapital entspricht, das Problem der<br />

<strong>Akkumulation</strong> noch bei weitem nicht gelöst ist, bewies am besten später die eigene Analyse von Marx,<br />

der als erster jenen groben Schnitzer Ad. Smith' aufgedeckt hatte. Noch drastischer bewies dies aber ein<br />

Umstand in den Schicksalen der Sismondischen Theorie selbst. Durch seine Auffassung ist Sismondi in<br />

die schärfste Kontroverse mit den Vertretern und Verflachern der klassischen Schule geraten: mit<br />

Ricardo, Say und MacCulloch. <strong>Die</strong> beiden Seiten vertraten hier zwei entgegengesetzte Standpunkte:<br />

Sismondi die Unmöglichkeit der <strong>Akkumulation</strong>, Ricardo, Say und MacCulloch hingegen deren<br />

schrankenlose Möglichkeit. Nun standen aber in bezug auf jenen Smithschen Schnitzer beide Seiten<br />

genau auf demselben Boden: Wie Sismondi, so sahen auch seine Widersacher von dem konstanten<br />

Kapital bei der Reproduktion ab, und niemand hat die Smithsche Konfusion in bezug auf die Auflösung<br />

<strong>des</strong> Gesamtprodukts in v + m in so pretentiöser Weise zu einem unerschütterlichen Dogma gestempelt<br />

wie gerade Say.<br />

<strong>Die</strong>ser erheiternde Umstand sollte eigentlich genügen, um zu beweisen, daß wir das Problem der<br />

<strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong> noch lange nicht zu lösen imstande sind, wenn wir bloß dank Marx wissen,<br />

daß das gesellschaftliche Gesamtprodukt außer Lebensmitteln zur Konsumtion der Arbeiter und<br />

Kapitalisten (v + m) noch Produktionsmittel (c) zur Erneuerung <strong>des</strong> Verbrauchten enthalten muß und daß<br />

dementsprechend die <strong>Akkumulation</strong> nicht bloß in der Vergrößerung <strong>des</strong> variablen, sondern auch in der<br />

Vergrößerung <strong>des</strong> konstanten <strong>Kapitals</strong> besteht. Wir werden später sehen, zu welchem neuen Irrtum in<br />

bezug auf die <strong>Akkumulation</strong> diese nachdrückliche Betonung <strong>des</strong> konstanten Kapitalteils im<br />

Reproduktionsprozeß geführt hat. Hier jedoch mag die Konstatierung der Tatsache genügen, daß<br />

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der Smithsche Irrtum in bezug auf die Reproduktion <strong>des</strong> Gesamtkapitals nicht etwa eine spezielle<br />

Schwäche in der Position Sismondis darstellte, sondern vielmehr den gemeinsamen Boden, auf dem die<br />

erste Kontroverse um das Problem der <strong>Akkumulation</strong> ausgefochten wurde. Daraus folgt nur, daß die<br />

bürgerliche Ökonomie sich an das verwickelte Problem der <strong>Akkumulation</strong> heranwagte, ohne mit dem<br />

elementaren Problem der einfachen Reproduktion fertig geworden zu sein, wie denn die<br />

wissenschaftliche Forschung nicht bloß auf diesem Gebiete in seltsamen Zickzacklinien schreitet und<br />

häufig gleichsam die obersten Stockwerke <strong>des</strong> Gebäu<strong>des</strong> in Angriff nimmt, bevor das Fundament noch<br />

zu Ende ausgeführt ist. Es zeugt jedenfalls dafür, eine wie harte Nuß Sismondi mit seiner Kritik der<br />

<strong>Akkumulation</strong> der bürgerlichen Ökonomie zum Knacken aufgegeben hat, wenn sie trotz all der<br />

durchsichtigen Schwächen und Unbeholfenheiten seiner Deduktion mit ihm doch nicht fertig zu werden<br />

vermochte.<br />

Fußnoten von <strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong><br />

(1) Der Auszug aus diesem interessanten Dokument befindet sich in einer Besprechung der Schrift:<br />

Observations on the Injurious Consequences of the Restrictions upon Foreign Commerce. By a Member<br />

of the late Parliament, London 1820. <strong>Die</strong>ser freihändlerische Aufsatz malt überhaupt die Lage der<br />

Arbeiter in England in den düstersten Farben. Er führt unter anderem folgende Tatsachen an: "The<br />

manufacturing classes in Great Britain - have been suddenly reduced from affluence and prosperity to the<br />

extreme of poverty and misery. In one of the debates in the late Session of Parliament, it was stated, that<br />

the wages of weavers of Glasgow and its vicinity, which, when higher, had averaged about 25 s. or 27 s.<br />

a week, had been reduced in 1816 to 10 s.; and in 1819 to the wretched pittance of 5 s. 6 d. or 6 s. They<br />

have not since been materially augmented." In Lancashire schwankten die Wochenlöhne der Weber nach<br />

demselben Zeugnis zwischen 6 und 12 Schilling bei 15stündiger Arbeitszeit, während "halbverhungerte<br />

Kinder" für 2 oder 3 Shilling die Woche 12 bis 16 Stunden täglich arbeiteten. das Elend in Yorkshire war<br />

womöglich noch größer. In bezug auf die Adresse der Nottinghamer Strumpfwirker sagt der Verfasser,<br />

daß er die Verhältnisse selbst untersucht hätte und zu dem Schlusse gelangt wäre, daß die Erklärungen<br />

der Arbeiter nicht im geringsten übertrieben waren. (The Edinburgh Review, Mai 1820, S. 331 ff.)


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der ökonomischen Romantik. In: Werke, Bd. 2, S. 121-264.]


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10. Kapitel | Inhalt | 12. Kapitel<br />

<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - Gesammelte Werke. Herausgegeben vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Band<br />

5. <strong>Berlin</strong>/DDR. 1975. "<strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>", S. 155-166.<br />

1. Korrektur.<br />

Erstellt am 20.10.1998<br />

Elftes Kapitel<br />

MacCulloch gegen Sismondi<br />

<strong>Die</strong> Sismondischen Kassandrarufe gegen die rücksichtslose Ausbreitung der <strong>Kapitals</strong>herrschaft in<br />

Europa riefen gegen ihn von drei Seiten eine scharfe Opposition auf den Plan: in England die Schule<br />

Ricardos, in Frankreich den Verflacher Smith', J. B. Say, und die St-Simonisten. Während die<br />

Gedankengänge Owens in England, der den Nachdruck auf die Schattenseiten <strong>des</strong> Industriesystems und<br />

namentlich die Krise legte, sich vielfach mit denen Sismondis begegnen, fühlte sich die Schule <strong>des</strong><br />

anderen großen Utopisten, St-Simons, die den Nachdruck auf den weltumspannenden Gedanken der<br />

großindustriellen Expansion, auf die schrankenlose Entfaltung der Produktivkräfte der menschlichen<br />

Arbeit legte, durch den Angstruf Sismondis lebhaft beunruhigt. Uns interessiert hier aber die vom<br />

theoretischen Standpunkt fruchtbarere Kontroverse zwischen Sismondi und den Ricardianern. Im Namen<br />

letzterer richtete zuerst MacCulloch im Oktober 1819, also gleich nach Erscheinen der "Nouveaux<br />

principes", in der "Edinburgh Review" eine anonyme Polemik gegen Sismondi, die, wie man sagte, von<br />

Ricardo selbst gebilligt wurde.(1) Auf diese Polemik replizierte Sismondi 1820 in Rossis<br />

"Annales de jurisprudence" unter dem Titel: "Untersuchung der Frage: Wächst in der Gesellschaft<br />

zugleich mit der Fähigkeit zu produzieren, auch die Fähigkeit zu verbrauchen?"(2)<br />

Sismondi konstatiert selbst in seiner Antwort, daß es die Schatten der Handelskrise sind, in deren<br />

Zeichen seine damalige Polemik stand: "<strong>Die</strong>se Wahrheit, die wir beide suchen (Sismondi wußte<br />

übrigens, als er antwortete, nicht, wer der Anonymus der "Edinburgh Review" war - R. L.), ist in den<br />

gegenwärtigen Zeitläufen von der höchsten Wichtigkeit. Sie kann als grundlegend für die politische<br />

Ökonomie gelten. <strong>Ein</strong> allgemeiner Niedergang macht sich im Handel geltend, in den Manufakturen und<br />

sogar, wenigstens in einigen Ländern, in der Landwirtschaft. Das Leiden ist ein so langwieriges, ein so<br />

außerordentliches, das Unglück ist in so zahlreiche Familien eingekehrt, Unruhe und Entmutigung in<br />

alle, daß die Grundlagen der wirtschaftlichen Ordnung gefährdet erscheinen ... Man hat zwei<br />

Erklärungen, die einander entgegengesetzt sind, für diesen staatlichen Niedergang gegeben, der eine so<br />

große Gärung hervorgerufen hat. Ihr habt zuviel gearbeitet, sagen die einen; ihr habt zuwenig gearbeitet,<br />

sagen die anderen. Das Gleichgewicht, sagen die ersteren, wird sich erst dann wiederherstellen, Friede<br />

und Wohlstand werden erst dann wiederkehren, wenn ihr den ganzen Überschuß der Waren verbraucht<br />

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habt, der unverkauft den Markt bedrückt, und wenn ihr in Zukunft eure Produktion nach der Nachfrage<br />

der Käufer richtet; das Gleichgewicht wird sich nur einstellen, sagen die anderen, wenn ihr eure<br />

Anstrengungen, aufzuhäufen und zu reproduzieren, verdoppelt. Ihr täuscht euch, wenn ihr glaubt, daß<br />

unsere Märkte überfüllt sind, nur die Hälfte unserer Magazine ist gefüllt, füllen wir auch die andere<br />

Hälfte: <strong>Die</strong>se neuen Reichtümer werden sich, die einen gegen die anderen, eintauschen und neues Leben<br />

dem Handel einflößen." Hier hat Sismondi mit ausgezeichneter Klarheit den wirklichen Brennpunkt der<br />

Kontroverse herausgehoben und formuliert.<br />

In der Tat steht und fällt die ganze Position MacCullochs mit der Behauptung, der Austausch sei in<br />

Wirklichkeit Austausch von Waren gegen Waren. Jede Ware stelle also nicht nur ein Angebot, sondern<br />

ihrerseits eine Nachfrage dar. Das Zwiegespräch gestaltete sich darauf in folgender Weise: MacCulloch:<br />

"Nachfrage und Angebot sind Ausdrücke, die nur korrelativ und wandelbar sind. Das Angebot einer Art<br />

von Gut bestimmt die Nachfrage nach einem anderen. So entsteht eine Nachfrage nach einer gegebenen<br />

Menge landwirtschaftlicher Produkte, wenn eine Menge Industrieprodukte, deren Herstellung ebensoviel<br />

gekostet hat, dagegen in Tausch angeboten wird, und es entsteht andererseits eine tatsächliche Nachfrage<br />

nach dieser Menge Industrieprodukte, wenn eine Menge landwirtschaftlicher Produkte, die dieselben<br />

Ausgaben verursacht haben, als Gegenwert angeboten wird."(3) <strong>Die</strong> Finte <strong>des</strong> Ricardianers liegt auf der<br />

Hand: Er beliebt von der Geldzirkulation abzusehen und so zu tun, als ob Waren unmittelbar mit Waren<br />

gekauft und bezahlt wären.<br />

Aus den Bedingungen hochentwickelter kapitalistischer Produktion sind wir plötzlich versetzt in die<br />

Zeiten <strong>des</strong> primitiven Tauschhandels, wie er noch heute im Innern Afrikas gedeihen mag. Der entfernt<br />

richtige Kern der Mystifikation besteht darin, daß in der einfachen Warenzirkulation das Geld lediglich<br />

die Rolle <strong>des</strong> Vermittlers spielt. Aber gerade die Dazwischenkunft dieses Vermittlers, die in der<br />

Zirkulation W - G - W (Ware - Geld - Ware) die beiden Akte, den Verkauf und den Kauf, getrennt und<br />

zeitlich und örtlich voneinander unabhängig gemacht hat, bringt es mit sich, daß jeder Verkauf durchaus<br />

nicht gleich vom Kauf gefolgt zu werden braucht, und zweitens, daß Kauf und Verkauf durchaus nicht an<br />

dieselben Personen gebunden sind, ja nur in seltenen Ausnahmefällen zwischen denselben "Personae<br />

dramatis" sich abspielen werden. <strong>Die</strong>se widersinnige Unterstellung macht aber gerade MacCulloch,<br />

indem er einerseits Industrie, andererseits Landwirtschaft als Käufer und Verkäufer zugleich einander<br />

entgegenstellt. <strong>Die</strong> Allgemeinheit der Kategorien, die auch noch in ihrer Totalität als Austauschende<br />

aufgeführt werden, maskiert hier die wirkliche Zersplitterung dieser gesellschaftlichen<br />

Arbeitsteilung, die zu zahllosen privaten Austauschakten führt, bei denen das Zusammenfallen der Käufe<br />

mit Verkäufen der gegenseitigen Waren zu den seltensten Ausnahmefällen gehört. <strong>Die</strong> MacCullochsche<br />

simplistische Auffassung <strong>des</strong> Warenaustausches macht überhaupt die ökonomische Bedeutung und das<br />

historische Auftreten <strong>des</strong> Gel<strong>des</strong> ganz unbegreiflich, indem sie die Ware direkt zum Gelde macht, ihr<br />

unmittelbare Austauschbarkeit andichtet.<br />

Sismondis Antwort ist nun allerdings ziemlich unbeholfen. Er führt uns, um die Untauglichkeit der<br />

MacCullochschen Darstellung <strong>des</strong> Warenaustausches für die kapitalistische Produktion darzutun, auf die<br />

Leipziger Büchermesse:<br />

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"Zu der Büchermesse in Leipzig kommen alle Buchhändler aus ganz Deutschland, jeder mit vier oder<br />

fünf Werken, die er ausgestellt hat, von denen je<strong>des</strong> Werk in einer Auflage von 500 oder 600<br />

Exemplaren gedruckt ist. Jeder von ihnen tauscht sie gegen andere Bücher ein und bringt 2.400 Bände<br />

nach Hause, wie er 2.400 mit zur Messe gebracht hat. Er hatte aber vier verschiedene Werke hingebracht<br />

und bringt 200 verschiedene heim. Das ist die korrelative und wandelbare Nachfrage und Produktion <strong>des</strong><br />

Schülers Ricardo: <strong>Die</strong> eine kauft die andere, die eine bezahlt die andere, die eine ist die Folge der<br />

anderen, aber nach unserer Meinung, nach der Meinung <strong>des</strong> Buchhändlers und <strong>des</strong> Publikums, hat die<br />

Nachfrage und der Verbrauch noch nicht begonnen. Das schlechte Buch, wenn es auch in Leipzig<br />

getauscht worden ist, bleibt nichts<strong>des</strong>toweniger unverkauft (ein arger Irrtum von Sismondi dies! - R. L.),<br />

es wird nicht weniger die Regale <strong>des</strong> Buchhändlers füllen, sei es, daß niemand Bedarf nach ihm hat, sei<br />

es, daß der Bedarf bereits gedeckt ist. <strong>Die</strong> in Leipzig eingetauschten Bücher werden sich nur dann<br />

verkaufen, wenn die Buchhändler Privatleute finden, die sie nicht nur begehren, sondern die auch bereit<br />

sind, ein Opfer zu bringen, um sie aus dem Umlauf zu ziehen. <strong>Die</strong>se erst bilden eine wirkliche<br />

Nachfrage." Trotz seiner Naivität zeigt das Beispiel deutlich, daß Sismondi sich durch die Finte seines<br />

Widersachers nicht beirren läßt und weiß, worum es sich im Grunde genommen handelt.(4)<br />

MacCulloch macht nun weiter einen Versuch, die Betrachtung vom ab- strakten Warenaustausch<br />

zu konkreten sozialen Verhältnissen zu wenden: "Nehmen wir z.B. an, daß ein Landbebauer hundert<br />

Arbeitern Nahrung und Kleidung vorgeschossen hat und daß diese ihm Nahrungsmittel haben entstehen<br />

lassen, die für zweihundert Menschen ausreichend sind, während ein Fabrikant seinerseits hundert<br />

Arbeitern Nahrung und Kleidung vorgeschossen hat, für die ihm diese Kleidungsstücke für zweihundert<br />

Menschen angefertigt haben. Es wird dann dem Pächter nach Abzug der Nahrung und Kleidung für seine<br />

eigenen Arbeiter noch Nahrung für hundert andere zur Verfügung stehen, während der Fabrikant nach<br />

Ersatz der Kleidung seiner eigenen Arbeiter noch hundert Kleider für den Markt übrigbehält. In diesem<br />

Falle werden die beiden Artikel, der eine gegen den anderen, getauscht werden, die überschüssigen<br />

Nahrungsmittel bestimmen die Nachfrage nach den Kleidern, und die überschüssigen Kleider bestimmen<br />

die Nachfrage nach der Nahrung."<br />

Man weiß nicht, was man mehr an dieser Hypothese bewundern soll: die Abgeschmacktheit der<br />

Konstruktion, die alle wirklichen Verhältnisse auf den Kopf stellt, oder die Ungeniertheit, mit der gerade<br />

alles, was zu beweisen war, in den Prämissen bereits vorausgeschickt ist, um hinterher als "bewiesen" zu<br />

gelten. Jedenfalls erscheint die Leipziger Büchermesse dagegen als das Muster einer tiefen und<br />

realistischen Denkweise. Um zu beweisen, daß für jede Sorte Waren jederzeit eine unumschränkte<br />

Nachfrage geschaffen werden könne, nimmt MacCulloch als Beispiel zwei Produkte, die zu den<br />

dringendsten und elementarsten Bedürfnissen je<strong>des</strong> Menschen gehören: Nahrung und Kleidung. Um zu<br />

beweisen, daß die Waren in jeder beliebigen Menge ohne Rücksicht auf das Bedürfnis der Gesellschaft<br />

zum Austausch gebracht werden können, nimmt er ein Beispiel, wo zwei Produktenmengen von<br />

vornherein aufs Haar genau den Bedürfnissen angepaßt sind, wo also gesellschaftlich gar kein Überschuß<br />

vorhanden ist, nennt aber dabei die gesellschaftlich notwendige Menge einen "Überschuß" - nämlich<br />

gemessen an dem persönlichen Bedürfnis der Produzenten an ihrem eigenen Produkt - und weist so<br />

glänzend nach, daß jeder beliebige "Überschuß" an Waren durch einen entsprechenden "Überschuß" an<br />

anderen Waren zum Austausch gelangen kann. Um endlich zu beweisen, daß der Austausch zwischen<br />

verschiedenen privat produzierten Waren - trotzdem ihre Mengen, ihre Herstellungskosten, ihre<br />

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Wichtigkeit für die Gesellschaft naturgemäß verschiedene sein müssen - dennoch zuwege gebracht<br />

werden könne, nimmt er als Beispiel von vornherein zwei genau gleiche Mengen Waren von genau<br />

gleichen Herstellungskosten und genau gleicher allgemeiner Notwendigkeit für die Ge- sellschaft.<br />

Kurz, um zu beweisen, daß in der planlosen kapitalistischen Privatwirtschaft keine Krise möglich,<br />

konstruiert er eine streng planmäßig geregelte Produktion, in der überhaupt keine Überproduktion<br />

vorhanden ist.<br />

Der Hauptwitz <strong>des</strong> pfiffigen Mac liegt aber in anderem. Es handelt sich ja bei der Debatte um das<br />

Problem der <strong>Akkumulation</strong>. Was Sismondi plagte und womit er Ricardo und <strong>des</strong>sen Epigonen plagte,<br />

war folgen<strong>des</strong>: Wo findet man Abnehmer für den Überschuß an Waren, wenn ein Teil <strong>des</strong> Mehrwerts,<br />

statt von den Kapitalisten privat konsumiert zu werden, kapitalisiert, d.h. zur Erweiterung der Produktion<br />

über das <strong>Ein</strong>kommen der Gesellschaft hinaus verwendet wird? Was wird aus dem kapitalistischen<br />

Mehrwert, wer kauft die Waren, in denen er steckt? So fragte Sismondi. Und die Zierde der<br />

Ricardoschule, ihr offizieller Vertreter auf dem Katheder der Londoner Universität, die Autorität für<br />

derzeitige englische Minister der liberalen Partei wie für die Londoner City, der herrliche MacCulloch,<br />

antwortete darauf, indem er ein Beispiel konstruiert, wo überhaupt gar kein Mehrwert produziert wird!<br />

Seine "Kapitalisten" plagen sich ja nur um Christi willen mit der Landwirtschaft und der Fabrikation:<br />

Das ganze gesellschaftliche Produkt nebst "Überschuß" reicht nur für den Bedarf der Arbeiter, für die<br />

Löhne hin, während der "Pächter" und der "Fabrikant" hungrig und nackend die Produktion und den<br />

Austausch dirigieren.<br />

Sismondi ruft darauf mit berechtigter Ungeduld: "In dem Augenblick, in dem wir erforschen was aus<br />

dem Überschuß der Produktion über den Verbrauch der Arbeiter wird, darf man nicht von diesem<br />

Überschuß absehen, der den notwendigen Profit der Arbeit und den notwendigen Anteil <strong>des</strong> Arbeitgebers<br />

bildet."<br />

Der Vulgarus jedoch potenziert seine Abgeschmacktheit weiter ins Tausendfache, indem er den Leser<br />

annehmen läßt, "daß es tausend Pächter gibt", die ebenso genial verfahren wie jener einzelne, und<br />

ebenfalls "tausend Fabrikanten". Natürlich verläuft wieder der Austausch glatt nach Wunsch. Endlich<br />

läßt er "infolge einer geschickteren Verwendung der Arbeit und <strong>Ein</strong>führung von Maschinen" die<br />

Produktivität der Arbeit genau um das Doppelte zunehmen, und zwar in der Weise, daß "jeder der<br />

tausend Pächter, der seinen hundert Arbeitern die Nahrung und die Bekleidung vorschießt, gewöhnliche<br />

Nahrungsmittel für zweihundert Personen zurückerhält und außerdem Zucker, Tabak und Wein, die<br />

dieser Nahrung an Wert gleich sind", während jeder Fabrikant durch eine analoge Prozedur neben der<br />

bisherigen Menge Kleider für alle Arbeiter auch noch "Bänder, Spitzen und Batiste erhält, "die<br />

eine gleiche Summe zu produzieren kosten und die folglich einen tauschbaren Wert haben werden, der<br />

diesen zweihundert Bekleidungen gleich ist". Nachdem er so die geschichtliche Perspektive völlig<br />

umgekehrt und erst kapitalistisches Privateigentum mit Lohnarbeit, dann in einem späteren Stadium jene<br />

Höhe der Produktivität der Arbeit angenommen hat, die die Ausbeutung überhaupt ermöglicht, nimmt er<br />

nun an, diese Fortschritte der Produktivität der Arbeit vollzögen sich auf allen Gebieten in genau<br />

demselben Tempo, das Mehrprodukt je<strong>des</strong> Produktionszweiges enthielte genau denselben Wert, es<br />

verteile sich auf genau dieselbe Anzahl Personen, alsdann läßt er die verschiedenen Mehrprodukte sich<br />

gegeneinander austauschen - und siehe da! alles tauscht sich wieder glatt und restlos zur allgemeinen<br />

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Zufriedenheit aus. Dabei begeht Mac unter den vielen anderen auch noch die Abgeschmacktheit, seine "<br />

Kapitalisten", die bisher von der Luft lebten und im Adamskostüm ihren Beruf ausübten, nunmehr bloß<br />

von Zucker, Tabak und Wein sich ernähren und ihre Leiber bloß mit Bändern, Spitzen und Batisten<br />

schmücken zu lassen.<br />

Doch der Hauptwitz liegt wiederum in der Pirouette, mir der er dem eigentlichen Problem ausweicht.<br />

Was wird aus dem kapitalisierten Mehrwert, d.h. aus dem Mehrwert, der nicht zur eigenen Konsumtion<br />

der Kapitalisten, sondern zur Erweiterung der Produktion verwendet wird? Das war die Frage. Und<br />

MacCulloch antwortet darauf, einmal, indem er überhaupt von der Mehrwertproduktion absieht, und zum<br />

anderen Mal - indem er den ganzen Mehrwert zur Luxusproduktion verwendet. Wer ist nun Abnehmer<br />

für die neue Luxusproduktion? Nach dem Beispiel MacCullochs offenbar eben die Kapitalisten (seine<br />

Pächter und Fabrikanten), denn außer diesen gibt es in seinem Beispiel nur noch Arbeiter. Damit haben<br />

wir also die Konsumtion <strong>des</strong> ganzen Mehrwerts zu persönlichen Zwecken der Kapitalisten oder, mit<br />

anderen Worten, einfache Reproduktion. MacCulloch beantwortet also die Frage nach der<br />

Kapitalisierung <strong>des</strong> Mehrwerts entweder durch Absehen von jeglichem Mehrwert oder dadurch, daß er in<br />

demselben Moment, wo Mehrwert entsteht, einfache Reproduktion statt der <strong>Akkumulation</strong> annimmt. Den<br />

Schein, als ob er dennoch von erweiterter Reproduktion redete, gibt er sich dabei wiederum wie früher<br />

bei der angeblichen Behandlung <strong>des</strong> "Überschusses" - durch eine Finte, nämlich dadurch, daß er erst den<br />

unmöglichen Kasus einer kapitalistischen Produktion ohne Mehrwert konstruiert, um dann das<br />

Erscheinen <strong>des</strong> Mehrprodukts auf der Bildfläche dem Leser als eine Erweiterung der Produktion zu<br />

suggerieren:<br />

<strong>Die</strong>sen Windungen <strong>des</strong> schottischen Schlangenmenschen war Sismondi nun nicht ganz<br />

gewachsen. Er, der seinen Mac bis jetzt Schritt für Schritt an die Wand gedrückt und ihm "offenbare<br />

Abgeschmacktheit" nachgewiesen hat, verwirrt sich selbst in dem entscheidenden Punkte der<br />

Kontroverse. Er hätte seinem Widerpart auf die obige Tirade offenbar kühl erklären müssen:<br />

"Verehrtester! Alle Achtung vor Ihrer geistigen Biegsamkeit, aber Sie suchen ja der Sache wie ein Aal zu<br />

entschlüpfen. Ich frage die ganze Zeit: Wer wird Abnehmer der überschüssigen Produkte sein, wenn die<br />

Kapitalisten, statt ihren Mehrwert ganz zu verprassen, ihn zu Zwecken der <strong>Akkumulation</strong>, d.h. zur<br />

Erweiterung der Produktion, verwenden werden? Und Sie antworten mir darauf: Je nun, sie werden diese<br />

Erweiterung der Produktion in Luxusgegenständen vornehmen, und diese Luxusgegenstände werden sie<br />

natürlich selbst verzehren. Aber das ist ja ein Taschenspielerkunststück. Denn sofern die Kapitalisten den<br />

Mehrwert in Luxus für sich selbst verausgaben, verzehren sie ihn ja und akkumulieren nicht. Es handelt<br />

sich aber gerade darum, ob die <strong>Akkumulation</strong> möglich ist, nicht um persönlichen Luxus der Kapitalisten!<br />

Geben Sie also entweder darauf - wenn Sie können - eine klare Antwort, oder begeben Sie sich selbst<br />

dorthin, wo Ihr Wein und Tabak oder meinetwegen der Pfeffer wächst."<br />

Statt so dem Vulgarus den Daumen aufs Auge zu drücken, wird Sismondi plötzlich ethisch, pathetisch<br />

und sozial. Er ruft: "Wer wird die Nachfrage stellen, wer wird genießen, die ländlichen und die<br />

städtischen Herren oder ihre Arbeiter? In seiner (Macs) neuen Annahme haben wir einen Überschuß an<br />

Produkten, einen Gewinn an der Arbeit. Wem verbleibt er?" Und er antwortet selbst mit der folgenden<br />

Tirade:<br />

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"Wohl wissen wir - und die Geschichte <strong>des</strong> Handels lehrt es uns genugsam -, daß nicht der Arbeiter es<br />

ist, der von der Vervielfältigung der Produkte Nutzen hat, sein Lohn wird nicht vermehrt. Ricardo hat<br />

selbst einmal gesagt, daß es nicht sein dürfe, wenn man das Anwachsen <strong>des</strong> öffentlichen Reichtums nicht<br />

aufhören lassen wolle. <strong>Ein</strong>e grauenhafte Erfahrung lehrt uns im Gegenteil, daß der Arbeitslohn vielmehr<br />

fast stets im Verhältnis zu dieser Vermehrung vermindert wird. Worin besteht dann aber die Wirkung <strong>des</strong><br />

Anwachsens der Reichtümer für die öffentliche Wohlfahrt? Unser Verfasser hat tausend Pächter<br />

angenommen, die genießen, während hunderttausend Landarbeiter arbeiten, tausend Fabrikanten, die sich<br />

bereichern, während hunderttausend Handwerker unter ihrem Befehl stehen. Das etwaige Glück, das der<br />

Vermehrung der leichtfertigen Genüsse <strong>des</strong> Luxus entspringen kann, wird also nur einem Hun- <br />

dertstel der Nation zuteil. Würde dieses Hundertstel, das dazu berufen ist, den ganzen Überfluß <strong>des</strong><br />

Produkts der arbeitenden Klasse zu verbrauchen, auch dann hierzu imstande sein, wenn diese Produktion<br />

durch den Fortschritt der Maschinen und der Kapitalien ohne Aufhören anwächst? In der Annahme <strong>des</strong><br />

Verfassers muß der Pächter oder der Fabrikant je<strong>des</strong>mal, wenn das nationale Produkt sich verdoppelt,<br />

seinen Verbrauch verhundertfachen; wenn der nationale Reichtum dank der Erfindung so vieler<br />

Maschinen heute hundertmal so groß ist, als er zu der Zeit war, in der er nur die Produktionskosten<br />

deckte, muß heute jeder Herr Produkte verbrauchen, die zum Unterhalt von zehntausend Arbeitern<br />

ausreichen würden." Und hier glaubt Sismondi wieder den Ansatz zur Krisenbildung gepackt zu haben:<br />

"Nehmen wir einmal buchstäblich an, daß ein Reicher die Produkte verbrauchen kann, die zehntausend<br />

Arbeiter angefertigt haben, darunter die Bänder die Spitzen, die Seidenwaren, deren Ursprung uns der<br />

Verfasser aufgezeigt hat. Aber ein einzelner Mensch könnte nicht in gleichem Verhältnis die Erzeugnisse<br />

der Landwirtschaft verbrauchen: die Weine, den Zucker, die Gewürze, die Ricardo in Tausch entstehen<br />

läßt (Sismondi, der den Anonymus der "Edinburgh Review" erst später erkannte, hatte offenbar zuerst<br />

Ricardo im Verdacht, den Artikel geschrieben zu haben - R. L.), wären zuviel für die Tafel eines einzigen<br />

Menschen. Sie werden nicht verkauft werden, oder vielmehr das Verhältnis zwischen den<br />

landwirtschaftlichen und Fabrikerzeugnissen, das als Grundlage seines ganzen Systems erscheint, wird<br />

sich nicht mehr aufrechterhalten lassen."<br />

Wir sehen also, wie Sismondi auf die MacCullochsche Finte hereinfällt: Statt die Beantwortung der<br />

Frage nach der <strong>Akkumulation</strong> durch den Hinweis auf die Luxusproduktion abzulehnen, folgt er, ohne die<br />

Verschiebung <strong>des</strong> Fel<strong>des</strong> zu merken, seinem Widerpart auf dieses Gebiet und findet hier nur zweierlei<br />

auszusetzen. <strong>Ein</strong>mal macht er MacCulloch einen sittlichen Vorwurf daraus, daß er den Mehrwert den<br />

Kapitalisten statt der Masse der Arbeitenden zugute kommen läßt, und verirrt sich so in eine Polemik<br />

gegen die Verteilung der kapitalistischen Wirtschaftsweise. Zum anderen Mal findet er von diesem<br />

Seitenpfad unerwartet den Weg zum ursprünglichen Problem zurück, das er aber nunmehr so stellt: <strong>Die</strong><br />

Kapitalisten verbrauchen also selbst im Luxus den ganzen Mehrwert. Schön! Aber ist denn ein Mensch<br />

imstande, seinen Verbrauch so rasch und so grenzenlos zu erweitern, wie die Fortschritte der<br />

Produktivität der Arbeit das Mehrprodukt anwachsen lassen? Hier läßt Sismondi also selbst sein eigenes<br />

Problem im Stich, und statt die Schwierigkeit der kapitalistischen Akku- mulation in dem<br />

fehlenden Verbraucher außerhalb der Arbeiter und der Kapitalisten zu sehen, findet er nunmehr eine<br />

Schwierigkeit der einfachen Reproduktion in den physischen Schranken der Verbrauchsfähigkeit der<br />

Kapitalisten selbst. Da die Aufnahmefähigkeit der Kapitalisten für Luxus mit der Produktivität der<br />

Arbeit, also mit dem Wachstum <strong>des</strong> Mehrwerts, nicht Schritt halten könne, so müssen sich<br />

Überproduktion und Krise ergeben, Wir haben schon einmal bei Sismondi in seinen "Nouveaux<br />

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principes" diesen Gedankengang gefunden, und wir haben hier den Beweis, daß ihm selbst sein Problem<br />

nicht immer ganz klar war. Kein Wunder. Das Problem der <strong>Akkumulation</strong> mit ganzer Schärfe zu erfassen<br />

ist nur möglich, wenn man mit dem Problem der einfachen Reproduktion fertig geworden ist. Wie sehr es<br />

aber damit bei Sismondi noch haperte, haben wir bereits gesehen.<br />

Trotz alledem ist Sismondi in diesem ersten Fall, wo er mit den Epigonen der klassischen Schule die<br />

Waffen kreuzte, durchaus nicht der Schwächere gewesen. Im Gegenteil hat er schließlich seine Gegner<br />

zu Paaren getrieben. Wenn Sismondi die elementarsten Grundlagen der gesellschaftlichen Reproduktion<br />

verkannte und ganz im Sinne <strong>des</strong> Smithschen Dogmas das konstante Kapital vernachlässigte, so stand er<br />

darin jedenfalls seinem Gegner nicht nach: Für MacCulloch existiert das konstante Kapital gleichfalls<br />

nicht, seine Pächter und Fabrikanten "schießen vor" bloß Nahrung und Kleidung für ihre Arbeiter, und<br />

das Gesamtprodukt der Gesellschaft besteht nur aus Nahrung und Kleidung. Sind sich so die beiden in<br />

dem elementaren Schnitzer gleich, so überragt Sismondi seinen Mac unendlich durch den Sinn für<br />

Widersprüche der kapitalistischen Produktionsweise. Auf die Sismondische Skepsis in bezug auf die<br />

Realisierbarkeit <strong>des</strong> Mehrwertes ist der Ricardianer ihm schließlich die Antwort schuldig geblieben.<br />

Ebenso überlegen ist Sismondi, wenn er der satten Zufriedenheit <strong>des</strong> Harmonikers und Apologeten, für<br />

den es "keinen Überschuß der Produktion über die Nachfrage, keine <strong>Ein</strong>schnürung <strong>des</strong> Marktes, kein<br />

Leiden gibt", den Notschrei der Nottinghamer Proletarier ins Gesicht schleudert, wenn er nachweist, daß<br />

die <strong>Ein</strong>führung der Maschinen naturnotwendig "eine überflüssige Bevölkerung" schaffe, endlich und<br />

besonders, wenn er die allgemeine Tendenz <strong>des</strong> kapitalistischen Weltmarkts mit ihren Widersprüchen<br />

hervorhebt. MacCulloch bestreitet rundweg die Möglichkeit allgemeiner Überproduktionen und hat für<br />

jede partielle Überproduktion ein probates Mittel in der Tasche:<br />

"Man kann einwenden", sagt er, "daß man bei Annahme <strong>des</strong> Grundsatzes, daß die Nachfrage sich stets<br />

im Verhältnis zur Produktion ver- mehrt, die <strong>Ein</strong>schnürungen und Stockungen nicht erklären<br />

könne, die ein ungeordneter Handel erzeugt. Wir antworten sehr ruhig: <strong>Ein</strong>e <strong>Ein</strong>schnürung ist die Folge<br />

eines Anwachsens einer besonderen Klasse von Waren, denen ein verhältnismäßiges Anwachsen von<br />

Waren, die ihnen als Gegenwert dienen können, nicht gegenübersteht. Während unsere tausend Pächter<br />

und ebenso viele Fabrikanten ihre Produkte austauschen und sich gegenseitig einen Markt darbieten,<br />

können tausend neue Kapitalisten, die sich der Gesellschaft angliedern, von denen jeder hundert Arbeiter<br />

im Landbau beschäftigt, ohne Zweifel eine unmittelbare <strong>Ein</strong>schnürung <strong>des</strong> Marktes in<br />

landwirtschaftlichen Produkten herbeiführen, weil ein gleichzeitiges Anwachsen der Produktion von<br />

Manufakturwaren, die sie kaufen sollen, mangelt. Aber wenn die eine Hälfte dieser neuen Kapitalisten<br />

Fabrikanten werden, so werden sie Manufakturwaren schaffen, die zum Ankauf <strong>des</strong> Bruttoprodukts der<br />

anderen Hälfte genügend sind. Das Gleichgewicht ist wieder hergestellt, und fünfzehnhundert Pächter<br />

werden mit fünfzehnhundert Fabrikanten ihre entsprechenden Produkte mit genau derselben Leichtigkeit<br />

tauschen, mit der die tausend Pächter und die tausend Fabrikanten ehemals die ihrigen getauscht haben."<br />

Auf diese Possenreiterei, die "sehr ruhig" mit der Stange im Nebel herumfährt, antwortet Sismondi mir<br />

dem Hinweis auf die wirklichen Verschiebungen und Umwälzungen <strong>des</strong> Weltmarkts, die sich vor seinen<br />

Augen vollzogen:<br />

"Man hat wilde Länder unter Kultur gesetzt, und die politischen Umwälzungen, die Änderung in dem<br />

System der Finanzen, der Friede, haben in die Häfen der alten Landwirtschaft treibenden Länder auf<br />

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einmal Schiffsladungen eingehen lassen, die fast allen ihren Ernten gleichkommen. <strong>Die</strong> ungeheuren<br />

Provinzen, die Rußland neuerdings am Schwarzen Meere zivilisiert hat, Ägypten, das einen<br />

Regierungswechsel erlebt hat, die Berberei (5), der der Seeraub untersagt worden ist, haben plötzlich die<br />

Speicher O<strong>des</strong>sas, Alexandriens und Tunis in die Häfen Italiens geleert und haben ein solches Übermaß<br />

von Getreide mit sich geführt, daß die ganzen Küsten entlang die Tätigkeit <strong>des</strong> Pächters eine<br />

verlustbringende geworden ist. Das übrige Europa ist nicht vor einer ähnlichen Umwälzung sicher, die<br />

die ungeheure Ausdehnung <strong>des</strong> neuen Lan<strong>des</strong> verursacht hat, das an den Ufern <strong>des</strong> Mississippi auf<br />

einmal unter Kultur gesetzt worden ist und das alle seine Erzeugnisse ausführt. Selbst der <strong>Ein</strong>fluß<br />

Neuhollands kann eines Tages für die englische Industrie vernichtend sein, wenn nicht in Hinsicht auf<br />

die Lebensmittel, für die der Transport zu kostspielig ist, so doch hinsichtlich der Wolle und der anderen<br />

landwirtschaftlichen Erzeugnisse, deren Beförderung eine leichtere ist." Was war nun der Rat<br />

MacCullochs angesichts dieser Agrarkrise in Südeuropa? <strong>Die</strong> Hälfte der neuen Landwirte sollten<br />

Fabrikanten werden. Darauf sagt Sismondi: "<strong>Die</strong>sen Rat kann man ernsthaft nur den Tataren in der Krim<br />

oder den ägyptischen Fellachen geben" - und er fügt hinzu: "Noch ist der Augenblick nicht gekommen,<br />

um neue Fabriken in überseeischen Gegenden oder in Neuholland einzurichten." Man sieht, Sismondi<br />

erkannte mit klarem Blick, daß die Industrialisierung der überseeischen Gebiete nur eine Frage der Zeit<br />

war. Daß aber auch die Ausdehnung <strong>des</strong> Weltmarktes nicht eine Lösung der Schwierigkeit, sondern bloß<br />

ihre Reproduktion in höherer Potenz, noch gewaltigere Krisen bringen muß, auch <strong>des</strong>sen war sich<br />

Sismondi wohl bewußt. Er stellte im voraus als die Kehrseite der Expansionstendenz <strong>des</strong> Kapitalismus<br />

fest: eine noch größere Verschärfung der Konkurrenz, eine noch größere Anarchie der Produktion. Ja, er<br />

legt sogar den Finger auf die Grundursache der Krisen, indem er die Tendenz der kapitalistischen<br />

Produktion, über jede Marktschranke hinauszueilen, an einer Stelle scharf formuliert: "Man hat häufig<br />

angekündigt", sagt er zum Schluß seiner Replik gegen MacCulloch, "daß das Gleichgewicht sich wieder<br />

herstellen und die Arbeit wieder beginnen würde, aber eine einzige Nachfrage entwickelte je<strong>des</strong>mal eine<br />

Bewegung, die über die wirklichen Bedürfnisse <strong>des</strong> Handels weit hinausging, und dieser neuen Tätigkeit<br />

folgte bald eine noch peinvollere <strong>Ein</strong>schnürung."<br />

Solchen tiefen Griffen der Sismondischen Analyse in die wirklichen Widersprüche der Kapitalbewegung<br />

hat der Vulgarus auf dem Londoner Katheder mit seinem Harmoniegeschwätz und seinem Kontertanz<br />

zwischen den tausend bebänderten Pächtern und den tausend weinseligen Fabrikanten nichts zu erwidern<br />

gehabt.<br />

Fußnoten von <strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong><br />

(1) Der Artikel in der "Edinburgh Review" war eigentlich gegen Owen gerichtet. Auf 24 Druckseiten<br />

zieht er scharf gegen die vier Schriften zu Felde: A New View of Society, or Essay on the Pronciole<br />

Formation of the Human Character; Obsevations on the Effect of the Manufacturing System; Two<br />

Memorials on Behalf of the Working Classes, presented to the Governments of America and Europe;<br />

endlich Three Tracts, and an Account of Public Proceedings relative to the Employment of the Poor. Der<br />

Anonymus sucht Owen haarklein nachzuweisen, daß seine Reformideen nicht im geringsten auf die<br />

wirklichen Ursachen der Misere <strong>des</strong> englischen Proletariats zurückgreifen, denn diese wirklichen<br />

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Ursachen seien: der Übergang zur Bebauung unfruchtbarerer Ländereien (die Ricardosche<br />

Grundrententheorie!), die Kornzölle und die hohen Steuern, die den Pächter wie den Fabrikanten<br />

bedrücken. Also Freihandel und laissez faire - das ist Alpha und Omega! Bei ungehinderter<br />

<strong>Akkumulation</strong> wird jeder Zuwachs der Produktion für sich selbst einen Zuwachs der Nachfrage schaffen.<br />

Hier wird Owen unter Hinweisen auf Say und James Mill einer "völligen Ignoranz" geziehen: "In his<br />

reasonings, as well as in his plans, Mr. Owen shows himself profoundly ignorant of all the laws which<br />

regulate the production and distribution of wealth." Und von Owen kommt der Verfasser auch auf<br />

Sismondi, wobei er die Kontroverse selbst wie folgt formuliert: "He (Owen) conceives that when<br />

competition is unchecked by any artificial regulations, and industry permitted to flow in its natural<br />

channels, the use of machinery may increase the supply of the several articles of wealth beyond the<br />

demand for them, and by creating an excess of all commodities, throw the working classes out of<br />

employment. This is the position which we hold to be fundamentally erroneous; and as it is strongly<br />

insisted on by the celebrated Mr. de Sismondi in his 'Nouveaux principes d'économie politique', we must<br />

entreat the indulgence of our readers while we endeavour to point out its fallacy, and to demonstrate, that<br />

the power of consuming necessarily increases with every increase in the power of producing." (Edinburg<br />

Review, Oktober 1819, S. 470.)


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11. Kapitel | Inhalt | 13. Kapitel<br />

<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - Gesammelte Werke. Herausgegeben vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Band<br />

5. <strong>Berlin</strong>/DDR. 1975. "<strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>", S. 166-173.<br />

1. Korrektur.<br />

Erstellt am 20.10.1998<br />

Zwölftes Kapitel<br />

Ricardo gegen Sismondi<br />

Für Ricardo war offenbar mit MacCullochs Erwiderung auf Sismondis theoretische <strong>Ein</strong>wände die<br />

Sache nicht erledigt. Im Unterschied von dem geschäftstreibenden "schottischen Erzhumbug", wie ihn<br />

Marx nennt, suchte Ricardo nach Wahrheit und bewahrte sich die echte Bescheidenheit eines großen<br />

Denkers.(1) Daß Sismondis Polemik gegen ihn selbst wie gegen sei- nen "Schüler" auf Ricardo<br />

einen tiefen <strong>Ein</strong>druck gemacht hatte, beweist die Frontänderung Ricardos in der Frage über die Wirkung<br />

der Maschinen. Hier gerade gebührt Sismondi das Verdienst, zum erstenmal der klassischen<br />

Harmonielehre die andere Seite der Medaille vor die Augen geführt zu haben. Im Buch IV seiner<br />

"Nouveaux principes", im Kapitel VII: "Von der Teilung der Arbeit und von den Maschinen", wie im<br />

Buche VII, Kapitel VII, das den bezeichnenden Titel führt: "Maschinen schaffen eine überflüssige<br />

Bevölkerung", hatte Sismondi die von den Apologeten Ricardos breitgetretene Lehre angegriffen, als<br />

schufen die Maschinen immer ebensoviel oder noch mehr Arbeitsgelegenheit für die Lohnarbeiter, wie<br />

sie ihnen durch Verdrängung der lebendigen Arbeit wegnahmen. Gegen diese sogenannte<br />

Kompensationstheorie wandte sich Sismondi mit aller Schärfe. Seine "Nouveaux principes" waren 1819<br />

erschienen - zwei Jahre nach dem Hauptwerk Ricardos. In der dritten Ausgabe seiner "Principles" im<br />

Jahre 1821, also bereits nach der Polemik zwischen MacCulloch und Sismondi, schaltete Ricardo ein<br />

neues Kapitel (<strong>Ein</strong>unddreißigstes Hauptstück der Baumstarkschen Übersetzung, zweite Auflage, 1877)<br />

ein, wo er freimütig seinen Irrtum bekennt und ganz im Sinne Sismondis erklärt, "daß die Meinung der<br />

Arbeiterklasse, die Anwendung von Maschinen sei ihren Interessen häufig verderblich, nicht auf<br />

Vorurteil und Irrtum beruht, sondern mit den richtigen Grundgesetzen der Volks- und Staatswirtschaft<br />

übereinstimmt". Dabei sieht er sich genau wie Sismondi veranlaßt, sich gegen den Verdacht zu<br />

verwahren, als eifere er gegen den technischen Fortschritt, salviert sich aber - weniger rücksichtslos als<br />

Sismondi - durch die Ausflucht, daß das Übel nur allmählich auftrete: "Um das Grundgesetz zu<br />

beleuchten, habe ich angenommen, daß das verbesserte Maschinenwesen urplötzlich auf einmal entdeckt<br />

und in ganzer Ausdehnung angewendet worden sei. Aber in der Wirklichkeit treten diese Entdeckungen<br />

nach und nach auf und wirken mehr auf Anwendung <strong>des</strong> schon ersparten und angesammelten <strong>Kapitals</strong><br />

als auf Zurückziehung von Kapital aus bisheriger Anlage."<br />

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Doch auch das Problem der Krisen und der <strong>Akkumulation</strong> ließ Ricardo keine Ruhe. Im letzten Jahre<br />

seines Lebens, 1823, blieb er einige Tage in Genf, um mit Sismondi persönlich über diesen Gegenstand<br />

zu debattieren, und als Frucht jener Gespräche erschien im Mai 1824 in der "Revue ency- <br />

clopédique" der Aufsatz Sismondis " Sur la balance <strong>des</strong> consommations avec les productions".(2)<br />

Ricardo hatte in seinen "Principles" in der entscheidenden Frage gänzlich die Harmonielehre über das<br />

Verhältnis zwischen Produktion und Konsumtion von dem faden Say übernommen. Im Kapitel XXI sagt<br />

er: "Say hat genügend nachgewiesen, daß es kein noch so großes Kapital gibt, das nicht in einem Lande<br />

angewandt werden könnte, denn die Nachfrage findet nur in der Produktion ihre Grenzen. Niemand<br />

produziert außer in der Absicht, sein Produkt selbst zu konsumieren oder es zu verkaufen, und jeder<br />

verkauft nur in der Absicht, andere Güter zu kaufen, welche für ihn unmittelbar zur Konsumtion dienen<br />

oder aber dazu, in einer künftigen Produktion angewendet zu werden. Derjenige, der produziert, wird<br />

also notwendig entweder selbst Konsument seines Produktes oder Käufer und Konsument der Produkte<br />

anderer."<br />

Gegen diese Auffassung Ricardos polemisierte Sismondi heftig schon in seinen "Nouveaux principes",<br />

und die mündliche Debatte drehte sich ganz um die obige Frage. <strong>Die</strong> Tatsache der Krise, die eben erst in<br />

England und in anderen Ländern vorübergezogen war, konnte Ricardo nicht bestreiten. Es handelte sich<br />

bloß um ihre Erklärung. Bemerkenswert ist dabei die klare und präzise Stellung <strong>des</strong> Problems, auf die<br />

sich Sismondi mit Ricardo eingangs ihrer Debatte geeinigt harte: Sie eliminierten beide die Frage <strong>des</strong><br />

auswärtigen Handels. Sismondi begriff wohl die Bedeutung und die Notwendigkeit <strong>des</strong> auswärtigen<br />

Handels für die kapitalistische Produktion und ihr Ausdehnungsbedürfnis. Darin stand er der<br />

Ricardoschen Freihandelsschule in nichts nach. Ja, er überragte sie bedeutend durch die dialektische<br />

Auffassung dieser Expansionstendenz <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, er sprach offen heraus, daß die Industrie "genötigt<br />

wird, auf fremden Märkten ihre Absatzwege zu suchen, wo noch größere Umwälzungen sie<br />

bedrohen"(3), er prophezeite, wie wir gesehen, das Erstehen einer gefähr- lichen Konkurrenz für<br />

die europäische Industrie in den überseeischen Ländern, was um das Jahr 1820 immerhin eine ganz<br />

achtbare Leistung war, die den tiefen Blick Sismondis für die weltwirtschaftlichen Beziehungen <strong>des</strong><br />

<strong>Kapitals</strong> verriet. Bei alledem war Sismondi weit davon entfernt, das Problem der Realisierung <strong>des</strong><br />

Mehrwerts, das Problem der <strong>Akkumulation</strong> von dem auswärtigen Handel als der einzigen<br />

Rettungsmöglichkeit abhängig zu machen, wie ihm das spätere Kritiker einzureden suchten. Im<br />

Gegenteil, Sismondi sagt selbst ausdrücklich gleich im Buch II, Kapitel VI: "Um diesen Berechnungen<br />

mit größerer Leichtigkeit folgen zu können und zur Vereinfachung dieser Fragen haben wir bis jetzt<br />

vollständig von dem auswärtigen Handel abgesehen und angenommen, daß eine Nation ganz allein für<br />

sich dastehe; die menschliche Gesellschaft ist selbst diese einzeln dastehende Nation, und alles, was bei<br />

einer Nation ohne Handel wahr ist, ist ebenso wahr beim Menschengeschlecht." Mit anderen Worten:<br />

Sismondi stellte sein Problem genau unter denselben Voraussetzungen wie später Marx: indem er den<br />

ganzen Weltmarkt als eine ausschließlich kapitalistisch produzierende Gesellschaft betrachtete. Auf diese<br />

Voraussetzungen einigte er sich auch mit Ricardo: "Wir schieden beide", sagt er, "aus der Frage den Fall<br />

aus, in dem eine Nation mehr den Fremden verkaufte, als sie von ihnen kaufte und so für eine wachsende<br />

Produktion im Innern einen wachsenden Markt nach außen fand ... Wir haben nicht die Frage zu<br />

entscheiden, ob Wechselfälle eines Krieges oder der Politik einer Nation nicht neue Verbraucher<br />

verschaffen können: Man muß beweisen, daß sie sie sich selbst schafft, wenn sie ihre Produktion<br />

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vermehrt." Hier hat Sismondi das Problem der Realisierung <strong>des</strong> Mehrwerts mit aller Schärfe so<br />

formuliert, wie es uns in der ganzen späteren Zeit in der Nationalökonomie entgegentritt. Ricardo<br />

behauptet nämlich in der Tat - darin folgt er, wie wir gesehen und noch sehen werden, den Fußtapfen<br />

Says -, daß die Produktion sich selbst ihren Absatz schaffe.<br />

<strong>Die</strong> in der Kontroverse mit Sismondi von Ricardo formulierte These lautete:<br />

"Nehmen wir hundert Landbebauer an, die tausend Sack Getreide produzieren, und hundert<br />

Wollenfabrikanten, die tausend Ellen Stoff herstellen; sehen wir von allen anderen Produkten ab, die den<br />

Menschen nützlich sind, von allen Zwischengliedern zwischen ihnen, und nehmen wir an, daß sie nur<br />

allein auf der Welt sind, so tauschen sie ihre tausend Ellen gegen ihre tausend Sack; nehmen wir die<br />

Produktivkräfte der Arbeit infolge der Fortschritte der Industrie als um ein Zehntel vermehrt an, so<br />

tauschen dieselben Menschen elfhundert Ellen gegen elfhundert Sack, und jeder von ihnen wird<br />

besser bekleidet und besser ernährt werden; ein neuer Fortschritt erhöht den Tausch auf zwölfhundert<br />

Ellen gegen zwölfhundert Sack und so fort: Das Anwachsen der Produktion vermehrt stets die Genüsse<br />

der Produzenten."(4)<br />

Mit tiefer Beschämung muß man feststellen, daß die Deduktionen <strong>des</strong> großen Ricardo hier womöglich<br />

auf noch tieferem Niveau stehen als die <strong>des</strong> "schottischen Erzhumbugs" MacCulloch. Wir sind wieder<br />

eingeladen, als Zuschauer einem harmonischen und anmutigen Kontertanz zwischen "Ellen" und<br />

"Säcken" beizuwohnen, wobei just das, was bewiesen werden sollte: ihr Proportionalitätsverhältnis,<br />

einfach vorausgesetzt ist. Aber noch besser: Alle die Voraussetzungen <strong>des</strong> Problems, um die es sich<br />

handelte, sind dafür einfach weggelassen. Das Problem, der Gegenstand der Kontroverse - um es immer<br />

wieder festzuhalten - bestand darin: Wer ist Konsument und Abnehmer für den Überschuß an Produkten,<br />

der entsteht, wenn die Kapitalisten über den Verbrauch ihrer Arbeiter und ihren eigenen Verbrauch<br />

hinaus Waren herstellen, d.h., wenn sie einen Teil <strong>des</strong> Mehrwerts kapitalisieren und dazu verwenden, die<br />

Produktion zu erweitern, das Kapital zu vergrößern? Darauf antwortet Ricardo, indem er überhaupt auf<br />

Kapitalvergrößerung nicht mit einem Worte eingeht. Was er uns vormalt in den verschiedenen Etappen<br />

der Produktion, ist bloß stufenweise Erhöhung der Produktivität der Arbeit. Es werden nach seiner<br />

Annahme immer mit derselben Anzahl Arbeitskräfte erst tausend Sack Getreide und tausend Ellen<br />

Wollgewebe, dann elfhundert Sack und elfhundert Ellen, später zwölfhundert Sack und zwölfhundert<br />

Ellen produziert, und so mit Grazie fort. Ganz abgesehen von der langweiligen Vorstellung der<br />

soldatenmäßig gleichen Marschbewegung auf beiden Seiten und der Übereinstimmung selbst der Anzahl<br />

Gegenstände, die zum Austausch gelangen sollen, ist in dem ganzen Beispiel keine Rede von<br />

Kapitalerweiterung. Was wir hier immer vor Augen haben, ist nicht erweiterte Reproduktion, sondern<br />

einfache Reproduktion, bei der bloß die Masse Gebrauchswerte, nicht aber der Wert der<br />

gesellschaftlichen Gesamtprodukte anwächst. Da für den Austausch nicht die Menge Gebrauchswerte,<br />

sondern lediglich ihre Wertgröße in Betracht kommt, diese aber im Beispiele Ricardos immer die gleiche<br />

bleibt, so bewegt er sich eigentlich nicht vom Fleck, obwohl er sich den Anschein gibt, fortschreitende<br />

Erweiterung der Produktion zu analysieren. Endlich existieren bei Ricardo überhaupt die Kategorien der<br />

Reproduktion nicht, auf die es ankommt. MacCulloch läßt zuerst seine Kapitalisten ohne Mehrwert<br />

produzieren und von der Luft leben, aber er erkennt wenigstens die Existenz der Arbeiter und gibt<br />

ihren Verbrauch an. Bei Ricardo ist von Arbeitern nicht einmal die Rede, und die Unterscheidung von<br />

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variablem Kapital und Mehrwert existiert überhaupt nicht. Demgegenüber will es wenig verschlagen, daß<br />

Ricardo, genau wie sein Schüler, von dem konstanten Kapital völlig absieht: Er will das Problem der<br />

Realisierung <strong>des</strong> Mehrwertes und der Kapitalerweiterung lösen, ohne mehr vorauszusetzen, als daß es ein<br />

gewisses Quantum Waren gibt, die gegenseitig ausgetauscht werden.<br />

Sismondi gibt sich, ohne die gänzliche Verschiebung <strong>des</strong> Kampffel<strong>des</strong> zu merken, redliche Mühe, die<br />

Phantasien seines berühmten Gastes und Widerparts, bei <strong>des</strong>sen Voraussetzungen man, wie er sich<br />

beklagt, "von Zeit und Raum absehen müsse, wie die deutschen Metaphysiker pflegen", auf die flache<br />

Erde zu projizieren und in ihren unsichtbaren Widersprüchen zu zergliedern. Er pfropft die Ricardosche<br />

Hypothese auf "die Gesellschaft in ihrer wirklichen Organisation mit Arbeitern ohne Eigentum, deren<br />

Lohn durch den Wettbewerb festgesetzt wird und die ihr Herr, wenn er ihrer nicht mehr bedarf, entlassen<br />

kann", denn -, bemerkt Sismondi so treffend wie bescheiden - "gerade auf diese wirtschaftliche<br />

Organisation stützen sich unsere Entwürfe". Und er deckt die mannigfachen Schwierigkeiten und<br />

Konflikte auf, mit denen die Fortschritte der Produktivität der Arbeit unter kapitalistischen Bedingungen<br />

verknüpft sind. Er weist nach, daß die von Ricardo angenommenen Verschiebungen in der<br />

Arbeitstechnik gesellschaftlich zu der folgenden Alternative führen müssen: Entweder wird im<br />

Verhältnis zum Wachstum der Produktivität ein entsprechender Teil der Arbeiter entlassen, und dann<br />

erhalten wir auf der einen Seite einen Überschuß an Produkten, auf der anderen Seite Arbeitslosigkeit<br />

und Elend, also ein treues Bild der gegenwärtigen Gesellschaft, oder das überschüssige Produkt wird zur<br />

Erhaltung von Arbeitern in einem neuen Produktionszweige: der Luxusproduktion, verwendet. Hier<br />

angelangt, schwingt sich Sismondi zu einer entschiedenen Überlegenheit über Ricardo auf. Er erinnert<br />

sich plötzlich an die Existenz <strong>des</strong> konstanten <strong>Kapitals</strong>, und jetzt ist er es, der dem englischen Klassiker<br />

haarscharf auf den Leib rückt: "Um eine neue Manufaktur, eine Luxusmanufaktur zu begründen, bedarf<br />

es auch eines neuen <strong>Kapitals</strong>; Maschinen müssen gebaut, Rohstoffe bestellt werden, ein ferner Handel<br />

muß in Tätigkeit treten, denn die Reichen begnügen sich nicht gern mit den Genüssen, die in ihrer Nähe<br />

erzeugt werden. Wo finden wir nun dieses neue Kapital, das vielleicht viel erheblicher ist als dasjenige,<br />

was die Landwirtschaft verlangt? ... Unsere Luxusarbeiter sind noch lange nicht so weit, das Ge- <br />

treide unserer Landbebauer zu essen, die Kleider unserer Manufakturen zu tragen, sie sind noch nicht da,<br />

sie sind vielleicht noch nicht geboren, ihre Gewerbe sind noch nicht vorhanden, die Rohstoffe, die sie<br />

bearbeiten sollen, sind von Indien nicht angelangt, alle die, an die sie ihr Brot austeilen sollen, warten<br />

vergebens darauf." Sismondi berücksichtigt nun das konstante Kapital nicht bloß in der<br />

Luxusproduktion, sondern auch in der Landwirtschaft, und hält weiter Ricardo entgegen: "Man muß von<br />

der Zeit absehen, wenn man unterstellt, daß der Landbebauer, der durch eine Erfindung der Mechanik<br />

oder einer ländlichen Industrie die Produktivkraft seiner Arbeiter um ein Drittel vermehren kann, auch<br />

ein Kapital finden wird, das zur Vermehrung seiner Ausbeute um ein Drittel genügt, zur Vermehrung<br />

seiner Werkzeuge, seiner Ackergeräte, seines Viehstan<strong>des</strong>, seiner Speicher, und das Umlaufskapital,<br />

<strong>des</strong>sen er bedarf, um seine <strong>Ein</strong>künfte abzuwarten."<br />

Hier bricht Sismondi mit der Fabel der klassischen Schule, als ob bei der Kapitalerweiterung der ganze<br />

Kapitalzuschuß ausschließlich in Löhnen, in variablem Kapital, verausgabt wäre, und trennt sich darin<br />

deutlich von der Ricardoschen Lehre - was ihn nebenbei nicht hinderte, drei Jahre später in der zweiten<br />

Auflage seiner "Nouveaux principes" alle die Schnitzer, die sich auf jene Lehre stützen, unbesehen<br />

passieren zu lassen. Der glatten Harmonielehre Ricardos gegenüber hebt Sismondi also zwei<br />

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entscheidende Punkte hervor: einerseits die objektiven Schwierigkeiten <strong>des</strong> erweiterten<br />

Reproduktionsprozesses, der in der kapitalistischen Wirklichkeit durchaus nicht so hübsch glatt verläuft<br />

wie in der abstrusen Hypothese Ricardos, andererseits die Tatsache, daß jeder technische Fortschritt in<br />

der Produktivität der gesellschaftlichen Arbeit unter kapitalistischen Bedingungen sich stets auf Kosten<br />

der Arbeiterklasse durchsetzt und mit deren Leiden erkauft wird. Und noch in einem dritten wichtigen<br />

Punkte zeigt Sismondi seine Überlegenheit im Vergleiche mit Ricardo: gegenüber <strong>des</strong>sen roher<br />

Borniertheit, für die außer der bürgerlichen Ökonomie überhaupt keine Gesellschaftsformen existieren,<br />

vertritt Sismondi die breiten historischen Horizonte einer dialektischen Auffassung: "Unsere Augen", ruft<br />

er, "haben sich dermaßen an diese neue Organisation der Gesellschaft, an diesen allgemeinen<br />

Wettbewerb gewöhnt, der zur Feindschaft zwischen der reichen und der arbeitenden Klasse ausartet, daß<br />

wir uns keine andere Art <strong>des</strong> Daseins mehr denken können, trotzdem die Trümmer dieser Existenzen uns<br />

von allen Seiten umgeben. Man glaubt mich ad absurdum führen zu können, wenn man mir die Fehler<br />

der früheren Systeme entgegenhält. In der Tat sind zwei oder drei in der Organisation der unteren <br />

Klassen einander gefolgt, aber darf man, weil sie, nachdem sie zuerst einiges Gute geleistet, bald darauf<br />

aber schreckliche Qualen dem Menschengeschlecht verursacht haben, schließen, daß wir heute das<br />

richtige System haben, daß wir nicht den Grundfehler <strong>des</strong> Systems der Tagelöhner entdecken werden,<br />

wie wir den <strong>des</strong> Systems der Sklaverei, der Vasallität, der Zünfte entdeckt haben? Als diese drei Systeme<br />

in Kraft waren, konnte man sich auch nicht denken, was man an ihre Stelle setzen könnte; die<br />

Verbesserung der bestehenden Ordnung erschien ebenso unmöglich wie lächerlich. Ohne Zweifel wird<br />

eine Zeit kommen, in der unsere Enkel uns als nicht minder barbarisch ansehen werden, weil wir die<br />

arbeitenden Klassen ohne Garantie gelassen haben, wie sie und wir selbst die Nationen als barbarisch<br />

ansehen, die diese selben Klassen als Sklaven behandelt haben " Seinen tiefen Blick für geschichtliche<br />

Zusammenhänge hat Sismondi bewiesen durch den Ausspruch, worin er mit epigrammatischer Schärfe<br />

die Rolle <strong>des</strong> Proletariats in der modernen Gesellschaft von derjenigen <strong>des</strong> Proletariats der römischen<br />

Gesellschaft unterschied. Nicht minder tief zeigt er sich darin, wie er in seiner Polemik gegen Ricardo<br />

die ökonomischen Sondercharaktere <strong>des</strong> Sklavensystems und der Feudalwirtschaft zergliedert sowie<br />

deren relative geschichtliche Bedeutung, endlich indem er als die vorherrschende allgemeine Tendenz<br />

der bürgerlichen Ökonomie feststellt, "jede Art von Eigentum von jeder Art Arbeit vollständig zu<br />

trennen". Auch das zweite Treffen Sismondis mit der klassischen Schule schlug, wie das erste, nicht zum<br />

Ruhme seines Gegners aus.(5)<br />

Fußnoten von <strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong><br />

(1) Es ist bezeichnend, daß, als Ricardo 1819 ins Parlament gewählt worden war, er, der damals schon<br />

das größte Ansehen wegen seiner ökonomischen Schriften genoß, an einen Freund schrieb: "Sie werden<br />

wissen, daß ich im Hause der Gemeinen sitze. Ich fürchte, daß ich da nicht viel nützen werde. Ich habe es<br />

zweimal versucht zu sprechen, aber ich sprach mit größter Beklommenheit, und ich verzweifle daran, ob<br />

ich je die Angst überwinden werde, die mich befällt, wenn ich den Ton meiner Stimme höre."<br />

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Dergleichen "Beklommenheit" war dem Schwätzer Culloch völlig unbekannt.


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12. Kapitel | Inhalt | 14. Kapitel<br />

<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - Gesammelte Werke. Herausgegeben vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Band<br />

5. <strong>Berlin</strong>/DDR. 1975. "<strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>", S. 173-180.<br />

1. Korrektur.<br />

Erstellt am 20.10.1998<br />

Dreizehntes Kapitel<br />

Say gegen Sismondi<br />

Der Aufsatz Sismondis im Maiheft 1824 der "Revue encyclopédique" gegen Ricardo lockte<br />

endlich den damaligen "prince de la science économique", den angeblichen Vertreter, Erben und<br />

Popularisator der Smithsehen Schule auf dem Kontinent, J. B. Say, auf den Plan. Im Juli <strong>des</strong>selben Jahres<br />

replizierte Say in der "Revue encyclopédique", nachdem er bereits in seinen Briefen an Malthus<br />

gegen die Sismondische Auffassung polemisiert hatte, in einem Aufsatz unter dein Titel "Über das<br />

Gleichgewicht zwischen Konsumtion und Produktion", worauf Sismondi seinerseits eine kurze Duplik<br />

veröffentlicht hat. <strong>Die</strong> Reihenfolge der polemischen Turniere war also eigentlich umgekehrt wie die<br />

Reihenfolge der theoretischen Abhängigkeiten. Denn es war Say, der zuerst jene Lehre von dem<br />

gottgewollten Gleichgewicht zwischen Produktion und Konsumtion Ricardo mitgeteilt und durch diesen<br />

auf MacCulloch vererbt hatte. Say stellte in der Tat schon im Jahre 1803 in seinem "Traité d'économie<br />

politique" im Buch I, Kapitel XXII: "Von den Absatzmärkten", den folgenden lapidaren Satz auf: "...<br />

man zahlt Produkte mit Produkten. Wenn <strong>des</strong>halb eine Nation von einer Art Produkte zuviel hat, so<br />

besteht das Mittel, um sie abzusetzen, darin, Produkte anderer Art zu schaffen."(1) Hier haben wir die<br />

bekannteste Formulierung der Mystifikation, die von der Ricardoschule wie von der Vulgärökonomie als<br />

der Eckstein der Harmonielehre akzeptiert wurde.(2) Das Hauptwerk Sismondis war im Grunde<br />

genommen eine fortlaufende Polemik gegen diesen Satz. Nunmehr, in der "Revue encyclopédique", dreht<br />

Say den Spieß um und macht die folgende verblüffende Wendung: "Wenn man einwirft, daß jede<br />

menschliche Gesellschaft dank der menschlichen Intelligenz und dem Vorteil, den sie aus den Kräften,<br />

die ihr die Natur und die Künste darbieten, von allen Dingen, die sich zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse<br />

und zur Vermehrung ihrer Genüsse eignen, eine Menge produzieren kann, die größer ist, als diese<br />

Gesellschaft zu verbrauchen imstande ist, so möchte ich fragen, wie es kommt, daß wir keine Nation<br />

kennen, die vollständig versorgt ist, da selbst bei denen, die als blühend gelten, sieben Achtel der<br />

Bevölkerung einer Menge Produkte entbehren, die als notwendig betrachtet werden, ich will nicht<br />

sagen bei reichen Familien, aber doch in einem bescheidenen Haushalt? Ich bewohne augenblicklich ein<br />

Dorf, das in einem der reichsten Kantone Frankreichs liegt. Und doch gibt es dort auf zwanzig Häuser<br />

neunzehn, wo ich beim <strong>Ein</strong>treten nur eine grobe Nahrung bemerke und nichts, was zum Wohlbefinden<br />

der Familie gehört, nichts von den Dingen, die der Engländer 'komfortabel' nennt" usw.(3)<br />

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Man bewundere die Stirn <strong>des</strong> ausgezeichneten Say. Er war es, der behauptete, in der kapitalistischen<br />

Wirtschaft könne es keine Schwierigkeiten, keinen Überschuß, keine Krisen, keine Not geben, denn die<br />

Waren kaufen einander, und man brauche nur immer mehr zu produzieren, um alles in Wohlgefallen<br />

aufzulösen. In seiner Hand ist dieser Satz zum Dogma der vulgärökonomischen Harmonielehre<br />

geworden. Sismondi hatte dagegen scharfen Protest erhoben und die Haltlosigkeit dieser Ansicht<br />

dargetan; er hatte darauf hingewiesen, daß nicht jede beliebige Warenmenge absetzbar sei, sondern daß<br />

das jeweilige <strong>Ein</strong>kommen der Gesellschaft (v + m) die äußerste Grenze darstelle, bis zu der die<br />

Warenmenge realisiert werden könne. Da aber die Löhne der Arbeiter auf das nackte Existenzminimum<br />

herabgedrückt werden, die Verbrauchsfähigkeit der Kapitalistenklasse auch ihre natürlichen Grenzen<br />

habe, so führe die Ausdehnung der Produktion zu Marktstockungen, Krisen und einem noch größeren<br />

Elend für die Volksmassen. Nun kommt Say und repliziert mit virtuos gespielter Naivität: Ja, wenn Sie<br />

behaupten, daß von den Produkten überhaupt zuviel produziert werden könne, wie kommt es, daß es so<br />

viele Darbende, so viele Nackte und Hungrige in unserer Gesellschaft gibt? Erkläre mir, Graf Oerindur,<br />

diesen Zwiespalt der Natur. Say, in <strong>des</strong>sen eigener Position der Hauptkniff darin besteht, daß er von der<br />

Geldzirkulation absieht und mit einem unmittelbaren Warenaustausch operiert, unterstellt jetzt seinem<br />

Opponenten, daß dieser von einem Überfluß der Produkte nicht im Verhältnis zu den Kaufmitteln der<br />

Gesellschaft, sondern zu ihren wirklichen Bedürfnissen spräche! Dabei hatte Sismondi gerade über<br />

diesen Kardinalpunkt seiner Deduktionen wahrhaft keinen Zweifel übriggelassen. Sagt er doch<br />

ausdrücklich im Buch II, Kapitel VI seiner "Nouveaux principes": "Selbst dann, wenn die Gesellschaft<br />

eine sehr große Anzahl schlecht genährter, schlecht gekleideter, schlecht behauster Personen zählt,<br />

begehrt sie nur das, was sie kaufen kann, aber sie kann nur mit ihrem <strong>Ein</strong>kommen kaufen."<br />

Etwas weiter gibt Say dies selbst zu, macht aber gleichzeitig seinem Widerpart eine neue<br />

Unterstellung: "Nicht die Verbraucher sind es, die in einer Nation fehlen", sagt er, "sondern die Mittel, zu<br />

kaufen. Sismondi glaubt, daß diese Mittel erheblicher sein werden, wenn die Produkte seltener und<br />

demzufolge teurer sind und ihre Herstellung den Arbeitern einen größeren Lohn eintragen wird."(4) Hier<br />

versucht Say, die Theorie Sismondis, der die Grundlagen selbst der kapitalistischen Organisation, ihre<br />

Anarchie in der Produktion und ihren ganzen Verteilungsmodus angriff, in die eigene vulgäre<br />

Denkmethode oder richtiger Schwatzmethode zu verflachen: Er travestiert seine "Neuen Grundsätze" in<br />

ein Plädoyer für "Seltenheit" der Waren und teure Preise. Und er singt dem entgegen ein Loblied auf den<br />

Hochgang der kapitalistischen <strong>Akkumulation</strong>, er sagt, daß, wenn die Produktion lebhafter, die<br />

Arbeitskräfte zahlreicher, der Umfang der Produktion erweitert wird, "die Nationen besser und<br />

allgemeiner versorgt werden", wobei er die Zustände der industriell entwickeltsten Länder gegen die<br />

mittelalterlichen Miseren preist. Im Gegenteil seien die "Maximen" Sismondis für die bürgerliche<br />

Gesellschaft höchst gefährlich: "Weshalb fordert er die Untersuchung von Gesetzen, die den<br />

Unternehmer verpflichten würden, dem von ihm beschäftigten Arbeiter die Existenz zu garantieren?<br />

Dergleichen Untersuchung würde den Unternehmungsgeist paralysieren; schon die bloße Befürchtung,<br />

daß der Staat in private Verträge sich einmischen könnte, ist eine Geißel und gefährdet den Wohlstand<br />

einer Nation."(5) <strong>Die</strong>sem allgemeinen apologetischen Geschwätz Says gegenüber führt Sismondi noch<br />

einmal die Debatte auf ihren Grund zurück: "Sicherlich habe ich niemals geleugnet, daß Frankreich seit<br />

den Tagen Ludwigs XIV. seine Bevölkerung verdoppelt und seinen Verbrauch vervielfältigt hat, wie er<br />

es mir entgegenhält; ich habe nur behauptet, daß die Vervielfältigung der Produkte ein Gut ist, wenn sie<br />

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begehrt, bezahlt, gebraucht werden, daß sie dagegen ein Übel ist, wenn kein Begehren nach ihnen<br />

stattfindet und die ganze Hoffnung <strong>des</strong> Produzenten darauf beruht, den Produkten einer mit der seinigen<br />

in Wettbewerb stehenden Industrie die Verbraucher zu entziehen. Ich habe zu zeigen gesucht, daß der<br />

natürliche Lauf der Nationen in der fortschreitenden Ver- mehrung ihrer Glückseligkeit und<br />

infolge<strong>des</strong>sen der Vermehrung ihrer Nachfrage nach neuen Produkten und der Mittel, sie zu bezahlen,<br />

besteht. Aber die Folgen unserer <strong>Ein</strong>richtungen, unserer Gesetzgebung, die die arbeitende Klasse je<strong>des</strong><br />

Eigentums und jeder Garantie beraubt haben, haben zu gleicher Zeit zu einer ungeordneten Arbeit<br />

angespornt, die weder zu der Nachfrage noch zu der Kaufkraft im Verhältnis steht, die infolge<strong>des</strong>sen das<br />

Elend noch verschärft." Und er schließt die Debatte, indem er den satten Harmoniker einlädt, über die<br />

Zustände nachzudenken, "die die reichen Völker darbieten, bei denen das öffentliche Elend zugleich mit<br />

dem materiellen Reichtum unaufhörlich zunimmt und bei denen die Klasse, die alles produziert, täglich<br />

mehr in den Zustand versetzt wird, nichts genießen zu dürfen". In diese schrille Dissonanz der<br />

kapitalistischen Widersprüche klingt der erste Waffengang um das Problem der Kapitalakkumulation<br />

aus.<br />

Überblickt man den Verlauf und die Ergebnisse dieser ersten Kontroverse, so sind zwei Punkte<br />

festzustellen:<br />

1. Trotz aller Konfusion in der Analyse Sismondis kommt seine Überlegenheit gegenüber der<br />

Ricardoschule wie gegenüber dem angeblichen Chef der Smithschen Schule zum Ausdruck: Sismondi<br />

betrachtet die Dinge vom Standpunkte der Reproduktion, er sucht Wertbegriffe - Kapital und<br />

<strong>Ein</strong>kommen - und sachliche Momente - Produktionsmittel und Konsummittel - so gut es geht in ihren<br />

Wechselbeziehungen im gesellschaftlichen Gesamtprozeß zu erfassen. Darin steht er Ad. Smith am<br />

nächsten. Nur daß er die Widersprüche <strong>des</strong> Gesamtprozesses, die bei Smith als <strong>des</strong>sen subjektive<br />

theoretische Widersprüche erscheinen, bewußt als den Grundton seiner Analyse hervorhebt und das<br />

Problem der <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong> als den Knotenpunkt und die Hauptschwierigkeit formuliert.<br />

Darin bedeutet Sismondi einen unzweifelhaften Fortschritt über Smith hinaus. Ricardo hingegen mit<br />

seinen Epigonen sowie Say stecken in der ganzen Debatte lediglich in den Begriffen der einfachen<br />

Warenzirkulation, für sie existiert nur die Formel W - G - W (Ware - Geld - Ware), wobei sie sie noch in<br />

einen direkten Warenaustausch verfälschen und mit dieser dürren Weisheit sämtliche Probleme <strong>des</strong><br />

Reproduktions- und <strong>Akkumulation</strong>sprozesses erschöpft haben wollen. Das ist ein Rückschritt hinter<br />

Smith, und gegen diese Borniertheit ist Sismondi entschieden im Vorteil. Gerade als sozialer Kritiker<br />

zeigt er hier viel mehr Sinn für die Kategorien der bürgerlichen Ökonomie als ihre eingeschworenen<br />

Apologeten, genauso wie später Marx als Sozialist unendlich schärferes Verständnis für die Differentia<br />

specifica <strong>des</strong> kapitalistischen Wirtschafts- mechanismus bis ins einzelne erwiesen hat als die<br />

gesamte bürgerliche Nationalökonomie. Wenn Sismondi (im Buch VII, Kapitel VII) gegen Ricardo ruft:<br />

"Was, der Reichtum ist alles, die Menschen nichts?", so kommt darin nicht bloß die "ethische" Schwäche<br />

seiner kleinbürgerlichen Auffassung im Vergleich mit der streng klassischen Objektivität Ricardos zum<br />

Ausdruck, sondern auch der durch soziales Empfinden geschärfte Blick <strong>des</strong> Kritikers für lebendige<br />

gesellschaftliche Zusammenhänge der Ökonomie, also auch für deren Widersprüche und<br />

Schwierigkeiten, dem die steife Borniertheit der abstrakten Auffassung Rirardos und seiner Schule<br />

entgegensteht. <strong>Die</strong> Kontroverse hat nur unterstrichen, daß Ricardo wie die Epigonen Smith'<br />

gleichermaßen nicht imstande waren, das ihnen von Sismondi aufgegebene Rätsel der <strong>Akkumulation</strong><br />

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auch nur zu erfassen, geschweige zu lösen.<br />

2. <strong>Die</strong> Auflösung <strong>des</strong> Rätsels wurde aber auch schon dadurch unmöglich gemacht, weil die ganze<br />

Diskussion auf ein Nebengeleise geschoben und um das Problem der Krisen konzentriert wurde. Der<br />

Ausbruch der ersten Krise beherrschte naturgemäß die Diskussion, verhinderte aber ebenso naturgemäß<br />

auf beiden Seiten die <strong>Ein</strong>sicht in die Tatsache, daß Krisen überhaupt nicht das Problem der<br />

<strong>Akkumulation</strong>, sondern bloß deren spezifische äußere Form, bloß ein Moment in der zyklischen Figur<br />

der kapitalistischen Reproduktion darstellen. Daraus ergab sich, daß die Debatte schließlich in ein<br />

doppeltes Quiproquo auslaufen mußte: <strong>Die</strong> eine Seite deduzierte dabei direkt aus den Krisen die<br />

Unmöglichkeit der <strong>Akkumulation</strong>, die andere direkt aus dem Warenaustausch die Unmöglichkeit der<br />

Krisen. Der weitere Verlauf der kapitalistischen Entwicklung sollte beide Deduktionen gleichermaßen ad<br />

absurdum führen.<br />

Bei alledem bleibt Sismondis Kritik als erster theoretischer Alarmruf gegen die <strong>Kapitals</strong>herrschaft von<br />

hoher historischer Bedeutung: Er zeigt die Auflösung der klassischen Ökonomie an, die mit den von ihr<br />

selbst wachgerufenen Problemen nicht fertig werden konnte. Wenn Sismondi gegen die Konsequenzen<br />

der kapitalistischen Herrschaft einen Angstschrei ausstößt, so war er sicher nicht ein Reaktionär in dem<br />

Sinne, daß er etwa für vorkapitalistische Verhältnisse schwärmte, wenn er auch gelegentlich die<br />

patriarchalischen Produktionsformen in Landwirtschaft und Gewerbe mit Wohlgefallen gegen die<br />

<strong>Kapitals</strong>herrschaft in Vorteil setzt. Er verwahrt sich dagegen wiederholt und sehr energisch, so z.B. in<br />

seinem Aufsatz in der "Revue encyclopédique" gegen Ricardo: "Ich höre schon den <strong>Ein</strong>wand erheben,<br />

daß ich mich der Vervollkommnung <strong>des</strong> Landbaues, der Künste und aller Fortschritte <strong>des</strong> Menschen<br />

entgegenstelle, daß ich ohne Zweifel die Barbarei der Gesittung vorziehe, da der Pflug eine<br />

Maschine ist und das Grabscheit eine noch ältere, und daß nach meinem System der Mensch die Erde<br />

lediglich mit seinen Händen hätte bearbeiten sollen. Ich habe nichts Ähnliches gesagt, und ich muß mich<br />

ein für allemal gegen jede Folgerung verwahren, die man meinem System unterlegt und die ich nicht<br />

selbst gezogen habe. Ich bin weder von denen, die mich angreifen, noch von denen, die mich verteidigen,<br />

verstanden worden, und mir ist ebensooft über meine Verbündeten wie über meine Gegner die<br />

Schamröte ins Gesicht gestiegen ... Man beachte wohl, nicht gegen die Maschinen, nicht gegen die<br />

fortschreitende Gesittung oder gegen die Erfindungen richten sich meine <strong>Ein</strong>wendungen, sondern gegen<br />

die heutige Organisation der Gesellschaft, eine Organisation, die, während sie den Arbeitenden je<strong>des</strong><br />

anderen Eigentums beraubt als seiner Arme, ihm nicht die geringste Gewähr gibt gegen einen<br />

Wettbewerb, gegen den tollen Handel, der stets zu seinem Nachteil ausschlägt und <strong>des</strong>sen Opfer er<br />

naturgemäß werden muß." Der Ausgangspunkt in der Kritik Sismondis sind zweifellos die Interessen <strong>des</strong><br />

Proletariats, und er ist vollkommen im Recht, wenn er seine Grundtendenz so formuliert: "Ich wünsche<br />

nur nach Mitteln zu suchen, die Früchte der Arbeit denen zu sichern, die die Arbeit leisten, den Nutzen<br />

der Maschine dem zuzuwenden, der die Maschine in Tätigkeit setzt." Freilich, wenn er die soziale<br />

Organisation näher angeben soll, die er anstrebt, kneift er aus und bekennt seine Unfähigkeit: "Was wir<br />

tun sollen, ist eine Frage von unbegrenzter Schwierigkeit, die wir keineswegs die Absicht haben, heute<br />

zu behandeln. Wir wünschen die Nationalökonomen zu überzeugen, so vollständig, wie wir selbst davon<br />

überzeugt sind, daß ihre Wissenschaft bis jetzt eine falsche Bahn verfolgt hat. Wir haben aber nicht das<br />

nötige Zutrauen zu uns, um ihnen den wahren Weg zu zeigen; es hieße unserem Geiste eine zu große<br />

Anstrengung zumuten, die Gestaltung der Gesellschaft, wie sie sein soll, darzulegen. Wo wäre in<strong>des</strong>sen<br />

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ein Mensch stark genug, um sich eine Organisation zu denken, die noch nicht vorhanden ist, um in die<br />

Zukunft zu sehen, da es doch schon Mühe genug kostet, nur das Vorhandene zu sehen?" <strong>Die</strong>ses offene<br />

Bekenntnis der Unfähigkeit, über den Kapitalismus hinaus in die Zukunft zu blicken, gereichte Sismondi<br />

um das Jahr 1820 sicher nicht zur Schande - zu einer Zeit, wo die Herrschaft <strong>des</strong> großindustriellen<br />

<strong>Kapitals</strong> erst die geschichtliche Schwelle überschritten hatte und wo die Idee <strong>des</strong> Sozialismus nur erst in<br />

utopischer Gestalt möglich war. Da in<strong>des</strong> Sismondi auf diese Weise weder über den Kapitalismus hinaus<br />

noch hinter ihn zurückgehen konnte, so blieb für seine Kritik nur der kleinbürgerliche Mittelweg <br />

übrig. <strong>Die</strong> Skepsis in bezug auf die Möglichkeit der vollen Entfaltung <strong>des</strong> Kapitalismus und somit der<br />

Produktivkräfte führte Sismondi zu dem Ruf nach der Dämpfung der <strong>Akkumulation</strong>, nach der Mäßigung<br />

<strong>des</strong> Sturmschritts in der Expansion der <strong>Kapitals</strong>herrschaft. Und hier liegt die reaktionäre Seite seiner<br />

Kritik.(6)<br />

Fußnoten von <strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong><br />

(1) "L'argent ne remplit qu'un office passager dans ce double échange. Les échanges terminés, il se<br />

trouve qu'on a payé <strong>des</strong> produits avec <strong>des</strong> produits. En conséquence quand une nation a trop de produits<br />

dans un genre, le moyen de les écouler est d'en créer d'un autre genre." (J. B. Say: Traité d'économie<br />

politique, Bd. I, Paris 1803, S. 154.)


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garantie contre une concurrence dirigée à son préjudice. Quoi! parce que la société garantit à toute espèce<br />

d'entrepreneur la libre disposition de ses capitaux, c'est à dire de sa propriété elle dépouille l'homme qui<br />

travaille! Je le répète: rien de plus dangéreux que de vues qui conduisent à régler l'usage <strong>des</strong> propriétés."<br />

Denn "les bras et les facultés" - "sont aussi <strong>des</strong> propriétés"!


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In: Karl Marx/Friedrich Engels: Werke, Bd. 4, S. 97.] In "Zur Kritik der politischen Ökonomie" wird<br />

Sismondi zweimal kurz erwähnt; einmal wird er als der letzte Klassiker der bürgerlichen Ökonomie in<br />

Frankreich in Parallele mit Ricardo in England gestellt, an einer anderen Stelle wird hervorgehoben, daß<br />

Sismondi gegen Ricardo den spezifisch gesellschaftlichen Charakter der wertschaffenden Arbeit betonte.<br />

Im Kommunistischen Manifest endlich wird Sismondi als das Haupt <strong>des</strong> kleinbürgerlichen Sozialismus<br />

genannt.


<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 14. Kapitel<br />

13. Kapitel | Inhalt | 15. Kapitel<br />

<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - Gesammelte Werke. Herausgegeben vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Band<br />

5. <strong>Berlin</strong>/DDR. 1975. "<strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>", S. 181-185.<br />

1. Korrektur.<br />

Erstellt am 20.10.1998<br />

Vierzehntes Kapitel<br />

Malthus<br />

Gleichzeitig mit Sismondi führte Malthus einen partiellen Krieg gegen die Schule Ricardos.<br />

Sismondi beruft sich in der zweiten Auflage seines Werks wie in seinen Polemiken wiederholt auf<br />

Malthus als Kronzeugen. So formuliert er die Gemeinsamkeit seines Feldzugs mit Malthus in der "Revue<br />

encyciopédique":<br />

"Andererseits hat Malthus in England (gegen Ricardo und Say) behauptet, wie ich dies auf dem<br />

Festlande zu tun Versucht habe, daß die Konsumtion nicht die notwendige Folge der Produktion sei, daß<br />

die Bedürfnisse und die Wünsche <strong>des</strong> Menschen allerdings ohne Grenzen seien, daß aber diese<br />

Bedürfnisse und diese Wünsche durch den Verbrauch nur insoweit befriedigt werden könnten, als sie mit<br />

Tauschmitteln vereint sind. Wir haben behauptet, daß es nicht ausreicht, diese Tauschmittel zu<br />

beschaffen, um sie in die Hände derer übergehen zu lassen, die diese Wünsche oder Bedürfnisse haben,<br />

daß es sogar oft der Fall ist, daß die Tauschmittel in der Gesellschaft anwachsen, während die Nachfrage<br />

nach Arbeit oder der Lohn sich vermindert; daß dann die Wünsche und die Bedürfnisse eines Teils der<br />

Bevölkerung nicht befriedigt werden können und daß der Verbrauch ebenfalls abnimmt. Endlich haben<br />

wir behauptet, daß das unzweideutige Zeichen der Wohlfahrt der Gesellschaft nicht die wachsende<br />

Produktion von Reichtümern sei, sondern die wachsende Nachfrage nach Arbeit oder ein wachsen<strong>des</strong><br />

Angebot <strong>des</strong> Lohnes, der für die Arbeit eine Vergütung bietet. Ricardo und Say haben nicht geleugnet,<br />

daß die wachsende Nachfrage nach Arbeit ein Zeichen der Wohlfahrt sei, aber sie haben behauptet, daß<br />

die Nachfrage mit Sicherheit aus dem Anwachsen der Produktion entstehen müsse.<br />

Malthus und ich leugnen dies. Wir behaupten, daß diese beiden Vermehrungen die Folge von Ursachen<br />

sind, die vollständig voneinander unabhängig, ja zuweilen sogar Gegensätze sind. Nach unserer Meinung<br />

wird der Markt überfüllt, wenn eine Nachfrage nach Arbeit der Produktion nicht vorausgegangen und ihr<br />

nicht gefolgt ist: <strong>Ein</strong>e neue Produktion wird dann eine Ursache <strong>des</strong> Verfalls, nicht <strong>des</strong> Genusses."<br />

<strong>Die</strong>se Äußerungen erwecken den <strong>Ein</strong>druck, als ob zwischen Sismondi und Malthus, wenigstens in ihrer<br />

Opposition gegen Ricardo und seine Schule, eine weitgehende Übereinstimmung und<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 14. Kapitel<br />

Waffengemeinschaft bestanden hätte. Marx betrachtet die "Principles of Political Economy" von<br />

Malthus, die 1820 erschienen, direkt als ein Plagiat an den ein Jahr früher erschienenen<br />

"Nouveaux principes". In der uns interessierenden Frage besteht jedoch zwischen beiden vielfach ein<br />

direkter Gegensatz.<br />

Sismondi kritisiert die kapitalistische Produktion, er greift sie wuchtig an, er ist ihr Ankläger. Malthus ist<br />

ihr Apologet. Nicht etwa in dem Sinne daß er ihre Widersprüche leugnete, wie MacCulloch oder Say,<br />

sondern umgekehrt, daß er diese Widersprüche brutal zum Naturgesetz erhebt und absolut heiligspricht.<br />

Sismondis leitender Gesichtspunkt sind die Interessen der Arbeitenden, das Ziel, auf das er, wenn auch in<br />

allgemeiner und vager Form, hinsteuert, durchgreifende Reform der Verteilung zugunsten der Proletarier.<br />

Malthus ist der Ideologe der Interessen jener Schicht von Parasiten der kapitalistischen Ausbeutung, die<br />

sich von Grundrente und der Staatskrippe nähren, und das Ziel, das er befürwortet, ist die Zuwendung<br />

einer möglichst großen Portion Mehrwert an diese "unproduktiven Konsumenten". Sismondis<br />

allgemeiner Standpunkt ist vorwiegend ethisch, sozialreformerisch: Er "verbessert" die Klassiker, indem<br />

er ihnen gegenüber hervorhebt, "der einzige Zweck der <strong>Akkumulation</strong> sei die Konsumtion", er plädiert<br />

für Dämpfung der <strong>Akkumulation</strong>. Malthus spricht umgekehrt schroff aus, daß die <strong>Akkumulation</strong> der<br />

einzige Zweck der Produktion sei und befürwortet die schrankenlose <strong>Akkumulation</strong> auf seiten der<br />

Kapitalisten, die er durch die schrankenlose Konsumtion ihrer Parasiten ergänzen und sichern will.<br />

Endlich war Sismondis kritischer Ausgangspunkt die Analyse <strong>des</strong> Reproduktionsprozesses, das<br />

Verhältnis von Kapital und <strong>Ein</strong>kommen auf gesellschaftlichem Maßstab. Malthus geht in seiner<br />

Opposition gegen Ricardo von einer absurden Werttheorie und einer von ihr abgeleiteten vulgären<br />

Mehrwerttheorie aus, die den kapitalistischen Profit aus dem Preisaufschlag auf den Wert der Waren<br />

erklären will.(1)<br />

Malthus wendet sich mit einer ausführlichen Kritik gegen den Satz von der Identität zwischen Angebot<br />

und Nachfrage im sechsten Kapitel seines 1827 erschienenen "Definitions in Political Economy", das er<br />

James Mill widmet. Mill erklärte in seinen "Elements of Political Economy", S. 233: "Was ist damit<br />

notwendigerweise gemeint, wenn wir sagen, daß Angebot und Nachfrage einander angepaßt<br />

(accomodated to one another) sind? Es ist dies, daß Güter, die mit einer großen Menge Arbeit hergestellt<br />

worden sind, gegen Güter ausgetauscht werden, die mit einer gleichen Menge Arbeit hergestellt worden<br />

sind. Wird diese Annahme zugegeben, dann ist alles übrige klar. So, wenn ein Paar Schuhe mit<br />

der gleichen Menge Arbeit hergestellt werden wie ein Hut, wird, solange der Hut und die Schuhe<br />

gegeneinander ausgetauscht werden, Angebot und Nachfrage einander angepaßt sein. Sollte es<br />

vorkommen, daß die Schuhe im Werte fallen im Vergleich zum Hut, so würde dies beweisen, daß mehr<br />

Schuhe auf den Markt gebracht worden sind als Hüte. Schuhe wären dann in mehr als nötigem Überfluß<br />

vorhanden. Weshalb? Weil ein Produkt einer gewissen Menge Arbeit in Schuhen nicht mehr gegen ein<br />

anderes Produkt derselben Menge Arbeit ausgetauscht werden könnte. Aber aus demselben Grunde<br />

wären Hüte in unzureichender Menge vorhanden, weil eine gewisse Summe Arbeit, in Hüten dargestellt,<br />

jetzt gegen eine größere Summe Arbeit in Schuhen ausgetauscht wäre."<br />

Gegen diese faden Tautologien führt Malthus zweierlei ins Feld. Zunächst macht er Mill darauf<br />

aufmerksam, daß seine Konstruktion in der Luft hänge. Tatsächlich könne die Austauschproportion<br />

zwischen Hüten und Schuhen ganz unverändert bleiben, beide können aber trotzdem in einer zu großen<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 14. Kapitel<br />

Menge im Vergleich zur Nachtrage vorhanden sein. Und dies wird sich darin äußern, daß beide zu<br />

Preisen verkauft werden, die unter den Produktionskosten (mit einem angemessenen Profit) stehen.<br />

"Kann man aber in diesem Fall sagen", fragt er, "daß das Angebot von Hüten der Nachfrage nach Hüten<br />

oder das Angebot an Schuhen der Nachfrage nach Schuhen entspräche, wenn sowohl diese wie jene in<br />

solchem Überfluß vorhanden sind, daß sie sich nicht unter den Bedingungen austauschen können, die ihr<br />

fortlaufen<strong>des</strong> Angebot sichern?"(2)<br />

Malthus stellt also hier Mill die Möglichkeit einer allgemeinen Überproduktion entgegen: "Im Vergleich<br />

mit den Produktionskosten können alle Waren steigen oder fallen (im Angebot) zu gleicher Zeit."(3)<br />

Zweitens protestiert er gegen die ganze bei Mill wie Ricardo und deren Epigonen beliebte Manier, ihre<br />

Thesen auf direkten Produktenaustausch zuzuschneiden. "Der Hopfenpflanzer", sagt er, "der etwa<br />

hundert Sack Hopfen zu Markt bringt, denkt soviel an das Angebot von Hüten und Schuhen wie an<br />

Sonnenflecke. Woran denkt er alsdann? Und was will er in Austausch für seinen Hopfen kriegen? Mr.<br />

Mill scheint der Meinung zu sein, daß es die größte Ignoranz in der politischen Ökonomie verraten hieße,<br />

zu sagen, er wolle Geld. Dennoch habe ich keine Bedenken, auf die Gefahr hin, dieser großen Ignoranz<br />

geziehen zu werden, zu erklären, daß es gerade Geld ist, was er (der Pflanzer) braucht."<br />

Denn sowohl die Rente, die er dem Grundherrn, wie die Löhne, die er den Arbeitern zahlen muß,<br />

wie endlich der Ankauf seiner Rohstoffe und Werkzeuge, die er zur Fortführung seiner Pflanzungen<br />

braucht, können nur mit Geld gedeckt werden. Auf diesem Punkt besteht Malthus mit großer<br />

Ausführlichkeit; er findet es direkt "erstaunlich", daß Nationalökonomen von Ruf zu den gewagtesten<br />

und unmöglichsten Beispielen lieber Zuflucht nehmen als zu der Annahme <strong>des</strong> Geldaustausches."(4)<br />

Im übrigen begnügt sich Malthus damit, den Mechanismus zu schildern, wie ein zu großes Angebot<br />

durch die Senkung der Preise unter die Produktionskosten von selbst eine <strong>Ein</strong>schränkung der Produktion<br />

herbeiführe und umgekehrt. "Aber diese Tendenz, durch den natürlichen Lauf der Dinge die<br />

Überproduktion oder die Unterproduktion zu kurieren, ist kein Beweis, daß diese Übel nicht existieren."<br />

Man sieht, Malthus bewegt sich, trotz seines entgegengesetzten Standpunktes in der Frage der Krisen,<br />

genau in demselben Geleise wie Ricardo, Mill, Say und MacCulloch: Für ihn existiert gleichfalls nur der<br />

Warenaustausch. Der gesellschaftliche Reproduktionsprozeß mit seinen großen Kategorien und<br />

Zusammenhängen, der Sismondi ganz in Anspruch nahm, wird hier nicht im geringsten berücksichtigt.<br />

Bei so vielfachen Gegensätzen in der grundsätzlichen Auffassung bestand das Gemeinsame zwischen der<br />

Kritik Sismondis und derjenigen Malthus' lediglich im folgenden:<br />

1. Beide lehnen gegen die Ricardianer und Say den Satz von dem prästabilierten Gleichgewicht zwischen<br />

Konsumtion und Produktion ab.<br />

2. Beide behaupten die Möglichkeit nicht bloß partieller, sondern allgemeiner Krisen.<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 14. Kapitel<br />

Hier hört aber die Gemeinsamkeit auf. Wenn Sismondi die Ursache der Krisen in dem niedrigen Stand<br />

der Löhne und in der beschränkten Konsumtionsfähigkeit der Kapitalisten sucht, so verwandelt Malthus<br />

umgekehrt die niedrigen Löhne in ein Naturgesetz der Bevölkerungsbewegung, für die beschränkte<br />

Konsumtion der Kapitalisten findet er aber Ersatz in der Konsumtion der Parasiten <strong>des</strong> Mehrwerts, wie<br />

Landadel, Klerus, deren Aufnahmefähigkeit für Reichtum und Luxus keine Schranken hat: <strong>Die</strong> Kirche<br />

hat einen guten Magen.<br />

Und wenn beide, Malthus wie Sismondi, für das Heil der kapitalistischen <strong>Akkumulation</strong> und ihre<br />

Rettung aus der Klemme nach einer Kategorie von Konsumenten suchen, die kaufen ohne zu verkaufen,<br />

so sucht sie Sismondi zu dem Zwecke, um den Überschuß <strong>des</strong> gesellschaftlichen Produkts über die<br />

Konsumtion der Arbeiter und der Kapitalisten, also den kapitalisierten Teil <strong>des</strong> Mehrwerts, abzusetzen,<br />

Malthus - um den Profit überhaupt zu schaffen. Wie übrigens die Rentenempfänger und die Pfründner<br />

<strong>des</strong> Staates, die ja selbst erst ihre Kaufmittel hauptsächlich aus der Hand der Kapitalisten kriegen<br />

müssen, diesen letzteren durch das Abkaufen von Waren mit einem Preisaufschlag zur Aneignung <strong>des</strong><br />

Profits verhelfen können, bleibt natürlich ein Geheimnis von Malthus. Bei so weitgehenden Gegensätzen<br />

ist die Waffengemeinschaft zwischen Malthus und Sismondi ziemlich oberflächlicher Natur gewesen.<br />

Und wenn Malthus die Sismondischen "Nouveaux principes", wie Marx sagt, zum malthusianischen<br />

Zerrbild gemacht hat, so macht Sismondi die Kritiken von Malthus gegen Ricardo etwas stark<br />

sismondisch, indem er nur das Gemeinsame hervorhebt und ihn als Kronzeugen zitiert. Andererseits<br />

unterliegt er freilich gelegentlich dem Malthusschen <strong>Ein</strong>fluß, so, wenn er zum Teil <strong>des</strong>sen Theorie der<br />

staatlichen Verschwendung als eines Notbehelfs der <strong>Akkumulation</strong> übernimmt, die seinem eigenen<br />

Ausgangspunkt direkt zuwiderläuft.<br />

Im ganzen hat Malthus weder zum Problem der Reproduktion etwas Eigenes beigetragen noch es<br />

begriffen, er dreht sich in seiner Kontroverse mit den Ricardianern wie diese in ihrer Kontroverse mit<br />

Sismondi hauptsächlich in den Begriffen der einfachen Warenzirkulation. Im Streit zwischen ihm und<br />

der Schule Ricardos handelte es sich um die unproduktive Konsumtion der Parasiten <strong>des</strong> Mehrwerts, es<br />

war ein Zank um die Verteilung <strong>des</strong> Mehrwerts, nicht ein Streit um die gesellschaftlichen Grundlagen der<br />

kapitalistischen Reproduktion. <strong>Die</strong> Malthussche Konstruktion fällt zu Boden, sobald man ihn auf seine<br />

absurden Schnitzer in der Theorie <strong>des</strong> Profits festgenagelt hat. <strong>Die</strong> Sismondische Kritik behauptet sich,<br />

und sein Problem bleibt ungelöst auch bei der Annahme der Ricardoschen Werttheorie mit allen ihren<br />

Konsequenzen.<br />

Fußnoten von <strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong><br />

(1) Vgl. Marx: Theorien über den Mehrwert, Bd. III, S. 1-29, wo die Malthussche Wert- und<br />

Profittheorie eingebend analysiert ist. [Karl Marx: Theorien über den Mehrwert, Dritter Teil. In: Karl<br />

Marx/Friedrich Engels: Werke. Bd. 26.3, S. 7-38.]


<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 14. Kapitel<br />

(3) l.c., S. 64.


<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 15. Kapitel<br />

14. Kapitel | Inhalt | 16. Kapitel<br />

<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - Gesammelte Werke. Herausgegeben vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Band<br />

5. <strong>Berlin</strong>/DDR. 1975. "<strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>", S. 186-196<br />

1. Korrektur.<br />

Erstellt am 20.10.1998<br />

Zweiter Waffengang<br />

Kontoverse zwischen Rodbertus und v. Kirchmann<br />

Fünfzehntes Kapitel<br />

v. Kirchmanns Reproduktionstheorie<br />

Auch die zweite theoretische Polemik um das Problem der <strong>Akkumulation</strong> hat ihren Anstoß von<br />

aktuellen Ereignissen bekommen. Wenn Sismondi zu seiner Opposition gegen die klassische Schule<br />

durch die erste englische Krise und die von ihr ausgelösten Leiden der Arbeiterklasse angeregt war, so<br />

schöpft Rodbertus fast fünfundzwanzig Jahre später den Anstoß zu seiner Kritik der kapitalistischen<br />

Produktion von der inzwischen aufgekommenen revolutionären Arbeiterbewegung. <strong>Die</strong> Aufstände der<br />

Seidenweber in Lyon, die Chartistenbewegung in England gellten ihre Kritik auf die herrlichste aller<br />

Gesellschaftsformen in die Ohren der Bourgeoisie noch ganz anders als die unbestimmten Gespenster,<br />

die die erste Krise auf den Plan gerufen hatte. <strong>Die</strong> früheste sozialökonomische Schrift Rodbertus', die<br />

wahrscheinlich aus dem Ende der 30er Jahre stammt und die, für die "Augsburger Allgemeine Zeitung"<br />

geschrieben, von dem genannten Blatte aber nicht aufgenommen war, trägt den bezeichnenden Titel "<strong>Die</strong><br />

Forderungen der arbeitenden Classen" und beginnt mit den Worten: "Was wollen die arbeitenden<br />

Klassen? Werden die andern ihnen dies vorenthalten können? Wird das, was sie wollen, das Grab der<br />

modernen Kultur sein? - Daß einst mit großer Zudringlichkeit die Geschichte diese Fragen tun würde,<br />

wußte der Denkende längst, durch die Chartistenversammlungen und die Birminghamszenen hat es auch<br />

die Alltagswelt erfahren." Bald sollte in Frankreich in den 40er Jahren die lebhafteste Gärung der<br />

revolutionären Ideen in den verschiedensten geheimen Gesell- schaften und sozialistischen<br />

Schulen der Proudhonisten, Blanquisten, der Anhänger Cabets, Louis Blancs usw. - zum Ausdruck<br />

kommen und in der Februarrevolution, in der Proklamierung <strong>des</strong> "Rechts auf Arbeit", in den Junitagen,<br />

in einer ersten Generalschlacht zwischen den zwei Welten der kapitalistischen Gesellschaft eine<br />

epochemachende Explosion der in ihrem Schoße verborgenen Widersprüche herbeiführen. Was die<br />

andere sichtbare Form dieser Widersprüche, die Krisen, betrifft, so verfügt man zu den Zeiten der<br />

zweiten Kontroverse über ein unvergleichlich reicheres Beobachtungsmaterial als zu Beginn der 20er<br />

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Jahre <strong>des</strong> Jahrhunderts. <strong>Die</strong> Debatte zwischen Rodbertus und v. Kirchmann fand statt unter den<br />

unmittelbaren <strong>Ein</strong>drücken der Krisen von 1837, 1839, 1847, ja der ersten Weltkrise 1857 (die<br />

interessante Schrift Rodbertus' "<strong>Die</strong> Handelskrisen und die Hypothekennoth der Grundbesitzer" stammt<br />

aus dem Jahre 1858). <strong>Die</strong> inneren Widersprüche der kapitalistischen Wirtschaft gaben also vor den<br />

Augen Rodbertus' noch ganz anders eine grelle Kritik auf die Harmonielehren der englischen Klassiker<br />

und ihrer Vulgarisatoren in England wie auf dem Kontinent ab als zu den Zeiten, da Sismondi seine<br />

Stimme erhob.<br />

Daß die Kritik von Rodbertus übrigens unter dem direkten <strong>Ein</strong>fluß der Sismondischen stand, bezeugt ein<br />

Zitat aus Sismondi in seiner ältesten Schrift. Mit der französischen zeitgenössischen Literatur der<br />

Opposition gegen die klassische Schule war Rodbertus also wohl vertraut, vielleicht weniger mit der viel<br />

zahlreicheren englischen, in welchem Umstand bekanntlich die Legende der deutschen Professorenwelt<br />

über die sogenannte "Priorität" Rodbertus' vor Marx in der "Begründung <strong>des</strong> Sozialismus" ihre einzige<br />

schwache Wurzel hat. So schreibt Professor <strong>Die</strong>hl in seiner Skizze über Rodbertus im "Handwörterbuch<br />

der Staatswissenschaften":<br />

"Rodbertus ist als der eigentliche Begründer <strong>des</strong> wissenschaftlichen Sozialismus in Deutschland zu<br />

bezeichnen, denn schon vor Marx und Lassalle hatte er in seinen Schriften aus den Jahren 1839 und 1842<br />

ein vollständiges sozialistisches System geliefert, eine Kritik <strong>des</strong> Smithianismus, eine neue theoretische<br />

Grundlage und soziale Reformvorschläge." <strong>Die</strong>s bieder, fromm und gottesfürchtig im Jahre 1901 (2.<br />

Auflage) - nach allem und trotz allem, was Engels, Kautsky und Mehring zur Zerstörung der<br />

professoralen Legende geschrieben hatten. Daß übrigens der monarchisch, national und preußisch<br />

gesinnte "Sozialist" Rodbertus, der Kommunist für die Zukunft nach 500 Jahren und für die Gegenwart<br />

Anhänger einer festen Ausbeutungsrate von 200 Prozent, gegenüber dem internationalen "Umstürzler"<br />

Marx in den Augen aller deutschen Gelehrten der Nationalökonomie ein für allemal die Palme der<br />

"Priorität" erringen mußte, versteht sich von selbst und kann durch die triftigsten Nachweise nicht<br />

erschüttert werden. Doch uns interessiert hier eine andere Seite der Rodbertusschen Analyse. Derselbe<br />

<strong>Die</strong>hl setzt seinen Panegyrikus folgendermaßen fort: "Doch nicht nur für den Sozialismus hat Rodbertus<br />

bahnbrechend gewirkt, sondern die gesamte nationalökonomische Wissenschaft verdankt ihm große<br />

Anregung und Förderung, die theoretische Nationalökonomie besonders durch die Kritik der klassischen<br />

Nationalökonomen, durch die neue Theorie der <strong>Ein</strong>kommensverteilung, durch die Unterscheidung der<br />

logischen und historischen Kategorien von Kapital usw." Mit diesen letzteren Großtaten Rodbertus"<br />

namentlich mit den "usw.", wollen wir uns hier befassen.<br />

<strong>Die</strong> Kontroverse zwischen Rodbertus und v. Kirchmann wurde angeregt durch die grundlegende Schrift<br />

<strong>des</strong> ersteren "Zur Erkenntniß unserer staatswirthschaftlichen Zustände" aus dem Jahre 1842. v.<br />

Kirchmann antwortete darauf in den "Demokratischen Blättern" in zwei Abhandlungen: "Über die<br />

Grundrente in socialer Beziehung" und "<strong>Die</strong> Tauschgesellschaft", worauf Rodbertus 1850 und 1851 mit<br />

den "Socialen Briefen" replizierte. Damit kam die Diskussion auf jenes theoretische Gebiet, auf dem<br />

dreißig Jahre früher die Polemik zwischen Malthus-Sismondi und Say-Ricardo-MacCulloch<br />

ausgefochten wurde. Rodbertus hatte bereits in seiner frühesten Schrift jenen Gedanken ausgesprochen,<br />

daß in der heutigen Gesellschaft bei der steigenden Produktivität der Arbeit der Arbeitslohn eine immer<br />

kleinere Quote <strong>des</strong> Nationalprodukts wird - ein Gedanke, den er als den seinigen "in Anspruch nahm",<br />

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den er aber auch seitdem und bis zu seinem Tode, also während dreier Jahrzehnte, immer nur zu<br />

wiederholen und zu variieren verstand. In dieser fallenden Lohnquote erblickt Rodbertus die gemeinsame<br />

Wurzel aller Übel der heutigen Wirtschaft, namentlich <strong>des</strong> Pauperismus und der Krisen, die er zusammen<br />

als "die soziale Frage der Gegenwart" bezeichnet.<br />

v. Kirchmann ist mit dieser Erklärung nicht einverstanden. Er führt den Pauperismus auf die Wirkungen<br />

der steigenden Grundrente zurück, die Krisen aber auf den Mangel an Absatzwegen. Von diesem<br />

behauptet er namentlich, daß "der größte Teil der sozialen Übel nicht in der mangelnden Produktion,<br />

sondern in dem mangelnden Absatze der Produkte liege; daß ein Land, je mehr es zu produzieren<br />

vermöge, je mehr es Mittel habe, alle Bedürfnisse zu befriedigen, <strong>des</strong>to mehr der Gefahr <strong>des</strong> Elends und<br />

Mangels ausgesetzt sei". Auch die Arbeiterfrage ist hier mit begriffen, denn "das berüchtigte Recht auf<br />

Arbeit löse sich am Ende auf in eine Frage der Absatzwege". "Man sieht", folgert v. Kirchmann, "daß die<br />

soziale Frage beinahe identisch ist mit der Frage nach den Absatzwegen. Selbst die Übel der<br />

vielgeschmähten Konkurrenz werden mit sicheren Absatzwegen verschwinden; es wird nur das Gute an<br />

ihr bleiben; es wird der Wetteifer bleiben, gute und billige Waren zu liefern, aber es wird der Kampf auf<br />

Tod und Leben verschwinden, der nur in den für alle ungenügenden Absatzwegen seinen Grund hat."(1)<br />

Der Unterschied zwischen dem Gesichtswinkel Rodbertus' und v. Kirchmanns springt in die Augen.<br />

Rodbertus sieht die Wurzel <strong>des</strong> Übels in einer fehlerhaften Verteilung <strong>des</strong> Nationalprodukts, v.<br />

Kirchmann in den Marktschranken der kapitalistischen Produktion. Bei allem Konfusen in den<br />

Ausführungen v. Kirchmanns, namentlich in seiner idyllischen Vorstellung von einer auf löblichen<br />

Wetteifer um die beste und billigste Ware reduzierten kapitalistischen Konkurrenz sowie in der<br />

Auflösung <strong>des</strong> "berüchtigten Rechts auf Arbeit" in die Frage der Absatzmärkte, zeigt er doch zum Teil<br />

mehr Verständnis für den wunden Punkt der kapitalistischen Produktion: ihre Marktschranken, als<br />

Rodbertus, der an der Frage der Verteilung haftet. Es ist also v. Kirchmann, der diesmal das<br />

Problem wieder aufnimmt, das früher von Sismondi auf die Tagesordnung gestellt war. Bei alledem ist v.<br />

Kirchmann mit der Beleuchtung und Lösung <strong>des</strong> Problems durch Sismondi keineswegs einverstanden, er<br />

steht eher auf seiten der Opponenten Sismondis. Er akzeptiert nicht nur die Ricardosche Theorie der<br />

Grundrente, nicht nur das Smithsche Dogma, "daß die Preise der Waren sich nur aus den zwei Teilen,<br />

aus dem Kapitalzins und dem Arbeitslohn, zusammensetzen" (v. Kirchmann verwandelt den Mehrwert in<br />

"Kapitalzins"), sondern auch den Say-Ricardoschen Satz, daß Produkte nur mit Produkten gekauft<br />

werden und die Produktion ihren eigenen Absatz bilde, so daß, wo auf der einen Seite zuviel produziert<br />

zu sein scheine, auf der anderen Seite nur zuwenig produziert sei. Man sieht, v. Kirchmann folgt den<br />

Spuren der Klassiker, aber allerdings ist das eine "deutsche Klassikerausgabe" - mit allerlei Wenn und<br />

Aber. So findet v. Kirchmann zunächst, daß das Saysche Gesetz <strong>des</strong> natürlichen Gleichgewichts<br />

zwischen Produktion und Nachfrage "die Wirklichkeit noch nicht erschöpfe", und er fügt hinzu: "Es<br />

liegen noch andere Gesetze in dem Verkehr verborgen, welche die reine Verwirklichung dieser Sätze<br />

verhindern und durch deren Auffindung allein die gegenwärtige Überfüllung der Märkte erklärt werden<br />

kann, durch deren Auffindung aber vielleicht auch der Weg entdeckt werden kann, diesem großen Übel<br />

aus dem Wege zu gehen. Wir glauben, daß drei Verhältnisse in dem gegenwärtigen Systeme der<br />

Gesellschaft es sind, welche diese Widersprüche zwischen jenem unzweifelhaften Gesetze Says und der<br />

Wirklichkeit herbeiführen." <strong>Die</strong>se Verhältnisse sind: die "zu ungleiche Verteilung der Produkte" - hier<br />

neigt sich v. Kirchmann, wie wir sehen, in gewissem Maße dem Standpunkt Sismondis zu -, die<br />

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Schwierigkeiten, welche die Natur der menschlichen Arbeit in der Rohproduktion bereitet, endlich die<br />

Mangelhaftigkeit <strong>des</strong> Handels als der vermittelnden Operation zwischen Produktion und Konsumtion.<br />

Ohne uns auf die beiden letzten "Hindernisse" <strong>des</strong> Sayschen Gesetzes näher einzulassen, betrachten wir<br />

die Argumentation v. Kirchmanns im Zusammenhang mit dem ersten Punkt:<br />

"Das erste Verhältnis", erklärt er, "kann kürzer dahin ausgedrückt werden, 'daß der Arbeitslohn zu<br />

niedrig steht', daß daraus eine Stockung <strong>des</strong> Absatzes entsteht. Für denjenigen, der weiß, daß die Preise<br />

der Waren sich nur aus den zwei Teilen, aus dem Kapitalzins und dem Arbeitslohn, zusammensetzen,<br />

kann dieser Satz auffallend erscheinen; ist der Arbeitslohn niedrig, so sind auch die Warenpreise niedrig,<br />

und sind jene hoch, so sind auch diese hoch. (Man sieht, v. Kirchmann akzeptiert das Smithsche<br />

Dogma auch noch in seiner verkehrtesten Fassung: nicht der Preis löst sich in Arbeitslohn + Mehrwert<br />

auf, sondern er setzt sich als einfache Summe aus ihnen zusammen - eine Fassung, in der Smith sich von<br />

seiner Arbeitswerttheorie am weitesten entfernt hatte. - R. L.) Lohn und Preis stehen so in geradem<br />

Verhältnis und gleichen sich einander aus. England hat nur <strong>des</strong>halb seine Getreidezölle und seine Zölle<br />

auf Fleisch und andere Lebensmittel aufgehoben, um die Arbeitslöhne sinken zu machen und so den<br />

Fabrikanten in den Stand zu setzen, durch noch billigere Ware auf den Weltmärkten jeden anderen<br />

Konkurrenten zu verdrängen. Es ist in<strong>des</strong> dies nur zum Teil richtig und berührt nicht das Verhältnis, in<br />

dem sich das Produkt zwischen Kapital und Arbeiter verteilt. In der zu ungleichen Verteilung zwischen<br />

diesen beiden liegt der erste und wichtigste Grund, weshalb Says Gesetz sich in der Wirklichkeit nicht<br />

vollzieht, weshalb trotz der Produktion in allen Zweigen doch alle Märkte an Überfüllung leiden." <strong>Die</strong>se<br />

seine Behauptung illustriert v. Kirchmann ausführlich an einem Beispiel. Nach dem Muster der<br />

klassischen Schule werden wir natürlich versetzt in eine imaginäre isolierte Gesellschaft, die ein<br />

widerstandsloses, wenn auch nicht dankbares Objekt für die nationalökonomischen Experimente<br />

darbietet.<br />

Man stelle sich einen Ort vor - suggeriert uns v. Kirchmann -, der ausgerechnet 903 <strong>Ein</strong>wohner umfaßt,<br />

und zwar 3 Unternehmer mit je 300 Arbeitern. Der Ort befriedige alle Bedürfnisse seiner <strong>Ein</strong>wohner<br />

durch eigene Produktion, und zwar in drei Unternehmungen, von denen die eine für Kleidung sorgt, die<br />

zweite für Nahrung, Licht, Feuerung und Rohstoffe, die dritte für Wohnung, Möbel und Werkzeuge. In<br />

jeder dieser drei Abteilungen liefere der Unternehmer "das Kapital samt Rohstoffen". <strong>Die</strong> Entlohnung<br />

der Arbeiter erfolgt in jedem dieser drei Geschäfte so, daß die Arbeiter die Hälfte <strong>des</strong> jährlichen Produkts<br />

als Lohn erhalten und der Unternehmer die andere Hälfte "als Zins seines <strong>Kapitals</strong> und als<br />

Unternehmergewinn". <strong>Die</strong> von jedem Geschäft gelieferte Menge Produkt reiche gerade hin, um alle<br />

Bedürfnisse sämtlicher 903 <strong>Ein</strong>wohner zu decken. So enthält dieser Ort "alle Bedingungen eines<br />

allgemeinen Wohlseins" für seine sämtlichen <strong>Ein</strong>wohner, alles macht sich demgemäß frisch und mutig<br />

an die Arbeit. Aber nach wenigen Tagen wandelt sich Freude und Wohlgefallen in allgemeinen Jammer<br />

und in Zähneklappern, es passiert nämlich auf der v. Kirchmannschen Insel der Glückseligen etwas, was<br />

man dort sowenig erwarten mochte wie den <strong>Ein</strong>sturz <strong>des</strong> Himmels: Es bricht eine regelrechte moderne<br />

Industrie- und Handelskrise aus! <strong>Die</strong> 900 Arbeitet haben nur die allernotdürftigste Kleidung, Nahrung<br />

und Wohnung, die drei Unternehmer aber haben ihre Magazine voll Kleider und Rohstoffe, sie<br />

haben Wohnungen leer stehen; sie klagen über Mangel an Absatz, während die Arbeiter umgekehrt über<br />

unzureichende Befriedigung ihrer Bedürfnisse klagen. Und woher illae lacrimae? Etwa weil, wie Say und<br />

Ricardo annahmen, von den einen Produkten zuviel und von den anderen zuwenig da sei? Mitnichten!<br />

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antwortet v. Kirchmann; in dem "Ort" gibt es von allen Dingen eine wohlproportionierte Menge, die alle<br />

just ausreichen würden, um sämtliche Bedürfnisse der Gesellschaft zu befriedigen. Woher also "das<br />

Hemmnis", die Krise? Das Hemmnis liegt einzig und allein in der Verteilung. Doch das will in eigenen<br />

Worten v. Kirchmanns genossen werden: "Das Hemmnis, daß dieses (glatter Austausch)<br />

<strong>des</strong>senungeachtet nicht geschieht, liegt lediglich und allein in der Verteilung dieser Produkte; die<br />

Verteilung erfolgt nicht gleich unter alle, sondern die Unternehmer behalten als Zins und Gewinn die<br />

Hälfte für sich und geben nur die Hälfte an ihre Arbeiter. Es ist klar, daß der Kleiderarbeiter sich <strong>des</strong>halb<br />

mit seinem halben Produkt auch nur die Hälfte der Produkte an Nahrung und Wohnung und so fort<br />

eintauschen kann, und es ist klar, daß die Unternehmer ihre andere Hälfte nicht loswerden können, weil<br />

kein Arbeiter noch ein Produkt hat, um sie von ihnen eintauschen zu können. <strong>Die</strong> Unternehmer wissen<br />

nicht wohin mit ihrem Vorrat, die Arbeiter wissen nicht wohin mit ihrem Hunger und ihrer Blöße." Und<br />

die Leser - fügen wir hinzu - wissen nicht wohin mit den Konstruktionen <strong>des</strong> Herrn v. Kirchmann. Das<br />

Kindische seines Beispiels stürzt uns in der Tat aus einem Rätsel ins andere.<br />

Zunächst ist ganz unerfindlich, auf welcher Grundlage und zu welchem Zweck die Dreiteilung der<br />

Produktion fingiert ist. Wenn in den analogen Beispielen Ricardos und MacCullochs gewöhnlich die<br />

Pächter den Fabrikanten entgegengestellt werden, so ist das u.E. nur die antiquierte Vorstellung der<br />

Physiokraten von der gesellschaftlichen Reproduktion, die von Ricardo übernommen war, trotzdem sie<br />

mit seiner Werttheorie, die der physiokratischen entgegengesetzt war, jeden Sinn verloren hatte, und<br />

trotzdem schon Smith bedeutende Anläufe zur Berücksichtigung wirklicher sachlicher Grundlagen <strong>des</strong><br />

gesellschaftlichen Reproduktionsprozesses gemacht hatte. Immerhin haben wir gesehen, daß sich jene<br />

physiokratische Unterscheidung der Landwirtschaft und Industrie als Grundlagen der Reproduktion in<br />

der theoretischen Nationalökonomie traditionell erhalten hatte, bis Marx seine epochemachende<br />

Unterscheidung der beiden gesellschaftlichen Abteilungen: Produktion von Produktionsmitteln und<br />

Produktion von Konsummitteln, eingeführt hat. Hingegen haben die drei Abteilungen v.<br />

Kirchmanns überhaupt keinen begreiflichen Sinn. Da hier Werkzeuge mit Möbeln, Rohstoffe mit<br />

Nahrungsmitteln zusammengeworfen sind, die Kleider eine Abteilung für sich bilden, so sind offenbar<br />

gar keine sachlichen Standpunkte der Reproduktion, sondern reine Willkür bei dieser <strong>Ein</strong>teilung<br />

maßgebend gewesen. Es könnte an sich ebensogut oder schlecht eine Abteilung für Lebensmittel, Kleider<br />

und Baulichkeiten, eine andere für Apothekerwaren und eine dritte für Zahnbürsten fingiert werden. Es<br />

kam v. Kirchmann offenbar nur darauf an, die gesellschaftliche Arbeitsteilung anzudeuten und für den<br />

Austausch einige möglichst "gleich große" Produktenmengen vorauszusetzen. Allein der Austausch<br />

selbst, um den es sich bei der ganzen Beweisführung dreht, spielt im v. Kirchmannschen Beispiel gar<br />

keine Rolle, da nicht Wert, sondern Produktenmenge, Masse der Gebrauchswerte als solcher zur<br />

Verteilung gelangt. Andererseits findet in dem interessanten "Ort" der v. Kirchmannschen Phantasie erst<br />

Verteilung der Produkte statt, alsdann soll darauf, nach geschehener Verteilung, der allgemeine<br />

Austausch stattfinden, während es auf der platten Erde der kapitalistischen Produktion bekanntlich der<br />

Austausch ist, der umgekehrt die Verteilung <strong>des</strong> Produkts einleitet und vermittelt. Dabei passieren in der<br />

v. Kirchmannschen Verteilung die wunderlichsten Dinge: Zwar besteht der Preis der Produkte, also auch<br />

<strong>des</strong> gesellschaftlichen Gesamtprodukts, "wie man weiß", nur aus "Arbeitslohn und Kapitalzins", nur aus<br />

v + m, und das Gesamtprodukt gelangt auch demgemäß restlos zur individuellen Verteilung unter die<br />

Arbeiter und Unternehmer, allein v. Kirchmann hat dabei zu seinem Pech eine schwache Erinnerung<br />

bewahrt, daß zu jeglicher Produktion so etwas wie Werkzeuge und Rohstoffe gehören. Er schmuggelt<br />

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auch in seinem "Ort" unter den Nahrungsmitteln Rohstoffe und unter Möbeln Werkzeuge ein, es fragt<br />

sich aber alsdann, wem bei der allgemeinen Verteilung diese unverdaulichen Dinge zufallen: den<br />

Arbeitern als Lohn oder den Kapitalisten als Unternehmergewinn? Beide Teile würden sich wohl<br />

bedanken. Und unter solchen Voraussetzungen soll dann noch der Clou der Vorstellung stattfinden: der<br />

Austausch zwischen den Arbeitern und den Unternehmern. Der grundlegende Austauschakt der<br />

kapitalistischen Produktion: der zwischen Lohnarbeitern und Kapitalisten, wird von v. Kirchmann aus<br />

dem Austausch zwischen lebendiger Arbeit und Kapital in einen Produktenaustausch verwandelt! Nicht<br />

der erste Akt: der Austausch zwischen Arbeitskraft und variablem Kapital, sondern der zweite: die<br />

Realisierung <strong>des</strong> aus variablem Kapital erhaltenen Lohns, wird in den Mittelpunkt <strong>des</strong> Getriebes gestellt<br />

und umgekehrt der ganze Warenaustausch der kapitalistischen Gesellschaft auf diese Realisierung<br />

<strong>des</strong> Arbeitslohns reduziert! Doch dann kommt das schönste: <strong>Die</strong>ser in den Brennpunkt <strong>des</strong><br />

Wirtschaftslebens gerückte Austausch zwischen den Arbeitern und den Unternehmern ist bei näherem<br />

Zusehen gar keiner, er findet überhaupt nicht statt. Denn nachdem alle Arbeiter ihren Lohn in Naturalien,<br />

und zwar in der Hälfte ihres eigenen Produkts erhalten haben, kann jetzt nur noch der Austausch unter<br />

den Arbeitern selbst stattfinden, indem die einen ihren in lauter Kleidungsstücken, die anderen den in<br />

lauter Nahrungsmitteln und die dritten den in lauter Möbeln bestehenden Lohn nunmehr so untereinander<br />

austauschen, daß jeder Arbeiter seinen Lohn zu je einem Drittel in Nahrung, Kleidung und Möbeln<br />

realisiert. Mit Unternehmern hat dieser Austausch nichts mehr zu tun. <strong>Die</strong>se sitzen ihrerseits mit ihrem<br />

Mehrwert, der in der Hälfte aller von der Gesellschaft hergestellten Kleider, Nahrungsmittel und Möbel<br />

besteht, da und wissen allerdings, drei Mann, die sie sind, nicht, "wohin" mit dem Krempel. Doch gegen<br />

dieses von v. Kirchmann angerichtete Malheur würde auch keine noch so generöse Verteilung <strong>des</strong><br />

Produkts etwas helfen. Im Gegenteil, je großer die Portion <strong>des</strong> gesellschaftlichen Produkts, die den<br />

Arbeitern zugewiesen wäre, um so weniger hätten sie mit den Unternehmern bei ihrem Austausch zu tun,<br />

es würde nur der gegenseitige Austausch der Arbeiter untereinander an Umfang zunehmen. Allerdings<br />

würde auch der die Unternehmer bedrückende Haufe von Mehrprodukt entsprechend<br />

zusammenschmelzen, aber nicht etwa weil dadurch der Austausch dieses Mehrprodukts erleichtert,<br />

sondern nur weil der Mehrwert selbst abnehmen würde. Von einem Austausch <strong>des</strong> Mehrprodukts<br />

zwischen Arbeitern und Unternehmern könnte nach wie vor keine Rede sein. Man muß gestehen, daß die<br />

hier auf verhältnismäßig kleinem Raum zusammengetragene Anzahl von Kindereien und ökonomischen<br />

Absurditäten sogar jenes Maß übersteigt, das einem preußischen Staatsanwalt zugute gehalten werden<br />

darf - v. Kirchmann war bekanntlich Staatsanwalt, und zwar zu seinen Ehren ein disziplinarisch zweimal<br />

gemaßregelter Staatsanwalt. Trotzdem geht v. Kirchmann nach seinen wenig versprechenden<br />

Präliminarien direkt auf die Sache los. Er sieht ein, daß die Unverwendbarkeit <strong>des</strong> Mehrwerts hier durch<br />

seine eigene Prämisse gegeben ist: durch die konkrete Gebrauchsgestalt <strong>des</strong> Mehrprodukts. Er läßt nun<br />

die Unternehmer mit der halben als Mehrwert angeeigneten gesellschaftlichen Arbeitsmenge nicht<br />

"ordinäre Waren" für die Arbeiter, sondern Luxuswaren herstellen. Da es "Wesen der Luxusware ist, daß<br />

sie dem Konsumenten es möglich macht, mehr an Kapital und Arbeitskraft zu verbrauchen als bei den<br />

ordinären Waren mög- lich ist", so bringen es die drei Unternehmer ganz allein fertig, die ganze<br />

Hälfte <strong>des</strong> in der Gesellschaft geleisteten Arbeitsquantums in Spitzen, eleganten Kutschen und<br />

dergleichen zu verzehren. Nun bleibt nichts Unveräußerliches übrig, die Krise ist glücklich behoben, die<br />

Überproduktion ein für allemal unmöglich gemacht, die Kapitalisten wie die Arbeiter sind in sicheren<br />

Verhältnissen, und das Wundermittel v. Kirchmanns, das alle diese Wohltaten herbeigeführt und das<br />

Gleichgewicht zwischen Produktion und Konsumtion wieder hergestellt hat, heißt: Luxus! Mit anderen<br />

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Worten, der Rat, den der gute Mann den Kapitalisten gibt, die nicht wissen, wohin mit ihrem<br />

unrealisierbaren Mehrwert, ist, sie sollen ihn selbst aufessen. In der kapitalistischen Gesellschaft ist nun<br />

freilich Luxus auch eine längst bekannte Erfindung, und die Krisen wüten trotzdem. - Woher kommt<br />

denn das? "<strong>Die</strong> Antwort kann nur die sein", belehrt uns v. Kirchmann, "daß diese Stockung <strong>des</strong> Absatzes<br />

in der wirklichen Welt lediglich daher kommt, weil noch zu wenig Luxus vorhanden ist oder, mit<br />

anderen Worten, daß von den Kapitalisten, d.h. von denen, welche die Mittel zur Konsumtion haben,<br />

noch zu wenig konsumiert wird." <strong>Die</strong>se unangebrachte Enthaltsamkeit der Kapitalisten kommt aber von<br />

einer durch die Nationalökonomie fälschlich geförderten Untugend: vom Hang zum Sparen zu Zwecken<br />

der "produktiven Konsumtion". Anders gesagt: <strong>Die</strong> Krisen kommen von der <strong>Akkumulation</strong> - das ist die<br />

Hauptthese v. Kirchmanns. Er beweist sie wieder an einem Beispiel von rührender <strong>Ein</strong>falt. Man setze den<br />

Fall, sagt er, "den von der Nationalökonomie als den besseren gepriesenen Fall", wo die Unternehmer<br />

sagen: Wir wollen unsere Revenuen nicht in Pracht und Luxus bis auf den letzten Heller verzehren,<br />

sondern wir wollen sie wieder produktiv anlegen. Was heißt das? Nichts anderes als neue<br />

Produktionsgeschäfte aller Art begründen, mittelst deren wieder Produkte gewonnen werden, durch<br />

deren Verkauf die Zinsen (v. K. will sagen: Profit) für jenes Kapital erlangt werden können, das aus den<br />

nicht verzehrten Revenuen der drei Unternehmer abgespart und angelegt worden ist. <strong>Die</strong> drei<br />

Unternehmer entschließen sich demgemäß, nur das Produkt von 100 Arbeitern zu verzehren, d.h. ihren<br />

Luxus erheblich einzuschränken, und die Arbeitskraft der übrigen 350 Arbeiter mit dem von diesen<br />

benutzten Kapital zur Anlegung neuer Produktionsgeschäfte zu verwenden. Hier entsteht die Frage, in<br />

welchen Produktionsgeschäften sollen diese Fonds verwendet werden? "<strong>Die</strong> drei Unternehmer haben nur<br />

die Wahl, entweder wieder Geschäfte für ordinäre Waren einzurichten oder Geschäfte für Luxuswaren",<br />

da nach der v. Kirchmannschen Annahme das konstante Kapital nicht reproduziert wird und das gesamte<br />

gesellschaft- liche Produkt in lauter Konsumtionsmitteln besteht. Damit kommen die<br />

Unternehmer aber in das uns schon bekannte Dilemma: Produzieren sie "ordinäre Waren", so entsteht<br />

eine Krise, da die Arbeiter keine Mittel zum Ankauf dieser zuschüssigen Lebensmittel haben, sind sie<br />

doch bereits mit der Hälfte <strong>des</strong> Produktenwerts abgefunden; produzieren sie aber Luxuswaren, so müssen<br />

sie sie auch selbst verzehren, Tertium non datur. Auch der auswärtige Handel ändert nichts an dem<br />

Dilemma, denn die Wirkung <strong>des</strong> Handels besteht nur darin, "die Mannigfaltigkeit der Waren <strong>des</strong><br />

inländischen Markts zu vergrößern" oder die Produktivität zu steigern. "Entweder also sind diese<br />

ausländischen Waren - ordinäre Waren, dann mag sie der Kapitalist nicht kaufen, und der Arbeiter kann<br />

sie nicht kaufen, weil er die Mittel nicht hat, oder es sind Luxuswaren, dann kann sie natürlich der<br />

Arbeiter noch weniger kaufen, und der Kapitalist mag wegen seines Bestrebens zu sparen sie ebenfalls<br />

nicht." So primitiv die Beweisführung, so kommt dabei doch der Grundgedanke v. Kirchmanns und der<br />

Alp der theoretischen Nationalökonomie ganz hübsch und klar zum Ausdruck: In einer lediglich aus<br />

Arbeitern und Kapitalisten bestehenden Gesellschaft erscheint die <strong>Akkumulation</strong> als eine Unmöglichkeit.<br />

v. Kirchmann zieht daraus die Konsequenz, indem er unumwunden die <strong>Akkumulation</strong>, das "Sparen", die<br />

"produktive Konsumtion" <strong>des</strong> Mehrwerts bekämpft, gegen die Befürwortung dieser Irrtümer durch die<br />

klassische Nationalökonomie heftig polemisiert und den mit der Produktivität der Arbeit steigenden<br />

Luxus als das Mittel gegen die Krisen predigt. Man sieht, wenn v. Kirchmann in seinen theoretischen<br />

Prämissen eine Karikatur Ricardo-Says war, so ist er in seinen Schlußfolgerungen eine Karikatur<br />

Sismondis. Es war jedoch notwendig, die Fragestellung v. Kirchmanns ganz scharf ins Auge zu fassen,<br />

um die Antikritik Rotibertus' und den Ausgang der Kontroverse würdigen zu können.<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 15. Kapitel<br />

(1) <strong>Die</strong> Kirchmannsche Beweisführung ist bei Rodbertus sehr ausführlich wörtlich zitiert. <strong>Ein</strong><br />

vollständiges Exemplar der "Demokratischen Blätter" mit dem Originalaufsatz ist nach der Versicherung<br />

der Herausgeber Rodbertus' nicht zu erlangen.


<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 16. Kapitel<br />

15. Kapitel | Inhalt | 17. Kapitel<br />

<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - Gesammelte Werke. Herausgegeben vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Band<br />

5. <strong>Berlin</strong>/DDR. 1975. "<strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>", S. 196-209.<br />

1. Korrektur.<br />

Erstellt am 20.10.1998<br />

Sechzehntes Kapitel<br />

Rodbertus' Kritik der klassischen Schule<br />

Rodbertus gräbt tiefer als v. Kirchmann. Er sucht die Wurzeln <strong>des</strong> Übels in den Grundlagen selbst<br />

der gesellschaftlichen Organisation und erklärt der herrschenden Freihandelsschule erbitterten Krieg.<br />

Freilich nicht gegen das System <strong>des</strong> ungehinderten Warenverkehrs oder der Gewerbefreiheit, die er voll<br />

und ganz akzeptiert, zieht er ins Feld, sondern gegen das Manchestertum, das laissez faire in den inneren<br />

sozialen Verhältnissen der Wirtschaft. Zu seiner Zeit war auf die Sturm-und-Drang-Periode der<br />

klassischen Ökonomie bereits jenes skrupellose Apologetentum zur Herrschaft gelangt, das in dem<br />

fabelhaften Vulgarus und Abgott aller Philister, dem Herrn Frédéric Bastiat mit seinen "Harmonien", den<br />

gelungensten Ausdruck fand, und bald sollten auch verschiedene Schulzes als der kümmerlichspießerliche<br />

deutsche Abklatsch <strong>des</strong> französischen Harmoniepropheten grassieren. Gegen diese<br />

skrupellosen "Freihandelshausierburschen" richtete sich die Kritik Rodbertus'. "Fünf Sechsteile der<br />

Nation", ruft er in seinem "Ersten socialen Brief an von Kirchmann" (1850), "werden bisher durch die<br />

Geringfügigkeit ihres <strong>Ein</strong>kommens nicht bloß von den meisten Wohltaten der Zivilisation<br />

ausgeschlossen, sondern unterliegen dann und wann den furchtbarsten Ausbrüchen wirklichen Elends und<br />

sind immerdar <strong>des</strong>sen drohender Gefahr ausgesetzt. Dennoch sind sie die Schöpfer alles<br />

gesellschaftlichen Reichtums. Ihre Arbeit beginnt mit aufgehender, endigt mit niedergehender Sonne,<br />

erstreckt sich bis in die Nacht hinein, aber keine Anstrengung vermag dies Los zu ändern. Ohne ihr<br />

<strong>Ein</strong>kommen erhöhen zu können, verlieren sie nur noch die letzte Zeit, die ihnen für Bildung ihres Geistes<br />

hätte übrigbleiben sollen. Wir wollen annehmen, daß der Fortschritt der Zivilisation soviel Leiden zu<br />

seinem Fußgestell bisher bedurfte. Da leuchtet plötzlich die Möglichkeit einer Änderung dieser traurigen<br />

Notwendigkeit aus einer Reihe der wunderbarsten Erfindungen - Erfindungen, welche die menschliche<br />

Arbeitskraft mehr als verhundertfachen. Der Nationalreichtum - das Nationalvermögen im Verhältnis zur<br />

Bevölkerung - wächst infolge<strong>des</strong>sen in steigender Progression. Ich frage: Kann es eine natürlichere<br />

Folgerung, eine gerechtere Forderung geben, als daß auch die Schöpfer dieses alten und neuen Reichtums<br />

von dieser Zunahme irgendwie Vorteil haben? - als daß sich entweder ihr <strong>Ein</strong>kommen mit erhöht oder die<br />

Zeit ihrer Arbeit ermäßigt oder immer mehrere Mitglieder von ihnen in die Reihen jener Glücklichen<br />

übergehen, die vorzugsweise die Früchte der Arbeit zu brechen berechtigt sind? Aber die Staatswirtschaft<br />

oder besser die Volkswirtschaft hat nur das Gegenteil von dem allen zustande zu bringen vermocht.<br />

Während der Nationalreichtum wächst, wächst auch die Verarmung jener Klassen, müssen Spezialgesetze<br />

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sogar der Verlängerung der Arbeitszeit in den Weg treten und nimmt endlich die Zahl der arbeitenden<br />

Klassen in größerem Verhältnis zu als die der anderen. Aber nicht genug! <strong>Die</strong> hundertfach erhöhte Ar-<br />

beitskraft, die schon fünf Sechsteilen der Nation keine Erleichterung zu gewähren vermochte, wird<br />

periodisch auch noch der Schrecken <strong>des</strong> letzten Sechsteils der Nation und damit der ganzen Gesellschaft."<br />

"Welche Widersprüche also auf dem wirtschaftlichen Gebiete insbesondere! Und welche Widersprüche<br />

auf dem gesellschaftlichen Gebiete überhaupt! Der gesellschaftliche Reichtum nimmt zu, und die<br />

Begleiterin dieser Zunahme ist die Zunahme der Armut. - <strong>Die</strong> Schöpfungskraft der Produktivmittel wird<br />

gesteigert, und deren <strong>Ein</strong>stellung ist davon die Folge. - Der gesellschaftliche Zustand verlangt die<br />

Erhebung der materiellen Lage der arbeitenden Klassen zu gleicherer Höhe mit ihrer politischen, und der<br />

wirtschaftliche Zustand antwortet mit deren tieferer Erniedrigung. - <strong>Die</strong> Gesellschaft bedarf <strong>des</strong><br />

ungehinderten Aufschwungs <strong>des</strong> Reichtums, und die heutigen Leiter der Produktion müssen denselben<br />

hemmen, um nicht der Armut Vorschub zu leisten. - Nur eines ist in Harmonie! Der Verkehrtheit der<br />

Zustände entspricht die Verkehrtheit <strong>des</strong> herrschenden Teils der Gesellschaft, die Verkehrtheit, den Grund<br />

dieser Übel da zu suchen, wo er nicht liegt. Jener Egoismus, der sich nur zu oft in das Gewand der Moral<br />

hüllt, klagt als die Ursache <strong>des</strong> Pauperismus die Untugenden der Arbeiter an. Ihrer angeblichen<br />

Ungenügsamkeit und Unwirtschaftlichkeit bürdet er auf, was übermächtige Tatsachen an ihnen<br />

verbrechen, und wo selbst er seine Augen nicht vor ihrer Schuldlosigkeit verschließen kann, erhebt er die<br />

'Notwendigkeit der Armut' zur Theorie. Ohne Unterlaß ruft er den Arbeitern nur ora er labora zu, macht<br />

ihnen Enthaltsamkeit und Sparsamkeit zur Pflicht und fügt höchstens die Rechtsverletzung von<br />

Zwangssparanstalten der Not der Arbeiter hinzu. Er sieht nicht, daß eine blinde Verkehrsgewalt das Gebet<br />

zur Arbeit in einen Fluch über erzwungene Arbeitslosigkeit verwandelt, daß ... Sparsamkeit eine<br />

Unmöglichkeit oder eine Grausamkeit ist und daß endlich die Moral stets wirkungslos in dem Munde<br />

derer blieb, von denen der Dichter weiß, 'sie trinken heimlich Wein und predigen öffentlich Wasser'."(1)<br />

Konnten solche tapferen Worte an sich - dreißig Jahre nach Sismondi und Owen, zwanzig Jahre nach den<br />

Anklagen der englischen Sozialisten aus der Ricardoschule, endlich nach der Chartistenbewegung, nach<br />

der Junischlacht und, last not least, nach dem Erscheinen <strong>des</strong> Kommunistischen Manifests - keinen<br />

Anspruch auf bahnbrechende Bedeutung erheben, so kam es letzt um so mehr auf die wissenschaftliche<br />

Begründung dieser Anklagen an. Rodbertus gibt hier ein ganzes System, das auf die folgenden knappen<br />

Sätze zurückgeführt werden kann.<br />

<strong>Die</strong> geschichtlich erreichte Höhe der Produktivität der Arbeit zusammen mit den "Institutionen <strong>des</strong><br />

positiven Rechts", d.h. dem Privateigentum, haben dank den Gesetzen eines "sich selbst überlassenen<br />

Verkehrs" eine ganze Reihe verkehrter und unmoralischer Erscheinungen hervorgerufen. So<br />

1. den Tauschwert, an Stelle <strong>des</strong> "normalen", "konstituierten Werts" und dadurch das heutige Metallgeld<br />

an Stelle eines richtigen "seiner Idee entsprechenden" "Papierstreifen"gel<strong>des</strong> oder "Arbeitsgel<strong>des</strong>" "<strong>Die</strong><br />

erste (Wahrheit) ist, daß alle wirtschaftlichen Güter Arbeitsprodukt sind oder, wie man dieselbe auch<br />

wohl noch sonst auszudrücken pflegte, daß die Arbeit allein produktiv ist. <strong>Die</strong>ser Satz bedeutet aber<br />

weder schon, daß der Wert <strong>des</strong> Produkts immer der Kostenarbeit äqual ist, mit anderen Worten, daß die<br />

Arbeit heute schon einen Maßstab <strong>des</strong> Wertes abgeben könne." Wahrheit ist vielmehr, "daß dies noch<br />

keine staatswirtschaftliche Tatsache, sondern nur erst staatswirtschaftliche Idee ist".(2)<br />

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"Sollte der Wert nach der Arbeit, die das Produkt gekostet hat, konstituiert werden können, so läßt sich<br />

noch ein Geld vorstellen, das gleichsam aus den losgerissenen Blättern jenes allgemeinen Kontobuches,<br />

aus einer auf dem wohlfeilsten Stoff, auf Lumpen, geschriebenen Quittung bestehen würde, die<br />

jedermann über den von ihm produzierten Wert erhielte und die derselbe wieder als Anweisung auf<br />

ebensoviel Wert an dem zur Verteilung kommenden Nationalproduktteil realisierte ... Kann in<strong>des</strong>sen der<br />

Wert aus irgendwelchen Gründen nicht oder noch nicht konstituiert werden, so muß das Geld denjenigen<br />

Wert, den es liquidieren soll, selbst schon als Gleichwert, als Pfand oder Bürgschaft mit sich<br />

herumschleppen, d.h. selbst schon aus einem wertvollen Gut, aus Gold oder Silber, bestehen."(3) Sobald<br />

jedoch die kapitalistische Warenproduktion da ist, wird alles auf den Kopf gestellt: "<strong>Die</strong> Konstituierung<br />

<strong>des</strong> Wertes muß aufhören, weil er nur noch Tauschwert sein kann."(4) Und "weil nicht der Wert<br />

konstituiert werden konnte, kann auch das Geld nicht bloß Geld sein, nicht vollständig seiner Idee<br />

entsprechen"(5). "Bei einer gerechten Vergeltung im Tausche (müßte) der Tauschwert der Produkte äqual<br />

sein der Arbeitsquantität, die sie gekostet haben, müßten in den Produkten immer gleiche<br />

Arbeitsquantitäten ausgetauscht werden." Aber selbst vorausgesetzt, daß jedermann gerade die<br />

Gebrauchswerte produziert, die ein anderer braucht, "müßte, da es sich hier um menschliche Erkenntnis<br />

und menschlichen Willen handelte, doch immer noch eine richtige Berechnung, Ausgleichung und<br />

Festsetzung der in den auszutauschenden Produkten enthaltenen Arbeitsquantitäten vorausgehen und ein<br />

Gesetz dieserhalb bestehen, dem sich die Tauschenden fügen."(6)<br />

Rodbertus betont bekanntlich mit Nachdruck seine Priorität vor Proudhon in der Entdeckung <strong>des</strong><br />

"konstituierten Werts", was ihm gern zugestanden werden mag. Wie sehr diese "Idee" nur ein Gespenst<br />

war, das schon eine geraume Zeit vor Rodbertus in England theoretisch fruktifiziert und praktisch<br />

begraben worden war, und wie sehr diese "Idee" eine utopische Verballhornung der Ricardoschen<br />

Wertlehre war, haben Marx in seinem "Elend der Philosophie" wie Engels in seiner Vorrede dazu<br />

erschöpfend dargetan. Es erübrigt sich <strong>des</strong>halb, auf diese "Zukunftsmusik auf der Kindertrompete" hier<br />

weiter einzugehen.<br />

2. Aus dem "Tauschverkehr" ergab sich die "Degradation" der Arbeit zur Ware und der Arbeitslohn nach<br />

dem " Kostenwert" statt einer festen Quote <strong>des</strong> Anteils am Produkt. Rodbertus leitet sein Lohngesetz mit<br />

einem kühnen historischen Sprung direkt aus der Sklaverei her, wobei er die spezifischen Charaktere, die<br />

die kapitalistische Warenproduktion der Ausbeutung aufdrückt, nur als täuschende Lüge ansieht und vom<br />

moralischen Standpunkt verdonnert, "Solange die Produzenten selbst noch Eigentum der<br />

Nichtproduzenten waren, solange Sklaverei bestand, war es ausschließlich der Privatvorteil der 'Herren',<br />

der einseitig die Größe jenes Teils (<strong>des</strong> Anteils der Arbeitenden - R. L.) bestimmte. Seit die Produzenten<br />

die volle persönliche Freiheit, aber noch nichts weiter erreicht haben, vereinbaren sich beide Teile über<br />

den Lohn im voraus. Der Lohn ist, wie es heute heißt, Gegenstand eines 'freien Vertrages', d.i. der<br />

Konkurrenz. Dadurch wird natürlich die Arbeit denselben Tauschwertgesetzen unterworfen, denen auch<br />

die Produkte unterliegen; sie erhält selbst Tauschwert; die Größe ihres Lohns hängt von den Wirkungen<br />

<strong>des</strong> Angebots und der Nachfrage ab." Nachdem er so die Dinge auf den Kopf gestellt und den Tauschwert<br />

der Arbeitskraft aus der Konkurrenz abgeleitet hat, leitet er gleich darauf natürlich ihren Wert aus ihrem<br />

Tauschwert ab:<br />

"<strong>Die</strong> Arbeit erhält unter der Herrschaft der Tauschwertgesetze gleich den Produkten eine Art 'Kostenwert'<br />

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, der auf ihren Tauschwert, den Lohnbetrag, eine Anziehungskraft äußert." <strong>Die</strong>s ist derjenige Lohnbetrag,<br />

der nötig ist, um sie "instand zu erhalten", d.h. um ihr die Kraft zur eigenen Fortsetzung, wenn auch nur in<br />

ihrer Nachkommenschaft, zu gewähren, der sogenannte "notwendige Unterhalt". <strong>Die</strong>s ist aber für<br />

Rodbertus wieder- um nicht Feststellung objektiver ökonomischer Gesetze, sondern bloß<br />

Gegenstand sittlicher Entrüstung. <strong>Die</strong> Behauptung der klassischen Schule, "die Arbeit habe nicht mehr<br />

Wert, als sie Lohn bekomme", nennt Rodbertus "zynisch" und nimmt sich vor, "die Reihe von Irrtümern"<br />

aufzudecken, die zu diesem "krassen und unmoralischen Schlusse" geführt haben.(7) "<strong>Ein</strong>e ebenso<br />

entehrende Vorstellung als die war, welche den Arbeitslohn nach dem notwendigen Unterhalt oder wie<br />

eine Maschinenreparatur schätzen ließ, hat auch bei der zur Tauschware gewordenen Arbeit, diesem<br />

Prinzip aller Güter, von einem 'natürlichen Preise' oder von 'Kosten' wie bei dem Produkt derselben<br />

gesprochen und diesen natürlichen Preis, diese Kosten der Arbeit in den Güterbetrag gesetzt, der nötig sei,<br />

um die Arbeit immer wieder auf den Markt zu bringen." <strong>Die</strong>ser Warencharakter und die entsprechende<br />

Wertbestimmung der Arbeitskraft sind in<strong>des</strong> nichts als boshafte Verirrung der Freihandelsschule, und statt<br />

wie die englischen Ricardoschüler auf den Widerspruch innerhalb der kapitalistischen Warenproduktion:<br />

zwischen der Wertbestimmung der Arbeit und der Wertbestimmung durch die Arbeit, hinzuweisen, zeiht<br />

Rodbertus als guter Preuße die kapitalistische Warenproduktion <strong>des</strong> Widerspruchs - mit dem geltenden<br />

Staatsrecht. "Welch ein törichter, unbeschreiblicher Widerspruch in der Auffassung derjenigen<br />

Nationalökonomen" ruft er, "welche die Arbeiter in ihrer rechtlichen Stellung über die Geschicke der<br />

Gesellschaft mitentscheiden und zugleich sie nationalökonomisch nur immer als Ware behandeln lassen<br />

wollen!"(8)<br />

Es fragt sich nur noch, weshalb sich die Arbeiter eine so törichte und schreiende Ungerechtigkeit gefallen<br />

lassen - ein <strong>Ein</strong>wurf, der zum Beispiel von Hermann gegen die Ricardosche Werttheorie erhoben wurde.<br />

Darauf antwortet Rodbertus: "Was hätten die Arbeiter tun sollen, wenn sie sich nach ihrer Freilassung<br />

jene Vorschrift nicht hätten gefallen lassen wollen? Stellen Sie sich deren Lage vor! <strong>Die</strong> Arbeiter sind<br />

nackt oder in Lumpen freigelassen worden, mit nichts als ihrer Arbeitskraft. Auch war mit der Aufhebung<br />

der Sklaverei oder der Leibeigenschaft die moralische oder rechtliche Verpflichtung <strong>des</strong> Herrn, sie zu<br />

füttern oder für ihre Notdurft zu sorgen, fortgefallen. Aber ihre Bedürfnisse waren geblieben; sie mußten<br />

leben. Wie sollten sie mit ihrer Arbeitskraft für dies Leben sorgen? Von dem in der Gesellschaft<br />

vorhandenen Kapital nehmen und damit ihren Unterhalt produzieren? Aber das Kapital in der<br />

Gesellschaft gehörte schon anderen als ihnen, und die Vollstrecker <strong>des</strong> 'Rechts' hätten es nicht<br />

gelitten." Was blieb also den Arbeitern übrig? "Nur eine Alternative: entweder das Recht der Gesellschaft<br />

umstürzen oder unter den ungefähren früheren wirtschaftlichen Bedingungen, wenn auch in veränderter<br />

rechtlicher Stellung, zu ihren früheren Herren, den Grund- und Kapitalbesitzern, zurückzukehren und als<br />

Lohn zu empfangen, was sie früher als Futter bekommen hatten!" Zum Glück für die Menschheit und den<br />

preußischen Rechtsstaat waren die Arbeiter "so weise", die Zivilisation "nicht aus ihrer Bahn zu werfen"<br />

und sich lieber heroisch den niederträchtigen Zumutungen ihrer "früheren Herren" zu fügen. So entstand<br />

das kapitalistische Lohnsystem und das Lohngesetz als "ungefähre Sklaverei", als ein Produkt <strong>des</strong><br />

Gewaltmißbrauchs der Kapitalisten und der Zwangslage sowie der sanften Fügsamkeit der Proletarier,<br />

wenn man den bahnbrechenden theoretischen Erklärungen <strong>des</strong>selben Rodbertus Glauben schenken soll,<br />

der von Marx bekanntlich theoretisch "geplündert" worden ist. In bezug auf diese Lohntheorie ist<br />

jedenfalls die "Priorität" Rodbertus' unbestritten, denn die englischen Sozialisten und andere soziale<br />

Kritiker hatten das Lohnsystem viel weniger roh und primitiv analysiert. Das Originelle dabei ist, daß<br />

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Rodbertus den ganzen Aufwand an sittlicher Entrüstung über die Entstehung und die ökonomischen<br />

Gesetze <strong>des</strong> Lohnsystems nicht etwa dazu verbraucht, um als die Konsequenz daraus die Abschaffung <strong>des</strong><br />

schauderhaften Unrechts, <strong>des</strong> "törichten und unbeschreiblichen Widerspruchs" zu fordern. Bewahre! Er<br />

beruhigt wiederholt die Mitmenschheit, daß sein Gebrüll wider die Ausbeutung nicht gar zu tragisch<br />

gemeint sei, er sei kein Löwe, sondern bloß Schnock der Schreiner.(9) <strong>Die</strong> ethische Theorie <strong>des</strong><br />

Lohngesetzes ist nur nötig, um daraus den weiteren Schluß zu ziehen:<br />

3. Aus der Bestimmung <strong>des</strong> Lohnes durch die "Tauschwertgesetze" ergibt sich nämlich, daß mit dem<br />

Fortschritt der Produktivität der Arbeit der Anteil der Arbeiter am Produkt immer kleiner wird. Hier sind<br />

wir an dem archimedischen Punkt <strong>des</strong> Rodbertusschen "Systems" angelangt. <strong>Die</strong> "fallende Lohnquote" ist<br />

die wichtigste "eigene" Idee, die er seit seiner ersten sozialen Schrift (wahrscheinlich 1839) bis zu seinem<br />

Tode wiederholt und die er als sein Eigentum "in Anspruch nimmt". Zwar war diese "Idee" eine einfache<br />

Schlußfolgerung aus Ricardos Werttheorie, zwar ist sie implicite in der Lohnfondstheorie enthalten, die<br />

seit den Klassikern bis zum Erscheinen <strong>des</strong> Marxschen "<strong>Kapitals</strong>" die bürgerliche Nationalökonomie<br />

beherrschte. Trotzdem glaubt Rodbertus mit dieser "Entdek- kung" eine Art Galilei in der<br />

Nationalökonomie geworden zu sein, und er zieht seine "fallende Lohnquote" zur Erklärung aller Übel<br />

und Widersprüche der kapitalistischen Wirtschaft heran. Aus der fallenden Lohnquote leitet er also vor<br />

allem den Pauperismus ab, der bei ihm neben Krisen "die soziale Frage" ausmacht. Und es wäre<br />

angezeigt, der geneigten Aufmerksamkeit der modernen Marxtöter die Tatsache zu empfehlen, daß es<br />

zwar nicht Marx, wohl aber der ihnen viel näher stehende Rodbertus gewesen ist, der eine regelrechte<br />

Verelendungstheorie, und zwar in der gröbsten Form, aufgestellt und sie im Unterschied von Marx nicht<br />

zur Begleiterscheinung, sondern zum Zentralpunkt der "sozialen Frage" gemacht hat. Siehe z.B. seine<br />

Beweisführung der absoluten Verelendung der Arbeiterklasse im "Ersten socialen Brief an von<br />

Kirchmann". Sodann muß die "fallende Lohnquote" auch zur Erklärung der anderen grundlegenden<br />

Erscheinung der "sozialen Frage" herhalten: der Krisen, Hier tritt Rodbertus an das Problem <strong>des</strong><br />

Gleichgewichts zwischen Konsumtion und Produktion heran und berührt den ganzen Komplex der damit<br />

verbundenen Streitfragen, die bereits zwischen Sismondi und der Ricardoschule ausgefochten wurden.<br />

<strong>Die</strong> Kenntnis der Krisen war bei Rodbertus natürlich auf ein viel reicheres Tatsachenmaterial gestützt als<br />

bei Sismondi. In seinem "Ersten socialen Brief" gibt er bereits eine eingehende Schilderung der vier<br />

Krisen: 1818; 1819, 1825, 1837-1839 und 1847. Dank der längeren Beobachtung konnte Rodbertus zum<br />

Teil einen tieferen <strong>Ein</strong>blick in das Wesen der Krisen gewinnen, als dies seinen Vorläufern möglich war.<br />

So formuliert er bereits 1850 die Periodizität der Krisen, und zwar ihre Wiederkehr mit immer kürzeren<br />

Intervallen, dafür aber in immer zunehmender Schärfe: "Von Mal zu Mal, im Verhältnis der Zunahme <strong>des</strong><br />

Reichtums hat sich die Furchtbarkeit dieser Krisen gesteigert, sind die Opfer, die sie verschlingen, größer<br />

geworden, <strong>Die</strong> Krisis von 1818/19, so sehr sie schon den Schrecken <strong>des</strong> Handels und die Bedenken der<br />

Wissenschaft erregte, war verhältnismäßig unbedeutend gegen die von 1825/26. <strong>Die</strong> letztere schlug dem<br />

Kapitalvermögen Englands solche Wunden, daß die berühmtesten Staatswirte die vollständige Ausheilung<br />

derselben bezweifelten, sie ward dennoch von der Krisis von 1836/37 übertroffen. <strong>Die</strong> Krisen von<br />

1839/40 und 1846/47 richteten noch wieder stärkere Verheerungen an als die vorausgehenden." "In<strong>des</strong>sen<br />

nach der bisherigen Erfahrung kehren die- selben in immer kürzeren Intervallen wieder. Von der<br />

ersten bis zur dritten Krisis verflossen 18 Jahre, von der zweiten bis zur vierten 14 Jahre, von der dritten<br />

bis zur fünften 12 Jahre. Schon mehren sich die Anzeichen eines nahe bevorstehenden neuen Unglücks,<br />

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obwohl unzweifelhaft das Jahr 1848 <strong>des</strong>sen Ausbruch aufgehalten hat."(10) Weiter macht Rodbertus die<br />

Beobachtung, daß der regelmäßige Vorläufer der Krisen ein außerordentlicher Aufschwung der<br />

Produktion, große technische Fortschritte der Industrie zu sein pflegen: "... jede einzelne derselben (der<br />

Krisen) ist auf eine hervorstechende Periode industrieller Blüte gefolgt."(11) Er schildert an der Hand der<br />

Geschichte der Krisen, daß "dieselben stets nur nach einer bedeutenden Steigerung der Produktivität<br />

eintreten"(12). Rodbertus bekämpft die vulgäre Ansicht, die Krisen nur zu Geld- und Kreditstörungen<br />

machen will, und kritisiert die ganze verfehlte Peelsche Banknotengesetzgebung, ausführlich begründet er<br />

seine Ansicht in dem Aufsatz "<strong>Die</strong> Handelskrisen und die Hypothekennoth" aus dem Jahre 1858, wo er<br />

u.a. sagt: "Man täuscht sich daher auch, wenn man die Handelskrisen nur als Geld-, Börsen- oder<br />

Kreditkrisen auffaßt. So erscheinen sie nur äußerlich bei ihrem ersten Auftreten."(13) Bemerkenswert ist<br />

auch der scharfe Blick Rodbertus' für die Bedeutung <strong>des</strong> auswärtigen Handels im Zusammenhang mit<br />

dem Problem der Krisen. Genau wie Sismondi konstatiert er die Notwendigkeit der Expansion für die<br />

kapitalistische Produktion, zugleich aber die Tatsache, daß damit nur die Dimensionen der periodischen<br />

Krisen wachsen müssen. "Der auswärtige Handel", sagt er in "Zur Beleuchtung der Socialen Frage", 2.<br />

Teil, 1. Heft, "verhält sich zu den Handelsstockungen nur wie die Wohltätigkeit zum Pauperismus - sie<br />

steigern sich zuletzt nur an demselben."(14) Und in dem zitierten Aufsatz "Handelskrisen und<br />

Hypothekennoth": "Was man zur Verhütung künftiger Ausbrüche 'der Krisen' anwenden kann, ist nur das<br />

zweischneidige Mittel einer Erweiterung <strong>des</strong> auswärtigen Marktes. Das heftige Streben nach solcher<br />

Erweiterung ist großenteils nichts als ein aus dem leidenden Organ entspringender krankhafter Reiz. Weil<br />

auf dem inneren Markt der eine Faktor, die Produktivität, ewig steigt und der andere, die<br />

Kaufkraft, für den größten Teil der Nation sich ewig gleichbleibt, muß der Handel eine gleiche<br />

Unbegrenztheit <strong>des</strong> letzteren auf auswärtigen Märkten zu supplieren suchen. Was diesen Reiz stillt,<br />

verzögert wenigstens den neuen Ausbruch <strong>des</strong> Übels. Jeder neue auswärtige Markt gleicht daher einer<br />

Vertagung der sozialen Frage. In derselben Weise wirken Kolonisationen in unangebauten Ländern.<br />

Europa erzieht sich einen Markt, wo sonst keiner war. Aber dieses Mittel kajoliert doch im Grunde nur<br />

das Übel. Wenn die neuen Märkte ausgefüllt sind - so ist die Frage nur wieder zu ihrem alten<br />

Ausgangspunkt zurückgekehrt, dem begrenzten Faktor der Kaufkraft gegenüber dem unbegrenzten Faktor<br />

der Produktivität, und der neue Ausbruch ward nur von dem kleineren Markte ferngehalten, um ihn auf<br />

dem größeren in noch weiteren Dimensionen und noch heftigeren Zufällen wieder auftreten zu lassen.<br />

Und da doch die Erde begrenzt ist und <strong>des</strong>halb die Gewinnung neuer Märkte einmal aufhören muß, muß<br />

auch die bloße Vertagung der Frage einmal aufhören. Sie muß dereinst definitiv gelöst werden."(15)<br />

Er hat auch die Anarchie der kapitalistischen Privatproduktion als krisenbildenden Faktor ins Auge<br />

gefaßt, allein nur unter anderen Faktoren, nicht als die eigentliche Ursache der Krisen überhaupt, sondern<br />

als Quelle einer bestimmten Abart Krisen. So sagt er über den Ausbruch der "Krise" im v.<br />

Kirchmannschen "Ort": "Ich will nun nicht behaupten, daß diese Art der Absatzstockung nicht auch in der<br />

Wirklichkeit vorkäme. Der Markt ist heute groß, der Bedürfnisse und Produktionszweige sind viele, die<br />

Produktivität ist bedeutend, die Anzeichen <strong>des</strong> Begehrs sind dunkel und trügerisch, die Unternehmer ohne<br />

gegenseitige Kenntnis <strong>des</strong> Umfangs ihrer Produktion - es kann also auch leicht geschehen, daß diese sich<br />

in dem Maße eines bestimmten Warenbedarfs täuschen und den Markt damit überfüllen." Rodbertus<br />

spricht es auch rundweg heraus, daß diesen Krisen nur eine planmäßige Organisation der Wirtschaft, eine<br />

"vollständige Umkehrung" der heutigen Eigentumsverhältnisse. die Vereinigung aller Produktionsmittel<br />

"in der Hand einer einzigen gesellschaftlichen Behörde" abhelfen könnte. Er beeilt sich freilich<br />

auch hier gleich zur Beruhigung der Gemüter hinzuzufügen, daß er es dahingestellt sein lasse, ob ein<br />

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solcher Zustand möglich sei, "aber jedenfalls wäre in ihm die einzige Möglichkeit gegeben, diese Art von<br />

Absatzstockungen zu verhindern". Er unterstreicht also hier, daß er die Anarchie der heutigen<br />

Produktionsweise nur für eine bestimmte partielle Erscheinungsform der Krisen verantwortlich macht.<br />

Rodbertus verwirft mit Hohn den Say-Ricardoschen Satz von dem natürlichen Gleichgewicht zwischen<br />

Konsumtion und Produktion und legt ganz wie Sismondi den Nachdruck auf die Kaufkraft der<br />

Gesellschaft, die er wieder wie Sismondi von der <strong>Ein</strong>kommensverteilung abhängig macht. Trotzdem<br />

akzeptiert er die Sismondische Krisentheorie, namentlich in ihren Schlußfolgerungen, durchaus nicht und<br />

stellt sich zu ihr in scharfen Gegensatz. Wenn Sismondi nämlich in der schrankenlosen Ausdehnung der<br />

Produktion ohne Rücksicht auf die <strong>Ein</strong>kommensschranken die Quelle <strong>des</strong> Übels sah, und<br />

dementsprechend die <strong>Ein</strong>dämmung der Produktion predigte, tritt Rodbertus umgekehrt für die kräftigste<br />

und schrankenlose Ausdehnung der Produktion, <strong>des</strong> Reichtums, der Produktivkräfte ein. <strong>Die</strong> Gesellschaft,<br />

meint er, bedürfe einer ungehinderten Zunahme ihres Reichtums. Wer den Reichtum der Gesellschaft<br />

verwerfe, verwerfe mit ihrer Macht ihren Fortschritt, mit diesem ihre Tugend, wer seiner Zunahme<br />

Hindernisse in den Weg werfe, werfe sie ihrem Fortschritte überhaupt in den Weg. Jede Zunahme <strong>des</strong><br />

Wissens, Wollens und Könnens in der Gesellschaft sei an eine Zunahme <strong>des</strong> Reichtums gebunden.(16)<br />

Von diesem Standpunkt aus war Rodbertus ein warmer Befürworter <strong>des</strong> Systems der Notenbanken, die er<br />

als unumgänglich Grundlage zur raschen und unbeschränkten Expansion der Gründertätigkeit betrachtete.<br />

Sowohl sein Aufsatz über die Hypothekennot aus dem Jahre 1858 wie schon die 1845 erschienene<br />

Abhandlung über die preußische Geldkrisis sind dieser Beweisführung gewidmet. Er wendet sich aber<br />

auch direkt polemisierend gegen die Mahnungen im Geiste Sismondis, wobei er auch hier die Sache<br />

zunächst in seiner ethisch-utopischen Weise anfaßt. "<strong>Die</strong> Unternehmer", deklamiert er, "sind im<br />

wesentlichen nichts als volkswirtschaftliche Beamte, welche, wenn sie die nationalen Produktionsmittel,<br />

die ihnen die Institution <strong>des</strong> Eigentums unauflöslich anvertraut hat, mit der Anspannung aller Kräfte<br />

arbeiten lassen, nur ihre Schuldigkeit tun. Denn das Kapital ist, wiederhole ich, nur zur Produktion<br />

da." Weiter aber sachlich: "Oder sollen sie (die Unternehmer) gar die akuten Leidenszufälle chronisch<br />

machen, indem sie von Anbeginn an und fortwährend mir geringeren Kräften, als sie in ihren Mitteln<br />

wirklich besitzen, arbeiten und auf diese Weise einen niedrigeren Grad der Heftigkeit mit einer<br />

unausgesetzten Dauer <strong>des</strong> Übels erkaufen? Selbst wenn man so töricht wäre, ihnen solchen Rat zu geben,<br />

sie würden ihn nicht zu befolgen vermögen. Woran sollten jene Weltproduzenten diese schon krankhafte<br />

Grenze <strong>des</strong> Marktes erkennen? Sie alle produzieren, ohne voneinander zu wissen, an den verschiedensten<br />

Ecken und Enden der Erde für einen Hunderte von Meilen entfernten Markt mit so riesigen Kräften, daß<br />

die Produktion eines Monats jene Grenze zu überschreiten genügt - wie ist es denkbar, daß eine so<br />

zerstückte und doch so mächtige Produktion die Übersicht jenes Genüges rechtzeitig zu gewinnen<br />

vermöchte? Wo sind nur die Anstalten, z.B. auf dem laufenden gehaltene statistische Büros, um ihnen<br />

dabei behilflich zu sein? Aber was schlimmer ist, der einzige Fühler <strong>des</strong> Marktes ist der Preis, sein<br />

Steigen und Fallen. Aber er ist nicht wie ein Barometer, das die Temperatur <strong>des</strong> Marktes vorhersagt,<br />

sondern wie ein Thermometer, das sie nur mißt. Fällt der Preis, so ist schon die Grenze überschritten und<br />

das Übel bereits da."(17) <strong>Die</strong>se zweifellos gegen Sismondi gerichtete Polemik zeigt, daß zwischen beiden<br />

in der Auffassung der Krisen sehr wesentliche Unterschiede lagen; wenn <strong>des</strong>halb Engels im "Anti-<br />

Dühring" sagt, die Erklärung der Krisen aus Unterkonsumtion rühre von Sismondi her und von diesem<br />

habe sie Rodbertus entlehnt, so ist das, streng genommen, nicht genau. Gemeinsam ist Rodbertus wie<br />

Sismondi nur die Opposition gegen die klassische Schule sowie die Erklärung der Krisen im allgemeinen<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 16. Kapitel<br />

aus der Verteilung <strong>des</strong> <strong>Ein</strong>kommens. Aber auch hier folgt Rodbertus seiner eigenen Privatschrulle. Nicht<br />

die Niedrigkeit <strong>des</strong> <strong>Ein</strong>kommens der Arbeitermasse bewirke die Überproduktionen und auch nicht die<br />

beschränkte Konsumtionsfähigkeit der Kapitalisten, wie bei Sismondi, sondern lediglich die Tatsache,<br />

daß das <strong>Ein</strong>kommen der Arbeiter mit dem Fortschritt der Produktivität einen immer geringeren Teil <strong>des</strong><br />

Produktenwertes darstellt. Rodbertus weist seinem Widerpart ausdrücklich nach, daß nicht aus der<br />

Geringfügigkeit der Anteile der arbeitenden Klassen Absatzstockungen entspringen: "Stellen Sie sich",<br />

belehrt er v. Kirchmann, "diese Anteile so klein vor, daß die Berechtigten nur das nackte Leben dabei<br />

haben, halten Sie die Anteile aber nur in der Quote, die sie am Nationalprodukt einnehmen, fest,<br />

und lassen Sie dann die Produktivität zunehmen, so haben Sie auch das feste Wertgefäß, das einen immer<br />

größeren Inhalt aufzunehmen imstande ist, so haben Sie den immer zunehmenden Wohlstand auch der<br />

arbeitenden Klassen ... Umgekehrt stellen Sie sich die Anteile der arbeitenden Klassen so groß vor, wie<br />

Sie wollen, lassen Sie sie aber unter der Zunahme der Produktivität zu einer immer kleineren Quote <strong>des</strong><br />

Nationalprodukts herabsinken, so werden diese Anteile zwar bis dahin, daß sie auf ihre heutige<br />

Geringfügigkeit zurückgebracht sind, immer noch vor übergroßer Entbehrung schützen, denn ihr<br />

Produktinhalt wird noch immer bedeutend größer als heute sein, aber sie werden dennoch sofort, als sie<br />

zu sinken beginnen, jene zu unsern Handelskrisen sich steigernde Unbefriedigung nach sich ziehen, die<br />

ohne Verschulden der Kapitalisten ja nur <strong>des</strong>halb eintritt, weil die Kapitalisten den Umfang ihrer<br />

Produktion nach der gegebenen Größe der Anteile einrichteten."(18)<br />

Also die "fallende Lohnquote" ist die eigentliche Ursache der Krisen und das einzig wirksame Mittel<br />

gegen sie - die gesetzliche Bestimmung, wonach der Anteil der Arbeiter am Nationalprodukt eine feste<br />

und unabänderliche Quote darstellt. Man muß sich in diesen bizarren <strong>Ein</strong>fall gut hineindenken, um seinen<br />

ökonomischen Inhalt nach Gebühr zu würdigen.<br />

Fußnoten von <strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong><br />

(1) Carl Rodbertus-Jagetzow: Schriften, <strong>Berlin</strong> 1899, Bd. III, S. 172-174 u. 184.


<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 16. Kapitel<br />

(8) l.c., Bd. II, S. 72.


<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 16. Kapitel<br />

Visionen der kapitalistischen Kolonialexpansion beinah zum Dichter. Und dieser poetische Schwung will<br />

um so mehr gewürdigt werden, als die "christlich-ethische Kultur" sich just damals mit solchen<br />

Ruhmestaten bedeckte wie den Opiumkriegen gegen China und den "indischen Greul" - nämlich den<br />

Greul der Engländer bei der blutigen Unterdrückung <strong>des</strong> Sepoyaufstan<strong>des</strong>. In seinem "Zweiten socialen<br />

Brief", im Jahre 1850, meinte Rodbertus zwar, wenn der Gesellschaft "die sittliche Kraft" zur Lösung der<br />

sozialen Frage, d.h. zur Änderung der Verteilung <strong>des</strong> Reichtums fehlen sollte, würde die Geschichte<br />

"wieder die Peitsche der Revolution über sie schwingen müssen". (l.c., Bd. II, S. 83.) Acht Jahre später<br />

zieht er als braver Preuße vor, die Peitsche der christlich-ethischen Kolonialpolitik über die <strong>Ein</strong>geborenen<br />

der Kolonialländer zu schwingen. Es ist auch nur folgerichtig, daß der "eigentliche Begründer <strong>des</strong><br />

wissenschaftlichen Sozialismus in Deutschland" auch ein warmer Anhänger <strong>des</strong> Militarismus und seine<br />

Phrase von der "Reduktion der Armeen" nur als eine Licentia poetica im Re<strong>des</strong>chwall zu nehmen war. In<br />

seinem "Zur Beleuchtung der Socialen Frage", 2. Teil, 1. Heft, führt er aus, daß "die ganze nationale<br />

Steuerlast immerfort nach unten gravitiert, bald in Steigerung der Preise der Lohngüter, bald in dem<br />

Druck auf den Geldarbeitslohn", wobei die allgemeine Militärpflicht, "unter den Gesichtspunkt einer<br />

Staatslast gebracht, bei den arbeitenden Klassen nicht einmal einer Steuer, sondern gleich einer<br />

mehrjährigen Konfiskation <strong>des</strong> ganzen <strong>Ein</strong>kommens gleichkommt." Dem fügt er schleunig hinzu: "Um<br />

keinem Mißverständnis ausgesetzt zu sein, bemerke ich, daß ich ein entschiedener Anhänger unserer<br />

heutigen Militärverfassung (also der preußischen Militärverfassung der Konterevolution - R. L.) bin, so<br />

drückend sie auch für die arbeitenden Klassen sein mag und so hoch die finanziellen Opfer scheinbar<br />

sind, die den besitzenden Klassen dafür abverlangt werden." (l.c., Bd. III, S. 34) Nein, Schnock ist<br />

entschieden kein Löwe!


<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 17. Kapitel<br />

16. Kapitel | Inhalt | 18. Kapitel<br />

<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - Gesammelte Werke. Herausgegeben vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Band<br />

5. <strong>Berlin</strong>/DDR. 1975. "<strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>", S. 209-225.<br />

1. Korrektur.<br />

Erstellt am 20.10.1998<br />

Siebzehntes Kapitel<br />

Rodbertus' Analyse der Reproduktion<br />

Was soll es vor allem bedeuten, daß die Verringerung <strong>des</strong> Anteils der Arbeiter "sofort"<br />

Überproduktion und Handelskrisen hervorrufen müsse? <strong>Die</strong>se Auffassung wird nur begreiflich., wenn<br />

man voraussetzt, daß Rodbertus sich das "Nationalprodukt" aus zwei Teilen bestehend vorstellt, aus dem<br />

Anteil der Arbeiter und dem Anteil der Kapitalisten, also v + m, wobei sich etwa der eine Teil gegen den<br />

anderen austauscht. In der Tat spricht Rodbertus stellenweise beinahe in diesem Sinne, so, wenn er im<br />

"Ersten socialen Briefe" sagt: "<strong>Die</strong> Armut der arbeitenden Klassen läßt niemals zu, daß ihr <strong>Ein</strong>kommen<br />

ein Bett für die anschwellende Produktion abgebe. Das Übermaß von Produkten. das in den Händen der<br />

Arbeiter nicht bloß deren Lage verbessern, sondern zugleich ein Gewicht abgeben würde, um den Wert<br />

<strong>des</strong> bei den Unternehmern verbleibenden Restes zu steigern und diesen damit die Bedingung der<br />

Fortsetzung ihrer Betriebe in dem bisherigen Umfange zu gewähren, drückt auf seiten der<br />

Unternehmer den Wert <strong>des</strong> ganzen Produkts so tief, daß jene Bedingung verschwindet, und überläßt im<br />

besten Falle die Arbeiter ihrem gewohnten Mangel.(1) Das "Gewicht", das in den Händen der Arbeiter<br />

"den Wert" <strong>des</strong> bei den Unternehmern "verbleibenden Restes" steigert, kann hier nur Nachfrage bedeuten.<br />

Damit wären wir glücklich angelangt in dem famosen "Ort" v. Kirchmanns, wo die Arbeiter mit den<br />

Kapitalisten einen Austausch ihrer Löhne gegen das Mehrprodukt ausführen und wo die Krisen <strong>des</strong>halb<br />

entstehen, weil das variable Kapital klein und der Mehrwert groß ist. <strong>Die</strong>se seltsame Vorstellung ist schon<br />

oben besprochen worden. An anderen Stellen gibt jedoch Rodbertus eine abweichende Auffassung zum<br />

besten. Im "Vierten socialen Brief" deutet er seine Theorie so, daß die ständige Verschiebung im<br />

Verhältnis der Nachfrage, die durch den Anteil der Arbeiterklasse dargestellt, und derjenigen, die durch<br />

den Anteil der Kapitalistenklasse bewirkt wird, eine chronische Disproportion zwischen Produktion und<br />

Konsumtion hervorrufen müsse: "Aber wie, wenn sich nun die Unternehmer zwar immerfort in den<br />

Grenzen jener Anteile zu halten suchen, aber diese Anteile selbst sich bei der großen Mehrzahl der<br />

Gesellschaft, den Arbeitern, nach und nach mit unvermerkter, aber unwiderstehlicher Gewalt immerfort<br />

verkleinerten? Wenn sie sich bei diesen Klassen immerfort in demselben Maße verkleinerten, als sich<br />

deren Produktivität vergrößerte?" "Ob <strong>des</strong>halb nicht die Kapitalisten, während sie nur nach der bisherigen<br />

Große der Anteile die Produktion einrichten und einrichten mußten, um den Reichtum allgemein zu<br />

machen, dennoch immerfort über die bisherigen Anteile hinaus produzieren und also eine stete<br />

Nichtbefriedigung, die sich zu einer Absatzstockung ... steigert, veranlassen?"(2)<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 17. Kapitel<br />

Demnach haben wir uns die Krisen folgendermaßen zu erklären: Das Nationalprodukt besteht aus einer<br />

Anzahl "ordinärer Waren", wie v. Kirchmann sagt, für die Arbeiter und feinerer Waren für die<br />

Kapitalisten. <strong>Die</strong> Menge jener wird durch die Summe der Löhne, dieser durch den Gesamtmehrwert<br />

dargestellt. Richten sich die Kapitalisten bei ihrer Produktion danach ein und schreitet dabei die<br />

Produktivität fort, so muß sich schon im nächsten Augenblick ein Mißverhältnis herausstellen. Denn der<br />

Anteil der Arbeiter von heute ist nicht mehr der von gestern, sondern geringer; bildete gestern die<br />

Nachfrage nach "ordinären Waren", sagen wir, sechs Siebentel <strong>des</strong> Nationalprodukts, so bildet sie heute<br />

nur noch fünf Siebentel, und die Unternehmer, die sich auf sechs Siebentel "ordinärer Waren"<br />

eingerichtet haben, werden zu ihrer schmerzlichen Überraschung konstatieren müssen, daß sie um ein<br />

Siebentel deren zuviel hergestellt haben. Wollen sie aber, durch diese Erfahrung gewitzigt, morgen ihre<br />

Produktion so einrichten, daß sie nur fünf Siebentel <strong>des</strong> gesamten Wertes <strong>des</strong> Nationalprodukts in<br />

ordinären Waren herstellen, so laufen sie damit nur einer neuen Enttäuschung in die Arme, denn<br />

übermorgen wird der Lohnanteil am Nationalprodukt sicher nur noch vier Siebentel darstellen usw.<br />

<strong>Die</strong>se originelle Theorie ruft sofort eine Menge gelinder Zweifel wach. Wenn unsere Handelskrisen<br />

lediglich daher rühren, daß die " Lohnquote" der Arbeiterklasse, das variable Kapital, einen immer<br />

geringeren Teil <strong>des</strong> Gesamtwerts <strong>des</strong> Nationalprodukts ausmacht, dann birgt ja das fatale Gesetz in sich<br />

selbst auch die Heilung <strong>des</strong> von ihm angerichteten Übels, da doch die Überproduktion einen immer<br />

geringeren Teil <strong>des</strong> Gesamtprodukts betrifft. Rodbertus liebt zwar die Ausdrücke von "übergroßer<br />

Mehrzahl" der Konsumenten, von der "großen Volksmasse" der Konsumenten, deren Anteil immer mehr<br />

sinke, doch kommt es nicht auf die Zahl der Kopfe bei der Nachfrage an, sondern auf den durch sie<br />

dargestellten Wert. Und dieser Wert bildet nach Rodbertus selbst einen immer geringfügigeren Teil <strong>des</strong><br />

Gesamtprodukts. <strong>Die</strong> ökonomische Basis der Krisen wird damit immer schmaler, und es bleibt nur die<br />

Frage, wie es kommt, daß die Krisen trotzdem, wie Rodbertus feststellt, erstens allgemein und zweitens<br />

immer heftiger sind. Bildet ferner die "Lohnquote" den einen Teil <strong>des</strong> Nationalprodukts, so der Mehrwert,<br />

nach Rodbertus, den anderen. Was an Kaufkraft der Arbeiterklasse abgeht, wächst als Kaufkraft der<br />

Kapitalistenklasse an, wird v immer geringer, so m dafür immer größer. Nach dem eigenen kruden<br />

Schema von Rodberrus kann dadurch im ganzen die Kaufkraft der Gesellschaft nicht alteriert werden.<br />

Sagt er doch selbst: "Ich weiß wohl, daß schließlich dasjenige, um welches der Anteil der Arbeiter fällt,<br />

den Anteilen der Rentenbezieher (bei Rodbertus "Rente" gleich Mehrwert - R. L.) zuwächst, daß also auf<br />

die Dauer und im ganzen die Kaufkraft sich gleichbleibt. Aber in bezug auf das zu Markt gebrachte<br />

Produkt ist schon immer die Krisis erfolgt, ehe jener Zuwachs sich geltend machen kann."(3) Es kann<br />

sich also höchstens darum handeln, daß in demselben Maße wie in "ordinären Waren" ständig ein Zuviel,<br />

in feineren Waren für die Kapitalisten ständig ein Zuwenig sich herausstellt. Rodbertus kommt hier<br />

unversehens auf eigentümlichen Pfaden zu der von ihm so hitzig bekämpften Theorie Say-Ricardos: der<br />

Überproduktion auf der einen Seite entspräche stets die Unterproduktion auf der anderen. Und da<br />

die Wertanteile der Arbeiterklasse und der Kapitalisten sich ständig zuungunsten der ersteren<br />

verschieben, so würden unsere Handelskrisen im ganzen immer mehr den Charakter von periodischer<br />

Unterproduktion an Stelle von Überproduktion annehmen! Doch lassen wir diese Rätsel. Was aus alledem<br />

einleuchtet, ist, daß Rodbertus sich das Nationalprodukt dem Werte nach als lediglich zusammengesetzt<br />

aus zwei Teilen, aus v und m, denkt, darin also ganz die Auffassung und Überlieferung der klassischen<br />

Schule teilt, die er mit solcher Erbitterung bekämpft, verschönert noch um die Vorstellung. daß der ganze<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 17. Kapitel<br />

Mehrwert von den Kapitalisten konsumiert wird. Er spricht dies an mehreren Stellen mit dürren Worten<br />

aus, so im "Vierten socialen Brief": "Demgemäß muß man gerade, um zuvörderst das Prinzip der Rente<br />

(<strong>des</strong> Mehrwerts - R. L.) überhaupt, das Prinzip der Teilung <strong>des</strong> Arbeitsprodukts in Lohn und Rente, zu<br />

finden, von den Gründen abstrahieren, welche die Scheidung der Rente überhaupt in Grundrente und<br />

Kapitalrente veranlassen."(4) Und im "Dritten [socialen] Brief": "Grundrente, Kapitalgewinn und<br />

Arbeitslohn, wiederhole ich, sind <strong>Ein</strong>kommen. Grundbesitzer, Kapitalisten und Arbeiter wollen davon<br />

leben, d.h. ihre unmittelbaren menschlichen Bedürfnisse damit befriedigen. <strong>Die</strong> Güter, die im <strong>Ein</strong>kommen<br />

bezogen werden, müssen also dazu brauchbar sein."(5) Krasser ist die Verfälschung der kapitalistischen<br />

Wirtschaft in eine nur für die Zwecke der direkten Konsumtion bestimmte Produktion nirgends formuliert<br />

worden, und darin hat Rodbertus unzweifelhaft die Palme der " Priorität" - nicht sowohl vor Marx wie vor<br />

allen Vulgärökonomen. Um ja keinen Zweifel über diese seine Konfusion bei dem Leser zu lassen, stellt<br />

er in demselben Briefe etwas weiter den kapitalistischen Mehrwert als ökonomische Kategorie direkt mit<br />

dem <strong>Ein</strong>kommen <strong>des</strong> antiken Sklavenhalters in eine Reihe: "Mit dem ersten Zustand (der Sklaverei - R.<br />

L.) ist die einfachste Naturalwirtschaft verbunden; es wird der Teil <strong>des</strong> Arbeitsprodukts, der dem<br />

<strong>Ein</strong>kommen der Arbeiter oder Sklaven entzogen ist und das Eigentum <strong>des</strong> Herrn oder Besitzers ausmacht,<br />

ungeteilt als eine Rente dem einen Grund-, Kapital-, Arbeiter- und Arbeitsproduktbesitzer zufallen; es<br />

werden selbst nicht dem Begriffe nach Grundrente und Kapitalgewinn zu unterscheiden sein. - Mit dem<br />

zweiten Zustande ist die komplizierteste Geldwirtschaft gegeben; es wird der Teil <strong>des</strong> Arbeitsprodukts,<br />

der dem <strong>Ein</strong>kommen jetzt der freien Arbeiter entzogen ist und auf den Grund- und Kapitalbesitz fällt, sich<br />

zwischen den Besitzern <strong>des</strong> Rohprodukts uni den Besitzern <strong>des</strong> Fabrikationsprodukts weiter teilen;<br />

es wird endlich die eine Rente <strong>des</strong> früheren Zustan<strong>des</strong> in Grundrente und Kapitalgewinn<br />

auseinanderfallen und zu scheiden sein."(6) Den hervorstechendsten ökonomischen Unterschied zwischen<br />

der Ausbeutung unter der Herrschaft der Sklaverei und der modernen kapitalistischen Ausbeutung<br />

erblickt Rodbertus - in der Spaltung <strong>des</strong> "dem <strong>Ein</strong>kommen" der Arbeiter "entzogenen" Mehrwerts in<br />

Grundrente und Kapitalgewinn. Nicht die spezifische historische Form der Teilung <strong>des</strong> Mehrwerts<br />

zwischen Arbeit und Kapital, sondern die für den Produktionsprozeß gleichgültige Teilung <strong>des</strong> Mehrwerts<br />

unter seine verschiedenen Nutznießer ist die entscheidende Tatsache der kapitalistischen<br />

Produktionsweise! Sonst bleibt der kapitalistische Mehrwert als Ganzes dasselbe, was "die eine Rente"<br />

<strong>des</strong> Sklavenhalters war: ein privater Konsumtionsfonds <strong>des</strong> Ausbeuters!<br />

Freilich widerspricht sich Rodbertus auch wieder an anderen Stellen und erinnert sich an das konstante<br />

Kapital sowie die Notwendigkeit seiner Erneuerung im Reproduktionsprozeß. Er nimmt also statt der<br />

Zweiteilung <strong>des</strong> Gesamtprodukts in v + m die Dreiteilung in c + v + m an. In seinem "Dritten [socialen]<br />

Brief" führt er über die Reproduktionsformen der Sklavenwirtschaft aus: "Weil der Herr darauf halten<br />

wird, daß ein Teil der Sklavenarbeit darauf verwandt werde, die Felder, Herden und Werkzeuge in der<br />

Landwirtschaft und Fabrikation in gleichem Zustande zu erhalten oder auch zu verbessern, so wird das,<br />

was heute 'Kapitalersatz' genannt wird, sich so vollziehen, daß ein Teil <strong>des</strong> nationalen Produkts der<br />

Wirtschaft immer gleich unmittelbar und ohne Dazwischenkunft <strong>des</strong> Tausches und selbst <strong>des</strong> Tauschwerts<br />

zur Instandhaltung <strong>des</strong> Vermögens verwandt wird."(7) Und zur kapitalistischen Reproduktion<br />

übergehend: "Es wird also jetzt ein Wertteil <strong>des</strong> Arbeitsprodukts zur Instandhaltung <strong>des</strong> Vermögens oder<br />

als 'Kapitalersatz' verwandt oder berechnet; es wird ein Wertteil <strong>des</strong> Arbeitsprodukts in dem Geldlohn der<br />

Arbeiter zum Unterhalt derselben verwandt, und es bleibt endlich ein Wertteil <strong>des</strong>selben in den Händen<br />

der Grund-, Kapital- und Arbeitsproduktbesitzer als deren <strong>Ein</strong>kommen oder als Rente zurück."(8)<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 17. Kapitel<br />

Hier haben wir ausdrücklich die Dreiteilung in konstantes Kapital, variables Kapital und Mehrwert, und<br />

ebenso formuliert er nochmals ausdrücklich in diesem "Dritten [socialen] Brief als Eigentümlichkeit<br />

seiner "neuen" Theorie. "Nachdem also diese Theorie, bei hinreichender Produktivität der Arbeit,<br />

denjenigen Teil <strong>des</strong> Produktwerts, der vom Kapitalersatz zum <strong>Ein</strong>kommen übrigbleibt, infolge <strong>des</strong> Grund-<br />

und Kapitaleigentums unter Arbeiter und Besitzer als Lohn und Rente hat sich teilen lassen" usw.(9)<br />

Rodbertus hat hier anscheinend einen entschiedenen Schritt in der Wertanalyse <strong>des</strong> Gesamtprodukts über<br />

die klassische Schule hinaus gemacht, ja, er kritisiert etwas weiter direkt das "Dogma" von Smith, und es<br />

bleibt nur, sich zu wundern, daß die gelehrten Bewunderer Rodbertus', die Herren Wagner, <strong>Die</strong>tzel, <strong>Die</strong>hl<br />

u. Co., verabsäumt haben, die " Priorität" ihres Lieblings vor Marx in einem so wichtigen Punkte der<br />

ökonomischen Theorie mir Beschlag zu belegen. - In Wirklichkeit sieht es mit der Priorität hier genauso<br />

windig aus wie in der Werttheorie überhaupt. Auch dort, wo Rodbertus anscheinend zu einer richtigen<br />

<strong>Ein</strong>sicht gelangt, stellt sich dies im nächsten Augenblick als ein Mißverständnis oder min<strong>des</strong>tens eine<br />

Schiefheit heraus. Wie wenig Rodbertus tatsächlich mit der Dreiteilung <strong>des</strong> Nationalprodukts anzufangen<br />

wußte, zu der er sich vorwärtsgetastet hatte, beweist gerade am besten seine Kritik an dem Smithschen<br />

Dogma, die wörtlich so lautet: "Sie wissen, daß alle Nationalökonomen schon seit Ad. Smith den Wert<br />

<strong>des</strong> Produkts in Arbeitslohn, Grundrente und Kapitalgewinn zerfallen lassen und daß also die Idee, das<br />

<strong>Ein</strong>kommen der verschiedenen Klassen und namentlich auch die Rententeile auf eine Teilung <strong>des</strong><br />

Produkts zu gründen, nicht neu ist. Allein sofort geraten die Nationalökonomen auf Abwege. Alle - selbst<br />

nicht mit Ausnahme der Ricardoschen Schule - begehen zuvörderst den Fehler, nicht das ganze Produkt,<br />

das vollendete Gut, das ganze Nationalprodukt als <strong>Ein</strong>heit aufzufassen, an der Arbeiter, Grundbesitzer<br />

und Kapitalisten partizipieren, sondern die Teilung <strong>des</strong> Rohprodukts als eine besondere Teilung, an der<br />

drei Teilnehmer, und die Teilung <strong>des</strong> Fabrikationsprodukts wieder als eine besondere Teilung<br />

aufzufassen, an der nur zwei Teilnehmer partizipieren. So sehen diese Systeme schon das bloße<br />

Rohprodukt und das bloße Fabrikationsprodukt je<strong>des</strong> für sich als ein besonderes <strong>Ein</strong>kommensgut an. - Sie<br />

begehen dann zweitens - hier in<strong>des</strong>sen mit Ausnahme Ricardos und auch Smith' - den Fehler, daß sie die<br />

natürliche Tatsache, daß die Arbeit ohne Mitwirkung der Materie, also ohne den Boden, kein Gut<br />

produzieren kann, für eine wirtschaftliche und die gesellschaftliche Tatsache, daß in Teilung der Arbeit<br />

das Kapital im heutigen Sinne dazu gebraucht wird, für eine ursprüngliche halten. So fingieren sie ein<br />

wirtschaftliches Grundverhältnis, auf welches sie, bei dem geteilten Besitz <strong>des</strong> Bodens, <strong>des</strong><br />

<strong>Kapitals</strong> und der Arbeit in der Gesellschaft, auch die Anteile dieser verschiedenen Besitzer in der Weise<br />

zurückführen, daß die Grundrente aus der Mitwirkung <strong>des</strong> Bodens, den der Grundbesitzer zur Produktion<br />

hergebe, der Kapitalgewinn aus der Mitwirkung <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, das der Kapitalist dazu verwende, und der<br />

Lohn endlich aus der Mitwirkung der Arbeit entspringe. <strong>Die</strong> Saysche Schule, welche diesen Irrtum am<br />

feinsten ausgesponnen hat, schafft sich sogar den Begriff eines dem Produktanteil jener verschiedenen<br />

Besitzer entsprechenden Produktivdienstes <strong>des</strong> Bodens, <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong> und der Arbeit, um aus solchem<br />

Produktivdienst wieder den Produktanteil zu erklären. - Hieran schließt sich endlich drittens sogar die<br />

Ungereimtheit, daß, während doch Arbeitslohn und Rententeile aus dem Werte <strong>des</strong> Produkts abgeleitet<br />

werden, doch wieder der Wert <strong>des</strong> Produkts aus Arbeitslohn und Rententeilen abgeleitet und so<br />

wechselseitig das eine auf das andere basiert wird. Bei manchen tritt diese Ungereimtheit so zutage, daß<br />

in zwei unmittelbar aufeinanderfolgenden Kapiteln 'Der <strong>Ein</strong>fluß der Renten auf die Produktionspreise'<br />

und 'Der <strong>Ein</strong>fluß der Produktionspreise auf die Renten' zu setzen gesucht wird."(10)<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 17. Kapitel<br />

Bei diesen ausgezeichneten kritischen Bemerkungen, deren letzte namentlich fein ist und in gewissem<br />

Sinne die betreffende Kritik im zweiten Bande <strong>des</strong> Marxschen "<strong>Kapitals</strong>" vorwegnimmt, akzeptiert<br />

Rodbertus ruhig den Hauptschnitzer der klassischen Schule und ihrer vulgären Nachtreter: die völlige<br />

Vernachlässigung <strong>des</strong> Wertteils <strong>des</strong> Gesamtprodukts, der zum Ersatz <strong>des</strong> konstanten <strong>Kapitals</strong> der<br />

Gesellschaft notwendig ist. <strong>Die</strong>se Konfusion war es denn auch, die ihm erleichterte, sich in seinen<br />

wunderlichen Kampf gegen die "fallende Lohnquote" zu verbeißen.<br />

Der Wert <strong>des</strong> gesellschaftlichen Gesamtprodukts zerfällt unter kapitalistischen Produktionsformen in drei<br />

Teile, von denen der eine dem Wert <strong>des</strong> konstanten <strong>Kapitals</strong>, der andere der Lohnsumme, d.h. dem<br />

variablen Kapital und der dritte dem Gesamtmehrwert der Kapitalistenklasse entspricht. Nun wird<br />

innerhalb dieser Wertzusammensetzung der dem variablen Kapital entsprechende Wertteil relativ immer<br />

geringer, und das aus zwei Gründen. Erstens verschiebt sich innerhalb c + v + m das Verhältnis von c zu<br />

(v + m), d.h. <strong>des</strong> konstanten <strong>Kapitals</strong> zum Neuwert, in der Richtung, daß c relativ immer größer, (v + m)<br />

immer kleiner wird. <strong>Die</strong>s ist ein einfacher Ausdruck der steigenden Produktivität der menschlichen<br />

Arbeit, der absolute Geltung hat für alle ökonomisch fortschreitenden Gesellschaften, unabhängig von<br />

ihren historischen Formen, und der nur bedeutet, daß die lebendige Arbeit imstande wird, immer<br />

mehr Produktionsmittel in immer kürzerer Zeit zu Gebrauchsgegenständen zu verarbeiten. Da (v + m) im<br />

Verhältnis zum Gesamtwert <strong>des</strong> Produkts sinkt, so sinkt damit auch v als Wertteil <strong>des</strong> Gesamtprodukts.<br />

Sich dagegen sträuben, diesem Sinken <strong>Ein</strong>halt tun wollen heißt mit anderen Worten, sich dem Fortschritt<br />

der Produktivität der Arbeit in seinen allgemeinen Wirkungen widersetzen. Sodann tritt auch innerhalb (v<br />

+ m) eine Verschiebung ein in der Richtung, daß v relativ immer kleiner, m relativ immer größer wird,<br />

d.h. daß von dem geschaffenen Neuwert ein immer kleinerer Teil auf Löhne entfällt, ein immer größerer<br />

als Mehrwert angeeignet wird. <strong>Die</strong>s ist der spezifisch kapitalistische Ausdruck der fortschreitenden<br />

Produktivität der Arbeit, der aber innerhalb der kapitalistischen Bedingungen der Produktion ebenso<br />

absolute Geltung hat wie jenes erste Gesetz. Durch staatliche Mittel nun verbieten wollen, daß v immer<br />

geringer im Verhältnis zu m wird, heißt verbieten wollen, daß sich die fortschreitende Produktivität der<br />

Arbeit, die die Herstellungskosten aller Waren verringert, auch auf die grundlegende Ware Arbeitskraft<br />

beziehe, heißt diese eine Ware von den ökonomischen Wirkungen der technischen Fortschritte<br />

ausnehmen wollen. Aber noch mehr: <strong>Die</strong> "fallende Lohnquote" ist nur ein anderer Ausdruck für steigende<br />

Mehrwertrate, die das stärkste und wirksamste Mittel darstellt, den Fall der Profitrate aufzuhalten, und<br />

<strong>des</strong>halb das treibende Motiv der kapitalistischen Produktion überhaupt wie namentlich <strong>des</strong> technischen<br />

Fortschritts innerhalb dieser Produktion darstellt. <strong>Die</strong> "fallende Lohnquote" auf dem Wege der<br />

Gesetzgebung beseitigen heißt also soviel, wie das Existenzmotiv der kapitalistischen Wirtschaft<br />

ausschalten, ihr Lebensprinzip unterbinden wollen. Man stelle sich aber die Sache konkret vor. Der<br />

einzelne Kapitalist wie die kapitalistische Gesellschaft im ganzen kennt ja überhaupt den Wert der<br />

Produkte als eine Summe gesellschaftlich notwendiger Arbeit nicht und ist gar nicht imstande, ihn so zu<br />

fassen. Der Kapitalist kennt ihn nur in der abgeleiteten und durch die Konkurrenz auf den Kopf gestellten<br />

Form der Produktionskosten. Während der Wert <strong>des</strong> Produkts in die Wertteile c + v + m zerfällt, setzen<br />

sich die Produktionskosten im Bewußtsein <strong>des</strong> Kapitalisten umgekehrt aus c + v + m zusammen Und<br />

zwar stellen sich ihm auch diese in der verschobenen und abgeleiteten Form dar 1. als Verschleiß seines<br />

fixen <strong>Kapitals</strong>, 2. als seine Auslagen an zirkulierendem Kapital einschließlich der Auslagen für Löhne der<br />

Arbeiter, 3. als die "übliche", d.h. durchschnittliche Profitrate auf sein gesamtes Kapital. Wie soll nun der<br />

Kapitalist, sagen wir, durch ein Gesetz im Rodbertusschen Sinne gezwun- gen, eine "feste<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 17. Kapitel<br />

Lohnquote" gegenüber dem gesamten Produktwert einhalten? Der <strong>Ein</strong>fall ist genauso geistreich, wie<br />

wenn man durch Gesetz fixieren wollte, bei der Herstellung aller Waren dürfe der Rohstoff nie mehr oder<br />

weniger als ein Drittel <strong>des</strong> Gesamtpreises der Waren ausmachen. Es ist klar, daß die Hauptidee<br />

Rodbertus', auf die er stolz war und baute wie auf eine neue archimedische Entdeckung und mit der er die<br />

kapitalistische Produktion radikal kurieren wollte, von allen Standpunkten der kapitalistischen<br />

Produktionsweise ein barer, blühender Unsinn ist, zu dem man aber auch nur aus jener Konfusion über<br />

die Werttheorie heraus gelangen konnte, die bei Rodbertus in dem unvergleichlichen Satze kulminiert,<br />

"das Produkt müsse jetzt (in der kapitalistischen Gesellschaft - R. L.) so Tauschwert haben, wie es in der<br />

antiken Wirtschaft Gebrauchswert haben mußte".(11) In der antiken Gesellschaft mußten Brot und<br />

Fleisch gegessen werden, damit man von ihnen leben konnte, jetzt aber wird man schon satt, wenn man<br />

den Preis von Fleisch und Brot weiß! Was jedoch am deutlichsten aus der fixen Idee der "fixen<br />

Lohnquote" bei Rodbertus herausschaut, ist seine völlige Unfähigkeit, die kapitalistische <strong>Akkumulation</strong><br />

zu begreifen.<br />

Man hat schon aus den früheren Zitaten entnehmen können, daß er, im <strong>Ein</strong>klang mit der verkehrten<br />

Vorstellung, der Zweck der kapitalistischen Produktion sei die Herstellung von Konsumgegenständen zur<br />

Befriedigung "menschlicher Bedürfnisse", ausschließlich die einfache Reproduktion im Auge hat. Spricht<br />

er doch immer nur vom "Ersatz <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>" und von der Notwendigkeit, die Kapitalisten zu befähigen,<br />

"ihre Betriebe in dem bisherigen Umfange" fortzusetzen. Seine Hauptidee wendet sich aber direkt gegen<br />

die <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>. <strong>Die</strong> Mehrwertrate fixieren, ihr Wachstum verhindern heißt die<br />

<strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong> lahmlegen. In der Tat war für Sismondi wie für v. Kirchmann die Frage <strong>des</strong><br />

Gleichgewichts zwischen Produktion und Konsumtion eine Frage der <strong>Akkumulation</strong>, d.h. der erweiterten<br />

kapitalistischen Reproduktion. Beide leiteten die Störungen in dem Gleichgewicht der Reproduktion von<br />

der <strong>Akkumulation</strong> her, deren Möglichkeit beide verneinten. Nur daß der eine als Mittel dagegen die<br />

Dämpfung der Produktivkräfte überhaupt, während der andere ihre steigende Verwendung in der<br />

Luxusproduktion, das restlose Verzehren <strong>des</strong> Mehrwerts empfahl. Rodbertus geht auch hier seine eigenen<br />

Wege. Während jene mit mehr oder weniger Erfolg die Erscheinung der kapitalistischen <strong>Akkumulation</strong><br />

zu fassen suchten, kämpft Rodbertus gegen den Begriff.<br />

"<strong>Die</strong> Nationalökonomen haben seit A. Smith einander nachgesprochen und es als allgemeine und<br />

absolute Wahrheit aufgestellt, daß das Kapital nur durch Sparen und Ansammeln entstehe."(12) Gegen<br />

diese "Verirrung" zieht nun Rodbertus wohlgerüstet zu Felde, und er weist auf 60 Druckseiten haarklein<br />

nach, daß Kapital nicht durch Sparen, sondern durch Arbeit entsteht, daß der "Irrtum" der<br />

Nationalökonomen in bezug auf das "Sparen" daher rühre, weil sie die irrtümliche Auffassung hätten, die<br />

Produktivität hafte dem Kapital an, dieser Irrtum endlich von einem anderen Irrtum: daß Kapital - Kapital<br />

sei.<br />

v. Kirchmann seinerseits verstand sehr gut, was hinter dem kapitalistischen "Sparen" steckt. Er führt ganz<br />

hübsch aus: "Kapitalansammlung besteht bekanntlich nicht in dem bloßen Anhäufen von Vorräten oder in<br />

dem Sammeln von Metall- und Geldvorräten, die dann in den Kellern <strong>des</strong> Eigentümers ungenützt<br />

liegenbleiben, sondern wer sparen will, tut es, um selbst oder durch andere seine ersparte Summe als<br />

Kapital wieder nutzbar anzuwenden, um davon Revenuen zu ziehen. <strong>Die</strong>se Revenuen sind nur möglich,<br />

wenn diese Kapitale zu neuen Unternehmungen verwendet werden, die durch ihre Produkte imstande<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 17. Kapitel<br />

sind, jene verlangten Zinsen abzuwerfen. Der eine baut ein Schiff, der andere baut eine Scheune, der<br />

dritte kultiviert damit eine öde Heide, der vierte läßt sich eine neue Spinnmaschine kommen, der fünfte<br />

kauft mehr Leder und nimmt mehr Gesellen an, um seine Schuhmacherprofession zu erweitern usw. Erst<br />

in dieser Anwendung kann das gesparte Kapital Zinsen (soll heißen: Profit - R. L.) tragen, was der<br />

Endzweck alles Sparens ist."(13) Was v. Kirchmann hier mit unbeholfenen Worten, aber im ganzen<br />

richtig schildert, ist nichts anderes als der Prozeß der Kapitalisierung <strong>des</strong> Mehrwerts, der kapitalistischen<br />

<strong>Akkumulation</strong>, die ja den ganzen Sinn <strong>des</strong> von der klassischen Ökonomie "seit A. Smith" mit richtigem<br />

Instinkt befürworteten "Sparens" ausmacht. v. Kirchmann ist denn von seinem Standpunkt ganz<br />

konsequent, wenn er, da nach seiner Auffassung - wie bei Sismondi - die Krisen sich direkt aus der<br />

<strong>Akkumulation</strong> ergeben, gegen die <strong>Akkumulation</strong>, gegen das "Sparen" zu Felde zieht. Rodbertus ist auch<br />

hier der "gründlichere" Mann. Er hat zu seinem Unglück aus der Ricardoschen Werttheorie die <strong>Ein</strong>sicht<br />

gewonnen, daß Arbeit die einzige Quelle <strong>des</strong> Werts, also auch <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong> ist. Und diese elementare<br />

Weisheit genügt ihm vollständig, um ihn für alle komplizierten Verhältnisse der Kapitalproduktion und<br />

der Kapitalbewegungen völlig blind zu machen. Da Kapital durch Arbeit entsteht, so ist <br />

Kapitalakkumulation, d.h. "Sparen", Kapitalisierung <strong>des</strong> Mehrwertes - bloßer Humbug.<br />

Um diesen verworrenen Knäuel von Irrtümern "der Nationalökonomen seit A. Smith" zu entwirren,<br />

nimmt er sich, wie sich von selbst versteht, einen "isolierten Wert" vor und weist in einer langen<br />

Vivisektion an dem unglücklichen Wurm alles nach, was er braucht. So findet er hier schon das "Kapital",<br />

d.h. natürlich den berühmten "ersten Stock", womit die Nationalökonomie "seit A. Smith" die Früchte<br />

ihrer Kapitaltheorie vom Baume der Erkenntnis schlägt. Entsteht der Stock etwa aus "Sparen"? fragt<br />

Rodbertus. Und da jeder normale Mensch versteht, daß aus "Sparen" kein Stock entstehen kann, sondern<br />

daß sich Robinson den Stock aus Holz verfertigen muß, so ist auch schon bewiesen, daß die "Spartheorie"<br />

ganz falsch sei. Weiter: Der "isolierte Wert" schlägt sich mit dem Stock eine Frucht vom Baume, diese<br />

Frucht ist sein "<strong>Ein</strong>kommen". "Wenn Kapital die Quelle von <strong>Ein</strong>kommen wäre, so müßte sich dies<br />

Verhältnis schon an diesem ursprünglichen und einfachsten Vorgange nachweisen lassen. Aber kann man,<br />

ohne den Dingen und Begriffen Gewalt anzutun, den Stecken die Quelle <strong>des</strong> <strong>Ein</strong>kommens oder eines<br />

Teils <strong>des</strong> <strong>Ein</strong>kommens nennen, das in der herabgeschlagenen Frucht besteht, dieses <strong>Ein</strong>kommen ganz<br />

oder zum Teil auf den Stecken als seine Ursache zurückführen. ganz oder zum Teil als Produkt <strong>des</strong><br />

Steckens betrachten?"(14) Sicher nicht. Und da die Frucht das Produkt nicht "<strong>des</strong> Steckens", womit sie<br />

abgeschlagen, sondern <strong>des</strong> Baumes, auf dem sie gewachsen, so hat Rodbertus auch schon bewiesen, daß<br />

alle Nationalökonomen "seit A. Smith" sich gründlich irrten, wenn sie behaupteten. das <strong>Ein</strong>kommen rühre<br />

vom Kapital her. Nachdem so an der "Wirtschaft" Robinsons alle Grundbegriffe der Nationalökonomie<br />

klargelegt sind, überträgt Rodbertus die so gewonnene Erkenntnis zuerst auf eine fingierte Gesellschaft<br />

"ohne Kapital- und Grundeigentum", d.h. mit kommunistischem Besitz, sodann auf die Gesellschaft "mit<br />

Kapital- und Grundeigentum", d.h. auf die heutige Gesellschaft - und siehe da: Alle Gesetze der<br />

Robinsonwirtschaft bewähren sich Punkt für Punkt auch in diesen beiden Gesellschaftsformen. Hier stellt<br />

Rodbertus eine Theorie vom Kapital und <strong>Ein</strong>kommen auf, die seiner utopischen Phantasie die Krone<br />

aufsetzt. Da er entdeckt hat, daß bei Robinson "das Kapital" schlicht und einfach die Produktionsmittel<br />

sind, so identifiziert er auch in der kapitalistischen Wirtschaft Kapital mit Produktionsmitteln, und hat er<br />

so das Kapital mit einer Handbewegung auf konstantes Kapital reduziert, so protestiert er im Namen der<br />

Gerechtigkeit und der Moral dagegen, daß die Existenzmittel der Arbeiter, ihre Löhne, auch als<br />

Kapital betrachtet werden. Gegen den Begriff <strong>des</strong> variablen <strong>Kapitals</strong> kämpft er hitzig, denn dieser Begriff<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 17. Kapitel<br />

sei an allem Unheil schuld! "Möchten doch die Nationalökonomen", fleht er, "mir hier Aufmerksamkeit<br />

schenken und unbefangen prüfen, ob sie oder ich recht haben! Hier liegt der Knotenpunkt aller Irrtümer<br />

<strong>des</strong> herrschenden Systems über das Kapital, hier der letzte Grund der theoretischen wie praktischen<br />

Ungerechtigkeit gegen die arbeitenden Klassen."(15) <strong>Die</strong> "Gerechtigkeit" fordert nämlich, daß man die<br />

"realen Lohngüter" der Arbeiter nicht zum Kapital, sondern zur Kategorie <strong>Ein</strong>kommen rechne. Rodbertus<br />

weiß zwar sehr wohl, daß für den Kapitalisten die von ihm "vorgestreckten" Löhne ein Teil seines<br />

<strong>Kapitals</strong> sind, ganz so wie der andere in toten Produktionsmitteln vorgestreckte Teil. Allein das bezieht<br />

sich nach Rodbertus nur auf das <strong>Ein</strong>zelkapital. Sobald er das gesellschaftliche Gesamtprodukt und die<br />

Gesamtreproduktion ins Auge faßt, erklärt er die kapitalistischen Kategorien der Produktion für ein<br />

Trugbild, eine boshafte Lüge und eine "Ungerechtigkeit". "Etwas ganz anderes als das Kapital an sich, die<br />

Kapitalgegenstände, das Kapital vom Standpunkt der Nation, ist das Privatkapital, das Kapitalvermögen,<br />

das Kapitaleigentum, das, was gewöhnlich heute unter 'Kapital' verstanden wird."(16) <strong>Die</strong><br />

<strong>Ein</strong>zelkapitalisten produzieren kapitalistisch, die Gesamtgesellschaft aber genauso wie Robinson, d.h. als<br />

ein Gesamteigentümer, kommunistisch: "Daß jetzt das gesamte Nationalprodukt auf allen verschiedenen<br />

Produktionsstufen zu größeren oder kleineren Teilen einzelnen Privatpersonen, die zu den eigentlichen<br />

Produzenten gar nicht zu rechnen sind, zu eigen gehört, daß die eigentlichen Produzenten dies ganze<br />

Nationalprodukt immerfort nur im <strong>Die</strong>nste dieser wenigen Eigentümer herstellen ohne Miteigentümer an<br />

ihrem eigenen Produkt zu sein, macht von diesem allgemeinen und nationalen Standpunkt aus<br />

keinen Unterschied." Freilich ergeben sich daraus gewisse Besonderheiten der Verhältnisse auch für die<br />

Gesellschaft im ganzen, nämlich erstens "der Tausch" als Vermittler und zweitens die ungleiche<br />

Verteilung <strong>des</strong> Produkts. "Allein sowenig alle diese Wirkungen verhindern, daß nach wie vor die<br />

Bewegung der Nationalproduktion und die Gestaltung <strong>des</strong> Nationalprodukts im allgemeinen dieselbe<br />

bleibt (wie unter der Herrschaft <strong>des</strong> Kommunismus), sowenig alterieren sie auch vom nationalen<br />

Standpunkt aus in irgendeiner Beziehung den bisher aufgestellten Gegensatz von Kapital und<br />

<strong>Ein</strong>kommen." Sismondi mühte sich gleich Smith und vielen anderen im Schweiße seines Angesichts ab,<br />

um den Begriff von Kapital und <strong>Ein</strong>kommen aus den Widersprüchen der kapitalistischen Produktion zu<br />

entwirren; Rodbertus macht sich die Sache leichter: er sieht für die Gesellschaft im ganzen von allen<br />

Formbestimmtheiten der kapitalistischen Produktion einfach ab und nennt "Kapital" die Produktionsmittel<br />

und "<strong>Ein</strong>kommen" die Konsumtionsmittel - basta! "Das Grund- und Kapitaleigentum hat nur in bezug auf<br />

die verkehrenden Individuen einen wesentlichen <strong>Ein</strong>fluß. Faßt man also die Nation als eine <strong>Ein</strong>heit auf, so<br />

verschwinden seine Wirkungen auf die Individuen."(17) Man sieht, Rodbertus zeigt, sobald er an das<br />

eigentliche Problem, an das kapitalistische Gesamtprodukt und seine Bewegung, herantritt, die typische<br />

Geringschätzung <strong>des</strong> Utopisten für historische Besonderheiten der Produktion, und auf ihn paßt wie<br />

angegossen die Bemerkung, die Marx über Proudhon macht, daß, sobald er von der Gesellschaft im<br />

ganzen spricht, er so tut, als ob sie aufhörte, kapitalistisch zu sein. Andererseits sieht man am Beispiel<br />

Rodbertus' wieder, wie hilflos die gesamte Nationalökonomie vor Marx in ihren Bemühungen<br />

herumtappte, sachliche Gesichtspunkte <strong>des</strong> Arbeitsprozesses mit Wertstandpunkten der kapitalistischen<br />

Produktion, Bewegungsformen <strong>des</strong> <strong>Ein</strong>zelkapitals mit denen <strong>des</strong> gesellschaftlichen Gesamtkapitals in<br />

<strong>Ein</strong>klang zu bringen. <strong>Die</strong>se Bemühungen pendeln gewöhnlich zwischen zwei Extremen: der vulgären<br />

Auffassung à la Say, MacCulloch, für die überhaupt nur Gesichtspunkte <strong>des</strong> <strong>Ein</strong>zelkapitals existieren, und<br />

der utopischen Auffassung à la Proudhon, Rodbertus, für die nur Standpunkte <strong>des</strong> Arbeitsprozesses<br />

existieren. Da lernt man erst schätzen, welches enorme Licht über die ganze Sache durch das Schema der<br />

einfachen Reproduktion von Marx verbreitet worden ist, wo alle jene Stand- punkte in ihrem<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 17. Kapitel<br />

<strong>Ein</strong>klang wie in ihrem Widerspruch zusammengefaßt und wo der heillose Wirrwarr zahlloser Bände in<br />

zwei Zahlenreihen von verblüffender <strong>Ein</strong>fachheit aufgelöst ist.<br />

Daß bei einer solchen Auffassung von Kapital und <strong>Ein</strong>kommen die kapitalistische Aneignung<br />

unerklärlich wird, versteht sich von selbst. Rodbertus erklärt sie denn auch einfach für "Raub" und<br />

verklagt sie vor dem Forum <strong>des</strong> Eigentumsrechts, <strong>des</strong>sen schnöde Verletzung sie darstelle. "Wenn also ...<br />

diese persönliche Freiheit (der Arbeiter), die rechtlich das Eigentum am Wert <strong>des</strong> Arbeitsprodukts<br />

involviert, infolge <strong>des</strong> vom Grund- und Kapitaleigentum über die Arbeiter geübten Zwanges in der Praxis<br />

wieder zur Entäußerung jenes Eigentumsanspruchs führt - so ist es, als ob eine instinktive Scheu, daß die<br />

Geschichte ihre strengen, unerbittlichen Syllogismen daraus ziehen könne, die Besitzer von dem<br />

Geständnis dieses großen und allgemeinen Unrechts abhielte."(18) "Daher ist endlich diese<br />

(Rodbertussche) Theorie in allen ihren <strong>Ein</strong>zelheiten ein durchgängiger Beweis, daß jene Lobredner der<br />

heutigen Eigentumsverhältnisse, die sich doch wieder nicht entbrechen können, das Eigentum auf die<br />

Arbeit zu gründen, mit ihrem eigenen Prinzip im vollständigsten Widerspruch stehen. Sie beweist, daß die<br />

heutigen Eigentumsverhältnisse gerade auf einer allgemeinen Verletzung dieses Prinzips beruhen und daß<br />

jene großen individuellen Vermögen. die sich heute in der Gesellschaft anhäufen ..., mit jedem<br />

neugeborenen Arbeiter den schon von alters her sich in der Gesellschaft anhäufenden Raub<br />

vergrößern."(19) Und ist der Mehrwert so zum "Raub" erklärt worden, so erscheint die steigende<br />

Mehrwertrate als "ein merkwürdiger Fehler in der heutigen nationalökonomischen Organisation".(20)<br />

Proudhon hat in seinem ersten Pamphlet wenigstens den paradoxen und rohen, aber revolutionär<br />

klingenden Satz Brissots ausgesponnen: Eigentum ist <strong>Die</strong>bstahl. Rodbertus beweist, daß das Kapital ein<br />

<strong>Die</strong>bstahl am Eigentum sei. Man vergleiche damit im ersten Bande <strong>des</strong> Marxschen "<strong>Kapitals</strong>" das Kapitel<br />

über den Umschlag der Eigentumsgesetze in Gesetze der kapitalistischen Aneignung, das ein<br />

Meisterstück historischer Dialektik bietet, und man wird wieder einmal die "Priorität" Rodbertus'<br />

konstatieren können. Jedenfalls hat sich Rodbertus durch seine Deklamationen gegen die kapitalistische<br />

Aneignung vom Standpunkte <strong>des</strong> "Eigentumrecht" das Verständnis für die Entstehung <strong>des</strong> Mehrwerts aus<br />

Kapital ebenso versperrt, wie er sich früher durch seine Deklamationen gegen das "Sparen" das<br />

Verständnis für die Entstehung <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong> aus Mehrwert versperrt hatte. So gehen Rodbertus alle<br />

Voraussetzungen für das Begreifen der kapitalistischen <strong>Akkumulation</strong> ab, und er bringt es fertig, darin<br />

sogar vor v. Kirchmann den kürzeren zu ziehen.<br />

Summa: Rodbertus will unumschränkte Erweiterung der Produktion, aber ohne alles "Sparen", d.h. ohne<br />

kapitalistische <strong>Akkumulation</strong>! Er will unumschränkte Steigerung der Produktivkräfte - aber eine feste<br />

Mehrwertrate durch Staatsgesetz! Mit einem Wort, er zeigt völlige Verständnislosigkeit für die<br />

eigentlichen Grundlagen der kapitalistischen Produktion, die er reformieren will, wie für die wichtigsten<br />

Ergebnisse der klassischen Nationalökonomie, gegen die er kritisch zu Felde zieht.<br />

Deshalb sagt Professor <strong>Die</strong>hl natürlich, Rodbertus habe in der theoretischen Nationalökonomie durch<br />

seine "neue <strong>Ein</strong>kommenstheorie" und durch die Unterscheidung der logischen und historischen<br />

Kategorien <strong>des</strong> Kapital (jenes bewußte "Kapital an sich" im Gegensatz zum <strong>Ein</strong>zelkapital) bahnbrechend<br />

gewirkt. Und <strong>des</strong>halb nennt ihn natürlich Professor Adolph Wagner "den Ricardo <strong>des</strong> ökonomischen<br />

Sozialismus", um so die eigene Unschuld in bezug auf Ricardo, Rodbertus wie den Sozialismus mit einem<br />

Schlage zu dokumentieren. Lexis aber findet gar, daß Rodbertus "seinem britischen Rivalen" an Kraft <strong>des</strong><br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 17. Kapitel<br />

abstrakten Denkens min<strong>des</strong>tens gleichkäme; ihn aber in der "Virtuosität der Aufdeckung <strong>des</strong> tiefsten<br />

Zusammenhanges der Erscheinungen", in der "Lebendigkeit der Phantasie" und vor allem - in seinem<br />

"ethischen Standpunkt gegenüber dem Wirtschaftsleben" weitaus überträfe. Das hingegen, was Rodbertus<br />

wirklich in der theoretischen Ökonomie außer seiner Kritik der Grundrente von Ricardo geleistet hat:<br />

seine stellenweise ganz klare Unterscheidung von Mehrwert und Profit, seine Behandlung <strong>des</strong> Mehrwerts<br />

als Ganzes im bewußten Unterschied von <strong>des</strong>sen Teilerscheinungen, seine teilweise vortreffliche Kritik<br />

<strong>des</strong> Smithschen Dogmas über die Wertzusammensetzung der Waren, seine scharfe Formulierung der<br />

Periodizität der Krisen und die Analyse ihrer Erscheinungsformen - wertvolle Ansätze, um die Analyse<br />

über Smith-Ricardo hinauszuführen, die freilich an der Konfusion in den Grundbegriffen scheitern mußte -<br />

, das alles sind den offiziellen Bewunderern Rodbertus' meistens böhmische Dörfer. Franz Mehring hat<br />

schon auf das merkwürdige Los Rodbertus' hingewiesen, für seine angeblichen nationalökonomischen<br />

Großtaten in den Himmel gehoben, wegen seiner wirklichen politischen Verdienste hingegen von<br />

denselben Leuten "wie ein dumme Junge" behandelt zu werden. In unserem Fall handelt es sich <br />

aber nicht einmal um den Gegensatz seiner ökonomischen und politischen Leistungen: Auf dem Gebiete<br />

der theoretischen Nationalökonomie selbst haben ihm seine Lobhudler ein großes Denkmal auf dem<br />

Sandfelde errichtet, wo er mit dem hoffnungslosen Eifer eines Utopisten grub, während sie zugleich die<br />

paar bescheidenen Beete mit Unkraut haben überwuchern und in Vergessenheit geraten lassen, in denen<br />

er einige fruchtbare Setzlinge hinterlassen hatte.(21)<br />

Im ganzen kann man nicht behaupten, daß das Problem der <strong>Akkumulation</strong> seit der ersten Kontroverse, in<br />

preußisch-pommerscher Behandlung, vorwärtsgekommen wäre. Wenn die ökonomische Harmonielehre<br />

inzwischen von der Höhe Ricardos auf Bastiat-Schulze heruntergekommen war, so hat auch die soziale<br />

Kritik dementsprechend den Abrutsch von Sismondi auf Rodbertus vollzogen. Und wenn die Kritik<br />

Sismondis im Jahre 1819 eine geschichtliche Tat war, so waren die Reformideen Rodbertus' schon<br />

bei ihrem ersten Auftreten, zumal aber in seinen späteren Wiederholungen ein kläglicher Rückschritt.<br />

In der Polemik zwischen Sismondi und Say-Ricardo bewies die eine Seite die Unmöglichkeit der<br />

<strong>Akkumulation</strong> infolge der Krisen und warnte vor der Entfaltung der Produktivkräfte. <strong>Die</strong> andere Seite<br />

bewies die Unmöglichkeit der Krisen und befürwortete die schrankenlose Entfaltung der <strong>Akkumulation</strong>.<br />

Jede war trotz der Verkehrtheit <strong>des</strong> Ausgangspunkts in ihrer Art konsequent. v. Kirchmann und Rodbertus<br />

gehen beide, wie auch nicht anders möglich war, von der Tatsache der Krisen aus. Trotzdem aber jetzt,<br />

nach der geschichtlichen Erfahrung eines halben Jahrhunderts, die Krisen sich gerade durch ihre<br />

Periodizität nur als Bewegungsform der kapitalistischen Reproduktion deutlich erwiesen hatten, wurde<br />

auch hier das Problem der erweiterten Reproduktion <strong>des</strong> Gesamtkapitals, der <strong>Akkumulation</strong>, mit dem<br />

Problem der Krisen völlig identifiziert und dadurch auf das tote Gleis <strong>des</strong> Suchens nach einem Mittel<br />

gegen Krisen geschoben. <strong>Die</strong> eine Seite sieht dabei das Mittel in dem restlosen Verzehren <strong>des</strong> Mehrwerts<br />

durch die Kapitalisten, d.h. im Verzicht auf die <strong>Akkumulation</strong>, die andere - in einer gesetzlichen<br />

Fixierung der Mehrwertrate, d.h. gleichfalls im Verzicht auf die <strong>Akkumulation</strong>. <strong>Die</strong> Spezialschrulle<br />

Rodbertus' beruht hierbei darauf, daß er ohne kapitalistische <strong>Akkumulation</strong> eine schrankenlose<br />

kapitalistische Steigerung der Produktivkräfte und <strong>des</strong> Reichtums erhofft und befürwortet. Zu einer Zeit,<br />

wo der hohe Reifegrad der kapitalistischen Produktion bald ihre grundlegende Analyse durch Marx<br />

ermöglichen sollte, artete der letzte Versuch der bürgerlichen Ökonomie, allein mit dem Problem der<br />

Reproduktion fertig zu werden, in eine abgeschmackte kindische Utopie aus.<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 17. Kapitel<br />

Fußnoten von <strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong><br />

(1) l.c., Bd. III, S. 176.


<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 17. Kapitel<br />

<strong>des</strong> Guts mit den Auslagen <strong>des</strong> Unternehmers oder den Kosten <strong>des</strong> Betriebs." (Zur Erkenntniß,<br />

Neubrandenburg und Friedland 1842, S. 14.)


<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 17. Kapitel<br />

zu Band III ruhig weiter von "Band II" fortwährend reden läßt, wo der "Erste sociale Brief" in Band III,<br />

der zweit und dritte in Band II und der vierte in Band I geraten ist, wo überhaupt die Reihenfolge der<br />

"Socialen Briefe", "Kontroversen", Teile "Zur Beleuchtung [der Socialen Frage]" und Bände,<br />

chronologische und logische Zusammenhänge, Datum der Herausgaben und Datum der Entstehung der<br />

Schriften ein undurchdringlicheres Chaos darstellen als die Schichtungen der Erdrinde nach mehrmaligen<br />

vulkanischen Ausbrüchen und wo - im Jahre 1899 - wohl aus Pietät für Professor Wagner das Datum der<br />

ältesten Schrift Rodbertus' auf 1837 beibehalten worden ist, trotzdem Mehrings Belehrung bereits 1894<br />

erfolgt war! Man vergleiche damit <strong>des</strong> Marxschen Nachlaß in den Ausgaben von Mehring und Kautsky<br />

bei <strong>Die</strong>tz, und man wird sehen, wie sich in scheinbar so äußerlichen Dingen tiefere Zusammenhänge<br />

spiegeln. So wird das wissenschaftliche Erbe der Meister <strong>des</strong> klassenbewußten Proletariats gepflegt und<br />

so wird von <strong>des</strong> offiziellen Gelehrten der Bourgeoisie das Erbe eines Mannes vertrödelt, der nach ihrer<br />

eigenen interessierten Legende ein erstklassiges Genie war! Suum cuique - war der Wahlspruch<br />

Rodbertus'.


<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 18. Kapitel<br />

17. Kapitel | Inhalt | 19. Kapitel<br />

<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - Gesammelte Werke. Herausgegeben vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Band<br />

5. <strong>Berlin</strong>/DDR. 1975. "<strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>", S. 225-231.<br />

1. Korrektur.<br />

Erstellt am 20.10.1998<br />

Dritter Waffengang<br />

Struve - Bulgakow - Tugan-Baranowski<br />

gegen Woronzow - Nikolai-on<br />

Achtzehntes Kapitel<br />

Das Problem in neuer Auflage<br />

In einem ganz anderen historischen Rahmen als die beiden ersten spielte sich die dritte<br />

Kontroverse um die Frage der kapitalistischen <strong>Akkumulation</strong> ab. <strong>Die</strong>smal war die Zeit der Handlung der<br />

Anfang der 80er Jahre bis um die Mitte der 90er und ihr Schauplatz Rußland. <strong>Die</strong> kapitalistische<br />

Entwicklung hatte bereits in Westeuropa ihren Reifegrad erreicht. <strong>Die</strong> einstige rosige Auffassung der<br />

Klassiker Smith-Ricardo mitten in der in Knospen stehenden bürgerlichen Gesellschaft war längst<br />

zerronnen. Auch der interessierte Optimismus der vulgär-manchesterlichen Harmonielehre war unter<br />

dem niederschmetternden <strong>Ein</strong>druck <strong>des</strong> Weltkrachs der 70er Jahre sowie unter den wuchtigen Schlägen<br />

<strong>des</strong> seit den 60er Jahren in allen kapitalistischen Ländern entbrannten heftigen Klassenkampfes<br />

verstummt. Selbst von den sozialreformerisch geflickten Harmonien, die sich namentlich in Deutschland<br />

noch Anfang der 80er Jahre breitgemacht hatten, war sehr bald nur der Katzenjammer geblieben, die<br />

12jährige Prüfungszeit <strong>des</strong> Ausnahmegesetzes gegen die Sozialdemokratie hatte eine grausame<br />

Ernüchterung gebracht, alle Harmonieschleier endgültig zerrissen und die nackte Wirklichkeit der<br />

kapitalistischen Gegensätze in ihrer ganzen Schroffheit enthüllt. Optimismus war seitdem nur noch im<br />

Lager der aufstrebenden Arbeiterklasse und ihrer theoretischen Wortführer möglich. <strong>Ein</strong> Optimismus<br />

freilich nicht in bezug auf das natürliche oder künstlich hergestellte innere Gleichgewicht der<br />

kapitalistischen Wirtschaft und ihre ewige Dauer, sondern in dem Sinne, daß die von ihr mächtig<br />

geförderte Entfaltung der Produktivkräfte gerade durch ihre inneren Widersprüche einen ausgezeichneten<br />

historischen Boden für die fortschrittliche Entwicklung der Gesellschaft zu neuen ökonomischen und<br />

sozialen Formen biete. <strong>Die</strong> negative, herabdrückende Tendenz der ersten Periode <strong>des</strong> Kapitalismus, die<br />

einst Sismondi allein vor den Augen hatte und die noch Rodbertus in den 40er und 50er Jahren sah, war<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 18. Kapitel<br />

jetzt aufgewogen durch die emporhebende Tendenz: das hoffnungsvolle und siegreiche Aufstreben der<br />

Arbeiterklasse in ihrer gewerkschaftlichen und politischen Aktion.<br />

So war das Milieu in Westeuropa beschaffen. Anders sah es freilich um dieselbe Zeit in Rußland<br />

aus. Hier stellen die siebziger und achtziger Jahre in jeder Hinsicht eine Übergangszeit, eine Periode der<br />

inneren Krise mit all ihren Qualen dar. <strong>Die</strong> Großindustrie feierte erst eigentlich ihren <strong>Ein</strong>zug unter der<br />

<strong>Ein</strong>wirkung der hochschutzzöllnerischen Periode. In der nun einsetzenden forcierten Förderung <strong>des</strong><br />

Kapitalismus durch die absolutistische Regierung bildete namentlich die <strong>Ein</strong>führung <strong>des</strong> Goldzolls an der<br />

westlichen Grenze im Jahre 1877 einen Markstein. <strong>Die</strong> "primitive <strong>Akkumulation</strong>" <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong> gedieh in<br />

Rußland unter der Begünstigung allerlei staatlicher Subsidien, Garantien, Prämien und<br />

Staatsbestellungen herrlich und erntete Profite, die im Westen um jene Zeit bereits ins Reich der Fabel<br />

gehörten. <strong>Die</strong> inneren Zustände Rußlands boten dabei ein nichts weniger als anziehen<strong>des</strong> und<br />

hoffnungsvolles Bild dar. Auf dem platten Lande zeitigte der Niedergang und die Zersetzung der<br />

bäuerlichen Wirtschaft unter dem Druck der fiskalischen Auspowerung und der Geldwirtschaft<br />

grauenvolle Zustände, periodische Hungersnöte und periodische Bauernunruhen. Andererseits war das<br />

Fabrikproletariat in den Städten sozial und geistig noch nicht zu einer modernen Arbeiterklasse<br />

konsolidiert. Namentlich in dem größten industriellen Zentralbezirk Moskau-Wladimir, dem wichtigsten<br />

Sitz der russischen Textilindustrie, war es noch zum großen Teil mit der Landwirtschaft verwachsen und<br />

halb bäuerisch. Dementsprechend primitive Formen der Ausbeutung riefen primitive Äußerungen der<br />

Abwehr auf den Plan. Anfangs der 80er Jahre sollten erst die spontanen Fabriktumulte im Moskauer<br />

Bezirk, bei denen Maschinen zertrümmert wurden, den Anstoß zu den ersten Grundlagen einer<br />

Fabrikgesetzgebung im Zarenreiche geben.<br />

Wies so die wirtschaftliche Seite <strong>des</strong> öffentlichen Lebens in Rußland auf jedem Schritt schreiende<br />

Dissonanzen einer Übergangsperiode auf, so entsprach ihr auch eine Krise im geistigen Leben Der<br />

"volkstümlerische", bodenständige russische Sozialismus, der theoretisch auf den Eigentüm- <br />

lichkeiten der russischen Agrarverfassung basierte, war nach dem Fiasko seines äußersten revolutionären<br />

Ausdrucks: der terroristischen Partei der "Narodnaja Wolja", politisch bankrott. Andererseits waren die<br />

ersten Schriften Georg Plechanows, die den marxistischen Gedankengängen in Rußland <strong>Ein</strong>gang<br />

verschaffen sollten, erst 1883 und 1885 erschienen und etwa für ein Jahrzehnt noch von scheinbar<br />

geringem <strong>Ein</strong>fluß geblieben. Während der 80er Jahre und bis in die 90er Jahre hinein war das geistige<br />

Leben der russischen Intelligenz, namentlich der oppositionell gesinnten, sozialistischen Intelligenz, von<br />

einem seltsamen Gemisch "bodenständiger" Überbleibsel der Volkstümelei mit aufgegriffenen<br />

Elementen der Marxschen Theorie beherrscht, ein Gemisch, <strong>des</strong>sen hervorstechenden Zug die Skepsis in<br />

bezug auf die Entwicklungsmöglichkeiten <strong>des</strong> Kapitalismus in Rußland bildete.<br />

<strong>Die</strong> Frage, ob Rußland die kapitalistische Entwicklung nach dem Beispiel <strong>des</strong> westlichen Europa<br />

durchmachen soll, beschäftigte sehr früh die russische Intelligenz. <strong>Die</strong>se sah auch in Westeuropa vorerst<br />

nur die Schattenseiten <strong>des</strong> Kapitalismus, seine zersetzende Wirkung auf die hergebrachten<br />

patriarchalischen Produktionsformen und auf den Wohlstand und die Sicherheit der Existenz breiter<br />

Volksmassen. Andererseits erschien das russische bäuerliche Gemeineigentum an Grund und Boden, die<br />

berühmte "Obschtschina", als ein möglicher Ausgangspunkt für eine höhere soziale Entwicklung in<br />

Rußland, das unter Umgehung <strong>des</strong> kapitalistischen Stadiums mit seinen Leiden auf einem kürzeren und<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 18. Kapitel<br />

weniger qualvollen Wege als die westeuropäischen Länder in das gelobte Land <strong>des</strong> Sozialismus gelangen<br />

würde. Sollte man nun diese glückliche Ausnahmelage, diese einzigartige geschichtliche Gelegenheit<br />

verscherzen, indem man durch eine forcierte Verpflanzung der kapitalistischen Produktion nach Rußland<br />

unter staatlicher Beihilfe die bäuerlichen Besitz- und Produktionsformen vernichtete, der<br />

Proletarisierung, dem Elend und der Unsicherheit der Existenz der arbeitenden Massen Tür und Tor<br />

öffnete?<br />

<strong>Die</strong>ses Grundproblem beherrschte das geistige Leben der russischen Intelligenz seit der Bauernreform, ja<br />

schon früher, seit Herzen und nament- lich seit Tschernyschewski, es bildete die Zentralachse, um<br />

die sich eine ganze eigenartige Weltanschauung, die "volkstümlerische", geformt hatte. <strong>Die</strong>se<br />

Geistesrichtung, die in verschiedenen Abarten und Tendenzen spielte - von den deutlich reaktionären<br />

Lehren <strong>des</strong> Slavophilismus bis zur revolutionären Theorie der terroristischen Partei -, hat in Rußland eine<br />

enorme Literatur geschaffen. <strong>Ein</strong>erseits förderte sie ein reiches Material in <strong>Ein</strong>zeluntersuchungen über<br />

die Wirtschaftsformen <strong>des</strong> russischen Lebens zutage, namentlich über die "Volksproduktion" und ihre<br />

eigentümlichen Formen, über die Landwirtschaft der Bauerngemeinde, die bäuerliche Hausindustrie, den<br />

"Artel", sowie auch über das geistige Leben <strong>des</strong> Bauerntums, das Sektenwesen und dergleichen.<br />

Andererseits kam eine eigenartige Belletristik als künstlerischer Reflex der widerspruchsvollen sozialen<br />

Verhältnisse auf, in denen Altes mit Neuem rang und auf Schritt und Tritt mit schwierigen Problemen<br />

auf den Geist einstürmte. Endlich entsproß derselben Wurzel in den 70er und 80er Jahren eine originelle<br />

hausbackene Geschichtsphilosophie, die "subjektive Methode in der Soziologie" die den "kritischen<br />

Gedanken" zum ausschlaggebenden Faktor der gesellschaftlichen Entwicklung oder genauer: die<br />

deklassierte Intelligenz zum Träger <strong>des</strong> historischen Fortschritts machen wollte und die in Peter Lawrow,<br />

Nikolai Michailowski, Professor Karejew, W. Woronzow ihre Wortführer fand.<br />

Von diesem ganzen umfangreichen und weitverzweigten Gebiete der "volkstümlerischen" Literatur<br />

interessiert uns hier lediglich eine Seite: der Meinungskampf um die Aussichten der kapitalistischen<br />

Entwicklung in Rußland, und auch dieser nur insofern, als er sich auf allgemeine Erwägungen über die<br />

gesellschaftlichen Bedingungen der kapitalistischen Produktionsweise stützte. Denn auch diese<br />

Erwägungen sollten in der russischen Streitliteratur der 80er und 90er Jahre eine große Rolle spielen.<br />

Um den russischen Kapitalismus und seine Aussichten handelte es sich zunächst, die daraus entstandene<br />

Debatte griff jedoch naturgemäß auf die allgemeinen Probleme der Entwicklung <strong>des</strong> Kapitalismus über,<br />

wobei das Beispiel und die Erfahrungen <strong>des</strong> Westens die hervorragendste Rolle als Beweismaterial<br />

spielten.<br />

Für den theoretischen Inhalt der nun folgenden Diskussion war eine Tatsache von entscheidender<br />

Bedeutung: Nicht bloß war die Marxsche Analyse der kapitalistischen Produktion, wie sie im ersten<br />

Band <strong>des</strong> "<strong>Kapitals</strong>" niedergelegt ist, bereits Gemeingut <strong>des</strong> gebildeten Rußlands, sondern auch der<br />

zweite Band mit der Analyse der Reproduktion <strong>des</strong> Gesamtkapitals war schon 1885 erschienen. Das gab<br />

der Diskussion ein wesentlich anderes Gepräge. Das Problem der Krisen verstellte nun nicht mehr wie in<br />

den früheren Fällen den eigentlichen Kern der Erörterungen. Zum erstenmal war die Frage der<br />

Reproduktion <strong>des</strong> Gesamtkapitals, der <strong>Akkumulation</strong>, in reiner Gestalt in den Mittelpunkt der<br />

Auseinandersetzung gerückt. Auch verlor sich die Analyse nicht mehr im hilflosen Herumtappen um die<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 18. Kapitel<br />

Begriffe <strong>Ein</strong>kommen und Kapital, <strong>Ein</strong>zelkapital und Gesamtkapital. Man stand nunmehr auf dem festen<br />

Gerüst <strong>des</strong> Marxschen Schemas der gesellschaftlichen Reproduktion. Und endlich handelt es sich<br />

diesmal überhaupt nicht mehr um eine Auseinandersetzung zwischen Manchestertum und Sozialreform,<br />

sondern zwischen zwei Spielarten <strong>des</strong> Sozialismus. <strong>Die</strong> Skepsis in bezug auf die Möglichkeit der<br />

kapitalistischen Entwicklung wird im Geiste Sismondis und zum Teil Rodbertus' von der<br />

kleinbürgerlichen "volkstümlerisch"-konfusen Spielart <strong>des</strong> russischen Sozialismus vertreten, die sich<br />

aber selbst vielfach auf Marx beruft, der Optimismus - von der marxistischen Schule in Rußland. Es war<br />

somit ein völliger Wechsel der Szenerie eingetreten.<br />

Von den zwei Hauptwortführern der "volkstümlerischen" Richtung war der eine, Woronzow, bekannt in<br />

Rußland hauptsächlich unter seinem schriftstellerischen Pseudonym "W. W" (seinen Initialen), ein<br />

wunderlicher Heiliger, der in der Nationalökonomie völlig konfus und als Theoretiker überhaupt nicht<br />

ernst zu nehmen war. Der andere dagegen, Nikolai-on (Danielson), ein Mann von umfassender Bildung<br />

und gründlicher Kenner <strong>des</strong> Marxismus, Herausgeber der russischen Übersetzung <strong>des</strong> ersten Ban<strong>des</strong> <strong>des</strong><br />

"<strong>Kapitals</strong>", persönlicher Freund von Marx und Engels, mit beiden in einem regen Briefwechsel (der 1908<br />

in russischer Sprache im Druck erschienen ist). Namentlich Woronzow hatte jedoch in den 80er Jahren<br />

einen großen <strong>Ein</strong>fluß auf die öffentliche Meinung der russischen Intelligenz ausgeübt, und gegen ihn<br />

mußte der Marxismus in Rußland in erster Linie den Kampf ausfechten. In der uns interessierenden<br />

Frage der allgemeinen Entwicklungsmöglichkeiten <strong>des</strong> Kapitalismus erstand den beiden genannten<br />

Vertretern der Skepsis in den 90er Jahren eine ganze Reihe von Widersachern, eine neue Generation<br />

russischer Marxisten, die, ausgerüstet mit der historischen Erfahrung und dem Wissen Westeuropas,<br />

neben Georg Plechanow in die Schranken traten: Professor Kablukow, Professor Manuilow,<br />

Professor Issajew, Professor Skworzow, Wlad. Iljin, Peter v. Struve, Bulgakow, Professor Tugan-<br />

Baranowski u.a. Wir werden uns im weiteren hauptsächlich auf die drei letzten beschränken, da jeder von<br />

ihnen eine mehr oder minder abgeschlossene Kritik jener Theorie auf dem uns hier angebenden Gebiete<br />

geliefert hat. <strong>Die</strong>ses zum Teil glänzende Turnier, das in den 90er Jahren die sozialistische Intelligenz in<br />

Rußland in Atem hielt und mit einem unbestrittenen Triumph der Marxschen Schule schloß, hat offiziell<br />

den <strong>Ein</strong>zug <strong>des</strong> Marxismus als historisch-ökonomischer Theorie in die Wissenschaft Rußlands<br />

inauguriert. Der "legale" Marxismus nahm damals vom Katheder, von den Revuen und vom<br />

ökonomischen Büchermarkt Rußlands öffentlich Besitz - mit allen Schattenseiten dieser Lage. Von jener<br />

Plejade der marxistischen Optimisten ist zehn Jahre später, als die Entwicklungsmöglichkeiten <strong>des</strong><br />

russischen Kapitalismus ihre optimistische Kehrseite in der revolutionären Erhebung <strong>des</strong> Proletariats<br />

straßenkundig machten - mit einer Ausnahme -, kein einziger im Lager <strong>des</strong> Proletariats zu finden<br />

gewesen.<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 19. Kapitel<br />

18. Kapitel | Inhalt | 20. Kapitel<br />

<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - Gesammelte Werke. Herausgegeben vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Band<br />

5. <strong>Berlin</strong>/DDR. 1975. "<strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>", S. 231-238.<br />

1. Korrektur.<br />

Erstellt am 20.10.1998<br />

Neunzehntes Kapitel<br />

Herr Woronzow und sein "Überschuß"<br />

Was die Vertreter der "volkstümlerischen" Theorie in Rußland auf das Problem der<br />

kapitalistischen Reproduktion führte, war ihre Überzeugung von der Aussichtslosigkeit <strong>des</strong> Kapitalismus<br />

in Rußland, und zwar infolge <strong>des</strong> Mangels an Absatzmärkten. W. Woronzow hatte seine Theorie in<br />

dieser Hinsicht in der Revue "Vaterländische Memoiren" und in anderen Revuen in einer Reihe von<br />

Artikeln niedergelegt, die 1882 zu einem Buch gesammelt unter dem Titel "Schicksale <strong>des</strong> Kapitalismus<br />

in Rußland" erschienen, sodann in einem Aufsatz im Maiheft derselben Revue 1883 unter dem Titel "Der<br />

Überschuß bei der Versorgung <strong>des</strong> Marktes mit Waren", im Septemberheft der Revue "Russischer<br />

Gedanke" 1889 in einem Aufsatz über "Militarismus und Kapitalismus", in dem Buche "Unsere<br />

Richtungen" 1893, endlich 1895 in Buchform unter dem Titel "Umrisse der theoretischen<br />

Nationalökonomie". <strong>Die</strong> Stellung Woronzows zur kapitalistischen Entwicklung in Rußland ist nicht ganz<br />

leicht zu fassen. Er steht weder auf seiten der rein slavophilen Theorie, die aus den "Eigen- <br />

tümlichkeiten" der ökonomischen Struktur Rußlands und seines besonderen "Volksgeistes" die<br />

Verkehrtheit und Verderblichkeit <strong>des</strong> Kapitalismus für Rußland ableitete, noch auf seiten der Marxisten,<br />

die in der kapitalistischen Entwicklung eine unvermeidliche historische Etappe erblickten, welche auch<br />

für die russische Gesellschaft den einzig gangbaren Weg <strong>des</strong> sozialen Fortschritts eröffnen könne.<br />

Woronzow seinerseits behauptete, der Kapitalismus sei in Rußland einfach unmöglich, er habe keine<br />

Wurzeln und keine Zukunft. Es sei gleichermaßen verkehrt, ihn zu verwünschen oder ihn<br />

herbeizuwünschen, denn es fehlen in Rußland die Lebensbedingungen selbst für eine kapitalistische<br />

Entwicklung, so daß alle die mit schweren Opfern verbundenen Anstrengungen, von Staats wegen den<br />

Kapitalismus in Rußland großzuziehen, verlorene Liebesmüh wären. Sieht man jedoch näher zu, dann<br />

schränkt Woronzow diese von ihm aufgestellte Behauptung sehr wesentlich wieder ein. Hat man nicht<br />

die Anhäufung <strong>des</strong> kapitalistischen Reichtums, sondern die kapitalistische Proletarisierung der kleinen<br />

Produzenten, die Unsicherheit der Existenz der Arbeiter, die periodischen Krisen im Auge, so stellt<br />

Woronzow alle diese Erscheinungen für Rußland durchaus nicht in Abrede. Im Gegenteil, er sagt<br />

ausdrücklich in der Vorrede zu seinen "Schicksalen <strong>des</strong> Kapitalismus in Rußland": "Indem ich die<br />

Möglichkeit der Herrschaft <strong>des</strong> Kapitalismus in Rußland als einer Produktionsform bestreite, will ich<br />

nichts über seine Zukunft als Ausbeutungsform und -grad der Volkskräfte aussagen." Woronzow meint<br />

also, der Kapitalismus könne in Rußland bloß nicht jenen Reifegrad erlangen wie im Westen, hingegen<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 19. Kapitel<br />

der Prozeß der Trennung der unmittelbaren Produzenten von den Produktionsmitteln sei in den<br />

russischen Verhältnissen wohl zu gewärtigen. Ja, Woronzow geht noch weiter. Er bestreitet gar nicht die<br />

Möglichkeit der Entwicklung kapitalistischer Produktionsformen in gewissen Zweigen der russischen<br />

Industrie, selbst der kapitalistischen Ausfuhr aus Rußland nach den auswärtigen Märkten. Sagt er doch in<br />

seinem Aufsatz "Der Überschuß bei der Versorgung <strong>des</strong> Marktes": "<strong>Die</strong> kapitalistische Produktion<br />

entwickelt sich in einigen Zweigen der Industrie sehr rasch (versteht sich: im russischen Sinne <strong>des</strong><br />

Wortes)."(1) "Es ist sehr wahrscheinlich, daß Rußland, wie andere Länder, gewisse natürliche Vorteile<br />

hat, infolge deren es als Lieferant gewisser Arten Waren auf auswärtigen Märkten auftreten kann; es ist<br />

sehr möglich, daß sich das Kapital dies zunutze machen und die entsprechenden Produktionszweige in<br />

seine Hände ergreifen wird ..., d.h., die nationale Arbeitsteilung wird es unserem Kapitalismus<br />

erleichtern, in ge- wissen Zweigen Fuß zu fassen. Es handelt sich aber für uns nicht darum. Wir<br />

reden nicht von der zufälligen Teilnahme <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong> an der industriellen Organisation <strong>des</strong> Lan<strong>des</strong>,<br />

sondern wir fragen, ob es wahrscheinlich sei, daß die gesamte Produktion Rußlands auf kapitalistische<br />

Basis gestellt werden könnte."(2)<br />

In dieser Form bekommt die Skepsis <strong>des</strong> Herrn Woronzow offenbar ein ziemlich anderes Gesicht, als<br />

man zuerst annehmen mochte. Er hegt Zweifel darüber, ob sich die kapitalistische Produktionsweise je<br />

der gesamten Produktion in Rußland wird bemächtigen können. <strong>Die</strong>ses Kunststück hat sie aber bis jetzt<br />

noch in keinem Lande der Welt, nicht einmal in England ganz fertiggebracht. <strong>Ein</strong>e derartige Skepsis in<br />

bezug auf die Zukunft <strong>des</strong> russischen Kapitalismus dürfte also vorerst ganz international gefaßt werden<br />

Und in der Tat läuft hier die Theorie Woronzows auf ganz allgemeine Erwägungen über die Natur und<br />

die Lebensbedingungen <strong>des</strong> Kapitalismus hinaus, sie stützt sich auf allgemeine theoretische Ansichten<br />

über den Reproduktionsprozeß <strong>des</strong> gesellschaftlichen Gesamtkapitals. Woronzow formuliert in folgender<br />

deutlicher Weise den besonderen Zusammenhang der kapitalistischen Produktionsweise mit der Frage<br />

der Absatzmärkte: "<strong>Die</strong> nationale Arbeitsteilung, die Verteilung aller Industriezweige unter den am<br />

Welthandel beteiligten Ländern hat mit dem Kapitalismus gar nichts zu tun. Der Absatzmarkt, der sich<br />

auf diese Weise bildet, die Nachfrage nach den Produkten verschiedener Länder, die sich aus einer<br />

solchen Arbeitsteilung zwischen den Völkern ergibt, hat ihrem Charakter nach nichts gemein mit dem<br />

Absatzmarkt, den die kapitalistische Produktionsweise benötigt ... <strong>Die</strong> Produkte der kapitalistischen<br />

Industrie kommen auf den Markt zu einem anderen Zwecke: Sie berühren nicht die Frage, ob alle<br />

Bedürfnisse <strong>des</strong> Lan<strong>des</strong> befriedigt sind; sie brauchen nicht unbedingt dem Unternehmer anstatt ihrer<br />

selbst ein anderes materielles Produkt zu liefern, das der Konsumtion dient. Ihr Hauptzweck ist: den in<br />

ihnen verborgenen Warenwert zu realisieren. Was ist das aber für ein Mehrwert, der den Kapitalisten um<br />

seiner selbst willen interessiert? Von dem Standpunkt, von dem aus wir die Frage betrachten, ist der<br />

erwähnte Mehrwert - der Überschuß der Produktion über die Konsumtion im Innern <strong>des</strong> Lan<strong>des</strong>. Jeder<br />

Arbeiter produziert mehr, als er selbst konsumiert, und alle diese Überschüsse sammeln sich in wenigen<br />

Händen; die Besitzer dieser Überschüsse verzehren sie selbst, zu welchem Zwecke sie sie innerhalb <strong>des</strong><br />

Lan<strong>des</strong> sowie im Auslande gegen verschiedenste Lebensmittel und Gegenstände <strong>des</strong> Luxus austauschen;<br />

doch soviel sie auch essen, trinken und tanzen mögen - den ganzen Mehrwert zu verjubeln,<br />

bringen sie doch nicht fertig; es verbleibt noch ein bedeutender Rest, den sie nicht gegen ein anderes<br />

Produkt austauschen, sondern ganz einfach loswerden, zu Geld machen müssen, sonst wird er sowieso<br />

umkommen. Da niemand im Lande da ist, an den sie diesen Rest loswerden könnten, so muß er ins<br />

Ausland ausgeführt werden - und da haben wir die Ursache, weshalb Länder, die sich kapitalisieren, ohne<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 19. Kapitel<br />

auswärtige Absatzmärkte nicht auskommen können."(3)<br />

<strong>Die</strong> Leser haben in dem obigen Zitat, das wir wörtlich mit allen Eigentümlichkeiten der Woronzowschen<br />

Ausdrucksweise übersetzt haben, eine Stichprobe, die ihnen eine Ahnung von dem geistvollen russischen<br />

Theoretiker gehen kann, bei <strong>des</strong>sen Lektüre man die köstlichsten Augenblicke verlebt.<br />

<strong>Die</strong>selben Ansichten hat Woronzow später in seinem Buche "Umrisse der theoretischen<br />

Nationalökonomie" 1895 zusammengefaßt, und hier wollen wir ihn hören. W. polemisiert gegen die<br />

Ansichten Say-Ricardos, namentlich auch gegen J. St. Mill, die die Möglichkeit einer allgemeinen<br />

Überproduktion bestritten. Dabei entdeckt er, was keiner vor ihm wußte: Er hat die Quelle aller<br />

Verirrungen der klassischen Schule in bezug auf die Krisen ausfindig gemacht. <strong>Die</strong>se Quelle liege in der<br />

irrtümlichen Theorie der Produktionskosten, der die bürgerliche Ökonomie fröne. Vom Standpunkte der<br />

Produktionskosten (die W. ohne Profit annimmt, was gleichfalls keiner vor ihm fertiggebracht hat) sei<br />

allerdings sowohl der Profit wie Krisen undenkbar und unerklärlich. Doch dieser originelle Denker will<br />

in seinen eigenen Worten genossen sein: "Nach der Lehre der bürgerlichen Nationalökonomie wird der<br />

Wert <strong>des</strong> Produkts durch die Arbeit bestimmt, die zu seiner Herstellung aufgewendet wurde. Nachdem<br />

sie aber diese Wertbestimmung gegeben hat, vergißt sie sie sofort, und bei den folgenden Erklärungen<br />

der Tauscherscheinungen stützt sie sich auf eine andere Theorie, in der die Arbeit durch<br />

Produktionskosten ersetzt ist. So werden zwei Produkte gegeneinander in solchen Quantitäten<br />

ausgetauscht, daß auf beiden Seiten gleiche Produktionskosten vorhanden sind. Bei einer solchen<br />

Auffassung <strong>des</strong> Austausches ist für einen Überschuß an Waren im Lande tatsächlich kein Platz.<br />

Irgendein Produkt der Jahresarbeit eines Arbeiters erscheint von diesem Standpunkt als Vertreter eines<br />

gewissen Quantums Stoff, aus dem es verfertigt ist, Werkzeuge, die dabei abgenutzt sind, und der<br />

Produkte, die zur Erhaltung <strong>des</strong> Arbeiters während der Produktionsperiode dienten. Bei seiner<br />

Erscheinung auf dem Markte hat es (wohl "das Produkt"! - R. L.) den Zweck, seine<br />

Gebrauchsform zu ändern, sich wieder in den Stoff zu verwandeln, in Produkte für den Arbeiter und in<br />

den Wert, der zur Erneuerung der Werkzeuge nötig ist, und nach diesem Prozeß seiner Zerstückelung in<br />

Bestandteile wird der Prozeß ihrer Wiedervereinigung, der Produktionsprozeß einsetzen, während<strong>des</strong>sen<br />

alle aufgezählten Werte verzehrt werden, dafür aber ein neues Produkt entstehen wird, das ein Bindeglied<br />

zwischen der vergangenen Konsumtion und der künftigen darstellt." Aus diesem ganz eigenartigen<br />

Versuch, die gesellschaftliche Reproduktion als einen fortlaufenden Prozeß vom Standpunkte der<br />

Theorie der Produktionskosten darzustellen, folgt plötzlich, wie aus der Pistole geschossen, der folgende<br />

Schluß: "Wenn wir somit die Gesamtmasse der Produkte eines Lan<strong>des</strong> betrachten, so werden wir gar<br />

keine überflüssige Ware vorfinden, die den Bedarf der Gesellschaft übersteigen würde; der unabsetzbare<br />

Überschuß ist daher vom Standpunkte der Werttheorie der bürgerlichen Nationalökonomie unmöglich."<br />

Nachdem Woronzow so durch eine höchst souveräne Mißhandlung der "bürgerlichen Werttheorie" aus<br />

den Produktionskosten den Kapitalprofit ausgeschaltet hat, macht er nun diese seine Unterlassung im<br />

nächsten Moment zu einer großartigen Entdeckung: "Aber die angeführte Analyse deckt noch einen<br />

anderen Zug in der bis vor kurzem herrschenden Werttheorie auf: Es stellt sich heraus, daß auf dem<br />

Boden dieser Theorie für den Kapitalprofit kein Platz da ist." Hier folgt eine in ihrer Kürze und<br />

<strong>Ein</strong>fachheit verblüffende Beweisführung: "In der Tat, wenn mein Produkt, <strong>des</strong>sen Produktionskosten mit<br />

5 Rubeln ausgedrückt sind, gegen ein anderes Produkt von gleichem Wert ausgetauscht wird, so wird das<br />

von mir Erhaltene nur ausreichen, um meine Auslagen zu decken, für meine Enthaltung aber (wörtlich so<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 19. Kapitel<br />

- R. L.) werde ich nichts kriegen." Und jetzt hat Woronzow das Problem an der Wurzel gepackt:<br />

"So stellt sich heraus, daß auf dem Boden einer streng logischen Entwicklung der Ideen der bürgerlichen<br />

Nationalökonomie das Schicksal <strong>des</strong> Überschusses von Waren auf dem Markte und das Schicksal <strong>des</strong><br />

kapitalistischen Profits dasselbe ist. <strong>Die</strong>ser Umstand berechtigt uns zu dem Schluß, daß sich beide<br />

Phänomene in gegenseitiger Abhängigkeit befinden, daß die Möglichkeit <strong>des</strong> einen durch das<br />

Vorhandensein <strong>des</strong> anderen bedingt ist. Und in der Tat: Solange es keinen Profit gibt, gibt es auch keinen<br />

Warenüberschuß ... Anders, wenn sich im Lande Profit bildet. <strong>Die</strong>ser steht in keinem organischen<br />

Zusammenhang mit der Produktion, er ist ein Phänomen, das mit der letzteren nicht durch technischnatürliche<br />

Bedingungen verbunden ist, sondern durch ihre äußere, soziale Form. <strong>Die</strong> Pro- duktion<br />

braucht zu ihrer Fortsetzung ... nur Stoff, Werkzeuge, Lebensmittel für die Arbeiter und verzehrt <strong>des</strong>halb<br />

selbst nur den entsprechenden Teil der Produkte; der Überschuß aber, der den Profit bildet und der für<br />

sich in dem ständigen Element <strong>des</strong> industriellen Lebens - in der Produktion - keinen Platz findet, muß für<br />

sich andere Konsumenten suchen, die mit der Produktion nicht organisch verknüpft sind, Konsumenten<br />

bis zu einem gewissen Grad zufälligen Charakters. Er (der Überschuß) kann solche Konsumenten finden,<br />

es ist aber auch möglich, daß er sie nicht findet in dem erforderlichen Maße, in diesem Fall werden wir<br />

einen Warenüberschuß auf dem Markte haben."(4) Höchst zufrieden mit dieser "einfachen" Aufklärung,<br />

bei der er das Mehrprodukt zu einer Erfindung <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong> gemacht hat und den Kapitalisten zu einem<br />

"nicht organisch" mit der kapitalistischen Produktion verknüpften "zufälligen" Konsumenten, entwickelt<br />

Woronzow nunmehr auf Grund der Marxschen "konsequenten" Arbeitswerttheorie, die er nach seiner<br />

Erklärung im weiteren "benutzt" hat, die Krisen direkt aus dem Mehrwert in folgender Weise:<br />

"Wenn das, was in Gestalt <strong>des</strong> Arbeitslohnes in die Produktionskosten eingeht, von dem arbeitenden Teil<br />

der Bevölkerung verzehrt wird, so muß der Mehrwert, ausgenommen den Teil, der für die vom Markt<br />

erforderte Erweiterung der Produktion bestimmt ist, durch die Kapitalisten selbst vernichtet werden<br />

(wörtlich so! - R. L.). Sind sie dazu imstande und tun sie's, dann findet kein Warenüberschuß statt, wenn<br />

nicht - dann stellt sich Überproduktion, Industriekrise ein, Verdrängung der Arbeiter von den Fabriken<br />

und sonstige Übelstände." Wer aber an diesen Übelständen in letzter Linie schuld ist, das ist nach Herrn<br />

Woronzow "die ungenügende Elastizität <strong>des</strong> menschlichen Organismus, der seine Konsumtionsfähigkeit<br />

nicht mit der Rapidität zu erweitern vermag, mit der der Mehrwert wächst". Wiederholt formuliert er<br />

diesen genialen Gedanken in den folgenden Worten: "Somit liegt die Achillesferse der kapitalistischen<br />

Industrieorganisation in der Unfähigkeit der Unternehmer, ihr ganzes <strong>Ein</strong>kommen zu verzehren."<br />

Hier gelangt also Woronzow, nachdem er die Ricardosche Werttheorie in der Marxschen "konsequenten"<br />

Fassung "benutzt" hat, zu der Sismondischen Krisentheorie, die er auch noch in einer möglichst rohen<br />

und simplistischen Form sich zu eigen macht. Während er aber die Auffassung Sismondis wiedergibt,<br />

glaubt er natürlich die von Rodbertus zu akzeptieren. "<strong>Die</strong> induktive Forschungsmethode hat zu<br />

derselben Theorie der Krisen und <strong>des</strong> Pauperismus geführt, die von Rodbertus objektiv aufgestellt wor-<br />

den war"(5), erklärt er triumphierend. Was Woronzow unter der "induktiven Forschungsmethode"<br />

versteht, die er der "objektiven" entgegenstellt, ist freilich nicht ganz klar, doch kann darunter, da bei<br />

Herrn Woronzow alles möglich ist, auch die Marxsche Theorie zu verstehen sein. Aber auch Rodbertus<br />

sollte nicht "unverbessert" aus den Händen <strong>des</strong> originellen russischen Denkers hervorgehen. Zu der<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 19. Kapitel<br />

Rodbertusschen Theorie macht Woronzow nur die Korrektur, daß er aus ihr ausschaltet, was bei<br />

Rodbertus der Zentralpunkt <strong>des</strong> ganzen Systems war: die Fixierung der Lohnquote am Wert <strong>des</strong><br />

Gesamtprodukts. Nach Herrn Woronzow wäre nämlich auch diese Maßregel gegen Krisen ein<br />

Palliativmittel, denn "die unmittelbare Ursache der erwähnten Erscheinungen (Überproduktion,<br />

Arbeitslosigkeit usw.) liegt nicht darin, daß der Anteil der arbeitenden Klassen am Nationaleinkommen<br />

zu klein ist, sondern darin, daß die Kapitalistenklasse nicht imstande ist, je<strong>des</strong> Jahr die Masse Produkte<br />

zu verzehren, die ihr zufällt."(6) Nachdem er aber soeben die Rodbertussche Reform der<br />

<strong>Ein</strong>kommensverteilung abgelehnt hat, landet Woronzow mit der ihm eigenen "streng logischen<br />

Konsequenz" schließlich bei der folgenden Prognose für die künftigen Schicksale <strong>des</strong> Kapitalismus:<br />

"Wenn nach alledem der industriellen Organisation, die in Westeuropa herrscht, noch weiter zu blühen<br />

und zu gedeihen beschieden sein sollte, so nur unter der Bedingung, daß Mittel gefunden werden,<br />

denjenigen Teil <strong>des</strong> Nationaleinkommens zu vernichten (wörtlich so! - R. L.), der die<br />

Konsumtionsfähigkeit der Kapitalistenklasse übersteigt und nichts<strong>des</strong>toweniger in ihre Hände gelangt.<br />

<strong>Die</strong> allereinfachste Lösung dieser Frage wäre eine entsprechende Änderung in der Verteilung <strong>des</strong><br />

Nationaleinkommens unter den Teilnehmern der Produktion. Das kapitalistische Regime wäre für lange<br />

Zeit gesichert, wenn die Unternehmer von jedem Zuwachs <strong>des</strong> Nationaleinkommens für sich nur soviel<br />

behielten, wie sie zur Befriedigung aller ihrer <strong>Ein</strong>fälle und Launen brauchen, den Rest aber der<br />

Arbeiterklasse, d.h. der Masse der Bevölkerung, überließen."(7) So endet das Ragout aus Ricardo, Marx,<br />

Sismondi und Rodbertus mit der Entdeckung, daß die kapitalistische Produktion von der Überproduktion<br />

radikal kuriert wäre und in alle Ewigkeit "blühen und gedeihen" könnte, wenn die Kapitalisten auf die<br />

Kapitalisierung <strong>des</strong> Mehrwerts verzichteten und den entsprechenden Teil <strong>des</strong> Mehrwerts den Arbeitern<br />

zum Geschenk machen würden. Inzwischen, bis die Kapitalisten so vernünftig werden, den guten<br />

Rat <strong>des</strong> Herrn Woronzow anzunehmen, verfallen sie auf andere Mittel, alljährlich einen Teil ihres<br />

Mehrwerts zu "vernichten". Zu diesen probaten Mitteln gehört unter anderm der moderne Militarismus,<br />

und zwar, da Herr Woronzow mit tödlicher Sicherheit alles auf den Kopf zu stellen weiß, gerade in dem<br />

Maße, wie die Kosten <strong>des</strong> Militarismus nicht aus den Mitteln der arbeitenden Volksmasse, sondern aus<br />

dem <strong>Ein</strong>kommen der Kapitalistenklasse bestritten werden. In erster Linie aber besteht das Rettungsmittel<br />

<strong>des</strong> Kapitalismus im auswärtigen Handel. Und das ist wiederum die "Achillesferse" <strong>des</strong> russischen<br />

Kapitalismus. Als letzter an der Tafel <strong>des</strong> Weltmarktes hat er bei der Konkurrenz älterer kapitalistischer<br />

Länder <strong>des</strong> Westens nur das Nachsehen, und so geht dem russischen Kapitalismus zusammen mit der<br />

Aussicht auf auswärtige Märkte auch die wichtigste Bedingung seiner Lebensfähigkeit ab, Rußland<br />

bleibt das "Reich der Bauern" und der "Volksproduktion".<br />

"Wenn das alles richtig ist", schließt W. W. seinen Aufsatz vom "Überschuß bei der Versorgung <strong>des</strong><br />

Marktes mit Waren", "dann ergeben sich daraus auch die Schranken für die Herrschaft <strong>des</strong> Kapitalismus<br />

in Rußland: <strong>Die</strong> Landwirtschaft muß seiner Leitung entzogen werden; aber auch auf dem Gebiete der<br />

Industrie darf seine Entwicklung nicht zu sehr vernichtend auf die Hausindustrie einwirken, die bei<br />

unseren klimatischen Verhältnissen (!) für den Wohlstand eines großen Teils der Bevölkerung<br />

unentbehrlich ist. Wenn der Leser darauf bemerken wird, daß der Kapitalismus sich auf solche<br />

Kompromisse nicht einlassen wird, dann antworten wir: um so schlimmer für ihn." So wäscht Herr<br />

Woronzow zum Schluß seine Hände und lehnt für seine Person jede Verantwortung für die weiteren<br />

Schicksale der wirtschaftlichen Entwicklung in Rußland ab.<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 19. Kapitel<br />

Fußnoten von <strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong><br />

(1) Vaterländische Memoiren, 1883, V, Zeitgenössische Rundschau, S. 4.


<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 20. Kapitel<br />

19. Kapitel | Inhalt | 21. Kapitel<br />

<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - Gesammelte Werke. Herausgegeben vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Band<br />

5. <strong>Berlin</strong>/DDR. 1975. "<strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>", S. 238-245.<br />

1. Korrektur.<br />

Erstellt am 20.10.1998<br />

Zwanzigstes Kapitel<br />

Nikolai-on<br />

Mit anderer ökonomischer Vorbildung und Sachkenntnis geht der zweite Theoretiker der<br />

"volkstümlerischen" Kritik, Nikolai-on, ans Werk. <strong>Ein</strong>er der gründlichsten Kenner der russischen<br />

Wirtschaftsverhältnisse, hatte er schon 1880 durch seine Abhandlung über die Kapitalisierung der<br />

landwirtschaftlichen <strong>Ein</strong>kommen (in der Revue "Slowo") Aufsehen erregt. Dreizehn Jahre später gab er,<br />

angeregt durch die große russische Hungersnot <strong>des</strong> Jahres 1891, ein Buch unter dem Titel<br />

"Abhandlungen über unsere Volkswirtschaft nach der Reform" heraus, in dem er jene erste Unter- <br />

suchung weiterführt und auf Grund eines großangelegten und mit reichem Tatsachen- und<br />

Zahlenmaterial fundierten Bil<strong>des</strong> der Entwicklung <strong>des</strong> Kapitalismus in Rußland nachzuweisen sucht, daß<br />

diese Entwicklung für das russische Volk zur Quelle aller Übel und auch der Hungersnot geworden sei.<br />

Nikolai-on legt seinen Ansichten über die Schicksale <strong>des</strong> Kapitalismus in Rußland eine bestimmte<br />

Theorie der Entwicklungsbedingungen der kapitalistischen Produktion überhaupt zugrunde, und diese<br />

Theorie ist es eben, die für uns von Interesse ist.<br />

Für die kapitalistische Wirtschaftsweise ist der Absatzmarkt von entscheidender Bedeutung. Jede<br />

kapitalistische Nation sucht sich <strong>des</strong>halb einen möglichst großen Absatzmarkt zu sichern. Sie greift dabei<br />

naturgemäß vor allem zu ihrem eigenen inneren Markt. Auf einer gewissen Höhe der Entwicklung kann<br />

sich jedoch eine kapitalistische Nation mit dem inneren Markte nicht mehr begnügen, und zwar aus<br />

folgenden Gründen: Das ganze neue Jahresprodukt der gesellschaftlichen Arbeit kann man in zwei Teile<br />

sondern: in einen Teil, den die Arbeitet in Gestalt ihrer Löhne bekommen, und einen anderen Teil, den<br />

die Kapitalisten sich aneignen. Der erste Teil vermag aus der Zirkulation nur ein Quantum Lebensmittel<br />

zu entziehen, das seinem Werte nach der Summe der im Lande gezahlten Löhne entspricht. <strong>Die</strong><br />

kapitalistische Wirtschaft hat aber die ausgesprochene Tendenz, diesen Teil immer mehr<br />

herabzudrücken. <strong>Die</strong> Methoden, deren sie sich dabei bedient, sind: Verlängerung der Arbeitszeit,<br />

Steigerung der Intensität der Arbeit, Steigerung ihrer Produktivität vermittelst technischer<br />

Vervollkommnungen, die es ermöglichen, an Stelle männlicher Arbeitskräfte weibliche und jugendliche<br />

zu setzen und erwachsene Arbeiter zum Teil ganz aus der Arbeit zu verdrängen. Mögen auch die Löhne<br />

der übrigen beschäftigten Arbeiter steigen, doch kann die Steigerung niemals den Ersparnissen <strong>des</strong><br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 20. Kapitel<br />

Kapitalisten gleichkommen, die durch jene Verschiebungen bedingt werden. Aus alledem ergibt sich,<br />

daß die Rolle der Arbeiterklasse als Käufer auf dem inneren Markte immer mehr verringert wird.<br />

Daneben vollzieht sich noch ein anderer Prozeß: <strong>Die</strong> kapitalistische Produktion bemächtigt sich Schritt<br />

für Schritt der Gewerbe, die bei der landwirtschaftlichen Bevölkerung eine Nebenbeschäftigung waren,<br />

sie entzieht dem Bauerntum auf diese Weise eine Erwerbsquelle nach der anderen, wodurch auch die<br />

Kaufkraft der ländlichen Bevölkerung gegenüber den Erzeugnissen der Industrie immer mehr<br />

zurückgeht, so daß der innere Markt auch von dieser Seite immer mehr zusammenschrumpft. Wenden<br />

wir uns aber an den Anteil der Kapitalistenklasse, so vermag auch dieser nicht das ganze neuerzeugte<br />

Produkt zu realisieren, dies freilich aus umgekehrten Gründen. Wie groß auch die<br />

Konsumtionsbedürfnisse dieser Klasse sein mögen, sie kann doch nicht das ganze jährliche Mehrprodukt<br />

persönlich verzehren, erstens, weil ein Teil davon zur Erweiterung der Produktion, für technische<br />

Verbesserung aufgewendet werden muß, die jedem <strong>Ein</strong>zelunternehmer durch den Konkurrenzkampf als<br />

Existenzbedingung aufgezwungen wird; zweitens, weil mit dem Wachstum der kapitalistischen<br />

Produktion auch jener Zweig wächst, der die Produktion von Produktionsmitteln besorgt, wie Bergbau,<br />

Maschinenindustrie usw., und <strong>des</strong>sen Produkt durch seine Gebrauchsgestalt von vornherein die<br />

persönliche Konsumtion ausschließt und die Funktion als Kapital bedingt; drittens endlich, weil die<br />

größere Produktivität der Arbeit und Kapitalersparnis, die bei der Massenproduktion billiger Waren<br />

erreicht werden kann, immer mehr die gesellschaftliche Produktion gerade auf solche Massenprodukte<br />

richtet, die nicht durch die Handvoll Kapitalisten verbraucht werden können.<br />

Obwohl nun der Mehrwert <strong>des</strong> einen Kapitalisten im Mehrprodukt anderer Kapitalisten realisiert werden<br />

kann und umgekehrt, so bezieht sich das doch nur auf Produkte eines bestimmten Zweiges, nämlich der<br />

Lebensmittelbranche. Aber das Hauptmotiv der kapitalistischen Produktion ist nicht Befriedigung der<br />

persönlichen Konsumtionsbedürfnisse. Das äußert sich auch darin, daß die Produktion von Lebensmitteln<br />

im ganzen immer mehr zurücktritt gegen die Produktion von Produktionsmitteln. "Auf diese Weise sehen<br />

wir, daß, wie das Produkt jeder Fabrik die Bedürfnisse der darin beschäftigten Arbeiter und <strong>des</strong><br />

Unternehmers nach diesem Produkt weitaus übertrifft, ebenso das Gesamtprodukt einer kapitalistischen<br />

Nation weitaus die Bedürfnisse der gesamten beschäftigten Industriebevölkerung übertrifft, und zwar<br />

übertrifft sie sie gerade <strong>des</strong>halb, weil die Nation eine kapitalistische ist, weil ihre gesellschaftliche<br />

Kräfteverteilung nicht auf die Befriedigung der wirklichen Bedürfnisse der Bevölkerung gerichtet ist,<br />

sondern bloß auf die Befriedigung zahlungsfähiger Bedürfnisse. Genauso wie ein <strong>Ein</strong>zelfabrikant also<br />

auch nicht einen Tag existieren kann als Kapitalist, wenn sein Absatzmarkt nur durch die Bedürfnisse<br />

seiner Arbeiter und seine persönlichen Bedürfnisse beschränkt wäre, ebenso vermag sich auch eine<br />

entwickelte kapitalistische Nation nicht mit ihrem eigenen inneren Markt zu begnügen."<br />

So hat die kapitalistische Entwicklung die Tendenz, auf einer gewissen Höhe sich selbst Hindernisse zu<br />

bereiten. <strong>Die</strong>se Hindernisse kommen in letzter Linie daher, daß die fortschreitende Produktivität der<br />

Arbeit angesichts der Trennung der unmittelbaren Produzenten von den Produk- tionsmitteln<br />

nicht der ganzen Gesellschaft, sondern bloß einzelnen Unternehmern zugute kommt, während eine Masse<br />

Arbeitskräfte und Arbeitszeit durch diesen Prozeß "befreit", überflüssig werden und nicht bloß für die<br />

Gesellschaft verlorengehen, sondern ihr sogar zur Last fallen. Wirkliche Bedürfnisse der Volksmasse<br />

können nur in dem Maße besser befriedigt werden, als die "volkstümliche", auf der Vereinigung <strong>des</strong><br />

Produzenten mit den Produktionsmitteln basierende Produktionsweise das Übergewicht bekommt. Der<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 20. Kapitel<br />

Kapitalismus hat aber das Bestreben, sich just dieser Produktionssphären zu bemächtigen und so den<br />

Hauptfaktor seiner eigenen Blüte zu vernichten. Waren doch z.B. die periodischen Hungersnöte in<br />

Indien, die alle zehn oder elf Jahre auftraten, eine der Ursachen der Periodizität der industriellen Krisen<br />

in England. In diesen Widerspruch gerät früher oder später jede Nation, die die Bahn der kapitalistischen<br />

Entwicklung betreten hat, denn er steckt in dieser Produktionsweise selbst. Je später aber eine Nation die<br />

Bahn <strong>des</strong> Kapitalismus betritt, um so schärfer macht sich der Widerspruch geltend, denn sie kann nach<br />

der Sättigung <strong>des</strong> inneren Marktes keinen Ersatz auf dem auswärtigen finden, da dieser schon von älteren<br />

konkurrierenden Ländern mit Beschlag belegt ist.<br />

Aus alledem folgt, daß die Schranken <strong>des</strong> Kapitalismus durch die steigende Armut gegeben sind, die<br />

seine eigene Entwicklung bedingt, durch die wachsende Zahl überzähliger Arbeiter, die gar keine<br />

Kaufkraft besitzen. Der zunehmenden Produktivität der Arbeit, die je<strong>des</strong> zahlungsfähige Bedürfnis der<br />

Gesellschaft außerordentlich rasch befriedigt, entspricht eine zunehmende Unfähigkeit wachsender<br />

Volksmassen, ihre dringendsten Bedürfnisse zu befriedigen, dem Überfluß unabsetzbarer Waren - der<br />

Mangel breiter Massen an dem Notwendigsten.<br />

Das sind die allgemeinen Ansichten Nikolai-ons.(1) Man sieht: Nikolai-on kennt seinen Marx und hat<br />

sich die beiden ersten Bände <strong>des</strong> "<strong>Kapitals</strong>" sehr wohl zunutze kommen lassen. Und doch ist seine ganze<br />

Argumentation echt sismondisch: Der Kapitalismus führt selbst zur Verkürzung <strong>des</strong> inneren Marktes<br />

durch die Verelendung der Massen, alles Unheil in der modernen Gesellschaft kommt von der<br />

Zerstörung der "volkstümlichen" Produktionsweise, d.h. <strong>des</strong> Kleinbetriebes - das sind seine Leitmotive.<br />

Das Lob <strong>des</strong> alleinseligmachenden Kleinbetriebes kommt sogar bei Nikolai-on als der Grundton seiner<br />

ganzen Kritik viel deutlicher und offener bei Sismondi zum Ausdruck.(2) Im Schlußresultat ist die<br />

Realisi- rung <strong>des</strong> kapitalistischen Gesamtprodukts im Innern der Gesellschaft unmöglich, sie kann<br />

nur dank den auswärtigen Märkten gelingen. Hier mündet Nikolai-on, trotz ganz verschiedener<br />

theoretischer Ausgangspunkte, mit Woronzow in den gleichen Schluß, <strong>des</strong>sen Moral, auf Rußland<br />

angewendet, die ökonomische Begründung der Skepsis im Verhältnis zum Kapitalismus bildet. In<br />

Rußland hat die kapitalistische Entwicklung, der auswärtige Märkte von vornherein abgeschnitten sind,<br />

nur Schattenseiten, nur Verelendung der Volksmassen ergeben, und <strong>des</strong>halb war die Förderung <strong>des</strong><br />

Kapitalismus in Rußland ein verhängnisvoller "Fehler".<br />

Hier angelangt, donnert Nikolai-on wie ein alttestamentarischer Prophet: "Anstatt uns an die<br />

jahrhundertealten Überlieferungen zu halten, anstatt das von uns ererbte Prinzip der festen Verbindung<br />

<strong>des</strong> unmittelbaren Produzenten mit den Produktionsmitteln zu entwickeln, anstatt die Errungenschaften<br />

der westeuropäischen Wissenschaft zu benutzen, um sie auf Produktionsformen anzuwenden, die auf<br />

dem Besitz der Produktionsmittel durch die Bauern beruhen, anstatt die Produktivität ihrer Arbeit durch<br />

die Konzentrierung der Produktionsmittel in ihren Händen zu erhöhen, anstatt uns nicht die<br />

westeuropäische Form der Produktion, wohl aber ihre Organisation zunutze kommen zu lassen, ihre<br />

starke Kooperation, ihre Arbeitsteilung, ihre Maschinen usw. usw., anstatt das Prinzip zu entwickeln, das<br />

dem bäuerlichen Grundbesitz zugrunde liegt, und es auf die bäuerliche Bodenbearbeitung anzuwenden,<br />

anstatt dem Bauerntum zu diesem Zwecke den Zutritt zur Wissenschaft und deren Anwendung weit zu<br />

öffnen: anstatt alles <strong>des</strong>sen haben wir den direkt entgegengesetzten Weg eingeschlagen. Wir haben nicht<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 20. Kapitel<br />

bloß die Entwicklung kapitalistischer Produktionsformen nicht verhindert, trotzdem sie auf der<br />

Expropriation <strong>des</strong> Bauerntums basieren, sondern wir haben umgekehrt mit allen Kräften die<br />

Umkrempelung unseres ganzen wirtschaftlichen Lebens gefördert, die zu der Hungersnot <strong>des</strong> Jahres<br />

1891 geführt hat." Das Übel sei bereits weit gediehen, doch sei es noch nicht zu spät zur Umkehr. Im<br />

Gegenteil, eine völlige Reform der ökonomischen Politik sei für Rußland eine ebenso dringende<br />

Notwendigkeit angesichts der drohenden Proletarisierung und <strong>des</strong> drohenden Untergangs wie seinerzeit<br />

die alexandrinischen Reformen nach dem Krimkriege. <strong>Die</strong> soziale Reform, die Nikolai-on empfiehlt, ist<br />

nun völlig utopisch und kehrt um soviel krasser als bei Sismondi die kleinbürgerliche und<br />

reaktionäre Seite der Auffassung heraus, als der russische "Volkstümler" um 70 Jahre später schreibt.<br />

Nach seiner Meinung ist nämlich die einzige Rettungsplanke Rußlands aus der kapitalistischen<br />

Überschwemmung die alte "Obschtschina", die auf Gemeinbesitz an Grund und Boden beruhende<br />

Landgemeinde. Auf diese sollen - durch Maßnahmen freilich, die das Geheimnis Nikolai-ons geblieben<br />

sind - die Resultate der modernen Großindustrie und der modernen wissenschaftlichen Technik<br />

aufgepfropft werden, damit sie als Grundlage einer "vergesellschafteten" höheren Produktionsform<br />

dienen könne. Rußland habe keine Wahl mehr als diese Alternative: entweder Umkehr von der<br />

kapitalistischen Entwicklung oder Untergang und Tod.(3)<br />

Nikolai-on langt also nach einer vernichtenden Kritik <strong>des</strong> Kapitalismus bei demselben alten<br />

Allheilmittel der "Volkstümelei" an, das schon in den fünfziger Jahren, damals freilich mit viel mehr<br />

Recht, als ein "spezifisch russisches" Pfand der höheren sozialen Entwicklung glorifiziert worden ist, das<br />

aber schon 1875 von Engels im "Volksstaat" im Aufsatz "Flüchtlingsliteratur" als ein lebensunfähiges<br />

Überbleibsel uralter <strong>Ein</strong>richtungen in ihrem reaktionären Charakter aufgezeigt wurde. "<strong>Die</strong><br />

Fortentwicklung Rußlands in bürgerlicher Richtung", schrieb Engels damals, "würde das Gemeinde-<br />

Eigentum auch hier nach und nach vernichten, ohne daß die russische Regierung mit 'Bajonetten und<br />

Knute' einzuschreiten braucht (wie sich die revolutionären Volkstümler einbildeten - R. L.) ... unter dem<br />

Druck von Steuern und Wucher ist das Gemeinde-Eigentum an Grund und Boden keine Wohltat mehr, es<br />

wird eine Fessel. <strong>Die</strong> Bauern entlaufen ihm häufig, mit oder ohne Familie, um sich als wandernde<br />

Arbeiter zu ernähren, und lassen ihr Land daheim.<br />

Man sieht, das Gemeinde-Eigentum in Rußland hat seine Blütezeit längst passiert und geht allem<br />

Anscheine nach seiner Auflösung entgegen." Damit hatte Engels bereits 18 Jahre vor Nikolai-ons<br />

Hauptschrift in der Frage der Obschtschina den Nagel auf den Kopf getroffen. Wenn Nikolai-on darauf<br />

nochmals frischen Mutes dasselbe Gespenst der Obschtschina heraufbeschwor, so war das insofern ein<br />

arger historischer Anachronismus, als ungefähr ein Jahrzehnt später bereits das offizielle Begräbnis der<br />

Obschtschina von Staats wegen erfolgte. <strong>Die</strong> absolutistische Regierung, die ein halbes Jahrhundert lang<br />

mit aller Gewalt den Apparat der bäuerlichen Landgemeinde zu fiskalischen Zwecken künstlich<br />

zusammenzuhalten gesucht hatte, sah sich gezwungen, diese Sisyphusarbeit selbst aufzugeben. Bald<br />

zeigte es sich an der Agrarfrage als denn mächtigsten Faktor der russischen Revolution ganz<br />

offenkundig, wie sehr der alte Wahn der "Volkstümler" bei dem tatsächlichen ökonomischen Gang der<br />

Dinge ins Hintertreffen geraten war und wie kräftig umgekehrt die kapitalistische Entwicklung in<br />

Rußland, die sie als eine totgeborene betrauerten und verwünschten, ihre Lebensfähigkeit und ihre<br />

fruchtbare Arbeit unter Blitz und Donner zu offenbaren verstand. <strong>Die</strong>se Wendung der Dinge sollte<br />

wieder und zum letztenmal in ganz verändertem historischem Milieu feststellen, daß eine soziale Kritik<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 20. Kapitel<br />

<strong>des</strong> Kapitalismus, die theoretisch von dem Zweifel an seiner Entwicklungsmöglichkeit ausgeht, mit<br />

fataler Logik auf eine reaktionäre Utopie hinausläuft - so gut 1819 in Frankreich wie 1842 in<br />

Deutschland und 1893 in Rußland.(4)<br />

Fußnoten von <strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong><br />

(1) Vgl. Abhandlungen über unsere Volkswirtschaft, namentlich S. 202-205 u. 338-341.


<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 20. Kapitel<br />

<strong>Die</strong> kapitalistische Produktion als eine vorübergehende ökonomische Phase ist voll innerer<br />

Widersprüche, die sich in dem Maße entfalten und sichtbar werden, in dem sie sich selbst entfaltet. <strong>Die</strong><br />

Tendenz, ihren eigenen Markt zu schaffen und zugleich zu zerstören, ist einer dieser Widersprüche. <strong>Ein</strong><br />

anderer liegt in der , zu der sie führt und die in einem Land ohne auswärtigen Markt, wie Rußland, eher<br />

eintritt als in Ländern, die auf dem freien Weltmarkt mehr oder weniger konkurrenzfähig sind. <strong>Die</strong>se<br />

letztgenannten Länder finden in einer solchen scheinbar ausweglosen Lage eine Lösung in der<br />

Ausdehnung <strong>des</strong> Handels durch gewaltsame Erschließung neuer Märkte. Aber auch da steht man vor<br />

einem cul-de-sac. Nehmen Sie England! Der letzte neue Markt, <strong>des</strong>sen Erschließung dem englischen<br />

Handel eine zeitweilige Wiederbelebung bringen könnte, ist China. Daher besteht das englische Kapital<br />

darauf, die chinesischen Eisenbahnen zu bauen. Aber chinesische Eisenbahnen bedeuten die Zerstörung<br />

der ganzen Basis der chinesischen kleinen Landwirtschaft und Hausindustrie, und da es nicht einmal eine<br />

chinesische grande industrie als Gegengewicht gibt, wird es Hunderten von Millionen Menschen<br />

unmöglich gemacht, ihr Dasein zu fristen. <strong>Die</strong> Folge wird eine Massenauswanderung sein, wir sie die<br />

Welt noch nicht gesehen hat, eine Überflutung Amerikas, Asiens und Europas durch den verhaßten<br />

Chinesen, der dem amerikanischen, australischen und europäischen Arbeiter auf der Grundlage <strong>des</strong><br />

chinesischen Lebensstandards, <strong>des</strong> niedrigsten der Welt, Konkurrenz machen wird - und wenn die<br />

Produktionsweise in Europa bis dahin noch nicht umgewälzt ist, so wird ihre Umwälzung dann<br />

notwendig werden." (Briefe von Karl Marx und Friedrich Engels an Nikolai-on. Übersetzt ins Russische<br />

von G. Lopatin, Petersburg 1908, S. 79.) [Engels an Nikolai Franzewitsch Danielson, 22. September<br />

1892. In: Karl Marx/Friedrich Engels: Werke, Bd. 38, S. 467 u. 469/470.] - Trotzdem Engels an die<br />

Entwicklung der Dinge in Rußland aufmerksam verfolgte und dafür das größte Interesse zeigte, lehnte er<br />

seinerseits geflissentlich jede <strong>Ein</strong>mischung in den russischen Streit ab. Er äußerte sich darüber selbst in<br />

seinem Briefe vom 24. November 1894, also kurz vor seinem Tode, wie folgt:<br />

"Meine russischen Freunde bestürmen mich ununterbrochen mit der Bitte, auf russische Zeitschriften und<br />

Bücher zu antworten, in denen die Worte unseres Autors (so wurde in dem Briefwechsel Marx<br />

bezeichnet - R. L.) nicht nur falsch interpretiert, sondern auch falsch zitiert werden; sie behaupten, mein<br />

<strong>Ein</strong>greifen würde genügen, um alles in Ordnung zu bringen. Ich habe das ständig abgelehnt, weil ich<br />

mich nicht, ohne dringende und wichtige Arbeiten aufzugeben, in Kontroversen hineinzerren lassen<br />

kann, die in einem weit entfernten Land in einer Sprache geführt werden, die ich noch nicht so leicht wie<br />

die bekannteren westeuropäischen Sprachen zu lesen vermag, und in Druckschriften, von denen ich im<br />

besten Falle nur gelegentliche Bruchstücke zu Gesicht bekomme, und daher die Debatte ganz unmöglich<br />

gründlich und in allen ihrer Phasen und <strong>Ein</strong>zelheiten verfolgen kann. Überall trifft man ja Leute, die, um<br />

eine einmal eingenommene Position zu verteidigen, vor keiner Verzerrung und keinem unfairen Manöver<br />

zurückschrecken; und wenn man das mit den Schriften unseres Autors gemacht hat, so befürchte ich, daß<br />

man auch mit mir nicht glimpflicher verfahren und mich so schließlich zwingen würde, in die Debatte<br />

einzugreifen, um andere und mich selbst zu verteidigen." (l.c., S. 90.) [Engels an Nikolai Franzewitseh<br />

Danielson, 24. November 1894. In: Karl Marx/Friedrich Engels: Werke, Bd. 39, S. 328.]


<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 20. Kapitel<br />

W. W. mit Hinweis auf die Krise der Jahre 1900-1902 "<strong>Die</strong> dogmatische Lehre <strong>des</strong> Neomarxismus<br />

verliert rasch ihre Macht über die Geister, und die Wurzellosigkeit <strong>des</strong> neuesten Erfolge <strong>des</strong><br />

Individualismus ist offenbar selbst für seine offiziellen Apologeten klargeworden ... Im ersten<br />

Dezennium <strong>des</strong> 20. Jahrhunderts kehren wir somit zu derselben Auffassung der ökonomischen<br />

Entwicklung Rußlands zurück, die von der Generation der siebziger Jahre <strong>des</strong> vorigen Jahrhunderts ihren<br />

Nachfolgern vermacht worden war." (Siehe die Revue "<strong>Die</strong> Volkswirtschaft" , Oktober 1902. Zit. bei A.<br />

Finn-Jenotajewskij: <strong>Die</strong> gegenwärtige Wirtschaft Rußlands (1890 bis 1910), Petersburg 1911, S. 2.) Statt<br />

auf die "Wurzellosigkeit" der eigenen Theorien, schließen die letzten Mohikaner der Volkstümelei also<br />

heute noch auf die "Wurzellosigkeit" der ökonomischen Wirklichkeit - eine lebendige Widerlegung <strong>des</strong><br />

Barèreschen Wortes: "il n'y a que les morts qui ne reviennent pas."


<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 21. Kapitel<br />

20. Kapitel | Inhalt | 22. Kapitel<br />

<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - Gesammelte Werke. Herausgegeben vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Band<br />

5. <strong>Berlin</strong>/DDR. 1975. "<strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>", S. 246-251.<br />

1. Korrektur.<br />

Erstellt am 20.10.1998<br />

<strong>Ein</strong>undzwanzigstes Kapitel<br />

<strong>Die</strong> "dritten Personen" und die drei Weltreiche Struves<br />

Wir wenden uns nun zu der Kritik der obigen Ansichten, wie sie von den russischen Marxisten<br />

gegeben worden ist.<br />

Peter v. Struve, der 1894 im "Sozialpolitischen Centralblatt" (3. Jahrgang, Nr. 1) unter dem Titel "Zur<br />

Beurtheilung der kapitalistischen Entwickelung Rußlands" eine eingehende Würdigung <strong>des</strong> Buches von<br />

Nikolai-on gegeben hatte, veröffentlichte 1894 in russischer Sprache ein Buch. "Kritische Bemerkungen<br />

zur Frage der ökonomischen Entwicklung Rußlands", worin er die "volkstümlerischen" Theorien einer<br />

vielseitigen Kritik unterzieht. In der uns hier beschäftigenden Frage jedoch beschränkt sich Struve<br />

sowohl in bezug auf Woronzow wie Nikolai-on hauptsächlich auf den Nachweis, daß der Kapitalismus<br />

seinen inneren Markt nicht verringere, sondern umgekehrt erweitere. Der Schnitzer Nikolai-ons, den er<br />

von Sismondi übernommen hat, liegt in der Tat auf der Hand. Beide schilderten nur die eine Seite <strong>des</strong><br />

Prozesses der kapitalistischen Zerstörung althergebrachter Produktionsformen <strong>des</strong> Kleinbetriebes. Sie<br />

sahen nur die sich daraus ergebende Herabdrückung <strong>des</strong> Wohlstands, die Verelendung breiter Schichten<br />

der Bevölkerung. Sie bemerkten nicht, was die andere ökonomische Seite dieses Prozesses bedeutet:<br />

Beseitigung der Naturalwirtschaft und <strong>Ein</strong>zug an ihre Stelle der Warenwirtschaft auf dem Lande. Das<br />

besagt aber, daß der Kapitalismus durch <strong>Ein</strong>beziehung immer neuer Kreise früher selbständiger und<br />

abgeschlossener Produzenten in sein Bereich mit jedem Schritt neue Schichten in Käufer seiner Waren<br />

verwandelt, die es früher nicht waren. Der Gang der kapitalistischen Entwicklung ist also ein gerade<br />

umgekehrter, als ihn die "Volkstümler" nach Sismondis Vorbild schildern: Der Kapitalismus vernichtet<br />

nicht seinen inneren Markt, sondern er schafft sich ihn gerade zunächst durch das Umsichgreifen der<br />

Geldwirtschaft<br />

Was speziell die Theorie Woronzows über die Unrealisierbarkeit <strong>des</strong> Mehrwerts auf dem inneren Markte<br />

betrifft, so wird sie von Struve folgendermaßen widerlegt. <strong>Die</strong> Grundlage der Woronzowschen Theorie<br />

bestehe darin, daß eine entwickelte kapitalistische Gesellschaft sich lediglich aus Unternehmern und<br />

Arbeitern zusammensetze. Nikolai-on operiert gleichfalls die ganze Zeit mit dieser Vorstellung. Von<br />

diesem Standpunkt lasse sich die Realisierung <strong>des</strong> kapitalistischen Gesamtprodukts allerdings nicht<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 21. Kapitel<br />

begreifen. <strong>Die</strong> Theorie Woronzows sei auch insofern richtig, "als sie die Tatsache konstatiert, daß der<br />

Mehrwert weder durch die Konsumtion der Kapitalisten noch durch diejenige der Arbeiter<br />

realisiert werden könne, sondern die Konsumtion dritter Personen voraussetze"(1). Demgegenüber sei<br />

aber festzustellen, daß es solche "dritten Personen" in jeder kapitalistischen Gesellschaft wohl gebe. <strong>Die</strong><br />

Vorstellung Woronzows und Nikolai-ons sei nichts als eine Fiktion, "die uns nicht um Haaresbreite<br />

vorwärtsbringen kann im Verständnis irgendeines historischen Prozesses"(2). Es gibt keine<br />

kapitalistische Gesellschaft, und mag sie noch so hochentwickelt sein, die lediglich aus Unternehmern<br />

und Arbeitern bestände. "Selbst in England mit Wales entfallen von 1.000 erwerbsfähigen <strong>Ein</strong>wohnern<br />

545 auf die Industrie, 172 auf den Handel, 140 auf die Landwirtschaft, 81 auf unbestimmte und<br />

wechselnde Lohnarbeit und 62 auf Staatsdienst, liberale Berufe usw." Also selbst in England gibt es<br />

massenhaft "dritte Personen", und diese sind es eben, die den Mehrwert, sofern er von den Unternehmern<br />

nicht konsumiert wird, durch ihre Konsumtion realisieren helfen. Ob die Konsumtion der "dritten<br />

Personen" zur Realisierung <strong>des</strong> ganzen Mehrwerts ausreicht, das läßt Struve offen, jedenfalls müßte "das<br />

Gegenteil erst noch bewiesen werden"(3). Für Rußland als ein großes Land mit enormer Bevölkerung sei<br />

dies sicher nicht zu beweisen. Rußland sei gerade in der glücklichen Lage, auswärtige Märkte entbehren<br />

zu können, darin - hier macht Struve eine Anleihe aus dem Ideenschatz der Professoren Wagner, Schäffle<br />

und Schmoller - vom gleichen Schicksal begünstigt wie die Vereinigten Staaten von Amerika. "Wenn<br />

das Beispiel der nordamerikanischen Union etwas beweise, dann nur eins, nämlich die Tatsache, daß<br />

unter Umständen die kapitalistische Industrie eine sehr hohe Entwicklung erreichen kann, fast<br />

ausschließlich auf den inneren Markt gestützt."(4) <strong>Die</strong>ser Satz wird illustriert an der Hand der <br />

geringen industriellen Ausfuhr der Vereinigten Staaten im Jahre 1882. Als allgemeine These stellt Struve<br />

den Satz auf: "Je umfangreicher das Territorium und je zahlreicher die Bevölkerung eines Lan<strong>des</strong>, um so<br />

weniger bedarf es auswärtiger Märkte für seine kapitalistische Entwicklung." Von diesem Standpunkt<br />

aus deduziert er für den Kapitalismus in Rußland - gerade umgekehrt wie die "Volkstümler" - eine<br />

glänzendere Zukunft als in anderen Ländern. "<strong>Die</strong> fortschrittliche Entwicklung der Landwirtschaft auf<br />

der Basis der Warenproduktion muß einen Absatzmarkt schaffen, auf den sich der russische<br />

Industriekapitalismus in seiner Entwicklung stützen wird. <strong>Die</strong>ser Absatzmarkt kann in dem Maße, wie<br />

die ökonomische und kulturelle Hebung <strong>des</strong> Lan<strong>des</strong> und Hand in Hand damit die Verdrängung der<br />

Naturalwirtschaft fortschreiten wird, unbestimmt wachsen. In dieser Beziehung befindet sich der<br />

Kapitalismus in Rußland in günstigeren Bedingungen als in anderen Ländern."(5) Und Struve schildert<br />

im einzelnen ein farbenprächtiges Bild der Erschließung neuer Absatzmärkte in Rußland, dank der<br />

Sibirischen Eisenbahn in Sibirien, in Zentralasien, in Vorderasien, in Persien, in den Balkanländern.<br />

Struve hat nicht bemerkt, daß er im Schwung seiner Prophezeiungen von dem "unbestimmt wachsenden"<br />

inneren Markt auf ganz bestimmte auswärtige Absatzmärkte übergegangen ist. Wenige Jahre später stand<br />

er auch politisch im Lager dieses hoffnungsfreudigen russischen Kapitalismus, <strong>des</strong>sen liberales<br />

Programm der imperialistischen Expansion er schon als "Marxist" theoretisch begründet hatte.<br />

Aus der Argumentation Struves spricht in der Tat nur ein starker Optimismus in bezug auf die<br />

unbeschränkte Entwicklungsfähigkeit der kapitalistischen Produktion. Um die ökonomische Begründung<br />

dieses Optimismus hingegen ist es ziemlich schwach bestellt. Struves Hauptpfeiler für die <strong>Akkumulation</strong><br />

<strong>des</strong> Mehrwerts sind die "dritten Personen". Was er darunter versteht, hat er nicht mit genügender<br />

Deutlichkeit verraten, doch zeigen namentlich seine Hinweise auf die englische Berufsstatistik, daß er<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 21. Kapitel<br />

damit die verschiedenen Privat- und Staatsangestellten, liberale Berufe, kurz das berühmte "grand<br />

public" versteht, auf das bürgerliche Vulgärökonomen mit vager Geste hinzuweisen pflegen, wenn sie<br />

nicht ein noch aus wissen, und von dem Marx gesagt hat, daß es dem Ökonomen "den <strong>Die</strong>nst" erweist,<br />

Dinge zu erklären, für die er sonst keine Erklärung hat. Es ist klar, daß, wenn man von der Konsumtion<br />

der Kapitalisten und der Arbeiter im kategorischen Sinne spricht, man dabei nicht die<br />

Unternehmer als <strong>Ein</strong>zelpersonen meint, sondern die Kapitalistenklasse als Ganzes, mitsamt ihrem<br />

Anhang an Angestellten, Staatsbeamten, liberalen Berufen usw. Alle diese "dritten Personen", die gewiß<br />

in keiner kapitalistischen Gesellschaft fehlen, sind ökonomisch meist Mitesser <strong>des</strong> Mehrwerts, insofern<br />

sie sich nicht zum Teil auch als Mitesser <strong>des</strong> Arbeitslohns bewähren. <strong>Die</strong>se Schichten können ihre<br />

Kaufmittel nur entweder vom Arbeitslohn <strong>des</strong> Proletariats oder vom Mehrwert ableiten, und sie tun, so<br />

gut es geht, bei<strong>des</strong>, müssen aber im großen und ganzen als Mitverzehrer <strong>des</strong> Mehrwerts betrachtet<br />

werden. Ihre Konsumtion ist somit in der Konsumtion der Kapitalistenklasse eingeschlossen, und wenn<br />

Struve sie durch eine Hintertür wieder auf die Buhne führt und sie dem Kapitalisten als "dritte Personen"<br />

vorstellt, um ihm aus der Verlegenheit und zur Realisierung <strong>des</strong> Mehrwerts zu verhelfen, so wird der<br />

geriebene Profitmacher mit einem Blick in diesem "großen Publikum" seinen Troß Parasiten erkennen,<br />

die ihm erst Geld aus der Tasche ziehen, um ihm hinterher mit diesem Gelde seine Waren abzukaufen.<br />

Mit den "dritten Personen" Struves ist es also nichts.<br />

Ebenso unhaltbar ist seine Theorie vom auswärtigen Absatz und <strong>des</strong>sen Bedeutung für die kapitalistische<br />

Produktion. Struve folgt hier ganz den "Volkstümlern" in ihrer mechanischen Auffassung, wonach ein<br />

kapitalistisches Land, nach dem Schema eines professoralen Lehrbuches, erst den "inneren Markt"<br />

möglichst gründlich abgrast, um sich dann, wenn dieser völlig oder nahezu erschöpft ist, nach<br />

auswärtigen Märkten umzusehen. Von hier aus gelangt Struve, in den Fußtapfen Wagners, Schäffles und<br />

Schmollers, auch zu der abgeschmackten Vorstellung, ein Land mit "großem Territorium" und recht viel<br />

Volk könne in seiner kapitalistischen Produktion ein "abgeschlossenes Ganzes" bilden und mit dem<br />

inneren Markte allein auf "unbestimmte Zeit" auskommen.(6) Tatsächlich ist die kapitalistische<br />

Produktion von Haus aus eine Weltproduktion, und sie beginnt, gerade umgekehrt wie sie nach dem<br />

pedantischen Rezept der deutschen Kathederweisheit sollte, schon in ihrer Kindheitsphase für den<br />

Weltmarkt zu produzieren. Ihre einzelnen bahnbrechenden Zweige in England, wie die Textilindustrie,<br />

die Eisen- und Kohlenindustrie, suchten sich Absatzmärkte in allen Ländern und Weltteilen, während im<br />

Innern <strong>des</strong> Lan<strong>des</strong> noch der Prozeß der Zerstörung <strong>des</strong> bäuerlichen Besitzes, der Untergang <strong>des</strong><br />

Handwerks und der alten Heimproduktion bei weitem nicht zum Abschluß gebracht waren. Man<br />

versuche auch z.B. der deutschen chemischen Industrie und der deutschen Elektrotechnik mit dem<br />

weisen Rat zu kommen, sie möchten sich, statt, wie tatsächlich, von ihrem Aufkommen für fünf<br />

Weltteile zu arbeiten, erst doch auf den inneren deutschen Markt beschränken, der in so vielen anderen<br />

Zweigen noch von der heimischen Industrie nicht erschöpft ist, sintemalen er massenhaft von auswärts<br />

mit Erzeugnissen versorgt wird. Oder man mache der deutschen Maschinenindustrie klar, sie dürfe sich<br />

noch nicht auf die auswärtigen Märkte werfen, da ja, wie die Statistik der deutschen <strong>Ein</strong>fuhr schwarz auf<br />

weiß beweist, ein großer Teil <strong>des</strong> Bedarfs Deutschlands an Erzeugnissen dieses Zweiges durch<br />

auswärtige Lieferungen gedeckt wird. Vom Standpunkte dieses Schemas <strong>des</strong> "auswärtigen Handels" ist<br />

solchen Zusammenhängen <strong>des</strong> Weltmarkts mit ihren tausendfältigen Verzweigungen und Nuancen der<br />

Arbeitsteilung gar nicht beizukommen. <strong>Die</strong> industrielle Entwicklung der Vereinigten Staaten, die heute<br />

ein gefährlicher Konkurrent Englands auf dem Weltmarkt, ja in England selbst geworden sind, ebenso<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 21. Kapitel<br />

wie sie z.B. auch in der Elektrotechnik die deutsche Konkurrenz auf dem Weltmarkt und in Deutschland<br />

selbst schlagen, hat die Deduktionen Struves, die übrigens schon zur Zeit, als er sie niederschrieb,<br />

antiquiert waren, vollends Lügen gestraft.<br />

Struve akzeptiert auch die rohe Auffassung der russischen Volkstümler, wonach die internationalen<br />

Zusammenhänge der kapitalistischen Weltwirtschaft mit ihrer historischen Tendenz zur Ausbildung eines<br />

lebendigen ein- heitlichen Organismus mit gesellschaftlicher Arbeitsteilung, die auf die ganze<br />

Mannigfaltigkeit <strong>des</strong> Naturreichtums und der Produktionsbedingungen der Erdkugel gestützt ist, in der<br />

Hauptsache auf die ordinäre Sorge <strong>des</strong> Kaufmanns um den "Markt" reduziert werden. <strong>Die</strong> fundamentale<br />

Rolle der unumschränkten Versorgung der kapitalistischen Industrie mit Nahrungsmitteln, mit Roh- und<br />

Hilfsstoffen und Arbeitskräften, die genauso auf den Weltmarkt berechnet ist wie der Absatz der fertigen<br />

Waren, wird bei der Fiktion von den drei sich selbst genügenden Weltreichen Wagners und Schmollers:<br />

England mit Kolonien, Rußland und Vereinigte Staaten, die Struve übernimmt, ganz übersehen oder<br />

künstlich eingeengt. <strong>Die</strong> Geschichte der englischen Baumwollindustrie allein, die in sich die abgekürzte<br />

Geschichte <strong>des</strong> Kapitalismus im ganzen einschließt und deren Schauplatz während <strong>des</strong> ganzen 19.<br />

Jahrhunderts fünf Weltteile waren, ist auf jedem Schritt ein Hohn auf diese professorale<br />

Kinderstubenvorstellung, deren einziger realer Sinn darin liegt, daß sie die gewundene theoretische<br />

Rechtfertigung <strong>des</strong> Schutzzollsystems liefert.<br />

Fußnoten von <strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong><br />

(1) Kritische Bemerkungen, S. 251.


<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 21. Kapitel<br />

Oktober 1893. In: Briefe usw., S. 85.) [Engels an Nikolai Franzewitsch Danielson, 17. Oktober 1893. In<br />

Karl Marx/Friedrich Engels: Werke, Bd. 39, S. 148/149.]


<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 22. Kapitel<br />

21. Kapitel | Inhalt | 23. Kapitel<br />

<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - Gesammelte Werke. Herausgegeben vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Band<br />

5. <strong>Berlin</strong>/DDR. 1975. "<strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>", S. 251-263.<br />

1. Korrektur.<br />

Erstellt am 20.10.1998<br />

Zweiundzwanzigstes Kapitel<br />

Bulgakow und seine Ergänzung der Marxschen Analyse<br />

Der zweite Kritiker der "volkstümlerischen" Skepsis, S. Bulgakow, lehnt sofort die Struveschen<br />

"dritten Personen" als Rettungsanker der kapitalistischen <strong>Akkumulation</strong> rundweg ab. Er hat für sie nur<br />

ein Achselzucken. "<strong>Die</strong> Mehrheit der Ökonomen (bis Marx)" sagt er, "löste die Frage in dem Sinne, daß<br />

irgendwelche 'dritten Personen' nötig seien, um als Deus ex machina den gordischen Knoten zu<br />

durchhauen, d.h. den Mehrwert zu verzehren. Als solche Personen treten bald luxustreibende<br />

Grundbesitzer auf (wie bei Malthus), bald luxustreibende Kapitalisten, bald der Militarismus u.dgl. mehr.<br />

Ohne solche außerordentlichen Mittel könne der Mehrwert keinen Absatz finden: er werde auf den<br />

Märkten festgefahren und rufe Überproduktion und Krisen hervor."(1) "So nimmt Herr Struve an, daß<br />

die kapitalistische Produktion sich in ihrer Entwicklung auf die Konsumtion irgendwelcher<br />

phantastischer dritter Personen stützen könne. Wo liegt denn aber die Quelle der Kaufkraft dieses grand<br />

public, <strong>des</strong>sen spezielle Bestimmung es ist, den Mehrwert zu verzehren?"(2) Bul- gakow<br />

seinerseits stellt das ganze Problem von vornherein auf die Analyse <strong>des</strong> gesellschaftlichen<br />

Gesamtprodukts und seiner Reproduktion, wie sie Marx im zweiten Bande <strong>des</strong> "<strong>Kapitals</strong>" gegeben. Er<br />

begreift ausgezeichnet, daß man zur Lösung der Frage der <strong>Akkumulation</strong> erst mit der einfachen<br />

Reproduktion beginnen und sich ihren Mechanismus ganz klarmachen müsse. Hier sei es namentlich<br />

wichtig, sich über die Konsumtion <strong>des</strong> Mehrwerts und der Löhne derjenigen Produktionszweige<br />

klarzuwerden, die nichtkonsumierbare Produkte herstellen, und andererseits über die Zirkulation<br />

<strong>des</strong>jenigen Teils <strong>des</strong> gesellschaftlichen Gesamtprodukts, der das verbrauchte konstante Kapital darstellt.<br />

Das sei eine ganz neue Aufgabe, deren sich die Ökonomen gar nicht einmal bewußt waren und die erst<br />

von Marx gestellt wurde. "Zur Lösung dieser Aufgabe teilt Marx alle kapitalistisch hergestellten Waren<br />

in zwei große und wesentlich verschiedene Kategorien. die Produktion von Produktionsmitteln und die<br />

Produktion von Konsummitteln. In dieser <strong>Ein</strong>teilung allein ist mehr theoretischer Sinn verborgen, als in<br />

sämtlichen vorhergehenden Wortgefechten über die Theorie der Absatzmärkte."(3)<br />

Man sieht, Bulgakow ist ein ausgesprochener und begeisterter Anhänger der Marxschen Theorie. Er<br />

formuliert auch als die Aufgabe seiner Studie die theoretische Nachprüfung der Lehre, daß der<br />

Kapitalismus ohne auswärtige Märkte nicht existieren könne. "Zu diesem Behufe hat der Verfasser die<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 22. Kapitel<br />

sehr wertvolle, aber - man weiß nicht warum - in der Wissenschaft fast nicht verwertete Analyse der<br />

gesellschaftlichen Reproduktion benutzt, die K. Marx im zweiten Teil <strong>des</strong> zweiten Ban<strong>des</strong> <strong>des</strong> '<strong>Kapitals</strong>'<br />

gibt. Obwohl diese Analyse nicht als abgeschlossen gelten kann, bietet sie doch u.E. auch in ihrer<br />

vorliegenden unbearbeiteten Fassung eine genügende Grundlage für eine andere Lösung der Frage von<br />

den Absatzmärkten als diejenige, die sich die Herren Nikolai-on, W. Woronzow und andere zu eigen<br />

gemacht haben und die sie K. Marx aufs Konto schreiben."(4) <strong>Die</strong> Lösung, die Bulgakow aus Marx<br />

selbst abgeleitet hat, formuliert er folgendermaßen "Der Kapitalismus kann unter Umständen existieren<br />

ausschließlich dank dem inneren Markt; es liegt keine innere, der kapitalistischen Produktionsweise<br />

eigentümliche Notwendigkeit vor, daß nur der auswärtige Markt den Überschuß der kapitalistischen<br />

Produktion verschlingen kann. <strong>Die</strong>s der Schluß, zu dem der Verfasser auf Grund <strong>des</strong> Studiums der<br />

erwähnten Analyse der gesellschaftlichen Reproduktion gelangt ist."<br />

Und nun sind wir gespannt auf die Bulgakowsche Beweisführung für die angeführte These.<br />

Sie fällt zunächst unerwartet einfach aus. Bulgakow gibt getreulich das uns bekannte Marxsche Schema<br />

der einfachen Reproduktion wieder, mit Kommentaren, die seinem Verständnis alle Ehre machen. Dann<br />

führt er das uns ebenso bekannte Marxsche Schema der erweiterten Reproduktion an - und damit ist der<br />

gesuchte Beweis auch schon erbracht. "Auf Grund <strong>des</strong> Gesagten bietet es keine Schwierigkeit zu<br />

bestimmen, worin die <strong>Akkumulation</strong> bestehen wird: I (Abteilung der Produktionsmittel) muß die zur<br />

Produktionserweiterung erforderlichen zuschüssigen Produktionsmittel sowohl für sich wie für II<br />

(Abteilung der Konsummittel) herstellen, während hinwiederum II die zuschüssigen Konsummittel zur<br />

Erweiterung <strong>des</strong> variablen <strong>Kapitals</strong> I und II zu liefern haben wird. Sieht man von der Geldzirkulation ab,<br />

so reduziert sich die Produktionserweiterung auf den Austausch der zuschüssigen Produkte I, deren II<br />

bedarf, und der zuschüssigen Produkte II, deren I bedarf." Bulgakow folgt hier also getreulich den<br />

Ausführungen Marxens und merkt gar nicht, daß seine These bis jetzt immer noch auf dem Papier bleibt.<br />

Er glaubt mit diesen mathematischen Formeln die Frage der <strong>Akkumulation</strong> gelöst zu haben. Daß man<br />

sich die Proportionen, die er aus Marx abschreibt, wohl vorstellen kann, ist außer Zweifel. Ebenso sicher<br />

ist es, daß, wenn die Produktionserweiterung stattfinden soll, sie sich in diesen Formeln ausdrücken kann.<br />

Bulgakow übersieht aber die Hauptfrage: Für wen findet denn die Erweiterung statt, deren Mechanismus<br />

er untersucht? Da sich die <strong>Akkumulation</strong> in mathematischen Proportionen auf dem Papier darstellen läßt,<br />

so ist sie auch schon vollbracht. Doch nachdem Bulgakow soeben die Sache für gelöst erklärt hat, stößt<br />

er im nächsten Moment, bei dem Versuch, die Geldzirkulation in die Analyse hineinzuführen, auf die<br />

Frage: Wo kommt bei I und II das Geld für den Ankauf der zuschüssigen Produkte her? Wir haben bei<br />

Marx gesehen, wie die wunde Stelle seiner Analyse, die eigentliche Frage nach den Konsumenten für die<br />

erweiterte Produktion, in der schiefen Form der Frage nach zuschüssigen Geldquellen immer wieder zum<br />

Vorschein kommt. Bulgakow folgt hier sklavisch der Marxschen Betrachtungsweise und akzeptiert<br />

dieselbe mißverständliche Fragestellung. ohne die darin enthaltene Verschiebung zu merken. Er stellt<br />

freilich fest, daß "Marx selbst auf diese Frage in den Brouillonheften, nach denen der zweite Band <strong>des</strong><br />

'<strong>Kapitals</strong>' hergestellt ist, eine Antwort nicht gegeben hat". Um so interessanter muß die Antwort<br />

sein, die Marxens russischer Schüler auf eigene Faust abzuleiten versucht.<br />

"Uns", sagt Bulgakow, "scheint der ganzen Marxschen Lehre die folgende Lösung am besten zu<br />

entsprechen. Das neue variable Kapital in Geldform, das II für I wie für sich selbst liefert, findet sein<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 22. Kapitel<br />

Warenäquivalent im Mehrwert II. Wir haben schon bei der Betrachtung der einfachen Reproduktion<br />

gesehen, daß die Kapitalisten selbst das Geld zur Realisierung ihres Mehrwerts in die Zirkulation werfen<br />

müssen und dieses Geld schließlich in die Tasche <strong>des</strong> Kapitalisten, von dem es ausging, zurückkehrt. Das<br />

Quantum Geld, das zur Zirkulation <strong>des</strong> Mehrwerts erforderlich ist, wird nach dem allgemeinen Gesetz<br />

der Warenzirkulation bestimmt, durch den Wert der Waren, worin er eingeschlossen ist, geteilt durch die<br />

Durchschnittszahl der Umschläge <strong>des</strong> Gel<strong>des</strong>. Dasselbe Gesetz findet auch hier Anwendung. <strong>Die</strong><br />

Kapitalisten II müssen eine gewisse Summe Gel<strong>des</strong> zur Zirkulation ihres Mehrwerts haben, sie müssen<br />

folglich einen gewissen Geldvorrat besitzen. <strong>Die</strong>ser Vorrat muß genügend groß sein, damit er sowohl für<br />

die Zirkulation <strong>des</strong>jenigen Teils <strong>des</strong> Mehrwerts ausreicht, der den Konsumtionsfonds darstellt, wie<br />

<strong>des</strong>jenigen, der als Kapital akkumuliert werden soll." Weiter entwickelt Bulgakow den Standpunkt, daß<br />

es für die Frage, wieviel Geld zur Zirkulation eines bestimmten Warenquantums im Lande erforderlich<br />

ist, gar keinen Unterschied machte, ob ein Teil dieser Waren Mehrwert darstellt oder nicht. "<strong>Die</strong><br />

allgemeine Frage aber, woher das Geld überhaupt im Lande kommt, wird in dem Sinne gelöst, daß dieses<br />

Geld durch den Goldproduzenten geliefert wird." Wird mit der Erweiterung der Produktion im Lande<br />

mehr Geld erforderlich, so wird eben auch die Goldproduktion dementsprechend erweitert.(5) Wir landen<br />

also schließlich glücklich beim Goldproduzenten, der schon bei Marx die Rolle <strong>des</strong> Deus ex machina<br />

spielt. Man muß gestehen, daß Bulgakow die gespannten Erwartungen auf seine neue Lösung arg<br />

getäuscht hat. "Seine" Lösung der Frage ist über die von Marx gelieferte Analyse auch nicht um ein Jota<br />

hinausgegangen. Sie reduziert sich auf die folgenden äußerst einfachen drei Sätze: 1. Frage. Wieviel<br />

Geld ist erforderlich, um den kapitalisierten Mehrwert zu realisieren? Antwort: Soviel wie nach dem<br />

allgemeinen Gesetz der Warenzirkulation nötig ist. 2. Frage. Woher nehmen die Kapitalisten dieses Geld,<br />

um den kapitalisierten Mehrwert zu realisieren? Antwort: Sie müssen es eben haben. 3. Frage. Woher<br />

kommt das Geld überhaupt ins Land? Antwort: Vom Goldproduzenten. <strong>Ein</strong>e Erklärungsweise die<br />

in ihrer außerordentlichen <strong>Ein</strong>fachheit mehr verdächtig als bestrickend ist.<br />

Doch es erübrigt sich, diese Theorie vorn Goldproduzenten als Deus ex machina der kapitalistischen<br />

<strong>Akkumulation</strong> zu widerlegen. Bulgakow selbst hat sie sehr schön widerlegt. 80 Seiten weitet kommt er in<br />

einem ganz anderen Zusammenhang, nämlich von der Lohnfondstheorie aus, gegen die er sich ohne<br />

ersichtlichen Grund in eine breite Polemik verwickelt hat, wieder auf den Goldproduzenten. Und hier<br />

entwickelt er plötzlich die folgende scharfe <strong>Ein</strong>sicht:<br />

"Wir wissen schon, daß unter anderen Produzenten auch der Goldproduzent existiert, der einerseits selbst<br />

bei einfacher Reproduktion die absolute Menge <strong>des</strong> im Lande zirkulierenden Gel<strong>des</strong> vergrößert und<br />

andererseits Produktionsmittel und Konsummittel kauft, ohne seinerseits Waren zu verkaufen, wobei er<br />

für die gekauften Waren direkt mit dem allgemeinen Tauschäquivalent zahlt, das sein eigenes Produkt<br />

darstellt. Kann nun der Goldproduzent nicht vielleicht den <strong>Die</strong>nst erweisen, daß er bei II <strong>des</strong>sen ganzen<br />

akkumulierten Mehrwert abkauft und dafür mit Gold zahlt, das II alsdann zum Ankauf der<br />

Produktionsmittel bei I und zur Erweiterung <strong>des</strong> variablen <strong>Kapitals</strong>, d.h. zum Ankauf der zuschüssigen<br />

Arbeitskraft, gebrauchen wird? Als wirklicher auswärtiger Absatzmarkt erscheint somit der<br />

Goldproduzent.<br />

Doch das ist eine vollkommen absurde Voraussetzung. Ihre Annahme bedeutet, daß man die Erweiterung<br />

der gesellschaftlichen Produktion von der Erweiterung der Goldproduktion abhängig macht. (Bravo!)<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 22. Kapitel<br />

<strong>Die</strong>s setzt seinerseits ein Wachstum der Goldproduktion voraus, das der Wirklichkeit gar nicht<br />

entspricht. Soll der Goldproduzent verpflichtet werden, durch seine Arbeiter bei II den ganzen<br />

akkumulierten Mehrwert abzukaufen, dann bedeutet dies, daß sein variables Kapital täglich und stündlich<br />

wachsen muß. Aber dementsprechend muß auch das konstante Kapital wachsen und auch der Mehrwert,<br />

folglich muß die ganze Goldproduktion direkt ungeheuerliche Dimensionen annehmen (Bravo!) Anstatt<br />

diese läppische Voraussetzung statistisch nachzuprüfen (was übrigens kaum möglich wäre), genügt es,<br />

auf eine Tatsache hinzuweisen, die ganz allein diese Voraussetzung vernichtet. <strong>Die</strong>se Tatsache ist - die<br />

Entwicklung <strong>des</strong> Kredits, welche die Entwicklung der kapitalistischen Wirtschaft begleitet. (Bravo!) Der<br />

Kredit hat die Tendenz, die Menge <strong>des</strong> umlaufenden Gel<strong>des</strong> (natürlich relativ, nicht absolut) zu<br />

verringern und erscheint als notwendige Ergänzung zur Entwicklung der Tauschwirtschaft, die sonst sehr<br />

bald am Mangel an Metallgeld ihre Schranken finden würde. Ich finde es über- flüssig, hier<br />

zahlenmäßig nachzuweisen, wie gering jetzt die Rolle <strong>des</strong> Metallgel<strong>des</strong> bei den Tauschgeschäften ist.<br />

<strong>Die</strong> aufgestellte Hypothese steht auf diese Weise in direktem und offenbarem Widerspruch mit den<br />

Tatsachen und muß abgelehnt werden."(6)<br />

Bravissimo! Sehr schön! Aber damit hat Bulgakow auch seine einzige bisherige Erklärung der Frage, wie<br />

und durch wen der kapitalisierte Mehrwert realisiert wird, selbst "abgelehnt". Übrigens hat er auch in<br />

dieser Selbstwiderlegung nur etwas ausführlicher dargelegt, was Marx bereits mit einem Wort gesagt hat,<br />

indem er die Hypothese von dem Goldproduzenten, der den ganzen gesellschaftlichen Mehrwert<br />

schluckt, "abgeschmackt" genannt hat.<br />

Freilich liegt die eigentliche Lösung bei Bulgakow wie überhaupt bei den russischen Marxisten, die sich<br />

mit der Frage eingehend beschäftigt haben, ganz anderswo. Sowohl er wie Tugan-Baranowski wie Iljin<br />

legen das Hauptgewicht darauf, daß die Gegenseite - die Skeptiker - in bezug auf die Möglichkeit der<br />

<strong>Akkumulation</strong> einen kapitalen Fehler in der Wertanalyse <strong>des</strong> Gesamtprodukts machen. <strong>Die</strong>se -<br />

namentlich Woronzow - nahmen an, das gesamte gesellschaftliche Produkt bestehe in Konsummitteln,<br />

und gingen von der irrtümlichen Voraussetzung aus, Konsumtion sei überhaupt Zweck der<br />

kapitalistischen Produktion. Hier - erklärten nun die Marxisten - liege die Quelle <strong>des</strong> ganzen<br />

Mißverständnisses, und aus dieser Quelle flössen die imaginären Schwierigkeiten der Realisierung <strong>des</strong><br />

Mehrwerts, über die sich die Skeptiker den Kopf zerbrachen. "Dank dieser irrigen Vorstellung schuf sich<br />

diese Schule selbst nichtexistierende Schwierigkeiten: Da die normalen Bedingungen der kapitalistischen<br />

Produktion voraussetzen, daß der Konsumtionsfonds der Kapitalisten bloß einen und dazu geringeren<br />

Teil <strong>des</strong> Mehrwerts ausmacht, während der größere für die Erweiterung der Produktion abgerechnet<br />

wird, so ist es augenscheinlich, daß die Schwierigkeiten, die sich jene Schule (die Volkstümler - R. L.)<br />

vorstellte, in Wirklichkeit gar nicht existieren."(7) Es ist auffallend, mit welcher Selbstverständlichkeit<br />

Bulgakow hier das Problem übersieht und nicht einmal zu ahnen scheint, daß gerade erst bei der<br />

Annahme der erweiterten Reproduktion die Frage: für wen? unabweisbar wird, jene Frage, die unter der<br />

Voraussetzung der persönlichen Konsumtion <strong>des</strong> gesamten Mehrwerts sehr nebensächlich ist.<br />

Alle diese "imaginären Schwierigkeiten" lösen sich nun durch die zwei Entdeckungen Marxens in Dunst<br />

auf, die seine russischen Schüler nicht müde werden, ihren Widersachern entgegenzuhalten.<br />

Erstens die Tatsache, daß die Wertzusammensetzung <strong>des</strong> gesellschaftlichen Produkts nicht v + m,<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 22. Kapitel<br />

sondern c + v + m sei, und zweitens, daß mit den Fortschritten der kapitalistischen Produktion in dieser<br />

Zusammensetzung der Teil c im Verhältnis zu v immer größer werde, während gleichzeitig im Mehrwert<br />

der kapitalisierte Teil im Verhältnis zum konsumierten immer wachse. Von hier aus stellt Bulgakow eine<br />

ganze Theorie über das Verhältnis der Produktion zur Konsumtion in der kapitalistischen Gesellschaft<br />

auf. Sie spielt bei den russischen Marxisten und insbesondere bei Bulgakow eine so wichtige Rolle, daß<br />

es nötig ist, sie in extenso kennenzulernen.<br />

"<strong>Die</strong> Konsumtion", sagt Bulgakow, "die Befriedigung gesellschaftlicher Bedürfnisse, bildet nur ein<br />

nebensächliches Moment der Kapitalzirkulation. Der Umfang der Produktion wird durch den Umfang<br />

<strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong> und nicht durch die Größe der gesellschaftlichen Bedürfnisse bestimmt. <strong>Die</strong> Entwicklung<br />

der Produktion wird nicht nur von dem Wachstum der Konsumtion nicht begleitet, sondern es besteht<br />

zwischen beiden sogar ein Antagonismus. <strong>Die</strong> kapitalistische Produktion kennt keine andere Konsumtion<br />

als die zahlungsfähige, zahlungsfähige Konsumenten können aber nur diejenigen sein, die Arbeitslohn<br />

oder Mehrwert beziehen, und ihre Kaufkraft entspricht genau dem Umfang dieser <strong>Ein</strong>kommen. Wir<br />

haben aber gesehen, daß die Grundgesetze der Entwicklung der kapitalistischen Produktion die Tendenz<br />

haben, die relative Größe <strong>des</strong> variablen <strong>Kapitals</strong> wie <strong>des</strong> Konsumtionsfonds <strong>des</strong> Kapitalisten (obgleich<br />

sie absolut wächst) zu verringern. Man kann <strong>des</strong>halb sagen, daß die Entwicklung der Produktion die<br />

Konsumtion verringert.(8) Auf diese Weise stehen die Bedingungen der Produktion und der Konsumtion<br />

zueinander im Widerspruch. <strong>Die</strong> Erweiterung der Produktion kann sich nicht vollziehen und vollzieht<br />

sich nicht für die Rechnung der Konsumtion. <strong>Die</strong>se Erweiterung ist aber ein inneres grundlegen<strong>des</strong><br />

Gesetz der kapitalistischen Produktion, das jedem <strong>Ein</strong>zelkapitalisten gegenüber die Form <strong>des</strong> strengen<br />

Gebotes der Konkurrenz annimmt. Der Ausweg aus diesem Widerspruch ist der, daß den Markt für die<br />

zuschüssige Menge Produkte die sich erweiternde Produktion selbst darstellt. 'Der innere Widerspruch<br />

wird gelöst durch die Erweiterung <strong>des</strong> äußeren Fel<strong>des</strong> der Produktion.' (Das Kapital, Bd. III, S.189.)<br />

(Hier zitiert Bulgakow einen Marxschen Satz in ganz verkehrtem Sinne, worauf noch weiter<br />

zurückzukommen sein wird. - R. L.) Wie das möglich, ist soeben gezeigt worden. (Bulgakow meint die<br />

Analyse <strong>des</strong> Schemas der erweiterten Reproduktion. - R. L.) Dabei entfällt offenbar der grö- ßere<br />

Teil dieser Erweiterung auf die Abteilung I. d.h. auf die Produktion <strong>des</strong> konstanten <strong>Kapitals</strong>, und nur der<br />

relativ kleinere Teil auf die Abteilung II, die Güter für die unmittelbare Konsumton produziert. In dieser<br />

Verschiebung allein im Verhältnis der Abteilungen I und II kommt mit genügender Klarheit die Rolle<br />

zum Ausdruck, welche die Konsumtion in der kapitalistischen Gesellschaft spielt, sowie auch der<br />

Hinweis, wo der wichtigste Absatz der kapitalistischen Waren zu suchen ist."(9) "Auch in diesen engen<br />

Schranken (<strong>des</strong> Profitinteresses und der Krisen - R. L.), auch auf diesem Dornenwege vermag sich die<br />

kapitalistische Produktion schrankenlos zu erweitern, ungeachtet und selbst trotz der Verringerung der<br />

Konsumtion. In der russischen Literatur wird mehrmals auf die Unmöglichkeit eines bedeutenden<br />

Wachstums der kapitalistischen Produktion ohne auswärtige Märkte hingewiesen, und zwar angesichts<br />

der Verringerung der Konsumtion. Dabei war die Rolle der Konsumtion in der kapitalistischen<br />

Gesellschaft ganz falsch eingeschätzt. Man hat übersehen, daß die Konsumtion gar nicht der Zweck der<br />

kapitalistischen Produktion ist, daß diese letztere nicht durch das Wachstum der Konsumtion, sondern<br />

durch die Erweiterung <strong>des</strong> äußeren Fel<strong>des</strong> der Produktion existiert, die eben den Absatzmarkt für die<br />

kapitalistisch hergestellten Produkte bildet. An der Lösung der unlösbaren Aufgabe: der Auffindung von<br />

Mitteln, um die Konsumtion zu erweitern, die die kapitalistische Produktionsweise zu verringern bestrebt<br />

ist, quälte sich eine ganze Reihe Forscher der Malthusschen Schule ab, die sich mit der oberflächlichen<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 22. Kapitel<br />

Harmonielehre der Schule Ricarcio-Say nicht zufriedengeben konnten. Erst Marx hat die Analyse <strong>des</strong><br />

wirklichen Zusammenhangs gegeben: Er zeigte, daß das Wachstum der Konsumtion fatal hinter dem<br />

Wachstum der Produktion zurückbleibt und zurückbleiben muß, welche 'dritten Personen' man auch<br />

erfinden möge. Deshalb kann die Konsumtion und ihr Umfang in keiner Weise als die unmittelbare<br />

Schranke der Erweiterung der Produktion gelten. <strong>Die</strong> kapitalistische Produktion büßt für die Abweichung<br />

von diesem wahren Zweck der Produktion mit Krisen, aber sie ist unabhängig von der Konsumtion. <strong>Die</strong><br />

Erweiterung der Produktion findet ihre Schranke nur in dem Umfang <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong> und hängt lediglich<br />

von diesem letzteren ab."(10)<br />

Hier wird die Theorie Bulgakows und Tugan-Baranowskis direkt Marx in die Schuhe geschoben, so sehr<br />

schien sie den russischen Marxisten unmittelbar aus der Marxschen Lehre zu folgen und sich in sie<br />

organisch einzufügen. Noch deutlicher formuliert sie Bulgakow an einer anderen Stelle als direkte<br />

Deutung <strong>des</strong> Marxschen Schemas der erweiterten Reproduktion. Nachdem die kapitalistische<br />

Produktionsweise in einem Lande <strong>Ein</strong>zug gehalten hat, fängt ihre innere Bewegung an, sich nach diesem<br />

Schema zu entwickeln: "<strong>Die</strong> Produktion <strong>des</strong> konstanten <strong>Kapitals</strong> bildet die Abteilung I der<br />

gesellschaftlichen Reproduktion, die schon eine selbständige Nachfrage nach Konsummitteln eröffnet im<br />

Umfange <strong>des</strong> eigenen variablen <strong>Kapitals</strong> dieser Abteilung I sowie <strong>des</strong> Konsumtionsfonds ihrer<br />

Kapitalisten. Abteilung II ihrerseits eröffnet die Nachfrage nach Produkten I. Auf diese Weise bildet sich<br />

schon bei Beginn der kapitalistischen Produktion ein geschlossener Kreis heraus, in dem die<br />

kapitalistische Produktion von gar keinem auswärtigen Markt abhängig ist, sondern sich selbst genügt<br />

und in dem sie sozusagen automatisch vermittelst der <strong>Akkumulation</strong> zu wachsen in der Lage ist."(11)<br />

Und an einer anderen Stelle versteigt er sich gar zu der folgenden krassen Formulierung seiner Theorie:<br />

"Der einzige Markt für die Produkte der kapitalistischen Produktion ist diese Produktion selbst."(12)<br />

Man kann die ganze Kühnheit dieser Theorie, die in den Händen der russischen Marxisten zur<br />

Hauptwaffe wurde, womit sie ihre Gegner, die "volkstümlerischen" Skeptiker, in der Frage der<br />

Absatzmärkte zur Strecke gebracht haben, nur dann richtig würdigen, wenn man sich vergegenwärtigt, in<br />

welchem erstaunlichen Widerspruch sich diese Theorie mit der täglichen Praxis, mit allen bekannten<br />

Tatsachen der kapitalistischen Wirklichkeit befindet. Aber noch mehr: Man muß diese Theorie, die mit<br />

solchem Triumph als reinste marxistische Wahrheit verkündet wurde, noch mehr bewundern, wenn man<br />

bedenkt, daß sie auf einem einfachen kapitalen Quiproquo basiert. Doch auf diese Frage werden wir<br />

weiter bei der Besprechung Tugan-Baranowskis eingehen.<br />

Auf dem Mißverständnis über das Verhältnis der Konsumtion zur Produktion in der kapitalistischen<br />

Gesellschaft errichtet Bulgakow ferner eine ganz verkehrte Theorie <strong>des</strong> auswärtigen Handels. Vom<br />

Standpunkte der obigen Auffassung der Reproduktion gibt es in der Tat für den auswärtigen Handel<br />

keinen Raum. Wenn der Kapitalismus in jedem Lande gleich zu Beginn seiner Entwicklung jenen<br />

bewußten "geschlossenen Zirkel" herausbildet, in dem er sich wie eine Katze um den eigenen Schwanz<br />

dreht und "sich selbst genügt", für sich selbst schrankenlos einen Absatz schafft und sich selbst Stachel<br />

zur Erweiterung ist, dann ist je<strong>des</strong> kapitalistische Land ökonomisch auch ein abgeschlossenes, "sich<br />

selbst genügen<strong>des</strong>" Gan- zes. Nur in einem Fall wäre dann auswärtiger Handel begreiflich: als<br />

Mittel, das natürliche Manko eines Lan<strong>des</strong> an gewissen Produkten <strong>des</strong> Bodens und <strong>des</strong> Klimas durch<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 22. Kapitel<br />

<strong>Ein</strong>fuhr von auswärts zu decken, nur als notgedrungene <strong>Ein</strong>fuhr von Rohstoffen oder Nahrungsmitteln.<br />

Und in der Tat errichtet Bulgakow, indem er die These der Volkstümler direkt auf den Kopf stellt, eine<br />

Theorie <strong>des</strong> internationalen Handels der kapitalistischen Staaten, in dem die <strong>Ein</strong>fuhr von Produkten der<br />

Landwirtschaft das grundlegende aktive Element, die industrielle Ausfuhr nur die notgedrungene<br />

Deckung jener <strong>Ein</strong>fuhr darstellt. Der internationale Warenverkehr erscheint hier nicht im Wesen der<br />

Produktionsweise begründet, sondern in den Naturbedingungen der Länder - jedenfalls eine Theorie, die<br />

nicht von Marx, sondern von deutschen Gelehrten der bürgerlichen Nationalökonomie geliehen ist. Wie<br />

Struve von Wagner und Schäffle sein Schema der drei Weltreiche, so übernimmt Bulgakow von dem<br />

seligen List die <strong>Ein</strong>teilung der Staaten in Kategorien nach dem "Agrikulturstand" und dem<br />

"Agrikulturmanufakturstand", die er mit dem Fortschritt der Zeiten in "Manufakturstand" und<br />

"Agrikulturmanufakturstand" modifiziert. <strong>Die</strong> erstere Kategorie ist von Natur mit einem Mangel eigener<br />

Rohstoffe und Nahrungsmittel gestraft und <strong>des</strong>halb auf den auswärtigen Handel angewiesen, die letztere<br />

Kategorie ist von der Natur mit allem versehen und kann auf den auswärtigen Handel pfeifen. Typus der<br />

ersteren ist England, der zweiten - die Vereinigten Staaten. Für England würde die Abschaffung <strong>des</strong><br />

auswärtigen Handels ökonomische Agonie und Tod bedeuten, für die Vereinigten Staaten nur eine<br />

vorübergehende Krise, nach der völlige Genesung gesichert wäre: "Hier kann sich die Produktion auf der<br />

Basis <strong>des</strong> inneren Marktes schrankenlos erweitern."(13) <strong>Die</strong>se Theorie, die ein ehrwürdiges Erbstück der<br />

deutschen Nationalökonomie bis auf den heutigen Tag bildet, hat offenbar von den Zusammenhängen der<br />

kapitalistischen Weltwirtschaft keinen Dunst und führt den heutigen Weltverkehr ungefähr auf die<br />

Grundlagen aus den Zeiten der Phönizier zurück. Doziert doch z.B. auch Professor Bücher: "Es ist ein<br />

Irrtum, wenn man aus der im liberalistischen Zeitalter erfolgten Erleichterung <strong>des</strong> internationalen<br />

Verkehrs schließen zu dürfen meint, die Periode der Volkswirtschaft gehe zur Neige und mache der<br />

Periode der Weltwirtschaft Platz ... Gewiß sehen wir heute in Europa eine Reihe von Staaten. welche der<br />

nationalen Selbständigkeit in ihrer Güterversorgung insofern entbehren, als sie erhebliche Mengen ihrer<br />

Nahrungs- und Genußmittel aus dem Auslande zu beziehen genötigt sind, während ihre industrielle<br />

Produktionstätigkeit weit über das nationale Bedürfnis hinausgewachsen ist und dauernd<br />

Überschüsse liefert, die auf fremden Konsumtionsgebieten ihre Verwertung finden müssen. Aber das<br />

Nebeneinanderbestehen solcher Industrie- und Rohproduktionsländer, die gegenseitig aufeinander<br />

angewiesen sind, diese 'Internationale Arbeitsteilung' ist nicht als ein Zeichen anzusehen, daß die<br />

Menschheit eine neue Stufe der Entwicklung zu erklimmen im Begriffe steht, die unter dem Namen der<br />

Weltwirtschaft den ... früheren Stufen gegenübergestellt werden müßte. Denn einerseits hat keine<br />

Wirtschaftsstufe volle Selbstherrlichkeit der Bedürfnisbefriedigung auf die Dauer garantiert; jede ließ ...<br />

gewisse Lücken bestehen, die so oder so ausgefüllt werden mußten. Andererseits hat jene sogenannte<br />

Weltwirtschaft bis jetzt wenigstens keine Erscheinungen hervortreten lassen, die von denen der<br />

Volkswirtschaft in wesentlichen Merkmalen abweichen, und es steht sehr zu bezweifeln, daß solche in<br />

absehbarer Zukunft auftreten werden."(14) Bei Bulgakow ergibt sich aus dieser Auffassung jedenfalls ein<br />

unerwarteter Schluß: Seine Theorie von der schrankenlosen Entwicklungsfähigkeit <strong>des</strong> Kapitalismus<br />

wird nur auf gewisse Länder mit günstigen Naturbedingungen beschränkt. In England muß der<br />

Kapitalismus in absehbarer Zeit an der Erschöpfung <strong>des</strong> Weltmarktes zugrunde gehen, in den<br />

Vereinigten Staaten, in Indien und in - Rußland blüht ihm eine unumschränkte Entwicklung durch<br />

"Selbstgenügsamkeit".<br />

Doch abgesehen von diesen augenscheinlichen Seltsamkeiten, birgt die Bulgakowsche Argumentation in<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 22. Kapitel<br />

bezug auf den auswärtigen Handel wiederum ein fundamentales Mißverständnis. Das Hauptargument<br />

Bulgakows gegen die Skeptiker von Sismondi bis Nikolai-on, die zur Realisierung <strong>des</strong> kapitalistischen<br />

Mehrwerts den auswärtigen Absatzmarkt zu Hilfe nehmen zu müssen glaubten, ist folgen<strong>des</strong>: <strong>Die</strong>se<br />

Theoretiker betrachteten offenbar alle den auswärtigen Handel als "einen bodenlosen Abgrund", in dem<br />

der im Innern unabsetzbare Überschuß der kapitalistischen Produktion auf Nimmerwiedersehen<br />

verschwinde. Demgegenüber hebt Bulgakow mit Triumph hervor, daß ja der auswärtige Handel durchaus<br />

kein "Abgrund" und erst recht kein "bodenloser" sei, daß er ein zweischneidiges Schwert darstelle und<br />

daß zur Ausfuhr stets auch <strong>Ein</strong>fuhr gehöre, die sich beide so ziemlich die Waage zu halten pflegen. Was<br />

also durch die eine Grenze hinausgeschoben werde, das werde durch die andere Grenze bloß in<br />

veränderter Gebrauchsgestalt wieder hereingeschoben. "Für die eingeführten Waren, die das Äquivalent<br />

der ausgeführten darstellen, muß man in den Grenzen <strong>des</strong> gegebenen Absatzmarktes Platz finden, Platz<br />

ist aber nicht da, folglich zieht die Zuhilfenahme <strong>des</strong> auswärtigen Absatzes bloß neue Schwierigkeiten<br />

nach sich."(15) An einer anderen Stelle sagt er, der Ausweg, den die russischen Volkstümler zur<br />

Realisierung <strong>des</strong> Mehrwerts gefunden hätten, die auswärtigen Märkte, sei "viel weniger glücklich als der<br />

Ausweg, den Malthus, v. Kirchmann und Woronzow selbst als Verfasser <strong>des</strong> Aufsatzes vom<br />

'Militarismus und Kapitalismus' gefunden hatten"(16). Bulgakow verrät hier, daß er trotz all seiner<br />

begeisterten Wiedergabe der Marxschen Schemata der Reproduktion gar nicht begriffen hat, worin das<br />

eigentliche Problem liegt, um das die Skeptiker seit Sismondi bis Nikolai-on herumtasteten: Er lehnt den<br />

auswärtigen Handel als angeblichen Ausweg aus der Schwierigkeit ab, weil dieser den abgesetzten<br />

Mehrwert, "wenn auch in veränderter Gestalt", wieder ins Land einführe. Bulgakow glaubt also, im<br />

<strong>Ein</strong>klang mit der rohen Vor- stellung v. Kirchmanns und Woronzows, daß es sich darum handelt,<br />

ein gewisses Quantum Mehrwert zu vertilgen, vom Erdboden zu verwischen, er ahnt nicht, daß es sich<br />

um die Realisierung, um die Warenmetamorphose, also gerade um die "veränderte Gestalt" <strong>des</strong><br />

Mehrwerts handelt.<br />

So gelangt Bulgakow schließlich, wenn auch durch eine andere Straße, nach demselben Rom wie Struve.<br />

Er verkündet die Selbstgenügsamkeit der kapitalistischen <strong>Akkumulation</strong>, die selbst ihre Produkte<br />

verschlinge, wie Kronos seine Kinder, und sich aus sich selbst immer mächtiger gebäre. Von hier aus<br />

blieb nur noch ein Schritt zur Rückkehr vom Marxismus zur bürgerlichen Ökonomie. <strong>Die</strong>sen Schritt hat<br />

glücklich Tugan-Baranowski vollzogen.<br />

Fußnoten von <strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong><br />

(1) S. Bulgakow: Über die Absatzmärkte der kapitalistischen Produktion. <strong>Ein</strong>e theoretische Studie,<br />

Moskau 1897, S. 15.


<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 22. Kapitel<br />

(4) l.c., S. 2/3.


<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 22. Kapitel<br />

<strong>Ein</strong>e andere Entdeckung Sombarts ist, daß die großen kapitalistischen Länder, die ja keine<br />

"Ausfuhrländer" sind, ihre <strong>Ein</strong>fuhr immer mehr "umsonst" kriegen - nämlich als Zinsen der ausgeführten<br />

Kapitalien. Für Professor Sombart zählt aber die Kapitalausfuhr ebenso wie die industrielle<br />

Warenausfuhr überhaupt nicht: "Mit der Zeit werden wir wohl dahin kommen einzuführen, ohne<br />

auszuführen." (l.c., S. 422.) Modern, sensationell und gigerlhaft.


<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 23. Kapitel<br />

22. Kapitel | Inhalt | 24. Kapitel<br />

<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - Gesammelte Werke. Herausgegeben vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Band<br />

5. <strong>Berlin</strong>/DDR. 1975. "<strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>", S. 263-275.<br />

1. Korrektur.<br />

Erstellt am 20.10.1998<br />

Dreiundzwanzigstes Kapitel<br />

<strong>Die</strong> "Disproportionalität" <strong>des</strong> Herrn Tugan-Baranowski<br />

Wir behandeln diesen Theoretiker zum Schluß - obwohl er seine Auffassung in russischer<br />

Sprache schon 1894, vor Struve und Bulgakow, formuliert hatte -, teils weil er erst später in deutscher<br />

Sprache seine Theorie in den "Studien zur Theorie und Geschichte der Handelskrisen in England" 1901<br />

und in den "Theoretischen Grundlagen <strong>des</strong> Marxismus" 1905 in reifer Form entwickelt hat, teils weil er<br />

derjenige ist, der aus den gemeinsamen Prämissen der genannten marxistischen Kritiker die<br />

weitgehendsten Konsequenzen gezogen hat.<br />

Auch Tugan-Baranowski geht wie Bulgakow von der Marxschen Analyse der gesellschaftlichen<br />

Reproduktion aus. Auch er hat erst in dieser Analyse den Schlüssel gefunden, um sich in dem ganzen<br />

verworrenen und verwirrenden Komplex von Problemen zurechtzufinden. Während aber Bulgakow als<br />

begeisterter Adept der Marxschen Lehre diese nur getreu zu entwickeln sich bemüht und seine Schlüsse<br />

einfach dem Meister imputiert, belehrt Tugan-Baranowski umgekehrt Marx, der es nicht verstanden<br />

habe, seine eigene glänzende Untersuchung <strong>des</strong> Reproduktionsprozesses zu verwerten. Der wichtigste<br />

allgemeine Schluß, zu dem Tugan auf Grund der Marxschen Sätze gelangt und den er zum Angelpunkt<br />

seiner ganzen Theorie macht, ist der, daß die kapitalistische <strong>Akkumulation</strong> - entgegen der Annahme der<br />

Skeptiker - nicht bloß bei den kapitalistischen Formen <strong>des</strong> <strong>Ein</strong>kommens und der Konsumtion möglich,<br />

sondern daß sie von <strong>Ein</strong>kommen und Konsumtion überhaupt unabhängig sei. Nicht die Konsumtion - die<br />

Produktion selbst sei ihr eigener bester Absatz. Deshalb sei Produktion mit Absatz identisch und, da die<br />

Produktionsausdehnung an sich unbeschränkt, habe auch die Aufnahmefähigkeit für ihre<br />

Produkte, der Absatz, keine Schranken. "<strong>Die</strong> angeführten Schemata", sagt er, "mußten zur Evidenz den<br />

an sich sehr einfachen Grundsatz beweisen, welcher aber bei ungenügendem Verständnis <strong>des</strong> Prozesses<br />

der Reproduktion <strong>des</strong> gesellschaftlichen <strong>Kapitals</strong> leicht <strong>Ein</strong>wände hervorruft, nämlich den Grundsatz,<br />

daß die kapitalistische Produktion für sich selbst einen Markt schafft. Ist es nur möglich, die<br />

gesellschaftliche Produktion zu erweitern, reichen die Produktivkräfte dazu aus, so muß bei der<br />

proportionellen <strong>Ein</strong>teilung der gesellschaftlichen Produktion auch die Nachfrage eine entsprechende<br />

Erweiterung erfahren, denn unter diesen Bedingungen repräsentiert jede neuproduzierte Ware eine<br />

neuerschienene Kaufkraft für die Erwerbung anderer Waren. Aus der Vergleichung der einfachen<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 23. Kapitel<br />

Reproduktion <strong>des</strong> gesellschaftlichen <strong>Kapitals</strong> mit <strong>des</strong>sen Reproduktion auf erweiterter Stufenleiter kann<br />

man den höchst wichtigen Schluß ziehen, daß in der kapitalistischen Wirtschaft die Nachfrage nach<br />

Waren vom Gesamtumfang der gesellschaftlichen Konsumtion in einem gewissen Sinne unabhängig ist:<br />

Es kann der Gesamtumfang der gesellschaftlichen Konsumtion zurückgehen und zugleich die gesamte<br />

gesellschaftliche Nachfrage nach Waren wachsen, wie absurd das auch vom Standpunkte <strong>des</strong> 'gesunden'<br />

Menschenverstan<strong>des</strong> erscheinen mag."(1) Und ebenso weiter: "Als Resultat unserer abstrakten Analyse<br />

<strong>des</strong> Prozesses der Reproduktion <strong>des</strong> gesellschaftlichen <strong>Kapitals</strong> hat sich der Schluß ergeben, daß es bei<br />

einer proportionellen <strong>Ein</strong>teilung der gesellschaftlichen Produktion kein überschüssiges gesellschaftliches<br />

Produkt geben kann."(2) Von hier aus revidiert Tugan die Marxsche Krisentheorie, die angeblich auf der<br />

Sismondischen "Unterkonsumtion" beruhe: "<strong>Die</strong> verbreitete Meinung, die bis zu einem gewissen Grade<br />

auch von Marx geteilt wurde, daß das Elend der Arbeiter, welche die große Mehrzahl der Bevölkerung<br />

bilden, eine Realisation der Produkte der sich immer erweiternden kapitalistischen Produktion wegen<br />

mangelnder Nachfrage unmöglich macht - ist als falsch zu bezeichnen. Wir haben gesehen, daß die<br />

kapitalistische Produktion für sich selbst einen Markt schafft - die Konsumtion ist nur eines der Momente<br />

der kapitalistischen Produktion. Wenn die gesellschaftliche Produktion planmäßig organisiert wäre, wenn<br />

die Leiter der Produktion eine vollkommene Kenntnis der Nachfrage und die Macht hätten, die Arbeit<br />

und das Kapital frei aus einem Produktionszweig in einen anderen überzuführen, so könnte, wie niedrig<br />

die gesellschaftliche Konsumtion auch sein möchte, das Angebot der Waren die Nachfrage nicht<br />

überschreiten."(3) Der einzige Umstand, der periodisch eine Marktüberfüllung erzeugt, sei der Mangel an<br />

Proportionalität bei der Produktionserweiterung. Den Gang der kapitalistischen <strong>Akkumulation</strong> unter<br />

dieser Voraussetzung schildert Tugan folgendermaßen: "Was würden ... die Arbeiter ... bei einer<br />

proportionellen <strong>Ein</strong>teilung der Produktion produzieren? Offenbar ihre eigenen Lebensmittel und<br />

Produktionsmittel. Wozu werden aber solche dienen? Zur Erweiterung der Produktion im zweiten Jahre.<br />

Der Produktion welcher Produkte? Wieder der Produktionsmittel und Lebensmittel der Arbeiter - und so<br />

ad infinitum."(4) <strong>Die</strong>ses Frage- und Antwortspiel ist wohlgemerkt nicht als Selbstpersiflage, sondern<br />

völlig ernst gemeint. Und so ergeben sich für die Kapitalakkumulation unendliche Perspektiven: "Ist ...<br />

die Ausdehnung der Produktion praktisch grenzenlos, so müssen wir die Ausdehnung <strong>des</strong> Marktes als<br />

ebenso grenzenlos annehmen, denn es gibt bei der proportionellen <strong>Ein</strong>teilung der gesellschaftlichen<br />

Produktion für die Ausdehnung <strong>des</strong> Marktes keine andere Schranke außer den Produktivkräften, über<br />

welche die Gesellschaft verfügt."(5)<br />

Da so die Produktion selbst ihren Absatz schafft, so bekommt auch der auswärtige Handel der<br />

kapitalistischen Staaten die eigentümliche mechanische Rolle zugewiesen, die wir schon bei Bulgakow<br />

kennengelernt haben. Der auswärtige Absatzmarkt ist z.B. für England unbedingt notwendig. "Beweist<br />

das nicht, daß die kapitalistische Produktion ein überschüssiges Produkt schafft, für welches auf dem<br />

inneren Markte kein Platz vorhanden ist? Warum bedarf England überhaupt eines auswärtigen Marktes?<br />

<strong>Die</strong> Antwort ist keine schwere. Darum, weil ein bedeutender Teil der Kaufkraft Englands für die<br />

Anschaffung ausländischer Waren verausgabt wird. <strong>Die</strong> <strong>Ein</strong>fuhr ausländischer Waren für den inneren<br />

Markt Englands macht auch die Ausfuhr englischer Waren für den auswärtigen Markt absolut notwendig.<br />

Da England ohne einen ausländischen Import nicht auskommen kann, so ist auch ein Export für dieses<br />

Land eine Existenzbedingung, sonst hätte es nichts, womit es für seinen Import bezahlen könnte."(6)<br />

Hier ist also wieder die landwirtschaftliche <strong>Ein</strong>fuhr als der stimulierende, ausschlaggebende Faktor<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 23. Kapitel<br />

bezeichnet, und ebenso finden wir die zwei Kategorien Länder "eines landwirtschaftlichen und eines<br />

industriellen Typus", die von Natur auf den Austausch untereinander angewiesen sind ganz nach dem<br />

Schema deutscher Professoren.<br />

Welches ist nun die Beweisführung für die kühne Lösung <strong>des</strong> <strong>Akkumulation</strong>sproblems bei Tugan-<br />

Baranowski, von der aus er auch das Problem der Krisen und eine ganze Reihe anderer beleuchtet? Es ist<br />

kaum zu glauben, aber um so wichtiger festzustellen: <strong>Die</strong> Beweisführung Tugans besteht einzig und<br />

allein im Marxschen Schema der erweiterten Reproduktion. Ni plus ni moins. Tugan-Baranowski spricht<br />

zwar an mehreren Stellen etwas großspurig von seiner "abstrakten Analyse <strong>des</strong> Prozesses der<br />

Reproduktion <strong>des</strong> gesellschaftlichen <strong>Kapitals</strong>", von "zwingender Logik" seiner Analyse, die ganze<br />

"Analyse" reduziert sich jedoch auf die Abschrift <strong>des</strong> Marxschen Schemas der erweiterten Reproduktion,<br />

nur mir anders gewählten Zahlen. In der ganzen Studie Tugans wird man keine Spur eines anderen<br />

Beweises finden. In dem Marxschen Schema verläuft nun tatsächlich die <strong>Akkumulation</strong>, die Produktion,<br />

die Realisierung, der Austausch, die Reproduktion glatt wie am Schnürchen. Und ferner kann man diese<br />

"<strong>Akkumulation</strong>" auch tatsächlich "ad infinitum" fortsetzen. Nämlich solange Papier und Tinte reichen.<br />

Und diese seine harmlose Übung mit arithmetischen Gleichungen auf dem Papier gibt Tugan-<br />

Baranowski in vollem Ernst für den Beweis aus, daß die Dinge sich ebenso in Wirklichkeit abspielen.<br />

"<strong>Die</strong> angeführten Schemata mußten zur Evidenz beweisen ..." Und an einer anderen Stelle widerlegt er<br />

Hobson, der von der Unmöglichkeit der <strong>Akkumulation</strong> überzeugt ist, folgendermaßen: "Das Schema Nr.<br />

2 der Reproduktion <strong>des</strong> gesellschaftlichen <strong>Kapitals</strong> auf erweiterter Stufenleiter entspricht dem von<br />

Hobson betrachteten Falle der <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>. Sehen wir aber in diesem Schema ein<br />

überschüssiges Produkt entstehen? In keiner Weise!"(7) Also weil "im Schema" kein überschüssiges<br />

Produkt entsteht, so ist Hobson auch schon widerlegt und die Sache erledigt.<br />

Freilich, Tugan-Baranowski weiß sehr wohl, daß in der rauhen Wirklichkeit die Dinge nicht so glatt<br />

verlaufen. Es gibt beständige Schwankungen beim Austausch und periodische Krisen. Aber die Krisen<br />

treten eben nur <strong>des</strong>halb ein, weil keine Proportionalität bei der Produktionserweiterung beobachtet wird,<br />

d.h. weil man sich im voraus nicht an die Proportionen <strong>des</strong> "Schemas Nr. 2" hält. Wäre [man] nach dem<br />

verfahren, dann hätten wir keine Krisen, und alles ginge in der kapitalistischen Produktion so hübsch<br />

vonstatten wie auf dem Papier. Nun wird Tugan zugeben müssen, daß man - wo wir den<br />

Reproduktionsprozeß im ganzen als einen fortlaufenden Prozeß behandeln - von den Krisen füglich<br />

absehen darf. <strong>Die</strong> "Proportionalität" mag alle Augenblicke aus den Fugen gehen, im Durch- <br />

schnitt der Konjunkturen durch lauter Abweichungen, durch Preisschwankungen täglich und durch<br />

Krisen periodisch wird ja die "Proportionalität" immer wieder eingerenkt. Daß sie im ganzen schlecht<br />

oder recht tatsächlich eingehalten wird, beweist der Umstand, daß die kapitalistische Wirtschaft<br />

fortbesteht und sich entwickelt, sonst hätten wir längst ein Tohuwabohu und den Zusammenbruch erlebt.<br />

Im Durchschnitt, im Endresultat wird also die Tugansche Proportionalität eingehalten, woraus zu<br />

schließen, daß die Wirklichkeit sich nach "Schema Nr. 2" richtet. Und weil dieses Schema sich unendlich<br />

weiterführen läßt, so kann auch die Kapitalakkumulation ad infinitum fortschreiten.<br />

Auffallend ist bei alledem nicht das Resultat, zu dem Tugan-Baranowski gelangt, nämlich die Annahme,<br />

daß das Schema tatsächlich dem Gang der Dinge entspricht - wir sahen, daß auch Bulgakow diesen<br />

Glauben teilte -, sondern der Umstand, daß Tugan nicht einmal für nötig hält, die Frage danach zu<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 23. Kapitel<br />

stellen, ob denn das "Schema" stimmt, daß er, statt das Schema zu beweisen, umgekehrt das Schema<br />

selbst, die arithmetische Übung auf dem Papier, für einen Beweis betrachtet, daß auch in Wirklichkeit die<br />

Dinge sich so verhalten. Bulgakow suchte das Marxsche Schema mit ehrlicher Mühe auf die wirklichen<br />

konkreten Verhältnisse der kapitalistischen Wirtschaft und <strong>des</strong> kapitalistischen Austausches zu<br />

projizieren, suchte sich durch die Schwierigkeiten, die sich daraus ergaben, durchzuringen, was er<br />

freilich nicht fertiggebracht hat und wobei er schließlich in der Analyse von Marx steckenblieb, die er<br />

selbst mit voller Klarheit als unfertig, abgebrochen ansah. Tugan-Baranowski braucht gar keine Beweise,<br />

er zerbricht sich nicht viel den Kopf: Da sich die arithmetischen Proportionen zur Zufriedenheit lösen<br />

und nach Belieben fortsetzen lassen, so ist ihm das just ein Beweis, daß sich die kapitalistische<br />

<strong>Akkumulation</strong> - vorbehaltlich der bewußten "Proportionalität", die aber, wie auch Tugan nicht bestreiten<br />

wird, vorn oder hinten doch hineinkommt - ebenso restlos und unendlich fortwinden könne.<br />

Tugan-Baranowski hat freilich einen indirekten Beweis, daß das Schema mit seinen seltsamen<br />

Ergebnissen der Wirklichkeit entspricht, ihr treues Spiegelbild darstellt. Das ist die Tatsache, daß in der<br />

kapitalistischen Gesellschaft, ganz im <strong>Ein</strong>klang mit dem Schema, die menschliche Konsumtion hinter die<br />

Produktion gesetzt, jene zum Mittel, diese zum Selbstzweck wie auch menschliche Arbeit der "Arbeit"<br />

der Maschine gleichgesetzt werde: "Der technische Fortschritt gelangt darin zum Ausdruck, daß die<br />

Bedeutung der Arbeitsmittel, der Maschine immer mehr, im Vergleich mit der lebendigen Arbeit, dem<br />

Arbeiter selbst, zunimmt. <strong>Die</strong> Produktions- mittel spielen eine immer größere Rolle im<br />

Produktionsprozeß und auf dem Warenmarkt. Der Arbeiter tritt gegenüber der Maschine in den<br />

Hintergrund, und zugleich tritt in den Hintergrund die aus der Konsumtion <strong>des</strong> Arbeiters entstehende<br />

Nachfrage im Vergleich mit der Nachfrage, welche aus der produktiven Konsumtion der<br />

Produktionsmittel entsteht. Das ganze Getriebe der kapitalistischen Wirtschaft nimmt den Charakter<br />

eines gleichsam für sich selbst existierenden Mechanismus an, in welchem die Konsumtion der<br />

Menschen als ein einfaches Moment <strong>des</strong> Prozesses der Reproduktion und der Zirkulation <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong><br />

erscheint."(8) <strong>Die</strong>se Entdeckung betrachtet Tugan als das Grundgesetz der kapitalistischen<br />

Wirtschaftsweise, und ihre Bestätigung kommt in einem ganz handgreiflichen Phänomen zum Ausdruck:<br />

Mit dem Fortgang der kapitalistischen Entwicklung wächst die Abteilung der Produktionsmittel im<br />

Verhältnis zur Abteilung der Konsumtionsmittel und auf ihre Kosten immer mehr. Gerade Marx hat<br />

bekanntlich dieses Gesetz selbst aufgestellt, und seine schematische Darstellung der Reproduktion beruht<br />

auf diesem Gesetz, obschon Marx die dadurch herbeigeführten Verschiebungen der <strong>Ein</strong>fachheit halber<br />

nicht in der weiteren Entwicklung seines Schemas zahlenmäßig berücksichtigt hat. Hier also, in dem<br />

automatischen Wachstum der Abteilung der Produktionsmittel im Vergleich zu der Abteilung der<br />

Konsumtionsmittel hat Tugan den einzigen objektiven exakten Beweis für seine Theorie gefunden, daß<br />

in der kapitalistischen Gesellschaft die menschliche Konsumtion immer unwichtiger, die Produktion<br />

immer mehr Selbstzweck wird. <strong>Die</strong>sen Gedanken macht er zum Eckstein seines ganzen theoretischen<br />

Gebäu<strong>des</strong>. "In allen industriellen Staaten", verkündet er, "tritt uns dieselbe Erscheinung entgegen -<br />

überall folgt die Entwicklung der Volkswirtschaft demselben fundamentalen Gesetz. <strong>Die</strong><br />

Montanindustrie, welche die Produktionsmittel für die moderne Industrie schafft, wird immer mehr in<br />

den Vordergrund gerückt. Somit kommt in der relativen Abnahme <strong>des</strong> Exports derjenigen britischen<br />

Fabrikate, die in den unmittelbaren Verbrauch eingehen, auch das Grundgesetz der kapitalistischen<br />

Entwicklung zum Ausdruck: Je mehr die Technik fortschreitet, <strong>des</strong>to mehr treten die Konsumtionsmittel<br />

zurück gegenüber den Produktionsmitteln. <strong>Die</strong> Menschenkonsumtion spielt eine immer geringere Rolle<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 23. Kapitel<br />

gegenüber der produktiven Konsumtion der Produktionsmittel ..."(9)<br />

Wiewohl Tugan auch dieses "fundamentale Gesetz" leibhaftig und fertig direkt von Marx bezogen hat,<br />

wie seine sämtlichen " fundamentalen" Gedanken sonst, sofern sie etwas Greifbares und Exaktes<br />

darstellen, so ist er wieder damit nicht zufrieden und beeilt sich, Marx sofort mit der von Marx<br />

bezogenen Weisheit zu belehren. Marx habe da wieder wie ein blin<strong>des</strong> Huhn eine Perle gefunden, wisse<br />

aber nicht, was er damit anfangen soll. Erst Tugan-Baranowski hat die "fundamentale" Entdeckung für<br />

die Wissenschaft zu fruktifizieren verstanden, in seiner Hand beleuchtet plötzlich das gefundene Gesetz<br />

das gesamte Getriebe der kapitalistischen Wirtschaft: Hier in diesem Gesetz <strong>des</strong> Wachstums der<br />

Abteilung der Produktionsmittel auf Kosten der Abteilung der Konsumtionsmittel kommt klar, deutlich,<br />

exakt, meßbar zum Ausdruck, daß für die kapitalistische Gesellschaft die menschliche Konsumtion<br />

immer unwichtiger, daß der Mensch von ihr dem Produktionsmittel gleichgesetzt wird, daß also Marx<br />

gründlich irrte, einmal als er annahm, daß nur der Mensch den Mehrwert schaffe und nicht auch die<br />

Maschine, daß die menschliche Konsumtion eine Schranke für die kapitalistische Produktion darstelle,<br />

woraus sich heute periodische Krisen und morgen der Zusammenbruch und das Ende mit Schrecken der<br />

kapitalistischen Wirtschaft ergeben müßten.<br />

Kurz, in dem "Grundgesetz" <strong>des</strong> Wachstums der Produktionsmittel auf Kosten der Konsumtionsmittel<br />

spiegelt sich die kapitalistische Gesellschaft als Ganzes mit ihrem spezifischen Wesen, wie es von Marx<br />

nicht verstanden und von Tugan-Baranowski endlich glücklich entziffert worden ist.<br />

Wir haben schon früher gesehen, welche entscheidende Rolle das besagte kapitalistische "Grundgesetz"<br />

in der Kontroverse der russischen Marxisten mit den Skeptikern spielte. Bulgakows Äußerungen kennen<br />

wir. Genauso drückt sich ein anderer Marxist in seiner Polemik gegen die "Volkstümler", der von uns<br />

bereits erwähnte W. Iljin, aus:<br />

"Bekanntlich besteht das Entwicklungsgesetz <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong> darin, daß das konstante Kapital schneller<br />

wächst als das variable, d.h., ein immer größerer Teil der sich neu bildenden Kapitalien wendet sich der<br />

Produktionsmittel erzeugenden Abteilung der gesellschaftlichen Produktion zu. Folglich wächst diese<br />

Abteilung notwendigerweise schneller als die Konsumtionsmittel erzeugende Abteilung, d.h., es tritt<br />

gerade das ein, was Sismondi als 'unmöglich', 'gefährlich' usw. hinstellte. Folglich nehmen die Produkte<br />

der individuellen Konsumtion in der Gesamtmasse der kapitalistischen Produktion einen immer<br />

geringeren Platz ein. Und das entspricht völlig der historischen 'Mission' <strong>des</strong> Kapitalismus und seiner<br />

spezifischen sozialen Struktur: die erste besteht gerade in der Entwicklung der Produktivkräfte der<br />

Gesellschaft (Produktion für die Produktion); die zweite schließt ihre Utilisation durch die Masse<br />

der Bevölkerung aus." (10) [Hervorhebung - R. L.]<br />

Tugan-Baranowski geht natürlich auch hier weiter als die anderen. In seinem Gefallen an Paradoxen<br />

leistet er sich sogar den Witz, mathematisch den Nachweis zu liefern, daß die <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong><br />

und die Produktionserweiterung sogar bei absolutem Rückgang der Konsumtion möglich sei. Hier<br />

ertappt ihn K. Kautsky bei einem wissenschaftlich wenig salonfähigen Manöver, nämlich dabei, daß er<br />

seine kühne Deduktion ausschließlich auf einen spezifischen Moment: den Übergang von der einfachen<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 23. Kapitel<br />

zur erweiterten Reproduktion, zugeschnitten hat, einen Moment, der theoretisch nur als Ausnahme<br />

gedacht werden kann, praktisch aber überhaupt nicht in Betracht kommt.(11)<br />

Was das Tugansche "Grundgesetz" betrifft, so erklärt es Kautsky für bloßen Schein, der sich<br />

<strong>des</strong>halb ergäbe, weil Tugan-Baranowski nur die Gestaltung der Produktion in den alten Ländern der<br />

kapitalistischen Großindustrie ins Auge fasse: "Es ist richtig", sagt Kautsky, "daß die Zahl der<br />

Produktionsstätten, in denen die Produkte direkt für den persönlichen Konsum fertiggemacht werden, mit<br />

fortschreitender Arbeitsteilung verhältnismäßig immer mehr sinkt gegenüber den anderen<br />

Produktionsstätten, die jenen und einander Werkzeuge, Maschinen, Rohmaterialien, Transportmittel usw.<br />

liefern. Während in der ursprünglichen Bauernwirtschaft der Flachs von dem Betrieb, der ihn gewann,<br />

auch mit eigenen Werkzeugen verarbeitet und für den menschlichen Verbrauch fertiggemacht wurde,<br />

sind jetzt vielleicht Hunderte von Betrieben an der Herstellung eines Hemds beteiligt, an der Herstellung<br />

der Rohbaumwolle, der Produktion der Eisenschienen, Lokomotiven und Waggons, die sie nach dem<br />

Hafen bringen" usw. "Bei der internationalen Arbeitsteilung kommt es dahin, daß einzelne Länder - die<br />

alten Industrieländer - ihre Produktion zum persönlichen Konsum nur noch langsam ausdehnen können,<br />

während die Produktion von Produktionsmitteln bei ihnen noch rasche Fortschritte macht und für den<br />

Pulsgang ihres ökonomischen Lebens viel bestimmender wird als die der Produktion von<br />

Konsumtionsmitteln. Wer die Sache nur vom Standpunkt der betreffenden Nation ansieht, kommt dann<br />

leicht zur Ansicht, die Produktion von Produktionsmitteln könne dauernd rascher wachsen als die von<br />

Konsumtionsmitteln, sie sei an diese nicht gebunden."<br />

Letzteres, d.h. die Ansicht, als sei die Produktion von Produktionsmitteln von der Konsumtion<br />

unabhängig, ist natürlich eine vulgärökonomische Luftspiegelung Tugan-Baranowskis. Nicht so die<br />

Tatsache, mit der er diesen Trugschluß begründen will: das raschere Wachstum der Abteilung der<br />

Produktionsmittel im Vergleich zu derjenigen der Konsumtionsmittel. <strong>Die</strong>se Tatsache läßt sich gar nicht<br />

bestreiten, und zwar nicht bloß für alte Industrieländer, sondern überall, wo technischer Fortschritt die<br />

Produktion beherrscht. Auf ihr beruht auch das Marxsche Fundamentalgesetz vom tendenziellen Fall der<br />

Profitrate. Aber trotzdem oder gerade <strong>des</strong>halb ist es ein großer Irrtum, wenn Bulgakow, Iljin und Tugan-<br />

Baranowski wähnen, in diesem Gesetz das spezifische Wesen der kapitalistischen Wirtschaft als einer,<br />

für die Produktion Selbstzweck, menschliche Konsumtion bloß Nebensache sei, entschleiert zu haben.<br />

Das Wachstum <strong>des</strong> konstanten <strong>Kapitals</strong> auf Kosten <strong>des</strong> variablen ist nur der kapitalistische Ausdruck der<br />

allgemeinen Wirkungen der steigenden Produktivität der Arbeit. <strong>Die</strong> Formel c > v, aus der<br />

kapitalistischen Sprache in die Sprache <strong>des</strong> gesellschaftlichen Arbeitsprozesses übertragen, heißt nur<br />

soviel: je höher die Produktivität der menschlichen Arbeit, um so kürzer die Zeit, in der sie ein<br />

gegebenes Quantum Produktionsmittel in fertige Produkte verwandelt.(12) Das ist ein allgemeines<br />

Gesetz der menschlichen Arbeit, das ebensogut unter allen vorkapitalistischen Produktionsformen<br />

Geltung hatte, wie es in der Zukunft in der sozialistischen Gesellschaftsordnung gelten wird.<br />

Ausgedrückt in der sachlichen Gebrauchsgestalt <strong>des</strong> gesellschaftlichen Gesamtprodukts, muß sich dieses<br />

Gesetz äußern in einer immer größeren Verwendung der gesellschaftlichen Arbeitszeit auf Herstellung<br />

von Produktionsmitteln im Vergleich zur Herstellung von Konsummitteln. Ja, diese Verschiebung müßte<br />

in einer sozialistisch organisierten, planmäßig geleiteten gesellschaftlichen Wirtschaft noch bedeutend<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 23. Kapitel<br />

rascher vor sich gehen als in der gegenwärtigen kapitalistischen. Erstens wird die Anwendung der<br />

rationellen wissenschaftlichen Technik auf breitester Grundlage in der Landwirtschaft erst möglich,<br />

wenn die Schranken <strong>des</strong> privaten Grundbesitzes beseitigt sind. Daraus wird sich auf einem großen<br />

Gebiete der Produktion eine gewaltige Umwälzung ergeben, die im allgemeinen Resultat auf eine<br />

umfangreiche Verdrängung der lebendigen Arbeit durch Maschinenarbeit hinausläuft und die<br />

Inangriffnahme technischer Aufgaben größten Stils herbeiführen wird, für die heute keine Bedingungen<br />

vorhanden sind. Zweitens wird die Anwendung der Maschinerie überhaupt im Produktionsprozeß auf<br />

eine neue ökonomische Basis gestellt werden. Gegenwärtig tritt die Maschine nicht mit der lebendigen<br />

Arbeit, sondern bloß mit dem bezahlten Teil der lebendigen Arbeit in Konkurrenz. <strong>Die</strong> unterste Grenze<br />

der Anwendbarkeit der Maschine in der kapitalistischen Produktion ist mit den Kosten der durch sie<br />

verdrängten Arbeitskraft gegeben. Das heißt, für den Kapitalisten kommt eine Maschine erst dann in<br />

Betracht, wenn ihre Produktionskosten - bei gleicher Leistungsfähigkeit - weniger betragen als die Löhne<br />

der durch sie verdrängten Arbeiter. Vom Standpunkte <strong>des</strong> gesellschaftlichen Arbeitsprozesses, der allein<br />

in der sozialistischen Gesellschaft maßgebend sein kann, muß die Maschine nicht mit der zur Erhaltung<br />

der Arbeitenden notwendigen Arbeit, sondern mit der von ihnen geleisteten Arbeit in Konkurrenz treten.<br />

Das besagt soviel, daß für eine Gesellschaft, in der nicht Profitstandpunkt, sondern Ersparnis der<br />

menschlichen Arbeit maßgebend ist, die Anwendung der Maschine schon dann ökonomisch geboten<br />

wäre, wenn ihre Herstellung weniger Arbeit kostet, als sie an lebendiger Arbeit erspart. Wir sehen davon<br />

ab, daß in vielen Fallen, wo die Gesundheit und dergleichen Rücksichten auf die Interessen der<br />

Arbeitenden selbst in Frage kommen, die Anwendbarkeit der Maschine in Betracht kommen kann, auch<br />

wenn sie nicht einmal diese ökonomische Minimalgrenze der Ersparnis erreicht. Jedenfalls ist die<br />

Spannung zwischen der ökonomischen Anwendbarkeit der Maschinen in der kapitalistischen und in der<br />

sozialistischen Gesellschaft min<strong>des</strong>tens gleich der Differenz zwischen der lebendigen Arbeit und ihrem<br />

bezahlten Teil, d.h., sie kann genau gemessen werden durch den ganzen kapitalistischen Mehrwert.<br />

Daraus folgt, daß mit der Beseitigung der kapitalistischen Profitinteressen und der <strong>Ein</strong>führung der<br />

gesellschaftlichen Organisation der Arbeit die Grenze für die Anwendung der Maschinen sich plötzlich<br />

um die ganze Größe <strong>des</strong> kapitalistischen Mehrwerts hinausschieben, ihrem Eroberungszug sich ein<br />

enormes, unübersehbares Feld eröffnen wird. Es müßte sich dann handgreiflich zeigen, daß die<br />

kapitalistische Produktionsweise, die angeblich zur äußersten Entwicklung der Technik anstachelt,<br />

tatsächlich in dem ihr zugrunde liegenden Profitinteresse eine hohe soziale Schranke für den technischen<br />

Fort- schritt aufrichtet und daß mit der Niederreißung dieser Schranke der technische Fortschritt<br />

mit einer Macht vorwärtsdrängen wird, gegen die die technischen Wunder der kapitalistischen<br />

Produktion wie ein Kinderspiel erscheinen dürften.<br />

Ausgedrückt in der Zusammensetzung <strong>des</strong> gesellschaftlichen Produkts, kann dieser technische<br />

Umschwung nur bedeuten, daß die Produktion von Produktionsmitteln in der sozialistischen Gesellschaft<br />

- an Arbeitszeit gemessen - noch unvergleichlich rascher anwachsen muß im Vergleich zur Produktion<br />

von Konsummitteln als heute. Und so stellt sich das Verhältnis der beiden Abteilungen der<br />

gesellschaftlichen Produktion, in dem die russischen Marxisten einen spezifischen Ausdruck der<br />

kapitalistischen Verworrenheit, der Mißachtung für die menschlichen Konsumtionsbedürfnisse gepackt<br />

zu haben wähnten, vielmehr als der genaue Ausdruck der fortschreitenden Beherrschung der Natur durch<br />

die gesellschaftliche Arbeit heraus, ein Ausdruck, der am ausgeprägtesten just dann hervortreten müßte,<br />

wenn die menschlichen Bedürfnisse der allein maßgebende Gesichtspunkt der Produktion sein werden.<br />

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Der einzige objektive Beweis für das "Fundamentalgesetz" Tugan-Baranowskis bricht somit als ein<br />

"fundamentales" Quiproquo zusammen, und seine ganze Konstruktion, aus der er auch die "neue<br />

Krisentheorie" mitsamt der " Disproportionalität" abgeleitet hat, wird reduziert auf ihre papierene<br />

Grundlage: auf das von Marx sklavisch abgeschriebene Schema der erweiterten Reproduktion.<br />

Fußnoten von <strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong><br />

(1) Studien zur Theorie und Geschichte der Handelskrisen in England, Jena 1901, S. 25.


<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 23. Kapitel<br />

Wachstum der Konsumtion, auf das Kautsky hier verweist, selbst Folge, Ergebnis der erweiterten<br />

Reproduktion, nicht ihre Grundlage und ihr Zweck, es ergibt sich in der Hauptsache aus dem<br />

gewachsenen variablen Kapital, aus der wachsenden Verwendung neuer Arbeiter. <strong>Die</strong> Erhaltung dieser<br />

Arbeiter kann aber nicht als Zweck und Aufgabe der Erweiterung der Reproduktion betrachtet werden,<br />

sowenig übrigens wie die zunehmende persönliche Konsumtion der Kapitalistenklasse. Der Hinweis<br />

Kautskys schlägt also wohl die Spezialschrulle Tugans zu Boden: den <strong>Ein</strong>fall, eine erweiterte<br />

Reproduktion bei absoluter Abnahme der Konsumtion zu konstruieren; er geht hingegen nicht auf die<br />

Grundfrage <strong>des</strong> Verhältnisses von Produktion zur Konsumtion vom Standpunkte <strong>des</strong><br />

Reproduktionsprozesse ein. Wir lesen zwar an einer anderen Stelle <strong>des</strong>selben Aufsatzes: "<strong>Die</strong><br />

Kapitalisten und die von ihnen ausgebeuteten Arbeiter bilden einen mit der Zunahme <strong>des</strong> Reichtums der<br />

ersteren und der Zahl der letzteren zwar stets wachsenden, aber nicht so rasch wie die <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong><br />

<strong>Kapitals</strong> und die Produktivität der Arbeit anwachsenden und für sich allein nicht ausreichenden Markt für<br />

die von der kapitalistischen Großindustrie geschaffenen Konsummittel. <strong>Die</strong>se muß einen zusätzlichen<br />

Markt außerhalb ihres Bereiches in den noch nicht kapitalistisch produzierenden Berufen und Nationen<br />

suchen. Den findet sie auch, und sie erweitert ihn ebenfalls immer mehr, aber ebenfalls nicht rasch<br />

genug. Denn dieser zusätzliche Markt besitzt bei weitem nicht die Elastizität und Ausdehnungsfähigkeit<br />

<strong>des</strong> kapitalistischen Produktionsprozesses. Sobald die kapitalistische Produktion zur entwickelten<br />

Großindustrie geworden ist, wie dies in England schon im ersten Viertel <strong>des</strong> neunzehnten Jahrhunderts<br />

der Fall war, erhält sie die Möglichkeit derartiger sprunghafter Ausdehnung, daß sie jede Erweiterung<br />

<strong>des</strong> Marktes binnen kurzem überholt. So ist jede Periode der Prosperität, die einer erheblichen<br />

Erweiterung <strong>des</strong> Marktes folgt, von vornherein zur Kurzlebigkeit verurteilt, und die Krise wird ihr<br />

notwendiges Ende. <strong>Die</strong>s in kurzen Zügen die, soweit wir sehen, von den 'orthodoxen' Marxisten<br />

allgemein angenommen, von Marx begründete Krisentheorie." (l.c., S. 80.) Kautsky befaßt sich aber<br />

damit nicht, die Auffassung von der Realisierung <strong>des</strong> Gesamtprodukts mit dem .Marxschen Schema der<br />

erweiterten Reproduktion in <strong>Ein</strong>klang zu bringen, vielleicht aus dem Grunde, weil er, wie auch das Zitat<br />

zeigt, das Problem ausschließlich unter dem Gesichtswinkel dar Krisen, d.h. vom Standpunkte <strong>des</strong><br />

gesellschaftlichen Produkts als einer unterschiedslosen Warenmasse in ihrer Gesamtmenge, nicht unter<br />

dem Gesichtswinkel seiner Gliederung im Reproduktionsprozeß, behandelt,<br />

An diese letztere Frage tritt anscheinend näher L. Boudin heran, der in seiner glänzenden Kritik<br />

<strong>des</strong>selben Tugan-Baranowski die Formulierung gibt: "Das in den kapitalistischen Ländern produzierte<br />

Mehrprodukt hat - mit einigen später zu erwähnenden Ausnahmen - nicht darum die Räder den<br />

Produktion in ihrem Lauf gehemmt, weil die Produktion geschickter in die verschiedenen Sphären<br />

verteilt wurden ist oder weil aus der Produktion von Baumwollwaren eine Produktion von Maschinen<br />

geworden ist, sondern <strong>des</strong>halb, weil auf Grund der Tatsache, daß sich einige Länder früher kapitalistisch<br />

umentwickelt haben als andere und daß es auch jetzt noch einige kapitalistisch unentwickelt gebliebene<br />

gibt, die kapitalistischen Länder wirklich eine außerhalb liegende Welt haben, in welche sie die von<br />

ihnen nicht selbst zu verbrauchenden Produkte hineinwerfen konnten, gleichviel, ob diese Produkte nun<br />

in Baumwoll- oder Eisenwaren bestanden. Damit soll durchaus nicht gesagt sein, daß die Wandlung von<br />

den Baumwoll- zu den Eisenwaren als führendem Produkt der hauptsächlichen kapitalistischen Länder<br />

etwa bedeutungslos wäre. Im Gegenteil, sie ist von der größten Wichtigkeit. Aber ihre Bedeutung ist eine<br />

ganz andere, als Tugan-Baranowski ihr beilegt. Sie zeigt den Anfang vom Ende <strong>des</strong> Kapitalismus.<br />

Solange die kapitalistischen Länder Waren zur Konsumtion ausführten, solange war noch Hoffnung für<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 23. Kapitel<br />

den Kapitalismus in jenen Ländern. Da war noch nicht die Rede davon, wie groß die Aufnahmefähigkeit<br />

der nichtkapitalistischen Außenwelt für die kapitalistisch produzierten Waren wäre und wie lange sie<br />

noch dauern würde. Das Anwachsen der Maschinenfabrikation im Export der kapitalistischen<br />

Hauptländer auf Kosten der Konsumtionsgüter zeigt, daß Gebiete, welche früher abseits vom<br />

Kapitalismus standen und <strong>des</strong>halb als Abla<strong>des</strong>telle für sein Mehrprodukt dienten, nunmehr in das<br />

Getriebe <strong>des</strong> Kapitalismus hineingezogen worden sind, zeigt, daß, da ihr eigener Kapitalismus sich<br />

entwickelt, sie ihre eigenen Konsumtionsgüter selbst produzieren. Jetzt, wo sie erst im Anfangsstadium<br />

ihrer kapitalistischen Entwicklung sind, brauchen sie noch die kapitalistisch produzierten Maschinen.<br />

Aber bald genug werden sie sie nicht mehr brauchen. Sie werden ihre eigenen Eisenwaren produzieren,<br />

genauso wie sie jetzt ihre eigenen Baumwoll- und andere Konsumtionswaren erzeugen. Dann werden sie<br />

nicht nur aufhören, eine Aufnahmestelle für das Mehrprodukt der eigentlichen kapitalistischen Länder zu<br />

sein, vielmehr werden sie selbst ein Mehrprodukt erzeugen, das sie nur schwer unterbringen können."<br />

(Mathematische Formeln gegen Karl Marx. In: <strong>Die</strong> Neue Zeit, 25 Jg. Erster Band, S. 604.) Baudin gibt<br />

hier sehr wichtige Ausblicke auf die großen Verknüpfungen in der Entwicklung <strong>des</strong> internationalen<br />

Kapitalismus. Weiter kommt er in diesem Zusammenhang logisch auf die Frage <strong>des</strong> Imperialismus.<br />

Leider spitzt er seine scharfe Analyse zum Schluß nach einer falschen Seite zu, indem er die ganze<br />

militärische Produktion und das System der internationalen Kapitalausfuhr nach nichtkapitalistischen<br />

Ländern unter den Begriff der "Verschwendung" bringt. - Im übrigen ist festzustellen, daß Boudin, genau<br />

wie Kautsky, das Gesetz <strong>des</strong> rascheren Wachstums der Abteilung der Produktionsmittel im Vergleich zur<br />

Abteilung der Lebensmittel für eine Täuschung Tugan-Baranowskis hält.


<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 23. Kapitel<br />

Form von Arbeitsmitteln dem Prozeß ein für allemal einverleibten und stets wiederholten, während<br />

längrer oder kürzrer Periode in ihm fungierenden Produktionsmittel (Gebäude, Maschinen etc.) beständig<br />

wächst und daß ihr Wachstum sowohl Voraussetzung wie Wirkung der Entwicklung der<br />

gesellschaftlichen Produktivkraft der Arbeit ist. Das nicht nur absolute, sondern relative Wachstum <strong>des</strong><br />

Reichtums in dieser Form (vgl. Buch I, Kap. XXIII, 2.) charakterisiert vor allem die kapitalistische<br />

Produktionsweise. <strong>Die</strong> stofflichen Existenzformen <strong>des</strong> konstanten <strong>Kapitals</strong>, die Produktionsmittel,<br />

bestehn aber nicht nur aus derartigen Arbeitsmitteln, sondern auch aus Arbeitsmaterial auf den<br />

verschiedenen Stufen der Verarbeitung und aus Hilfsstoffen. Mit der Stufenleiter der Produktion und der<br />

Steigerung der Produktivkraft der Arbeit durch Kooperation, Teilung, Maschinerie usw. wächst die<br />

Masse <strong>des</strong> Rohmaterials, der Hilfsstoffe etc., die in den täglichen Reproduktionsprozeß eingehn" (Das<br />

Kapital, Bd. II. S. 112.) [Karl Marx: Das Kapital, Zweiter Band. In Karl Marx/Friedrich Engels: Werke,<br />

Bd. 24, S. 142/143.]


<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 24. Kapitel<br />

23. Kapitel | Inhalt | 25. Kapitel<br />

<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - Gesammelte Werke. Herausgegeben vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Band<br />

5. <strong>Berlin</strong>/DDR. 1975. "<strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>", S. 275-278.<br />

1. Korrektur.<br />

Erstellt am 20.10.1998<br />

Vierundzwanzigstes Kapitel<br />

Der Ausgang <strong>des</strong> russischen "legalen" Marxismus<br />

Es ist ein Verdienst der russischen "legalen" Marxisten und insbesondere Tugan-Baranowskis, die<br />

Analyse <strong>des</strong> gesellschaftlichen Reproduktionsprozesses und <strong>des</strong>sen schematische Darstellung im zweiten<br />

Bande <strong>des</strong> Marxschen "<strong>Kapitals</strong>" im Kampfe mit den Skeptikern der kapitalistischen <strong>Akkumulation</strong> für<br />

die Wissenschaft fruktifiziert zu haben. Da aber Tugan-Baranowski diese schematische Darstellung für<br />

die Losung <strong>des</strong> Problems selbst statt für <strong>des</strong>sen Formulierung versehen hat, so kam er zu Schlüssen,<br />

welche die Grundlagen selbst der Marxschen Lehre auf den Kopf stellen mußten.<br />

<strong>Die</strong> Tugansche Auffassung, wonach die kapitalistische Produktion für sich selbst schrankenlosen Absatz<br />

bilden könne und von der Konsumtion unabhängig sei, führt ihn geradenwegs zu der Say-Ricardoschen<br />

Theorie von dem natürlichen Gleichgewicht zwischen Produktion und Konsumtion, Nachfrage<br />

und Angebot. Der Unterschied ist nur der, daß Say-Ricardo sich ausschließlich in den Bahnen der<br />

einfachen Warenzirkulation bewegten, während Tugan dieselbe Auffassung einfach auf die<br />

Kapitalzirkulation überträgt. Seine Theorie der Krisen aus "Disproportionalität" ist im Grunde<br />

genommen nichts als eine Paraphrase der alten platten Abgeschmacktheit Says: Wenn von irgendeiner<br />

Ware zuviel produziert worden ist, so beweist das bloß, daß von irgendeiner anderen Ware zuwenig<br />

produziert worden ist, nur daß Tugan diese Abgeschmacktheit in der Sprache der Marxschen Analyse <strong>des</strong><br />

Reproduktionsprozesses vorträgt. Und wenn er entgegen Say die allgemeine Überproduktion wohl für<br />

möglich erklärt, und zwar mit dem Hinweis auf die von Say ganz vernachlässigte Geldzirkulation, so<br />

basieren Tugans erfreuliche Operationen mit dem Marxschen Schema doch tatsächlich auf derselben<br />

Vernachlässigung der Geldzirkulation, wie sie Say und Ricardo im Problem der Krisen geläufig war:<br />

"Schema Nr. 2" wird sofort voller Stacheln mit Widerhaken, sobald man beginnt, es auf die<br />

Geldzirkulation zu transponieren. An diesen Stacheln ist Bulgakow in seinem Versuch, die abgebrochene<br />

Marxsche Analyse zu Ende zu denken, hängengeblieben. Es ist diese Vereinigung von Marx geborgter<br />

Denkformen mit Say-Ricatdoschem Gedankeninhalt, was Tugan-Baranowski bescheiden seinen<br />

"Versuch der Synthese der Marxschen Theorie mit der klassischen Nationalökonomie" getauft hat.<br />

So gelangt die optimistische Theorie, die die Möglichkeit und Entwicklungsfähigkeit der kapitalistischen<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 24. Kapitel<br />

Produktion gegen kleinbürgerliche Zweifel verteidigte, nach fast einem Jahrhundert und über die<br />

Marxsche Lehre in ihren "legalen" Wortführern wieder zum Ausgangspunkt, zu Say-Ricardo. <strong>Die</strong> drei<br />

"Marxisten" landen bei den bürgerlichen Harmonikern der guten alten Zeit knapp vor dem Sündenfall<br />

und der Vertreibung der bürgerlichen Nationalökonomie aus dem Paradiese der Unschuld - der Kreis ist<br />

geschlossen.<br />

<strong>Die</strong> "legalen" russischen Marxisten haben über Ihre Widersacher, die "Volkstümler", zweifellos gesiegt,<br />

sie haben aber zuviel gesiegt. Alle drei - Struve, Bulgakow, Tugan-Baranowski - haben im Eifer <strong>des</strong><br />

Gefechts mehr bewiesen als zu beweisen war. Es handelte sich darum, ob der Kapitalismus im<br />

allgemeinen und insbesondere in Rußland entwicklungsfähig sei, und die genannten Marxisten haben<br />

diese Fähigkeit so gründlich dargetan, daß sie sogar die Möglichkeit der ewigen Dauer <strong>des</strong> Kapitalismus<br />

theoretisch nachgewiesen haben. Es ist klar, daß, wenn man die schrankenlose <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong><br />

<strong>Kapitals</strong> annimmt, man auch die schranken- lose Lebensfähigkeit <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong> bewiesen hat. <strong>Die</strong><br />

<strong>Akkumulation</strong> ist die spezifisch kapitalistische Methode der Erweiterung der Produktion, der<br />

Entwicklung der Produktivität der Arbeit, der Entfaltung der Produktivkräfte, <strong>des</strong> ökonomischen<br />

Fortschritts. Ist die kapitalistische Produktionsweise imstande, schrankenlos die Steigerung der<br />

Produktivkräfte, den ökonomischen Fortschritt zu sichern, dann ist sie unüberwindlich. Der wichtigste<br />

objektive Pfeiler der wissenschaftlichen sozialistischen Theorie bricht dann zusammen, die politische<br />

Aktion <strong>des</strong> Sozialismus, der Ideengehalt <strong>des</strong> proletarischen Klassenkampfes hört auf, ein Reflex<br />

ökonomischer Vorgänge, der Sozialismus hört auf, eine historische Notwendigkeit zu sein. <strong>Die</strong><br />

Beweisführung, die von der Möglichkeit <strong>des</strong> Kapitalismus ausging, landet bei der Unmöglichkeit <strong>des</strong><br />

Sozialismus.<br />

<strong>Die</strong> drei russischen Marxisten waren sich <strong>des</strong> von ihnen im Gefecht vollzogenen Terrainwechsels wohl<br />

bewußt. Struve machte sich freilich über den Verlust <strong>des</strong> teuren Pfan<strong>des</strong> vor Jubel über die Kulturmission<br />

<strong>des</strong> Kapitalismus weiter keine Sorgen.(1) Bulgakow suchte das in die sozialistische Theorie gerissene<br />

Leck notdürftig mit einem anderen Fetzen dieser Theorie zu verstopfen: Er erhoffte, daß die<br />

kapitalistische Wirtschaft dennoch trotz ihres immanenten Gleichgewichts zwischen Produktion und<br />

Absatz zugrunde gehen müsse, und zwar an dem Fall der Profitrate. <strong>Die</strong>ser etwas nebelhafte Trost wird<br />

aber durch Bulgakow selbst zum Schluß vernichtet, wo er, auf die letzte Rettungsplanke, die er dem<br />

Sozialismus hingestreckt hatte, vergessend, plötzlich Tugan-Baranowski belehrt, daß der relative Fall der<br />

Profitrate für große Kapitale durch das absolute Wachstum <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong> wettgemacht werde.(2)<br />

Endlich Tugan-Baranowski, der konsequenteste von allen, reißt mit der derben Freude eines<br />

Naturburschen sämtliche objektive ökonomische Pfeiler der sozialistischen Theorie nieder und baut die<br />

Welt in seinem Geiste "schöner wieder auf" - auf dem Fundament der "Ethik". "Das Individuum<br />

protestiert gegen eine Wirtschaftsordnung, die den Zweck (den Menschen) in ein Mittel verwandelt und<br />

das Mittel (die Produktion) in einen Zweck."(3)<br />

Wie dünn und fadenscheinig die neuen Begründungen <strong>des</strong> Sozialismus waren, haben alle drei genannten<br />

Marxisten an ihrer Person bewiesen, indem sie dem Sozialismus alsbald, kaum daß sie ihn neu begründet<br />

hatten, den Rücken kehrten. Während die Massen in Rußland mit <strong>Ein</strong>setzung ihres Lebens für die Ideale<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 24. Kapitel<br />

einer Gesellschaftsordnung kämpften, die dereinst den Zweck (den Menschen) über das Mittel (die<br />

Produktion) stellen soll, schlug sich "das Individuum" in die Büsche und fand in Kant eine<br />

philosophische und ethische Beruhigung. <strong>Die</strong> "legalen" russischen Marxisten endeten praktisch, wo ihre<br />

theoretische Position sie hinführte: im Lager der bürgerlichen "Harmonien".<br />

Fußnoten von <strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong><br />

(1) In einer 1901 herausgegebenen Sammlung seiner russischen Aufsätze sagt Struve in der <strong>Ein</strong>leitung:<br />

"Im Jahre 1894, als der Verfasser seine 'Kritischen Bemerkungen zur Frage der ökonomischen<br />

Entwicklung Rußlands' veröffentlichte, war er in der Philosophie kritischer Positivist, in der Soziologie<br />

und Nationalökonomie ausgesprochener, wenn auch durchaus nicht orthodoxer Marxist. Seitdem haben<br />

sowohl der Positivismus wie der auf ihn gestützte (!) Marxismus aufgehört, für den Verfasser die ganze<br />

Wahrheit zu sein, haben aufgehört, seine Weltanschauung völlig zu bestimmen. Er sah sich genötigt, auf<br />

eigene Faust ein neues Gedankensystem zu suchen und auszuarbeiten. Der bösartige Dogmatismus, der<br />

Andersdenkende nicht nur widerlegt, sondern sie auch noch moralisch-psychologisch spioniert, erblickt<br />

in einer solchen Arbeit nur 'epikureische Flatterhaftigkeit <strong>des</strong> Sinnes'. Er ist nicht imstande zu begreifen,<br />

daß das Recht der Kritik an sich eins der teuersten Rechte <strong>des</strong> lebendigen, denkenden Individuums ist.<br />

Auf dieses Recht gedenkt der Verfasser nicht zu verzichten, und sollte ihm auch ständig die Gefahr<br />

drohen, unter der Anklage der 'Unbeständigkeit' zu stehen." (Über verschiedene Themen, Petersburg<br />

1901.)


<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 25. Kapitel<br />

24. Kapitel | Inhalt | 26. Kapitel<br />

<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - Gesammelte Werke. Herausgegeben vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Band<br />

5. <strong>Berlin</strong>/DDR. 1975. "<strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>", S. 279-296.<br />

1. Korrektur.<br />

Erstellt am 20.10.1998<br />

Dritter Abschnitt<br />

<strong>Die</strong> geschichtlichen Bedingungen<br />

der <strong>Akkumulation</strong><br />

Fünfundzwanzigstes Kapitel<br />

Widersprüche <strong>des</strong> Schemas der erweiterten Reproduktion<br />

Wir haben im ersten Abschnitt festgestellt, daß das Marxsche Schema der <strong>Akkumulation</strong> auf die<br />

Frage, für wen die erweiterte Reproduktion eigentlich stattfinde, keine Antwort gibt. Nimmt man das<br />

Schema wörtlich so, wie es im zweiten Bande am Schluß entwickelt ist, dann erweckt es den Anschein,<br />

als ob die kapitalistische Produktion ausschließlich selbst ihren gesamten Mehrwert realisierte und den<br />

kapitalisierten Mehrwert für die eigenen Bedürfnisse verwendete. <strong>Die</strong>s bestätigt Marx durch seine<br />

Analyse <strong>des</strong> Schemas, in der er den wiederholten Versuch macht, die Zirkulation dieses Schemas<br />

lediglich mit Geldmitteln, d.h. mit der Nachfrage der Kapitalisten und der Arbeiter zu bestreiten, ein<br />

Versuch, der ihn schließlich dazu führt, den Goldproduzenten als Deus ex machina in die Reproduktion<br />

einzuführen. Es kommt noch jene hochwichtige Stelle im ersten Band <strong>des</strong> "<strong>Kapitals</strong>" hinzu, die in<br />

demselben Sinne gedeutet werden muß: "Zunächst muß die Jahresproduktion alle die Gegenstände<br />

(Gebrauchswerte) liefern, aus denen die im Lauf <strong>des</strong> Jahres verbrauchten sachlichen Bestandteile <strong>des</strong><br />

<strong>Kapitals</strong> zu ersetzen sind. Nach Abzug dieser bleibt das Netto- oder Mehrprodukt, worin der Mehrwert<br />

steckt. Und woraus besteht dies Mehrprodukt? Vielleicht in Dingen, bestimmt zur Befriedigung der<br />

Bedürfnisse und Gelüste der Kapitalistenklasse, die also in ihren Konsumtionsfonds eingehn? Wäre das<br />

alles, so würde der Mehrwert verjubelt bis auf die Hefen, und es fände bloß einfache Reproduktion statt.<br />

Um zu akkumulieren, muß man einen Teil <strong>des</strong> Mehrprodukts in Kapital verwandeln. Aber, ohne Wunder<br />

zu tun, kann man nur solche Dinge in Kapital verwandeln, die im Arbeitsprozeß verwendbar sind. d h.<br />

Produktionsmittel, und <strong>des</strong> ferneren Dinge, von denen der Arbeiter sich er- halten kann, d.h.<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 25. Kapitel<br />

Lebensmittel. Folglich muß ein Teil der jährlichen Mehrarbeit verwandt worden sein zur Herstellung<br />

zusätzlicher Produktions- und Lebensmittel, im Überschuß über das Quantum, das zum Ersatz <strong>des</strong><br />

vorgeschossenen <strong>Kapitals</strong> erforderlich war. Mit einem Wort: der Mehrwert ist nur <strong>des</strong>halb in Kapital<br />

verwandelbar, weil das Mehrprodukt, <strong>des</strong>sen Wert er ist, bereits die sachlichen Bestandteile eines neuen<br />

<strong>Kapitals</strong> enthält."<br />

Hier werden für die <strong>Akkumulation</strong> folgende Bedingungen aufgestellt:<br />

1. Der Mehrwert, der kapitalisiert werden soll, kommt von vornherein in der Naturalgestalt <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong><br />

(als zuschüssige Produktionsmittel und zuschüssige Lebensmittel der Arbeiter) zur Welt.<br />

2. <strong>Die</strong> Erweiterung der kapitalistischen Produktion wird vollzogen ausschließlich mit eigenen<br />

(kapitalistisch produzierten) Produktionsmitteln und Lebensmitteln.<br />

3. Der Umfang der jeweiligen Produktionserweiterung (<strong>Akkumulation</strong>) ist von vornherein durch den<br />

Umfang <strong>des</strong> je<strong>des</strong>maligen zu kapitalisierenden) Mehrwerts gegeben; sie kann nicht größer sein, da sie an<br />

die Menge Produktions- und Lebensmittel gebunden ist, die das Mehrprodukt darstellen, sie kann aber<br />

auch nicht geringer sein, da sonst ein Teil <strong>des</strong> Mehrprodukts in seiner Naturalgestalt unverwendbar wäre.<br />

<strong>Die</strong>se Abweichungen nach oben und nach unten mögen periodische Schwankungen und Krisen<br />

hervorrufen, von denen wir hier abzusehen haben; im Durchschnitt müssen sich zu kapitalisieren<strong>des</strong><br />

Mehrprodukt und faktische <strong>Akkumulation</strong> decken.<br />

4. Da die kapitalistische Produktion selbst ausschließliche Abnehmerin ihres Mehrprodukts ist, so ist für<br />

die Kapitalakkumulation keine Schranke zu finden.<br />

<strong>Die</strong>sen Bedingungen entspricht auch das Marxsche Schema der erweiterten Reproduktion. Hier geht die<br />

<strong>Akkumulation</strong> vonstatten, ohne daß im geringsten ersichtlich wäre, für wen, für welche neuen<br />

Konsumenten schließlich die Produktion immer mehr erweitert wird. Das Schema setzt etwa folgenden<br />

Gang voraus: <strong>Die</strong> Kohlenindustrie wird erweitert, um die Eisenindustrie zu erweitern. <strong>Die</strong>se wird<br />

erweitert, um die Maschinenindustrie zu erweitern. <strong>Die</strong>se wird erweitert, um die Produktion der<br />

Konsumtionsmittel zu erweitern. <strong>Die</strong>se wird ihrerseits erweitert, um die wachsende Armee der Kohlen-,<br />

Eisen- und Maschinenarbeiter sowie der eigenen Arbeiter zu erhalten. Und so "ad infinitum" im Kreise -<br />

nach der Theorie Tugan-Baranowskis. Daß das Marxsche Schema, allein betrachtet, in der Tat<br />

eine solche Auslegung zuläßt, beweist der bloße Umstand, daß Marx nach seinen eigenen wiederholten<br />

und ausdrücklichen Feststellungen überhaupt unternimmt, den <strong>Akkumulation</strong>sprozeß <strong>des</strong> Gesamtkapitals<br />

in einer Gesellschaft darzustellen, die lediglich aus Kapitalisten und Arbeitern besteht. <strong>Die</strong> Stellen, die<br />

darauf Bezug nehmen, finden sich in jedem Bande <strong>des</strong> "<strong>Kapitals</strong>".<br />

Im ersten Bande, gerade im Kapitel über die "Verwandlung von Mehrwert in Kapital" heißt es: "Um den<br />

Gegenstand der Untersuchung in seiner Reinheit, frei von störenden Nebenumständen aufzufassen,<br />

müssen wir hier die gesamte Handelswelt als eine Nation ansehn und voraussetzen, daß die<br />

kapitalistische Produktion sich überall festgesetzt und sich aller Industriezweige bemächtigt hat." (S. 544,<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 25. Kapitel<br />

Fußnote 21a.) [Karl Marx: Das Kapital, Erster Band. In: Karl Marx Friedrich Engels: Werke, Bd. 23, S.<br />

607]<br />

Im zweiten Bande kehrt die Voraussetzung mehrmals wieder. So im Kapitel 17 über die Zirkulation <strong>des</strong><br />

Mehrwerts:<br />

"Nun aber existieren nur zwei Ausgangspunkte: der Kapitalist und der Arbeiter. Alle dritten<br />

Personenrubriken müssen entweder für <strong>Die</strong>nstleistungen Geld von diesen beiden Klassen erhalten, oder<br />

soweit sie es ohne Gestenleistung erhalten, sind sie Mitbesitzer <strong>des</strong> Mehrwerts in der Form von Rente,<br />

Zins etc. ...<br />

<strong>Die</strong> Kapitalistenklasse bleibt also der einzige Ausgangspunkt der Geldzirkulation." (S. 307.) [Karl Marx:<br />

Das Kapital, Zweiter Band. In: Karl Marx/Friedrich Engels: Werke, Bd. 24, S. 334/335.]<br />

Weiter in demselben Kapitel speziell über die Geldzirkulation unter Voraussetzung der <strong>Akkumulation</strong>:<br />

"Aber die Schwierigkeit kommt dann, wenn wir nicht partielle, sondern allgemeine <strong>Akkumulation</strong> von<br />

Geldkapital in der Kapitalistenklasse voraussetzen. Außer dieser Klasse gibt es nach unsrer Unterstellung<br />

- allgemeine und ausschließliche Herrschaft der kapitalistischen Produktion - überhaupt keine andre<br />

Klasse als die Arbeiterklasse." (S. 321.) [Karl Marx: Das Kapital, Zweiter Band. In: Karl Marx Friedrich<br />

Engels: Werke, Bd. 24, S. 348.]<br />

Dasselbe nochmals im 20. Kapitel: "... hier gibt es nur zwei Klassen: die Arbeiterklasse, die nur über ihre<br />

Arbeitskraft verfügt; die Kapitalistenklasse, die im Monopolbesitz der gesellschaftlichen<br />

Produktionsmittel wie <strong>des</strong> Gel<strong>des</strong> ist." (S. 396.) [Karl Marx: Das Kapital, Zweiter Band. In: Karl<br />

Marx/Friedrich Engels: Werke, Bd. 24, S. 419.]<br />

Im dritten Bande, bei der Darstellung <strong>des</strong> Gesamtprozesses der kapitalistischen Produktion, sagt<br />

Marx ganz ausdrücklich:<br />

"Denken wir uns die ganze Gesellschaft bloß aus industriellen Kapitalisten und Lohnarbeitern<br />

zusammengesetzt. Sehn wir ferner ab von den Preiswechseln, die große Portionen <strong>des</strong> Gesamtkapitals<br />

hindern, sich in ihren Durchschnittsverhältnissen zu ersetzen, und die, bei dem allgemeinen<br />

Zusammenhang <strong>des</strong> ganzen Reproduktionsprozesses, wie ihn namentlich der Kredit entwickelt, immer<br />

zeitweilige allgemeine Stockungen hervorbringen müssen. Sehn wir ab ebenfalls von den<br />

Scheingeschäften und spekulativen Umsätzen, die das Kreditwesen fördert. Dann wäre eine Krise nur<br />

erklärlich aus Mißverhältnis der Produktion in verschiednen Zweigen und aus einem Mißverhältnis,<br />

worin der Konsum der Kapitalisten selbst zu ihrer <strong>Akkumulation</strong> stände. Wie aber die Dinge liegen,<br />

hängt der Ersatz der in der Produktion angelegten Kapitale großenteils ab von der Konsumtionsfähigkeit<br />

der nicht produktiven Klassen; während die Konsumtionsfähigkeit der Arbeiter teils durch die Gesetze<br />

<strong>des</strong> Arbeitslohns, teils dadurch beschränkt ist, daß sie nur solange angewandt werden, als sie mit Profit<br />

für die Kapitalistenklasse angewandt werden können." (2. Teil, S. 21.; [Karl Marx: Das Kapital, Dritter<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 25. Kapitel<br />

Band. In: Karl Marx/Friedrich Engels: Werke, Bd. 25, S. 500/501.] <strong>Die</strong>ses letzte Zitat bezieht sich auf<br />

die Frage der Krisen, die für uns nicht in Betracht kommt; es zeigt aber unzweideutig, daß Marx die<br />

Bewegung <strong>des</strong> Gesamtkapitals, "wie die Dinge liegen", nur von drei Kategorien Konsumenten abhängig<br />

macht: Kapitalisten, Arbeitern und "nichtproduktiven Klassen", d.h. dem Anhang der Kapitalistenklasse<br />

("König, Praff, Professor, Hure, Kriegsknecht") den er im zweiten Bande mit vollem Recht nur als<br />

Vertreter abgeleiteter Kaukraft und sofern als Mitverzehrer <strong>des</strong> Mehrwertes oder <strong>des</strong> Arbeitslohnes abtut.<br />

Endlich in den "Theorien über den Mehrwert", Band II, Teil 2, Seite 263 [Karl Marx: Theorien über den<br />

Mehrwert, Zweiter Teil. In: Karl Marx/Friedrich Engels: Werke, Bd. 26.2, S. 493.], formuliert Marx die<br />

allgemeinen Voraussetzungen, unter denen er die <strong>Akkumulation</strong> ins Auge faßt, im Kapitel<br />

"<strong>Akkumulation</strong> von Kapital und Krisen" wie folgt:<br />

"Wir haben hier bloß die Formen zu betrachten, die das Kapital in seinen verschiednen<br />

Fortentwicklungen durchmacht. Es sind also die reellen Verhältnisse nicht entwickelt, innerhalb deren<br />

der wirkliche Produktionsprozeß vorgeht. Es wird immer unterstellt, daß die Ware zu ihrem Wert<br />

verkauft wird. <strong>Die</strong> Konkurrenz der Kapitalien wird nicht betrachtet, ebensowenig das<br />

Kreditwesen, ebensowenig die wirkliche Konstitution der Gesellschaft, die keineswegs bloß aus den<br />

Klassen der Arbeiter und industriellen Kapitalisten besteht, wo also Konsumenten und Produzenten nicht<br />

identisch, die erstere Kategorie (deren Revenuen zum Teil sekundäre, vom Profit und Salair abgeleitete,<br />

keine primitiven sind) der Konsumenten viel weiter ist als die zweite (die der Produzenten - R. L.), und<br />

daher die Art, wie sie ihre Revenue spendet, und der Umfang der letztren sehr große Modifikationen im<br />

ökonomischen Haushalt und speziell im Zirkulations- und Reproduktionsprozesse <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong><br />

hervorbringt." Also auch hier berücksichtigt Marx, wenn er schon von der "wirklichen Konstitution der<br />

Gesellschaft" spricht, lediglich die Mitesser <strong>des</strong> Mehrwerts und <strong>des</strong> Arbeitslohns, also bloß den Anhang<br />

der kapitalistischen Grundkategorien der Produktion.<br />

So unterliegt es keinem Zweifel, daß Marx den Prozeß der <strong>Akkumulation</strong> in einer ausschließlich aus<br />

Kapitalisten und Arbeitern bestehenden Gesellschaft darstellen wollte, unter allgemeiner und<br />

ausschließlicher Herrschaft der kapitalistischen Produktionsweise. Unter diesen Voraussetzungen läßt<br />

aber sein Schema keine andere Deutung zu als die Produktion um der Produktion willen.<br />

Erinnern wir uns an daß zweite Beispiel <strong>des</strong> Marxschen Schemas der erweiterten Reproduktion.<br />

Erstes Jahr<br />

I. 5.000 c + 1.000 v + 1.000 m = 7.000 (Produktionsmittel)<br />

II. 1.430 c + 285 v + 285 m = 2.000<br />

9.000<br />

(Konsummittel)<br />

Zweites Jahr<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 25. Kapitel<br />

I. 5.417 c + 1.083 v + 1.083 m = 7.583 (Produktionsmittel)<br />

II. 1.583 c + 316 v + 316 m = 2.215 (Konsummittel)<br />

Drittes Jahr<br />

9.798<br />

I. 5.869 c + 1.173 v + 1.173 m = 8.215 (Produktionsmittel)<br />

II. 1.715 c + 342 v + 342 m = 2.399 (Konsummittel)<br />

Viertes Jahr<br />

10.614<br />

I. 6.358 c + 1.271 v + 1.271 m = 8.900 (Produktionsmittel)<br />

II. 1.858 c + 371 v + 371 m = 2.600 (Konsummittel)<br />

11.500<br />

Hier geht die <strong>Akkumulation</strong> von Jahr zu Jahr ununterbrochen in dem Maße fort, daß jeweilig aus<br />

dem erzielten Mehrwert die Hälfte von den Kapitalisten konsumiert, die Hälfte kapitalisiert wird. Bei der<br />

Kapitalisierung wird fortlaufend für das Zusatzkapital wie für das Originalkapital dieselbe technische<br />

Basis, d.h. dieselbe organische Zusammensetzung oder <strong>Ein</strong>teilung in konstantes und variables Kapital<br />

und auch dieselbe Ausbeutungsrate (immer = 100 Prozent) beibehalten. Der kapitalisierte Teil <strong>des</strong><br />

Mehrwerts kommt, der Marxschen Annahme im ersten Bande <strong>des</strong> "<strong>Kapitals</strong>" entsprechend, von<br />

vornherein in Gestalt von zuschüssigen Produktionsmitteln und Lebensmitteln der Arbeiter zur Welt.<br />

Beide dienen dazu, die Produktion in der Abteilung I wie II immer mehr zu steigern. Für wen diese<br />

fortschreitende Steigerung der Produktion stattfindet, ist nach den Marxschen Voraussetzungen <strong>des</strong><br />

Schemas unerfindlich. Freilich steigt gleichzeitig mit der Produktion auch die Konsumtion der<br />

Gesellschaft: Es steigt die Konsumtion der Kapitalisten (im ersten Jahr beträgt sie, im Wert dargestellt,<br />

500 + 142, im zweiten 542 + 158, im dritten 586 + 171, im vierten 635 + 185), es steigt auch die<br />

Konsumtion der Arbeiter; ihr genauer Anzeiger, im Wert dargestellt, ist das variable Kapital, das von<br />

Jahr zu Jahr in beiden Abteilungen wächst. Doch - abgesehen von allem anderen - kann die wachsende<br />

Konsumtion der Kapitalistenklasse jedenfalls nicht als Zweck der <strong>Akkumulation</strong> betrachtet werden;<br />

umgekehrt, sofern diese Konsumtion stattfindet und wächst, findet keine <strong>Akkumulation</strong> statt; die<br />

persönliche Konsumtion der Kapitalisten fällt unter die Gesichtspunkte der einfachen Reproduktion. Es<br />

fragt sich vielmehr: Für wen produzieren die Kapitalisten, wenn und soweit sie nicht selbst konsumieren,<br />

sondern "entsagen", d.h. akkumulieren? Noch weniger kann die Erhaltung einer immer größeren Armee<br />

von Arbeitern der Zweck der ununterbrochenen Kapitalakkumulation sein. <strong>Die</strong> Konsumtion der Arbeiter<br />

ist kapitalistisch eine Folge der <strong>Akkumulation</strong>, niemals ihr Zweck und ihre Voraussetzung, wenn anders<br />

die Grundlagen der kapitalistischen Produktion nicht auf den Kopf gestellt werden sollen. Und jedenfalls<br />

können die Arbeiter stets nur den Teil <strong>des</strong> Produkts konsumieren, der dem variablen Kapital entspricht,<br />

kein Jota darüber hinaus. Wer realisiert also den beständig wachsenden Mehrwert. Das Schema<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 25. Kapitel<br />

antwortet: die Kapitalisten selbst und nur sie. Und was fangen sie mit ihrem wachsenden Mehrwert an?<br />

Das Schema antwortet: Sie gebrauchen ihn, um ihre Produktion immer mehr zu erweitern. <strong>Die</strong>se<br />

Kapitalisten sind also Fanatiker der Produktionserweiterung um der Produktionserweiterung willen. Sie<br />

lassen immer neue Maschinen bauen, um damit immer wieder neue Maschinen zu bauen. Was wir<br />

aber auf diese Weise bekommen, ist nicht eine Kapitalakkumulation, sondern eine wachsende Produktion<br />

von Produktionsmitteln ohne jeden Zweck, und es gehört die Tugan-Baranowskische Kühnheit und<br />

Freude an Paradoxen dazu, um anzunehmen, dieses unermüdliche Karussell im leeren Luftraum könne<br />

ein treues theoretisches Spiegelbild der kapitalistischen Wirklichkeit und eine wirkliche Konsequenz der<br />

Marxschen Lehre sein.(1)<br />

Außer dem gleich im Anfang abgebrochenen Entwurf der Analyse der erweiterten Reproduktion, den wir<br />

im zweiten Bande <strong>des</strong> "<strong>Kapitals</strong>" vorfinden, hat Marx seine allgemeine Auffassung von dem<br />

charakteristischen Gang der kapitalistischen <strong>Akkumulation</strong> in seinem ganzen Werke, namentlich im<br />

dritten Bande, sehr ausführlich und deutlich niedergelegt. Und man braucht sich nur in diese Auffassung<br />

hineinzudenken, um das Unzulängliche <strong>des</strong> Schemas am Schluß <strong>des</strong> zweiten Ban<strong>des</strong> ohne Mühe<br />

einzusehen.<br />

Prüft man das Schema der erweiterten Reproduktion gerade vom Standpunkte der Marxschen Theorie, so<br />

muß man finden, daß es sich mit ihr in mehreren Hinsichten im Widerspruch befindet.<br />

Vor allem berücksichtigt das Schema die fortschreitende Produktivität der Arbeit gar nicht. Es setzt<br />

nämlich von Jahr zu Jahr trotz der <strong>Akkumulation</strong> dieselbe Zusammensetzung <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, d.h. dieselbe<br />

technische Grundlage <strong>des</strong> Produktionsprozesses voraus. <strong>Die</strong>ses Verfahren ist an sich, behufs<br />

Vereinfachung der Analyse, vollkommen zulässig. Das Absehen von den Verschiebungen der Technik,<br />

die dem Prozeß der Kapitalakkumulation parallel laufen und von ihm unzertrennlich sind, muß jedoch<br />

wenigstens hinterher in Betracht gezogen, angerechnet werden, wo man die konkreten Bedingungen der<br />

Realisierung <strong>des</strong> gesellschaftlichen Gesamtprodukts und der Reproduktion untersucht. Zieht man aber<br />

die Fortschritte der Produktivität der Arbeit in Betracht, dann folgt daraus, daß die sachliche Masse <strong>des</strong><br />

gesellschaftlichen Produkts - Produktionsmitte wie Konsumtionsmittel - noch viel rascher wächst als<br />

seine Wertmasse, wie das Schema anzeigt. <strong>Die</strong> andere Seite dieses Anwachsens der Masse der<br />

Gebrauchswerte ist aber auch eine Verschiebung der Wertverhältnisse. Nach der zwingenden<br />

Beweisführung Marxens, die einen der Ecksteine der Theorie bildet, äußert sich die fortschreitende<br />

Entwicklung der Produktivität der Arbeit darin, daß bei zunehmender Kapital- akkumulation die<br />

Zusammensetzung <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong> sowie die Mehrwertrate nicht konstant bleiben können, wie dies in dem<br />

Marxschen Schema unterstellt wird. Im Gegenteil, mit dem Fortgang der <strong>Akkumulation</strong> muß das c<br />

(konstantes Kapital) in beiden Abteilungen nicht bloß absolut, sondern auch relativ zu v + m oder dem<br />

gesamten geschaffenen Neuwert wachsen (gesellschaftlicher Ausdruck der Produktivität der Arbeit);<br />

gleichzeitig muß das konstante Kapital im Verhältnis zum variablen Kapital und ebenso der Mehrwert im<br />

Verhältnis zum variablen Kapital oder die Mehrwertrate wachsen (kapitalistischer Ausdruck der<br />

Produktivität der Arbeit). Daß diese Verschiebungen nicht buchstäblich in jedem Jahre eintreten, tut<br />

nichts zur Sache, wie auch die Bezeichnungen "erstes, zweites, drittes usw. Jahr" im Marxschen Schema<br />

sich überhaupt nicht notwendig auf das Kalenderjahr beziehen und beliebige Zeitabschnitte bedeuten<br />

können. Endlich mögen die Verschiebungen in der Zusammensetzung <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong> sowie in der<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 25. Kapitel<br />

Mehrwertrate beliebig im ersten, dritten, fünften, siebenten usw. Jahr oder im zweiten, sechsten, neunten<br />

usw. unterstellt werden. Es kommt nur darauf an, daß sie überhaupt und als eine periodische Erscheinung<br />

in Betracht gezogen werden. Ergänzt man dementsprechend das Schema, so wird sich herausstellen, daß<br />

sogar bei dieser <strong>Akkumulation</strong>smethode mit jedem Jahre ein wachsen<strong>des</strong> Defizit an Produktionsmitteln<br />

und wachsender Überschuß an Konsumtionsmitteln entstehen muß. Tugan-Baranowski freilich, der auf<br />

dem Papier aller Schwierigkeiten Herr wird, konstruiert einfach ein Schema mit anderen Proportionen,<br />

wobei er das variable Kapital von Jahr zu Jahr um 25 Prozent verringert. Da das Papier auch diese<br />

arithmetische Übung geduldig erträgt, ist das für Tugan ein Grund, mit Triumph zu "beweisen", daß<br />

sogar bei absolutem Rückgang der Konsumtion die <strong>Akkumulation</strong> glatt wie am Schnürchen verläuft.<br />

Schließlich muß aber auch Tugan selbst zugehen, daß seine Annahme der absoluten Verringerung <strong>des</strong><br />

variablen <strong>Kapitals</strong> mit der Wirklichkeit in schroffem Widerspruch steht. Das variable Kapital wächst im<br />

Gegenteil absolut in allen kapitalistischen Ländern, es geht nur relativ zurück im Verhältnis zum noch<br />

rascheren Wachstum <strong>des</strong> konstanten <strong>Kapitals</strong>. Nehmen wir aber, dem wirklichen Gang der Dinge<br />

entsprechend, von Jahr zu Jahr bloß ein rascheres Wachstum <strong>des</strong> konstanten und ein langsameres <strong>des</strong><br />

variablen <strong>Kapitals</strong> sowie eine wachsende Mehrwertrate an, dann tritt ein Mißverhältnis zwischen der<br />

sachlichen Zusammensetzung <strong>des</strong> gesellschaftlichen Produkts und der Wertzusammensetzung <strong>des</strong><br />

<strong>Kapitals</strong> in die Erscheinung. Nehmen wir z.B. im Marxschen Schema statt der ständigen Proportion von<br />

konstant zu variabel = 5:1 die fortschreitend höhere Zu- sammensetzung für den Zuwachs <strong>des</strong><br />

<strong>Kapitals</strong>, im zweiten Jahr 6:1, im dritten 7:1, im vierten 8:1. Nehmen wir ferner, entsprechend der<br />

höheren Produktivität der Arbeit, auch eine fortlaufend wachsende Mehrwertrate - sagen wir, statt der<br />

stabilen Mehrwertrate von 100 Prozent setzen wir, trotz <strong>des</strong> relativ abnehmenden variablen <strong>Kapitals</strong>, den<br />

im Marxschen Schema jeweilig angenommenen Mehrwert. Gehen wir endlich von der je<strong>des</strong>maligen<br />

Kapitalisierung der Hälfte <strong>des</strong> angeeigneten Mehrwerts aus (ausgenommen die Abteilung II, die im<br />

ersten Jahr nach Marxscher Annahme mehr als die Hälfte, nämlich 184 von 285 m kapitalisiert). Dann<br />

erhalten wir das folgende Resultat:<br />

Erstes Jahr<br />

I. 5.000 c + 1.000 v + 1.000 m = 7.000 (Produktionsmittel).<br />

II. 1.430 c + 285 v + 285 m = 2.000 (Konsummittel).<br />

Zweites Jahr<br />

I. 5.4284/7 c + 1.0713/7 v + 1.083 m = 7.583.<br />

II. 1.5875/7 c + 3112/7 v + 316 m = 2.215.<br />

Drittes Jahr<br />

I. 5.903 c + 1.139 v + 1.173 m = 8.215.<br />

II. 1.726 c + 311 v + 342 m = 2.399.<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 25. Kapitel<br />

Viertes Jahr<br />

I. 6.424 c + 1.205 v + 1.271 m = 8.900.<br />

II. 1.879 c + 350 v + 371 m = 2.600.<br />

Sollte die <strong>Akkumulation</strong> in dieser Weise vor sich gehen, dann ergäbe sich ein Defizit an<br />

Produktionsmitteln im zweiten Jahr um 16, im dritten in 45, im vierten um 88 und gleichzeitig ein<br />

Überschuß an Konsumtionsmitteln im zweiten Jahr um 16, im dritten um 45, im vierten um 88.<br />

Das Defizit an Produktionsmitteln mag z.T. ein scheinbares sein. Infolge der steigenden Produktivität der<br />

Arbeit ist das Wachstum der Masse der Produktionsmittel ein rascheres als das ihrer Wertmasse, oder<br />

anders ausgedrückt, es folgt die Verbilligung der Produktionsmittel. Da es bei der Erhöhung der Technik<br />

der Produktion vor allem nicht auf den Wert, sondern auf den Gebrauchswert, auf die sachlichen<br />

Elemente <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong> ankommt, so mag trotz <strong>des</strong> Wertdefizits bis zu einem gewissen Grade tatsächlich<br />

eine ausreichende Menge Produktionsmittel zur fortschreitenden <strong>Akkumulation</strong> angenommen werden. Es<br />

ist dies dieselbe Erscheinung, die u.a. den Fall der Profitrate aufhält und ihn nur zu einem tendenziellen<br />

macht. Allerdings wäre aber, wie unser Beispiel zeigt, der Fall der Profit- rate nicht aufgehalten,<br />

sondern gänzlich aufgehoben. Hingegen weist derselbe Umstand auf einen viel stärkeren Überschuß<br />

unabsetzbarer Konsumtionsmittel hin, als dies aus der Wertsumme dieses Überschusses hervorgeht. Es<br />

bliebe dann nur übrig, entweder die Kapitalisten der II. Abteilung zu zwingen, diesen Überschuß selbst<br />

zu konsumieren, wie Marx sonst mit ihnen verfährt, was für diese Kapitalisten das Gesetz der<br />

<strong>Akkumulation</strong> wieder in der Richtung zur einfachen Reproduktion beugen würde, oder dieser Überschuß<br />

muß als unabsetzbar erklärt werden.<br />

Man kann freilich erwidern, daß dem Defizit an Produktionsmitteln, das sich in unserem Beispiel ergab,<br />

sehr leicht abzuhelfen wäre: Wir brauchen nur anzunehmen, daß die Kapitalisten der Abteilung I in<br />

stärkerem Maße ihren Mehrwert kapitalisieren. In der Tat liegt gar kein zwingender Grund vor, um<br />

anzunehmen, daß die Kapitalisten jeweilig nur die Hälfte ihres Mehrwerts zum Kapital schlagen, wie<br />

dies Marx in seinem Beispiel voraussetzt. Mag dem Fortschritt in der Produktivität der Arbeit eine<br />

fortschreitend wachsende Quote <strong>des</strong> kapitalisierten Mehrwerts entsprechen. <strong>Die</strong>se Annahme ist an sich<br />

um so zulässiger, als ja eine der Folgen der fortgeschrittenen Technik auch die Verbilligung der<br />

Konsumtionsmittel der Kapitalistenklasse ist, so daß sich die relative Wertverminderung ihrer verzehrten<br />

Revenue (im Vergleich zum kapitalisierten Teil) in derselben oder selbst steigenden Lebenshaltung für<br />

diese Klasse äußern mag. So dürfen wir denn z.B. annehmen, daß das von uns festgestellte Defizit an<br />

Produktionsmitteln für die Abteilung I durch die entsprechende Übertragung eines Teils <strong>des</strong><br />

konsumierten Mehrwerts I (der ja in dieser Abteilung, wie alle Wertteile <strong>des</strong> Produkts, in der Gestalt von<br />

Produktionsmitteln zur Welt kommt) ins konstante Kapital, und zwar im zweiten Jahre im Betrage von<br />

11 4/7, im dritten von 34, im vierten von 66, gedeckt wird.(2) <strong>Die</strong> Lösung der einen Schwierigkeit<br />

vergrößert in<strong>des</strong> nur die andere. Es ist ohne weiteres klar: Je mehr die Kapitalisten der Abteilung I ihre<br />

Konsumtion relativ einschränken, um die <strong>Akkumulation</strong> zu ermöglichen, um so mehr erweist sich auf<br />

seiten der Abteilung II ein unabsetzbarer Rest an Konsumtionsmitteln und dementsprechend die<br />

Unmöglichkeit, das konstante Kapital auch nur auf der bisherigen technischen Grundlage zu vergrößern.<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 25. Kapitel<br />

<strong>Die</strong> eine Voraussetzung: fortschreitende relative <strong>Ein</strong>schränkung der Konsumtion bei den Kapitalisten I,<br />

müßte durch die andere Voraussetzung ergänzt werden: fortschreitende relative Vergröße- rung<br />

der Privatkonsumtion der Kapitalisten II, die Beschleunigung der <strong>Akkumulation</strong> in der ersten Abteilung<br />

durch Verlangsamung in der zweiten, der Fortschritt der Technik in der einen durch den Rückschritt in<br />

der andern.<br />

<strong>Die</strong>se Resultate sind kein Zufall. Was durch unsere obigen Versuche mit dem Marxschen Schema<br />

lediglich illustriert werden sollte, ist folgen<strong>des</strong>. <strong>Die</strong> fortschreitende Technik muß sich nach Marx selbst<br />

in dem relativen Wachstum <strong>des</strong> konstanten <strong>Kapitals</strong> im Vergleich mit dem variablen äußern. Daraus<br />

ergibt sich die Notwendigkeit einer fortschreitenden Verschiebung in der <strong>Ein</strong>teilung <strong>des</strong> kapitalisierten<br />

Mehrwerts zwischen c und v. <strong>Die</strong> Kapitalisten <strong>des</strong> Marxschen Schemas sind aber gar nicht in der Lage,<br />

diese <strong>Ein</strong>teilung beliebig vorzunehmen, denn sie sind bei ihrem Geschäft der Kapitalisierung von<br />

vornherein an die Sachgestalt ihres Mehrwerts gebunden. Da nach der Marxschen Annahme die ganze<br />

Produktionserweiterung ausschließlich mit den eigenen kapitalistisch hergestellten Produktions- und<br />

Konsumtionsmitteln vorgenommen wird - andere Produktionsstätten und -formen existieren hier<br />

ebensowenig wie andere Konsumenten als die Kapitalisten und Arbeiter der beiden Abteilungen - und da<br />

andererseits Voraussetzung <strong>des</strong> glatten Fortganges der <strong>Akkumulation</strong> ist, daß das Gesamtprodukt der<br />

beiden Abteilungen in der Zirkulation restlos draufgeht, so ergibt sich das folgende Resultat: <strong>Die</strong><br />

technische Gestaltung der erweiterten Reproduktion ist hier den Kapitalisten im voraus streng<br />

vorgeschrieben durch die Sachgestalt <strong>des</strong> Mehrprodukts. Mit anderen Worten: <strong>Die</strong> Erweiterung der<br />

Produktion kann und muß bei dem Marxschen Schema jeweilig nur auf einer solchen technischen<br />

Grundlage vorgenommen werden, bei der der ganze hergestellte Mehrwert der Abteilung I wie der<br />

Abteilung II Verwendung findet, wobei noch im Auge behalten werden muß, daß die beiden Abteilungen<br />

zu ihren respektiven Produktionselementen nur durch gegenseitigen Austausch gelangen können. Auf<br />

diese Weise ist die jeweilige Verteilung <strong>des</strong> zu kapitalisierenden Mehrwerts zwischen dem konstanten<br />

und variablen Kapital sowie die Verteilung der zuschüssigen Produktionsmittel und Konsumtionsmittel<br />

(der Arbeiter) zwischen den Abteilungen I und II im voraus bestimmt und gegeben durch die Sach- und<br />

Wertbeziehungen der beiden Abteilungen <strong>des</strong> Schemas. <strong>Die</strong>se Sach- und Wertbeziehungen drücken aber<br />

selbst schon eine ganz bestimmte technische Gestaltung der Produktion aus. Damit ist gesagt, daß bei<br />

Fortsetzung der <strong>Akkumulation</strong> unter den Voraussetzungen <strong>des</strong> Marxschen Schemas die jeweilig<br />

gegebene Technik der Produktion im voraus auch schon die Technik der folgenden Perioden der <br />

erweiterten Reproduktion bestimmt. Das heißt, wenn wir mit dem Marxschen Schema annehmen, daß die<br />

kapitalistische Produktionserweiterung stets nur mit dem im voraus in Kapitalgestalt produzierten<br />

Mehrwert vorgenommen wird, ferner - was in<strong>des</strong> nur die andere Seite derselben Annahme ist -, daß die<br />

<strong>Akkumulation</strong> der einen Abteilung der kapitalistischen Produktion in strengster Abhängigkeit von der<br />

<strong>Akkumulation</strong> der anderen Abteilung fortschreiten kann, dann ergibt sich, daß eine Verschiebung in der<br />

technischen Grundlage der Produktion (sofern sie sich im Verhältnis von c zu v ausdrückt) unmöglich ist.<br />

Dasselbe läßt sich auch noch anders fassen. Es ist klar, daß die fortschreitend höhere organische<br />

Zusammensetzung <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, d.h. das raschere Wachstum <strong>des</strong> konstanten <strong>Kapitals</strong> im Vergleich zum<br />

variablen, ihren sachlichen Ausdruck im rascheren Wachstum der Produktion von Produktionsmitteln<br />

(Abteilung I) im Vergleich zur Produktion von Konsumtionsmitteln (Abteilung II) finden muß. <strong>Ein</strong>e<br />

solche Abweichung im <strong>Akkumulation</strong>stempo der beiden Abteilungen ist aber durch das Marxsche<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 25. Kapitel<br />

Schema, das auf ihrer strengen Gleichmäßigkeit beruht, direkt ausgeschlossen. An sich steht nichts der<br />

Annahme im Wege, daß mit dem Fortschritt der <strong>Akkumulation</strong> und ihrer technischen Basis von der<br />

Gesellschaft fortlaufend eine größere Portion <strong>des</strong> zu kapitalisierenden Mehrwerts in der Abteilung der<br />

Produktionsmittel statt in derjenigen der Konsumtionsmittel angelegt wird. Da die beiden Abteilungen<br />

der Produktion nur Zweige derselben gesellschaftlichen Gesamtproduktion oder, wenn man will,<br />

Teilbetriebe <strong>des</strong> Gesamtkapitalisten darstellen, so ist gegen die Annahme einer solchen fortschreitenden<br />

Übertragung eines Teils <strong>des</strong> akkumulierten Mehrwerts - den technischen Erfordernissen gemäß - aus der<br />

einen Abteilung in die andere nichts einzuwenden, sie entspricht auch der tatsächlichen Praxis <strong>des</strong><br />

<strong>Kapitals</strong>. Allein diese Annahme ist nur so lange möglich, wie wir den zur Kapitalisierung bestimmten<br />

Mehrwert als Wertgröße ins Auge fassen. Durch das Marxsche Schema und seine Zusammenhänge<br />

jedoch ist dieser Teil <strong>des</strong> Mehrwerts an eine bestimmte Sachgestalt gebunden, die direkt zur<br />

Kapitalisierung bestimmt ist. So stellt sich der Mehrwert der Abteilung II in Konsumtionsmitteln dar.<br />

Und da diese nur durch die Abteilung I realisiert werden können, so scheitert die beabsichtigte<br />

Übertragung eines Teils <strong>des</strong> kapitalisierten Mehrwerts aus der Abteilung II in de Abteilung I erstens an<br />

der Sachgestalt dieses Mehrwerts, mit der die Abteilung I offenbar nichts anfangen kann, zweitens aber<br />

an den Austauschverhältnissen zwischen beiden Abteilungen, die es mit sich bringen, daß der<br />

Übertragung eines Teiles <strong>des</strong> Mehrwerts in Pro- dukten II in die erste Abteilung eine<br />

gleichwertige Übertragung von Produkten I in die zweite Abteilung entsprechen muß. Das raschere<br />

Wachstum der Abteilung I im Vergleich zur Abteilung II ist somit innerhalb der Zusammenhänge <strong>des</strong><br />

Marxschen Schemas schlechterdings nicht zu erreichen.<br />

Wie wir also immer die technische Verschiebung der Produktionsweise im Fortgang der <strong>Akkumulation</strong><br />

ins Auge fassen, sie kann sich nicht durchsetzen, ohne die grundlegenden Beziehungen <strong>des</strong> Marxschen<br />

Schemas aus den Fugen zu bringen.<br />

Ferner: Nach dem Marxschen Schema geht der jeweilige kapitalisierte Mehrwert in der nächsten<br />

Produktionsperiode unmittelbar und restlos in der Produktion auf, hat er doch von vornherein die<br />

Naturalgestalt, die seine Verwendung (außer der konsumierbaren Portion) nur in dieser Weise zulässig<br />

macht. <strong>Ein</strong>e Bildung und Aufschatzung <strong>des</strong> Mehrwerts in Geldform, als anlagesuchen<strong>des</strong> Kapital, ist<br />

nach diesem Schema ausgeschlossen. Für das <strong>Ein</strong>zelkapital nimmt Marx selbst als jeweilig freie<br />

Geldformen <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>: erstens den allmählichen Geldniederschlag, der dem Verschleiß <strong>des</strong> fixen<br />

<strong>Kapitals</strong> entspricht und zu seiner späteren Erneuerung bestimmt ist, zweitens die Geldsummen, die den<br />

realisierten Mehrwert darstellen, aber noch nicht die zur Anlage erforderliche Minimalgröße erreicht<br />

haben. Beide Quellen <strong>des</strong> freien <strong>Kapitals</strong> in Geldgestalt kommen jedoch vom Standpunkt <strong>des</strong><br />

Gesamtkapitals nicht in Betracht. Denn setzen wir nur einen Teil <strong>des</strong> realisierten gesellschaftlichen<br />

Mehrwerts als in Geldform verharrend und anlagesuchend voraus, dann entsteht sofort die Frage: Wer<br />

hat denn die Naturalgestalt dieses Teils abgenommen, und wer hat das Geld dafür gegeben? Antwortet<br />

man: eben andere Kapitalisten, dann muß bei der Klasse der Kapitalisten, wie sie im Schema durch die<br />

zwei Abteilungen dargestellt ist, auch dieser Teil <strong>des</strong> Mehrwerts als tatsächlich angelegt, in der<br />

Produktion verwendet gelten, und wir werden zu der unmittelbaren und restlosen Anlage <strong>des</strong> Mehrwerts<br />

zurückgeführt.<br />

Oder aber bedeutet das Festgerinnen eines Teils <strong>des</strong> Mehrwerts in den Händen gewisser Kapitalisten in<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 25. Kapitel<br />

Geldform das Verharren eines entsprechenden Teiles <strong>des</strong> Mehrprodukts in den Händen anderer<br />

Kapitalisten in seiner sachlichen Form, die Aufspeicherung <strong>des</strong> realisierten Mehrwerts bei den einen - die<br />

Unrealisierbarkeit <strong>des</strong> Mehrwerts bei den anderen, sind doch die Kapitalisten die einzigen Abnehmer <strong>des</strong><br />

Mehrwerts füreinander. Damit wäre aber der glatte Fortgang der Reproduktion und also auch der<br />

<strong>Akkumulation</strong>, wie ihn das Schema schildert, unterbrochen. Wir hätten eine Krise, aber nicht eine<br />

Krise aus Überproduktion, sondern aus bloßer Absicht der <strong>Akkumulation</strong>, eine Krise, wie sie Sismondi<br />

vorschwebte.<br />

An einer Stelle seiner "Theorien" erklärt Marx ausdrücklich, daß er hier gar nicht auf den Fall eingehe,<br />

"daß mehr Kapital akkumuliert ist, als in der Produktion unterzubringen, z.B. in der Form von Geld,<br />

{das} brach bei Bankiers liegt. Daher das Ausleihen ins Ausland etc."(3) Marx verweist diese<br />

Erscheinungen in den Abschnitt von der Konkurrenz. Aber es ist wichtig festzustellen, daß sein Schema<br />

die Bildung eines solchen überschüssigen <strong>Kapitals</strong> direkt ausschließt. <strong>Die</strong> Konkurrenz, wie weit wir auch<br />

den Begriff fassen, kann offenbar nicht erst Werte, also auch Kapital, schaffen, die sich nicht aus dem<br />

Reproduktionsprozeß ergeben.<br />

Das Schema schließt auf diese Weise die sprunghafte Erweiterung der Produktion aus. Es läßt nur die<br />

stetige Erweiterung zu, die mit Bildung <strong>des</strong> Mehrwerts genau Schritt hält und auf der Identität zwischen<br />

Realisierung und Kapitalisierung <strong>des</strong> Mehrwerts beruht.<br />

Aus demselben Grunde unterstellt das Schema eine <strong>Akkumulation</strong>, die beide Abteilungen, also sämtliche<br />

Zweige der kapitalistischen Produktion, gleichmäßig ergreift. <strong>Ein</strong>e sprungweise Erweiterung <strong>des</strong><br />

Absatzes erscheint hier ebenso ausgeschlossen wie die einseitige Entwicklung einzelner kapitalistischer<br />

Produktionszweige, die anderen weit vorauseilen.<br />

Das Schema setzt also eine Bewegung <strong>des</strong> Gesamtkapitals voraus, die dem tatsächlichen Gang der<br />

kapitalistischen Entwicklung widerspricht. <strong>Die</strong> Geschichte der kapitalistischen Produktionsweise wird<br />

durch zwei Tatsachen auf den ersten Blick charakterisiert: einerseits periodische sprungweise Expansion<br />

<strong>des</strong> ganzen Produktionsfel<strong>des</strong>, andererseits höchst ungleichmäßige Entwicklung verschiedener<br />

Produktionszweige. <strong>Die</strong> Geschichte der englischen Baumwollindustrie, das charakteristischste Kapitel in<br />

der Geschichte der kapitalistischen Produktionsweise seit dem letzten Viertel <strong>des</strong> 18. bis in die 70er Jahre<br />

<strong>des</strong> 19. Jahrhunderts, erscheint vom Standpunkte <strong>des</strong> Marxschen Schemas völlig unerklärlich.<br />

Endlich widerspricht das Schema der Auffassung vom kapitalistischen Gesamtprozeß und seinem<br />

Verlauf, wie sie von Marx im dritten Bande <strong>des</strong> "<strong>Kapitals</strong>" niedergelegt ist. Der Grundgedanke dieser<br />

Auffassung ist der immanente Widerspruch zwischen der schrankenlosen Expansionsfähigkeit der<br />

Produktivkraft und der beschränkten Expansionsfähigkeit der gesellschaftlichen Konsumtion unter<br />

kapitalistischen Verteilungsverhältnissen. Hören wir zu, wie Marx ihn im 15. Kapitel "Entfaltung der<br />

innern Widersprüche <strong>des</strong> Gesetzes" (der fallenden Profitrate) ausführlich schildert:<br />

"<strong>Die</strong> Schöpfung von Mehrwert findet, die nötigen Produktionsmittel, d.h. hinreichende <strong>Akkumulation</strong><br />

von Kapital vorausgesetzt, keine andre Schranke als die Arbeiterbevölkerung, wenn die Rate <strong>des</strong><br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 25. Kapitel<br />

Mehrwerts, also der Exploitationsgrad der Arbeit, und keine andre Schranke als den Exploitationsgrad<br />

der Arbeit, wenn die Arbeiterbevölkerung gegeben ist. Und der kapitalistische Produktionsprozeß besteht<br />

wesentlich in der Produktion von Mehrwert, dargestellt in dem Mehrprodukt oder dem aliquoten Teil der<br />

produzierten Waren, worin unbezahlte Arbeit vergegenständlicht ist. Man muß es nie vergessen, daß die<br />

Produktion dieses Mehrwerts - und die Rückverwandlung eines Teils <strong>des</strong>selben in Kapital, oder die<br />

<strong>Akkumulation</strong>, bildet einen integrierenden Teil dieser Produktion <strong>des</strong> Mehrwerts - der unmittelbare<br />

Zweck und das bestimmende Motiv der kapitalistischen Produktion ist. Man darf diese daher nie<br />

darstellen als das, was sie nicht ist, nämlich als Produktion, die zu ihrem unmittelbaren Zweck den<br />

Genuß hat oder die Erzeugung von Genußmitteln für den Kapitalisten (und natürlich noch viel weniger<br />

für den Arbeiter - R. L.). Man sieht dabei ganz ab von ihrem spezifischen Charakter, der sich in ihrer<br />

ganzen innern Kerngestalt darstellt.<br />

<strong>Die</strong> Gewinnung dieses Mehrwerts bildet den unmittelbaren Produktionsprozeß, der wie gesagt keine<br />

andern Schranken als die oben angegebnen hat. Sobald das auspreßbare Quantum Mehrarbeit in Waren<br />

vergegenständlicht ist, ist der Mehrwert produziert. Aber mit dieser Produktion <strong>des</strong> Mehrwerts ist nur der<br />

erste Akt <strong>des</strong> kapitalistischen Produktionsprozesses, der unmittelbare Produktionsprozeß beendet. Das<br />

Kapital hat soundsoviel unbezahlte Arbeit eingesaugt. Mit der Entwicklung <strong>des</strong> Prozesses, der sich im<br />

Fall der Profitrate ausdrückt, schwillt die Masse <strong>des</strong> so produzierten Mehrwerts ins Ungeheure. Nun<br />

kommt der zweite Akt <strong>des</strong> Prozesses. <strong>Die</strong> gesamte Warenmasse, das Gesamtprodukt, sowohl der Teil,<br />

der das konstante und variable Kapital ersetzt, wie der den Mehrwert darstellt, muß verkauft werden.<br />

Geschieht das nicht, oder nur zum Teil, oder nur zu Preisen, die unter den Produktionspreisen stehn, so<br />

ist der Arbeiter zwar exploitiert, aber seine Exploitation realisiert sich nicht als solche für den<br />

Kapitalisten, kann mit gar keiner oder nur mit teilweiser Realisation <strong>des</strong> abgepreßten Mehrwerts, ja mit<br />

teilweisem oder ganzem Verlust seines <strong>Kapitals</strong> verbunden sein. <strong>Die</strong> Bedingungen der unmittelbaren<br />

Exploitation und die ihrer Realisation sind nicht identisch. Sie fallen nicht nur nach Zeit und Ort, sondern<br />

auch begrifflich auseinander. <strong>Die</strong> einen sind nur beschränkt durch die Produktivkraft der<br />

Gesellschaft, die andren durch die Proportionalität der verschiednen Produktionszweige und durch die<br />

Konsumtionskraft der Gesellschaft. <strong>Die</strong>se letztre ist aber bestimmt weder durch die absolute<br />

Produktionskraft noch durch die absolute Konsumtionskraft; sondern durch die Konsumtionskraft auf<br />

Basis antagonistischer Distributionsverhältnisse, welche die Konsumtion der großen Masse der<br />

Gesellschaft auf ein nur innerhalb mehr oder minder enger Grenzen veränderliches Minimum reduziert.<br />

Sie ist ferner beschränkt durch den <strong>Akkumulation</strong>strieb, den Trieb nach Vergrößerung <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong> und<br />

nach Produktion von Mehrwert auf erweiterter Stufenleiter. <strong>Die</strong>s ist Gesetz für die kapitalistische<br />

Produktion, gegeben durch die beständigen Revolutionen in den Produktionsmethoden selbst, die damit<br />

beständig verknüpfte Entwertung von vorhandnem Kapital, den allgemeinen Konkurrenzkampf und die<br />

Notwendigkeit, die Produktion zu verbessern und ihre Stufenleiter auszudehnen, bloß als<br />

Erhaltungsmittel und bei Strafe <strong>des</strong> Untergangs. Der Markt muß daher beständig ausgedehnt werden, so<br />

daß seine Zusammenhänge und die sie regelnden Bedingungen immer mehr die Gestalt eines von den<br />

Produzenten unabhängigen Naturgesetzes annehmen, immer unkontrollierbarer werden. Der innere<br />

Widerspruch sucht sich auszugleichen durch Ausdehnung <strong>des</strong> äußern Fel<strong>des</strong> der Produktion. Je mehr sich<br />

aber die Produktivkraft entwickelt, um so mehr gerät sie in Widerstreit mit der engen Basis, worauf die<br />

Konsumtionsverhältnisse beruhen. Es ist auf dieser widerspruchsvollen Basis durchaus kein<br />

Widerspruch, daß Übermaß von Kapital verbunden ist mit wachsendem Übermaß von Bevölkerung;<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 25. Kapitel<br />

denn obgleich, beide zusammengebracht, die Masse <strong>des</strong> produzierten Mehrwerts sich steigern würde,<br />

steigert sich eben damit der Widerspruch zwischen den Bedingungen, worin dieser Mehrwert produziert,<br />

und den Bedingungen, worin er realisiert wird."(4)<br />

Vergleicht man diese Schilderung mit dem Schema der erweiterten Reproduktion, so stimmen sie<br />

durchaus nicht überein. Nach dem Schema besteht zwischen der Produktion <strong>des</strong> Mehrwerts und seiner<br />

Realisierung gar kein immanenter Widerspruch, vielmehr immanente Identität. Der Mehrwert kommt<br />

hier von vornherein in einer ausschließlich für die Bedürfnisse der <strong>Akkumulation</strong> berechneten<br />

Naturalgestalt zur Welt. Er kommt als zuschüssiges Kapital schon aus der Produktionsstätte heraus.<br />

Damit ist seine Realisierbarkeit gegeben, nämlich in dem <strong>Akkumulation</strong>strieb der Kapitalisten selbst.<br />

<strong>Die</strong>se lassen, als Klasse, den von ihnen angeeigneten Mehrwert im voraus ausschließlich in der<br />

Sachgestalt produzieren, die seine Verwendung zur weiteren <strong>Akkumulation</strong> sowohl ermöglicht als<br />

bedingt. <strong>Die</strong> Realisierung <strong>des</strong> Mehrwerts und seine <strong>Akkumulation</strong> sind hier nur zwei Seiten eines und<br />

<strong>des</strong>selben Vorgangs, sind begrifflich identisch. Für den Prozeß der Reproduktion, wie er im Schema<br />

dargestellt ist, ist die Konsumtionskraft der Gesellschaft <strong>des</strong>halb auch keine Schranke der Produktion.<br />

Hier schreitet die Erweiterung der Produktion von Jahr zu Jahr automatisch fort, ohne daß die<br />

Konsumtionskraft der Gesellschaft über ihre "antagonistischen Distributionsverhältnisse"<br />

hinausgegangen wäre. <strong>Die</strong>ses automatische Fortschreiten der Erweiterung, der <strong>Akkumulation</strong>, ist freilich<br />

"Gesetz für die kapitalistische Produktion - bei Strafe <strong>des</strong> Untergangs". Aber nach der Analyse im dritten<br />

Bande "muß der Markt daher beständig ausgedehnt werden", "der Markt" offenbar über die Konsumtion<br />

der Kapitalisten und der Arbeiter hinaus. Und wenn Tugan-Baranowski den unmittelbar darauffolgenden<br />

Satz bei Marx: "Der innere Widerspruch sucht sich auszugleichen durch Ausdehnung <strong>des</strong> äußern Fel<strong>des</strong><br />

der Produktion" so interpretiert, als ob Marx mit dem "äußern Feld der Produktion" eben die Produktion<br />

selbst gemeint habe, so tut er damit nicht bloß dem Sinn der Sprache, sondern auch dem klaren<br />

Gedankengang Marxens Gewalt an. Das "äußere Feld der Produktion" ist hier klar und unzweideutig<br />

nicht die Produktion selbst, sondern die Konsumtion, die "beständig ausgedehnt werden muß". Daß Marx<br />

so und nicht anders dachte, dafür zeugt genügend z.B. die folgende Stelle in den "Theorien über den<br />

Mehrwert": "Ric{ardo} leugnet daher konsequent die Notwendigkeit einer Erweiterung <strong>des</strong> Markts mit<br />

Erweiterung der Produktion und Wachstum <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>. Alles Kapital, das in einem Lande vorhanden<br />

ist, kann auch vorteilhaft in diesem Lande verwandt werden. Er polemisiert daher gegen A. Smith, der<br />

einerseits seine (Ric{ardos}) Ansicht aufgestellt und mit seinem gewöhnlichen vernünftigen Instinkt ihr<br />

auch widersprechen hat."(5)<br />

Und noch eine andere Stelle bei Marx zeigt deutlich, daß ihm der Tugan-Baranowskische <strong>Ein</strong>fall einer<br />

Produktion um der Produktion willen völlig fremd war: "Außerdem findet, wie wir gesehn haben (Buch<br />

II, Abschn. III), eine beständige Zirkulation statt zwischen konstantem Kapital und konstantem Kapital<br />

(auch abgesehn von der beschleunigten <strong>Akkumulation</strong>), die insofern zunächst unabhängig ist von der<br />

individuellen Konsumtion, als sie nie in dieselbe eingeht, die aber doch durch sie defini- tiv<br />

begrenzt ist, indem die Produktion von konstantem Kapital nie seiner selbst willen stattfindet, sondern<br />

nur, weil mehr davon gebraucht wird in den Produktionssphären, deren Produkte in die individuelle<br />

Konsumtion eingehn."(6)<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 25. Kapitel<br />

Nach dem Schema im zweiten Bande, an das sich Tugan-Baranowski allein klammert, ist freilich der<br />

Markt mit der Produktion identisch. Den Markt erweitern heißt hier die Produktion erweitern, denn die<br />

Produktion ist sich hier selbst ausschließlicher Markt (die Konsumtion der Arbeiter ist nur ein Moment<br />

der Produktion, nämlich Reproduktion <strong>des</strong> variablen <strong>Kapitals</strong>). Daher hat Ausdehnung der Produktion<br />

und <strong>des</strong> Marktes eine und dieselbe Schranke: die Größe <strong>des</strong> gesellschaftlichen <strong>Kapitals</strong> oder die Stufe der<br />

bereits erreichten <strong>Akkumulation</strong>. Je mehr Mehrwert - in Naturalform <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong> - ausgepreßt worden<br />

ist, <strong>des</strong>to mehr kann akkumuliert werden, und je mehr akkumuliert wird, um so mehr kann Mehrwert in<br />

Kapitalgestalt, die seine Naturalgestalt ist, untergebracht, realisiert werden. Nach dem Schema existiert<br />

also der in der Analyse <strong>des</strong> dritten Ban<strong>des</strong> gekennzeichnete Widerspruch nicht. Es liegt hier - im Prozeß,<br />

wie er im Schema dargestellt ist - gar keine Notwendigkeit vor, den Markt über die Konsumtion der<br />

Kapitalisten und Arbeiter hinaus beständig auszudehnen, und die beschränkte Konsumtionsfähigkeit der<br />

Gesellschaft ist gar kein Hindernis für einen glatten Fortgang und die unumschränkte<br />

Ausdehnungsfähigkeit der Produktion. Das Schema läßt wohl Krisen zu, aber ausschließlich aus Mangel<br />

an Proportionalität der Produktion, d.h. aus Mangel an gesellschaftlicher Kontrolle über den<br />

Produktionsprozeß. Es schließt dagegen den tiefen fundamentalen Widerstreit zwischen<br />

Produktionsfähigkeit und Konsumtionsfähigkeit der kapitalistischen Gesellschaft aus, der sich gerade aus<br />

der Kapitalakkumulation ergibt, der sich periodisch in Krisen Luft macht und der das Kapital zur<br />

beständigen Markterweiterung antreibt.<br />

Fußnoten von <strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong><br />

(1) "Es sind nie die originellen Denker, welche die absurden Konsequenzen ziehn. Sie überlassen das den<br />

Says und MacCullochs." (Das Kapital, Bd. II, S. 365.) [Karl Marx: Das Kapital, Zweiter Band. In: Karl<br />

Marx/Friedrich Engels: Werke, Bd. 24 S. 389.] und den Tugan-Baranowskis, fügen wir hinzu.


<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 25. Kapitel<br />

(6) Das Kapital Bd. III, Teil 1. S. 289. [Karl Marx: Das Kapital, Dritter Band. In Karl Marx/Friedrich<br />

Engels: Werke, Bd. 25, S. 316/317.]


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25. Kapitel | Inhalt | 27. Kapitel<br />

<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - Gesammelte Werke. Herausgegeben vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Band<br />

5. <strong>Berlin</strong>/DDR. 1975. "<strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>", S. 296-316.<br />

1. Korrektur.<br />

Erstellt am 20.10.1998<br />

Sechsundzwanzigstes Kapitel<br />

<strong>Die</strong> Reproduktion <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong> und ihr Milieu<br />

Das Marxsche Schema der erweiterten Reproduktion vermag uns also den Prozeß der<br />

<strong>Akkumulation</strong>, wie er in der Wirklichkeit vorgeht und sich geschichtlich durchsetzt, nicht zu erklären.<br />

Woran liegt das? An nichts an- derem als an den Voraussetzungen <strong>des</strong> Schemas selbst. <strong>Die</strong>ses<br />

Schema unternimmt es, den <strong>Akkumulation</strong>sprozeß unter der Voraussetzung darzustellen, daß<br />

Kapitalisten und Arbeiter die einzigen Vertreter der gesellschaftlichen Konsumtion sind. Wir haben<br />

gesehen, daß Marx konsequent und bewußt als die theoretische Voraussetzung seiner Analyse in allen<br />

drei Bänden <strong>des</strong> "<strong>Kapitals</strong>" die allgemeine und ausschließliche Herrschaft der kapitalistischen<br />

Produktionsweise annimmt. Unter diesen Bedingungen gibt es freilich, wie im Schema, keine anderen<br />

Gesellschaftsklassen als Kapitalisten und Arbeiter - alle "dritten Personen" der kapitalistischen<br />

Gesellschaft: Beamte, liberale Berufe, Geistliche usw., sind als Konsumenten jenen beiden Klassen und<br />

vorzugsweise der Kapitalistenklasse zuzuzählen. <strong>Die</strong>se Voraussetzung ist theoretischer Notbehelf - in<br />

Wirklichkeit gab und gibt es nirgends eine sich selbst genügende kapitalistische Gesellschaft mit<br />

ausschließlicher Herrschaft der kapitalistischen Produktion. Sie ist aber ein vollkommen zulässiger<br />

theoretischer Notbehelf dort, wo sie die Bedingungen <strong>des</strong> Problems selbst nicht alteriert, sondern sie bloß<br />

in ihrer Reinheit darstellen hilft. So bei der Analyse der einfachen Reproduktion <strong>des</strong> gesellschaftlichen<br />

Gesamtkapitals. Hier beruht das Problem selbst auf folgender Fiktion: In einer kapitalistisch<br />

produzierenden, also Mehrwert erzeugenden Gesellschaft wird der ganze Mehrwert von seinen<br />

Aneignern, der Kapitalistenklasse, konsumiert. Es ist darzustellen, wie sich unter diesen Bedingungen die<br />

gesellschaftliche Produktion und Reproduktion gestalten muß. Hier setzt die Stellung <strong>des</strong> Problems selbst<br />

voraus, daß die Produktion keine anderen Konsumenten als Kapitalisten und Arbeiter kennt, sie befindet<br />

sich also in völliger Übereinstimmung mit der Marxschen Voraussetzung: allgemeine und<br />

ausschließliche Herrschaft der kapitalistischen Produktionsweise. <strong>Die</strong> eine Fiktion deckt sich theoretisch<br />

mit der anderen. Ebenso zulässig ist die Annahme der absoluten Herrschaft <strong>des</strong> Kapitalismus bei der<br />

Analyse der <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Ein</strong>zelkapitals, wie sie im ersten Bande <strong>des</strong> "<strong>Kapitals</strong>" gegeben ist. <strong>Die</strong><br />

Reproduktion <strong>des</strong> <strong>Ein</strong>zelkapitals ist das Element der gesellschaftlichen Gesamtreproduktion. Aber ein<br />

Element, <strong>des</strong>sen Bewegung selbständig verläuft, im Widerspruch mit den Bewegungen der übrigen, und<br />

wobei die Gesamtbewegung <strong>des</strong> gesellschaftlichen <strong>Kapitals</strong> nicht etwa eine mechanische Summe der<br />

<strong>Ein</strong>zelbewegungen der Kapitale, sondern ein eigenartig verschobenes Resultat ergibt. Stimmt auch die<br />

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file:///C|/DOKUME~1/peter1/LOKALE~1/Temp/Rar$DR96.187/lu/lu05/lu05_296.htm<br />

Wertsumme der <strong>Ein</strong>zelkapitale sowie ihrer respektiven Teile: konstantes Kapital, variables Kapital und<br />

Mehrwert, mit der Wertgröße <strong>des</strong> gesellschaftlichen Gesamtkapitals, seiner beiden Bestandteile und <strong>des</strong><br />

Gesamtmehrwerts aufs genaueste über- ein, so fällt doch die sachliche Darstellung dieser<br />

Wertgröße in den respektiven Teilen <strong>des</strong> gesellschaftlichen Produkts mit der Sachverkörperung der<br />

Wertverhältnisse der <strong>Ein</strong>zelkapitale völlig auseinander. <strong>Die</strong> Reproduktionsverhältnisse der <strong>Ein</strong>zelkapitale<br />

decken sich somit in ihrer sachlichen Gestalt weder miteinander noch mit denen <strong>des</strong> Gesamtkapitals.<br />

Je<strong>des</strong> <strong>Ein</strong>zelkapital macht seine Zirkulation, also auch <strong>Akkumulation</strong> völlig auf eigene Faust durch und<br />

ist darin - bei normalem Verlauf <strong>des</strong> Zirkulationsprozesses - nur soweit von anderen abhängig, als es sein<br />

Produkt überhaupt realisieren und die für seine individuelle Betätigung erforderlichen Produktionsmittel<br />

vorfinden muß. Ob jene Realisierung und diese Produktionsmittel selbst an kapitalistisch produzierende<br />

Kreise gebunden sind oder nicht, ist für das <strong>Ein</strong>zelkapital völlig gleichgültig. Umgekehrt ist die<br />

günstigste theoretische Voraussetzung für die Analyse der <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Ein</strong>zelkapitals die<br />

Annahme, daß die kapitalistische Produktion das einzige Milieu dieses Prozesses darstellt, d.h.<br />

allgemeine und ausschließliche Herrschaft erreicht hat.(1)<br />

Nun entsteht aber die Frage, ob wir die Voraussetzungen, die für das <strong>Ein</strong>zelkapital maßgebend sind, auch<br />

bei dem Gesamtkapital als zulässig betrachten dürfen.<br />

Daß Marx tatsächlich die <strong>Akkumulation</strong>sbedingungen <strong>des</strong> Gesamtkapitals mit denen <strong>des</strong> <strong>Ein</strong>zelkapitals<br />

identifizierte, bestätigt er selbst ausdrücklich an folgender Stelle:<br />

"<strong>Die</strong> Frage ist jetzt so zu formulieren: Allgemeine <strong>Akkumulation</strong> vorausgesetzt, d.h. vorausgesetzt, daß in<br />

allen tra<strong>des</strong> das Kapital mehr oder minder akkumuliert, was in fact Bedingung der kapitalistischen<br />

Produktion und was ebensosehr der Trieb <strong>des</strong> Kapitalisten als Kapitalisten, wie es der Trieb <strong>des</strong><br />

Schatzbildners, Geld aufzuhäufen (aber auch notwendig ist, damit die kapitalistische Produktion<br />

vorangehe) - was sind die Bedingungen dieser allgemeinen <strong>Akkumulation</strong>, worin löst sie sich auf?"<br />

Und er antwortet: "<strong>Die</strong> Bedingungen für die <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong> also ganz dieselben, wie für<br />

seine ursprüngliche Produktion oder Reproduktion überhaupt.<br />

<strong>Die</strong>se Bedingungen aber waren, daß mit einem Teil <strong>des</strong> Gel<strong>des</strong> Arbeit gekauft wurde, mit dem<br />

andern Waren (Rohmaterial und Maschinerie etc.)." "<strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> von neuem Kapital kann also<br />

nur unter denselben Bedingungen vor sich gehn wie die Reproduktion <strong>des</strong> schon vorhandnen<br />

<strong>Kapitals</strong>."(2)<br />

In Wirklichkeit sind die realen Bedingungen bei der <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> Gesamtkapitals ganz andere als<br />

bei dem <strong>Ein</strong>zelkapital und als bei der einfachen Reproduktion. Das Problem beruht auf folgendem: Wie<br />

gestaltet sich die gesellschaftliche Reproduktion unter der Bedingung, daß ein wachsender Teil <strong>des</strong><br />

Mehrwerts nicht von den Kapitalisten konsumiert, sondern zur Erweiterung der Produktion verwendet<br />

wird? Das Draufgehen <strong>des</strong> gesellschaftlichen Produkts, abgesehen von dem Ersatz <strong>des</strong> konstanten<br />

<strong>Kapitals</strong>, in der Konsumtion der Arbeiter und Kapitalisten ist hier von vornherein ausgeschlossen, und<br />

dieser Umstand ist das wesentlichste Moment <strong>des</strong> Problems. Damit ist aber auch ausgeschlossen, daß die<br />

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Arbeiter und die Kapitalisten selbst das Gesamtprodukt realisieren können. Sie können stets nur das<br />

variable Kapital, den verbrauchten Teil <strong>des</strong> konstanten <strong>Kapitals</strong> und den konsumierten Teil <strong>des</strong><br />

Mehrwerts selbst realisieren, auf diese Weise aber nur die Bedingungen für die Erneuerung der<br />

Produktion in früherem Umfang sichern. Der zu kapitalisierende Teil <strong>des</strong> Mehrwerts hingegen kann<br />

unmöglich von den Arbeitern und Kapitalisten selbst realisiert werden. <strong>Die</strong> Realisierung <strong>des</strong> Mehrwerts<br />

zu Zwecken der <strong>Akkumulation</strong> ist also in einer Gesellschaft, die nur aus Arbeitern und Kapitalisten<br />

besteht, eine unlösbare Aufgabe. Merkwürdigerweise gingen sämtliche Theoretiker, die das Problem der<br />

<strong>Akkumulation</strong> analysierten, von Ricardo und Sismondi bis Marx, gerade von dieser Voraussetzung aus,<br />

die die Lösung <strong>des</strong> Problems unmöglich machte. Das richtige Gefühl für die Notwendigkeit "dritter<br />

Personen", d.h. Konsumenten außerhalb der unmittelbaren Agenten der kapitalistischen Produktion: der<br />

Arbeiter und Kapitalisten, zur Realisierung <strong>des</strong> Mehrwerts, führte zu allerlei Ausflüchten: zu der<br />

"unproduktiven Konsumtion", die bei Malthus in der Person <strong>des</strong> feudalen Grundbesitzers, bei Woronzow<br />

in dem Militarismus, bei Struve in den "liberalen Berufen" und sonstigem Anhang der Kapitalistenklasse<br />

verkörpert ist, ferner zur Heranziehung <strong>des</strong> auswärtigen Handels, der bei allen Skeptikern der<br />

<strong>Akkumulation</strong> von Sismondi bis Nikolai-on als Sicherheitsventil eine hervorragende Rolle spielte. Zum<br />

andern Teil führte die Unlösbarkeit der Aufgabe zum Verzicht auf die <strong>Akkumulation</strong>, wie bei v.<br />

Kirchmann und Rodbertus, oder wenigstens zur angeblichen Notwendigkeit, die <strong>Akkumulation</strong><br />

möglichst zu dämpfen, wie bei Sismondi und <strong>des</strong>sen russischen Epigonen, den "Volkstümlern".<br />

Doch erst die tiefere Analyse und die exakte schematische Darstellung <strong>des</strong> Prozesses der<br />

Gesamtproduktion durch Marx, namentlich seine geniale Darstellung <strong>des</strong> Problems der einfachen<br />

Reproduktion, konnte den springenden Punkt <strong>des</strong> <strong>Akkumulation</strong>sproblems und die wunde Stelle der<br />

früheren Versuche seiner Lösung bloßlegen. <strong>Die</strong> Analyse der <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> Gesamtkapitals, die bei<br />

Marx abbricht, kaum daß sie begonnen hat, und die obendrein, wie erwähnt, durch die dem Problem<br />

ungünstige Polemik gegen die Smithsche Analyse beherrscht ist, hat direkt keine fertige Lösung<br />

gegeben, sie vielmehr gleichfalls durch die Voraussetzung von der Alleinherrschaft der kapitalistischen<br />

Produktionsweise erschwert. Aber gerade die ganze Analyse der einfachen Reproduktion bei Marx sowie<br />

die Charakteristik <strong>des</strong> kapitalistischen Gesamtprozesses mit <strong>des</strong>sen inneren Widersprüchen und ihrer<br />

Entfaltung (im dritten Bande <strong>des</strong> "<strong>Kapitals</strong>") enthalten implicite eine Auflösung <strong>des</strong><br />

<strong>Akkumulation</strong>sproblems, die sich mit den übrigen Teilen der Marxschen Lehre wie mit der historischen<br />

Erfahrung und der täglichen Praxis <strong>des</strong> Kapitalismus in <strong>Ein</strong>klang befindet, und geben somit die<br />

Möglichkeit, das Unzureichende <strong>des</strong> Schemas zu ergänzen. Das Schema der erweiterten Reproduktion<br />

weist bei näherem Zusehen selbst in allen seinen Beziehungen über sich hinaus auf Verhältnisse, die<br />

außerhalb der kapitalistischen Produktion und <strong>Akkumulation</strong> liegen.<br />

Wir haben bis jetzt die erweiterte Reproduktion nur von einer Seite betrachtet, nämlich von der Frage<br />

aus: Wie wird der Mehrwert realisiert? <strong>Die</strong>s war die Schwierigkeit, mit der sich die Skeptiker bis jetzt<br />

ausschließlich beschäftigten. <strong>Die</strong> Realisierung <strong>des</strong> Mehrwerts ist in der Tat die Lebensfrage der<br />

kapitalistischen <strong>Akkumulation</strong>. Sehen wir der <strong>Ein</strong>fachheit halber ganz von dem Konsumtionsfonds der<br />

Kapitalisten ab, so erfordert die Realisierung <strong>des</strong> Mehrwerts als erste Bedingung einen Kreis von<br />

Abnehmern außerhalb der kapitalistischen Gesellschaft. Wir sagen: von Abnehmern und nicht: von<br />

Konsumenten. Denn die Realisierung <strong>des</strong> Mehrwerts besagt von vornherein gar nichts über die<br />

Sachgestalt <strong>des</strong> Mehrwerts. Das Entscheidende ist, daß der Mehrwert weder durch Arbeiter noch durch<br />

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Kapitalisten realisiert werden kann, sondern durch Gesellschaftsschichten oder Gesellschaften, die selbst<br />

nicht kapitalistisch produzieren. Es sind dabei zwei verschiedene Fälle denkbar. <strong>Die</strong> kapitalistische<br />

Produktion liefert Konsumtionsmittel über den eigenen (der Arbeiter und Kapitalisten) Bedarf<br />

hinaus, deren Abnehmer nichtkapitalistische Schichten und Länder sind. Z.B. die englische<br />

Baumwollindustrie lieferte während der ersten zwei Drittel <strong>des</strong> 19. Jahrhunderts (und liefert zum Teil<br />

jetzt) Baumwollstoffe an das Bauerntum und städtische Kleinbürgertum auf dem europäischen<br />

Kontinent, ferner an das Bauerntum in Indien, Amerika, Afrika usw. Hier war es die Konsumtion<br />

nichtkapitalistischer Schichten und Länder, die für die enorme Erweiterung der Baumwollindustrie in<br />

England die Basis bildete.(3) Für diese Baumwollindustrie aber entwickelte sich in England selbst eine<br />

ausgedehnte Maschinenindustrie, die Spindeln und Webstühle lieferte, ferner im Anschluß daran die<br />

Metall und Kohlenindustrie usw. In diesem Fall realisierte die Abteilung II (Konsumtionsmittel) in<br />

steigendem Maße ihre Produkte in außerkapitalistischen Gesellschaftsschichten, wobei sie ihrerseits<br />

durch die eigene <strong>Akkumulation</strong> eine steigende Nachfrage nach den einheimischen Produkten der<br />

Abteilung I (Produktionsmittel) schuf und dadurch dieser Abteilung zur Realisierung <strong>des</strong> Mehrwerts und<br />

zur steigenden <strong>Akkumulation</strong> verhalf.<br />

Nehmen wir den umgekehrten Fall. <strong>Die</strong> kapitalistische Produktion liefert Produktionsmittel über den<br />

eigenen Bedarf hinaus und findet Abnehmer in nichtkapitalistischen Ländern. Z.B. die englische<br />

Industrie lieferte in der ersten Hälfte <strong>des</strong> 19. Jahrhunderts Konstruktionsmaterial zum Eisenbahnbau in<br />

den amerikanischen und australischen Staaten. Der Eisenbahnbau bedeutet an sich noch lange nicht die<br />

Herrschaft der kapitalistischen Produktionsweise in einem Lande. Tatsächlich waren die Eisenbahnen<br />

selbst in diesen Fällen nur eine der ersten Voraussetzungen für den <strong>Ein</strong>zug der kapitalistischen<br />

Produktion. Oder die deutsche chemische Industrie liefert Produktionsmittel, wie Farbstoffe, die<br />

massenhaft Absatz finden in nicht kapitalistisch produzierenden Ländern in Asien, Afrika usw.(4)<br />

Hier realisiert die Abteilung I der kapitalistischen Produktion ihre Produkte in außerkapitalistischen<br />

Kreisen. <strong>Die</strong> daraus entstehende fortschreitende Erweiterung der Abteilung I ruft im Lande der<br />

kapitalistischen Produktion eine entsprechende Erweiterung der Abteilung II hervor, die für die<br />

wachsende Armee der Arbeiter der Abteilung I Konsumtionsmittel liefert.<br />

Jeder dieser Fälle unterscheidet sich von dem Marxschen Schema. In dem einen Fall übersteigt das<br />

Produkt der Abteilung II die Bedürfnisse der beiden Abteilungen, gemessen an variablem Kapital und<br />

dem konsumierten Teil <strong>des</strong> Mehrwerts beider; im zweiten Fall übersteigt das Produkt der Abteilung I die<br />

Größe <strong>des</strong> konstanten <strong>Kapitals</strong> beider Abteilungen, auch unter Berücksichtigung seiner Vergrößerung zu<br />

Zwecken der Erweiterung der Produktion. In beiden Fällen kommt der Mehrwert nicht in der<br />

Naturalgestalt zur Welt, die seine Kapitalisierung innerhalb einer der beiden Abteilungen ermöglichen<br />

und bedingen würde. - In Wirklichkeit kreuzen sich die beiden typischen Fälle auf jedem Schritte,<br />

ergänzen einander und schlagen ineinander um.<br />

<strong>Ein</strong> Punkt scheint dabei unklar. Wenn z.B. ein Überschuß an Konsummitteln, sagen wir<br />

Baumwollstoffen, in nichtkapitalistischen Kreisen abgesetzt wird, so ist es klar, daß diese<br />

Baumwollstoffe als kapitalistische Ware nicht bloß Mehrwert, sondern konstantes und variables Kapital<br />

repräsentieren. Es scheint ganz willkürlich anzunehmen, gerade diese außerhalb der kapitalistischen<br />

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Gesellschaftskreise abgesetzten Waren repräsentieren nichts als Mehrwert. Andererseits stellt sich<br />

heraus, daß in diesem Falle auch die andere Abteilung (I) nicht bloß ihren Mehrwert realisiert, sondern<br />

auch akkumulieren kann, ohne jedoch ihr Produkt außerhalb der beiden Abteilungen der kapitalistischen<br />

Produktion abzusetzen. Beide <strong>Ein</strong>wände sind in<strong>des</strong> nur scheinbar, sie erledigen sich durch die<br />

proportionelle Wertdarstellung der Produktmasse in ihren entsprechenden Teilen. Unter der<br />

kapitalistischen Produktion enthält nicht bloß das Gesamtprodukt, sondern auch jede einzelne Ware<br />

Mehrwert. Das hindert aber nicht, daß, wie der <strong>Ein</strong>zelkapitalist beim sukzessiven Verkauf seiner<br />

speziellen Warenmasse, erst den Ersatz seines ausgelegten konstanten <strong>Kapitals</strong>, dann <strong>des</strong> variablen<br />

<strong>Kapitals</strong> (oder unrichtiger, aber der Praxis entsprechend: erst seines fixen, dann seines zirkulierenden<br />

<strong>Kapitals</strong>) berechnet, um den Resterlös als seinen Profit zu buchen, auch das gesellschaftliche<br />

Gesamtprodukt in drei proportionelle Teile abgesondert werden kann, die ihrem Werte nach dem<br />

in der Gesellschaft verbrauchten konstanten Kapital, dem variablen Kapital und dem ausgepreßten<br />

Mehrwert entsprechen. Bei der einfachen Reproduktion entspricht diesen Wertproportionen auch die<br />

sachliche Gestalt <strong>des</strong> Gesamtprodukts: Das konstante Kapital erscheint in Gestalt von Produktionsmitteln<br />

wieder, das variable in Gestalt von Lebensmitteln für Arbeiter, der Mehrwert in Gestalt von<br />

Lebensmitteln für Kapitalisten. In<strong>des</strong> ist die einfache Reproduktion in diesem kategorischen Sinne -<br />

Verzehr <strong>des</strong> ganzen Mehrwerts durch die Kapitalisten -, wie wir wissen, theoretische Fiktion. Was die<br />

erweiterte Reproduktion oder <strong>Akkumulation</strong> betrifft, so besteht nach dem Marxschen Schema auch hier<br />

eine strenge Proportionalität zwischen der Wertzusammensetzung <strong>des</strong> gesellschaftlichen Produkts und<br />

seiner sachlichen Gestalt: Der Mehrwert kommt in seinem zur Kapitalisierung bestimmten Teil von<br />

vornherein in der proportionellen <strong>Ein</strong>teilung von sachlichen Produktionsmitteln und Lebensmitteln für<br />

Arbeiter zur Welt, die der Erweiterung der Produktion auf gegebener technischer Basis entsprechen.<br />

<strong>Die</strong>se Auffassung, die auf der Selbstgenügsamkeit und Isoliertheit der kapitalistischen Produktion fußt,<br />

scheitert jedoch, wie wir gesehen, schon an der Realisierung <strong>des</strong> Mehrwerts. Nehmen wir aber an, der<br />

Mehrwert werde außerhalb der kapitalistischen Produktion realisiert, so ist damit gegeben, daß seine<br />

sachliche Gestalt mit den Bedürfnissen der kapitalistischen Produktion selbst nichts zu tun hat. Seine<br />

sachliche Gestalt entspricht den Bedürfnissen jener nichtkapitalistischen Kreise, die ihn realisieren<br />

helfen. Der kapitalistische Mehrwert kann <strong>des</strong>halb - je nachdem in Form von Konsumtionsmitteln, so<br />

z.B. als Baumwollstoffe, oder in Form von Produktionsmitteln, so z.B. als Eisenbahnmaterial, zur Welt<br />

kommen. Daß dabei dieser in Gestalt von Produkten der einen Abteilung realisierte Mehrwert bei der<br />

darauffolgenden Produktionserweiterung auch den Mehrwert der anderen Abteilung realisieren hilft,<br />

ändert nichts an der Tatsache, daß der gesellschaftliche Mehrwert als Ganzes zum Teil direkt, zum Teil<br />

indirekt außerhalb der beiden Abteilungen realisiert worden ist. <strong>Die</strong>se Tatsache fällt unter denselben<br />

Gesichtspunkt unter dem der <strong>Ein</strong>zelkapitalist seinen Mehrwert realisieren kann, auch wenn seine ganze<br />

Ware nur erst das variable oder das konstante Kapital eines anderen Kapitalisten ersetzt.<br />

<strong>Die</strong> Realisierung <strong>des</strong> Mehrwerts ist in<strong>des</strong> nicht das einzige Moment der Reproduktion, auf das es<br />

ankommt. Nehmen wir an, die Abteilung I habe den Mehrwert auswärts (außerhalb der beiden<br />

Abteilungen) abgesetzt und könnte die <strong>Akkumulation</strong> ins Werk setzen. Nehmen wir ferner an, sie <br />

habe Aussicht auf neue Vergrößerung <strong>des</strong> Absatzes in jenen Kreisen. Damit ist jedoch erst die Hälfte der<br />

Bedingungen zur <strong>Akkumulation</strong> gegeben. Zwischen Lipp' und Kelchesrand kann noch manches<br />

passieren. Jetzt stellt sich nämlich als zweite Voraussetzung der <strong>Akkumulation</strong> die Notwendigkeit ein,<br />

entsprechende sachliche Elemente der Produktionserweiterung vorzufinden. Wo nehmen wir die her, da<br />

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wir soeben das Mehrprodukt gerade in Gestalt der Produkte I, d.h. als Produktionsmittel, in Geld<br />

verwandelt, und zwar außerhalb der kapitalistischen Produktion abgesetzt haben? <strong>Die</strong> Transaktion, die<br />

uns zur Realisierung <strong>des</strong> Mehrwerts verholfen, hat uns gleichsam durch die andere Tür die<br />

Voraussetzungen zur Verwandlung dieses realisierten Mehrwerts in die Gestalt <strong>des</strong> produktiven <strong>Kapitals</strong><br />

entführt. Und so scheint es, daß wir vom Regen in die Traufe gekommen sind. Sehen wir näher zu.<br />

Wir operieren hier mit dem c sowohl in der Abteilung I wie in der Abteilung II, wie wenn es der gesamte<br />

konstante Kapitalteil der Produktion wäre. <strong>Die</strong>s ist aber, wie wir wissen, falsch. Nur der <strong>Ein</strong>fachheit <strong>des</strong><br />

Schemas halber ist hier davon abgesehen worden, daß das c, welches in der I. und II. Abteilung <strong>des</strong><br />

Schemas figuriert, bloß ein Teil <strong>des</strong> gesamten konstanten <strong>Kapitals</strong> ist, nämlich der jährlich zirkulierende,<br />

in der Produktionsperiode aufgezehrte, auf die Produkte übertragene Teil. Es wäre aber total absurd,<br />

anzunehmen, die kapitalistische Produktion (und auch jede beliebige) würde in jeder Produktionsperiode<br />

ihr gesamtes konstantes Kapital aufbrauchen und es in jeder Periode von neuem schaffen. Im Gegenteil,<br />

im Hintergrund der Produktion, wie sie im Schema dargestellt, ist die ganze große Masse von<br />

Produktionsmitteln vorausgesetzt, deren periodische Gesamterneuerung im Schema durch die jährliche<br />

Erneuerung <strong>des</strong> aufgebrauchten Teils angedeutet ist. Mit der Steigerung der Produktivität der Arbeit und<br />

der Erweiterung <strong>des</strong> Produktionsumfangs wächst diese Masse nicht nur absolut, sondern auch relativ zu<br />

dem Teil, der jeweilig in der Produktion konsumiert wird. Damit wächst aber auch die potentielle<br />

Wirksamkeit <strong>des</strong> konstanten <strong>Kapitals</strong>. Für die Erweiterung der Produktion kommt zunächst die stärkere<br />

Anspannung dieses Teils <strong>des</strong> konstanten <strong>Kapitals</strong> ohne <strong>des</strong>sen direkte Wertvergrößerung in Betracht.<br />

"In der extraktiven Industrie, den Bergwerken z.B., bilden die Rohstoffe keinen Bestandteil <strong>des</strong><br />

Kapitalvorschusses. Der Arbeitsgegenstand ist hier nicht Produkt vorhergegangner Arbeit, sondern von<br />

der Natur gratis geschenkt. So Metallerz, Minerale, Steinkohlen, Steine etc. Hier besteht das konstante<br />

Kapital fast ausschließlich in Arbeitsmitteln, die ein vermehrtes Arbeitsquantum sehr gut vertragen<br />

können (Tag- und Nacht- schicht von Arbeitern z.B.). Alle andern Umstände gleichgesetzt, wird<br />

aber Masse und Wert <strong>des</strong> Produkts steigen in direktem Verhältnis der angewandten Arbeit. Wie am<br />

ersten Tag der Produktion, gehn hier die ursprünglichen Produktionsbildner, daher auch die Bildner der<br />

stofflichen Elemente <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, Mensch und Natur, zusammen. Dank der Elastizität der Arbeitskraft<br />

hat sich das Gebiet der <strong>Akkumulation</strong> erweitert ohne vorherige Vergrößerung <strong>des</strong> konstanten <strong>Kapitals</strong>.<br />

In der Agrikultur kann man das bebaute Land nicht ausdehnen ohne Vorschuß von zusätzlichem Samen<br />

und Dünger. Aber dieser Vorschuß einmal gemacht, übt selbst die rein mechanische Bearbeitung <strong>des</strong><br />

Bodens eine wundertätige Wirkung auf die Massenhaftigkeit <strong>des</strong> Produkts. <strong>Ein</strong>e größere Arbeitsmenge,<br />

geleistet von der bisherigen Anzahl Arbeiter, steigert so die Fruchtbarkeit, ohne neuen Vorschuß an<br />

Arbeitsmitteln zu erfordern. Es ist wieder direkte Wirkung <strong>des</strong> Menschen auf die Natur, welche zur<br />

unmittelbaren Quelle gesteigerter <strong>Akkumulation</strong> wird, ohne Dazwischenkunft eines neuen <strong>Kapitals</strong>.<br />

Endlich in der eigentlichen Industrie setzt jede zusätzliche Ausgabe an Arbeit eine entsprechende<br />

Zusatzausgabe an Rohstoffen voraus, aber nicht notwendig auch an Arbeitsmitteln. Und da die extraktive<br />

Industrie und Agrikultur der fabrizierenden Industrie ihre eignen Rohstoffe und die ihrer Arbeitsmittel<br />

liefern, kommt dieser auch der Produktenzuschuß zugute, den jene ohne zusätzlichen Kapitalzuschuß<br />

erzeugt haben.<br />

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Allgemeines Resultat: Indem das Kapital sich die beiden Urbildner <strong>des</strong> Reichtums, Arbeitskraft und<br />

Erde, einverleibt, erwirbt es eine Expansionskraft, die ihm erlaubt, die Elemente seiner <strong>Akkumulation</strong><br />

auszudehnen jenseits der scheinbar durch seine eigne Größe gesteckten Grenzen, gesteckt durch den<br />

Wert und die Masse der bereits produzierten Produktionsmittel, in denen es sein Dasein hat."(5)<br />

Ferner aber ist es gar nicht einzusehen, weshalb alle erforderlichen Produktionsmittel und Konsummittel<br />

nur kapitalistisch hergestellt werden müßten. Gerade diese Annahme liegt zwar dem Marxschen Schema<br />

der <strong>Akkumulation</strong> zugrunde, sie entspricht aber weder der täglichen Praxis und der Geschichte <strong>des</strong><br />

<strong>Kapitals</strong> noch dem spezifischen Charakter dieser Produktionsweise. In der ersten Hälfte <strong>des</strong> 19.<br />

Jahrhunderts kam der Mehrwert in England zu einem großen Teil in Gestalt von Baumwollstoffen aus<br />

dem Produktionsprozeß hervor. <strong>Die</strong> sachlichen Elemente seiner Kapitalisierung aber stellten ihrerseits als<br />

Rohbaumwolle aus den Sklavenstaaten der amerikanischen Union oder als Getreide (Lebensmittel<br />

für die englischen Arbeiter) aus den Gefilden <strong>des</strong> leibeigenen Rußlands zwar sicher Mehrprodukt, aber<br />

durchaus nicht kapitalistischen Mehrwert dar. Wie sehr die kapitalistische <strong>Akkumulation</strong> von diesen<br />

nichtkapitalistisch produzierten Produktionsmitteln abhängig ist, beweist die Baumwollkrisis in England<br />

infolge der Unterbrechung der Plantagenkultur durch den amerikanischen Sezessionskrieg oder die Krisis<br />

in der europäischen Leinwandweberei infolge der Unterbrechung der Zufuhr von Flachs aus dem<br />

leibeigenen Rußland durch den Orientkrieg. Man braucht sich im übrigen nur an die Rolle zu erinnern,<br />

welche die Zufuhr <strong>des</strong> bäuerlichen, also nicht kapitalistisch produzierten Getrei<strong>des</strong> für die Ernährung der<br />

Masse der Industriearbeiter in Europa (d.h. als Element <strong>des</strong> variablen <strong>Kapitals</strong>) spielt, um einzusehen,<br />

wie sehr die Kapitalakkumulation in ihren sachlichen Elementen tatsächlich an nichtkapitalistische<br />

Kreise gebunden ist.<br />

Der Charakter selbst der kapitalistischen Produktion schließt übrigens die Beschränkung auf<br />

kapitalistisch produzierte Produktionsmittel aus. <strong>Ein</strong> wesentliches Mittel im Drange <strong>des</strong> <strong>Ein</strong>zelkapitals<br />

nach Erhöhung der Profitrate ist das Bestreben nach Verbilligung der Elemente <strong>des</strong> konstanten <strong>Kapitals</strong>.<br />

<strong>Die</strong> unaufhörliche Steigerung der Produktivität der Arbeit andererseits als die wichtigste Methode zur<br />

Steigerung der Mehrwertrate schließt die schrankenlose Nutzbarmachung aller von der Natur und der<br />

Erde zur Verfügung gestellten Stoffe und Bedingungen ein und ist an eine solche gebunden. Das Kapital<br />

verträgt in dieser Hinsicht seinem Wesen und seiner Daseinsweise nach keine <strong>Ein</strong>schränkung. <strong>Die</strong><br />

kapitalistische Produktionsweise als solche umfaßt bis jetzt, nach mehreren Jahrhunderten ihrer<br />

Entwicklung, erst noch einen Bruchteil der Gesamtproduktion der Erde, ihr Sitz ist bisher vorzugsweise<br />

das kleine Europa, in dem sie auch noch ganzer Gebiete - wie der bäuerlichen Landwirtschaft, <strong>des</strong><br />

selbständigen Handwerks - und großer Landstrecken nicht Herr geworden ist, ferner große Teile<br />

Nordamerikas und einzelne Strecken auf dem Kontinent der übrigen Weltteile. Im allgemeinen ist die<br />

kapitalistische Produktionsweise bisher vorwiegend auf das Gewerbe in den Ländern der <br />

gemäßigten Zone beschränkt, während sie z.B. im Orient und im Süden verhältnismäßig geringe<br />

Fortschritte gemacht hat. Wäre sie demnach ausschließlich auf die in diesen engen Grenzen erreichbaren<br />

Produktionselemente angewiesen, dann wäre ihre jetzige Höhe, ja ihre Entwicklung überhaupt eine<br />

Unmöglichkeit gewesen. <strong>Die</strong> kapitalistische Produktion ist von Anbeginn in ihren Bewegungsformen<br />

und -gesetzen auf die gesamte Erde als Schatzkammer der Produktivkräfte berechnet. In seinem Drange<br />

nach Aneignung der Produktivkräfte zu Zwecken der Ausbeutung durchstöbert das Kapital die ganze<br />

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Welt, verschafft sich Produktionsmittel aus allen Winkeln der Erde, errafft oder erwirbt sie von allen<br />

Kulturstufen und Gesellschaftsformen. <strong>Die</strong> Frage nach den sachlichen Elementen der<br />

Kapitalakkumulation, weit entfernt, durch die sachliche Gestalt <strong>des</strong> kapitalistisch produzierten<br />

Mehrwerts bereits gelöst zu sein, verwandelt sich vielmehr in eine ganz andere Frage: Zur produktiven<br />

Verwendung <strong>des</strong> realisierten Mehrwerts ist erforderlich, daß das Kapital fortschreitend immer mehr den<br />

gesamten Erdball zur Verfügung hat, um in seinen Produktionsmitteln quantitativ und qualitativ<br />

unumschränkte Auswahl zu haben.<br />

Plötzliche Inangriffnahme neuer Rohstoffgebiete in unumschränktem Maße, sowohl um allen eventuellen<br />

Wechselfällen und Unterbrechungen in der Zufuhr der Rohstoffe aus alten Quellen wie allen plötzlichen<br />

Erweiterungen <strong>des</strong> gesellschaftlichen Bedarfs gewachsen zu sein, ist eine der unumgänglichsten<br />

Vorbedingungen <strong>des</strong> <strong>Akkumulation</strong>sprozesses in seiner Elastizität und Sprunghaftigkeit. Als der<br />

Sezessionskrieg die Zufuhr der amerikanischen Baumwolle nach England unterbrochen und im Distrikte<br />

Lancashire den berühmten "Baumwollhunger" hervorgerufen hatte, entstanden wie durch Zauber in<br />

kürzester Zeit neue gewaltige Baumwollplantagen in Ägypten. Hier war es die orientalische Despotie,<br />

verbunden mit dem uralten Fronverhältnis, die dem europäischen Kapital das Wirkungsgebiet geschaffen<br />

hatte. Nur das Kapital mit seinen technischen Mitteln vermag solche wunderbaren Umwälzungen in so<br />

kurzer Frist hervorzuzaubern. Aber nur auf vorkapitalistischem Boden primitiverer sozialer Verhältnisse<br />

vermag es solche Kommandogewalt über sachliche und menschliche Produktivkräfte zu entfalten, die zu<br />

jenen Wundern gehören. <strong>Ein</strong> anderes Beispiel dieser Art ist die enorme Steigerung <strong>des</strong> Weltverbrauchs<br />

an Kautschuk, der gegenwärtig einer regelmäßigen Lieferung von Rohgummi im Werte von einer<br />

Milliarde Mark jährlich gleichkommt. <strong>Die</strong> wirtschaftliche Basis dieser Rohstofferzeugung sind die vom<br />

europäischen Kapital praktizierten primitiven Ausbeutungssysteme in den afrikanischen Kolonien<br />

sowie in Amerika, die verschiedene Kombinationen von Sklaverei und Fronverhältnis darstellen.(6)<br />

Wohlgemerkt muß hervorgehoben werden, daß, wenn wir oben annahmen, die erste oder die zweite<br />

Abteilung realisiere im nichtkapitalistischen Milieu nur ihr Mehrprodukt, wir dabei den für die<br />

Nachprüfung <strong>des</strong> Marxschen Schemas günstigsten Fall nahmen, der die Beziehungen der Reproduktion<br />

in ihrer Reinheit zeigt. In Wirklichkeit zwingt uns nichts zu der Annahme, daß nicht auch ein Teil <strong>des</strong><br />

konstanten und variablen <strong>Kapitals</strong> im Produkt der entsprechenden Abteilung außerhalb der<br />

kapitalistischen Kreise realisiert wird. Hintennach mag sowohl die Erweiterung der Produktion wie auch<br />

zum Teil die Erneuerung der verbrauchten Produktionselemente in ihrer Sachgestalt durch Produkte<br />

nichtkapitalistischer Kreise vorgenommen werden. Was durch die obigen Beispiele klargemacht werden<br />

sollte, ist die Tatsache, daß zum min<strong>des</strong>ten der zu kapitalisierende Mehrwert und der ihm entsprechende<br />

Teil der kapitalistischen Produktenmasse unmöglich innerhalb der kapitalistischen Kreise realisiert<br />

werden kann und unbedingt außerhalb dieser Kreise, in nichtkapitalistisch produzierenden<br />

Gesellschaftsschichten und -formen, seine Abnehmer suchen muß.<br />

So liegen zwischen je einer Produktionsperiode, in der Mehrwert produziert, und der darauffolgenden<br />

<strong>Akkumulation</strong>, in der er kapitalisiert wird, zwei verschiedene Transaktionen - die Verwandlung <strong>des</strong><br />

Mehrwerts in seine reine Wertform, die Realisierung, und die Verwandlung dieser reinen Wertgestalt in<br />

produktive Kapitalgestalt -, die beide zwischen der kapitalistischen Produktion und der sie umgebenden<br />

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nichtkapitalistischen Welt vor sich gehen. So ist von beiden Standpunkten: der Realisierung <strong>des</strong><br />

Mehrwerts wie der Beschaffung der Elemente <strong>des</strong> konstanten <strong>Kapitals</strong>, von vornherein der Weltverkehr<br />

eine historische Existenzbedingung <strong>des</strong> Kapitalismus, Weltverkehr der in den gegebenen konkreten<br />

Verhältnissen wesentlich ein Austausch zwischen der kapitalistischen und den nichtkapitalistischen<br />

Produktionsformen ist.<br />

Bis jetzt haben wir die <strong>Akkumulation</strong> nur vom Standpunkt <strong>des</strong> Mehrwerts und <strong>des</strong> konstanten <strong>Kapitals</strong><br />

betrachtet. Das dritte grundlegende Moment der <strong>Akkumulation</strong> ist das variable Kapital. <strong>Die</strong><br />

fortschreitende <strong>Akkumulation</strong> ist begleitet von zunehmendem variablem Kapital. Im Marxschen Schema<br />

erscheint als seine entsprechende sachliche Gestalt im gesellschaftlichen Produkt eine wachsende Menge<br />

von Lebensmitteln für die Arbeiter. Das wirkliche variable Kapital sind aber nicht die Lebensmittel der<br />

Arbeiter, sondern die lebendige Arbeitskraft, für deren Reproduktion die Lebensmittel notwendig sind.<br />

Zu den Grundbedingungen der <strong>Akkumulation</strong> gehört also eine ihren Bedürfnissen angepaßte Zufuhr<br />

lebendiger Arbeit, die vom Kapital in Bewegung gesetzt wird. Zum Teil wird die Vergrößerung dieser<br />

Menge - soweit die Verhältnisse erlauben - durch Verlängerung <strong>des</strong> Arbeitstages und Intensivierung der<br />

Arbeit erreicht. Allein in beiden Fällen äußert sich diese Vermehrung der lebendigen Arbeit nicht oder<br />

nur in geringem Maße (als Überstundenlohn) im Wachstum <strong>des</strong> variablen <strong>Kapitals</strong>. Beide Methoden<br />

linden außerdem teils in natürlichen, teils in sozialen Widerständen ihre bestimmten, ziemlich engen<br />

Schranken, über die sie nicht hinausgehen können. Das fortschreitende Wachstum <strong>des</strong> variablen <strong>Kapitals</strong>,<br />

das die <strong>Akkumulation</strong> begleitet, muß also in einer zunehmenden Zahl beschäftigter Arbeitskräfte<br />

Ausdruck finden. Wo kommen diese zuschüssigen Arbeitskräfte her?<br />

Bei der Analyse der <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Ein</strong>zelkapitals beantwortet Marx die Frage folgendermaßen: "Um<br />

nun diese Bestandteile tatsächlich als Kapital fungieren zu lassen, bedarf die Kapitalistenklasse eines<br />

Zuschusses von Arbeit. Soll nicht die Ausbeutung der schon beschäftigten Arbeiter extensiv oder<br />

intensiv wachsen, so müssen zusätzliche Arbeitskräfte eingestellt werden. Dafür hat der Mechanismus<br />

der kapitalistischen Produktion ebenfalls schon gesorgt, indem er die Arbeiterklasse reproduziert als vom<br />

Arbeitslohn abhängige Klasse, deren gewöhnlicher Lohn hinreicht, nicht nur ihre Erhaltung zu sichern,<br />

sondern auch ihre Vermehrung. <strong>Die</strong>se ihm durch die Arbeiterklasse auf verschiednen Altersstufen<br />

jährlich gelieferten zuschüssigen Arbeitskräfte braucht das Kapital nur noch den in der Jahresproduktion<br />

schon enthaltnen zuschüssigen Produktionsmitteln einzuverleiben, und die Verwandlung <strong>des</strong> Mehrwerts<br />

in Kapital ist fertig."(7) Hier wird der Zuwachs <strong>des</strong> variablen <strong>Kapitals</strong> lediglich und direkt auf die<br />

natürliche Vermehrung der bereits vom Kapital kommandierten Arbeiterklasse durch Fortpflanzung<br />

reduziert. <strong>Die</strong>s entspricht auch genau dem Schema der erweiterten Reproduktion, das nach der<br />

Marxschen Voraussetzung die Kapitalisten und Arbeiter als einzige Gesellschaftsklassen, die<br />

kapitalistische Produktion als einzige und absolute Produktionsweise kennt. Unter diesen<br />

Voraussetzungen ist die natürliche Fortpflanzung der Arbeiterklasse die einzige Quelle der Vermehrung<br />

der vorhandenen Arbeitskräfte unter dem Kommando <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>. In<strong>des</strong> widerspricht diese Auffassung<br />

den Bewegungsgesetzen der <strong>Akkumulation</strong>. <strong>Die</strong> natürliche Fortpflanzung der Arbeiter steht weder<br />

zeitlich noch quantitativ im Verhältnis zu den Bedürfnissen <strong>des</strong> akkumulierenden <strong>Kapitals</strong>. Insbesondere<br />

vermag sie nicht, wie Marx das selbst glänzend dargelegt hat, mit den plötzlichen<br />

Expansionsbedürfnissen <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong> Schritt zu halten. <strong>Die</strong> natürliche Fortpflanzung der Arbeiterklasse<br />

als einzige Basis der Bewegungen <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong> würde den Fortgang der <strong>Akkumulation</strong> in periodischem<br />

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Wechsel der Überspannung und der Ermattung sowie in sprungweiser Ausdehnung <strong>des</strong><br />

Produktionsfel<strong>des</strong> ausschließen und damit die <strong>Akkumulation</strong> selbst unmöglich machen. Letztere<br />

erfordert ebenso schrankenlose Bewegungsfreiheit in bezug auf das Wachstum <strong>des</strong> variablen <strong>Kapitals</strong><br />

wie in bezug auf die Elemente <strong>des</strong> konstanten <strong>Kapitals</strong>, also schrankenlose Verfügungsmöglichkeit über<br />

die Zufuhr von Arbeitskraft. Nach der Marxschen Analyse findet dieses Erfordernis einen exakten<br />

Ausdruck in der Bildung der "industriellen Reservearmee der Arbeiter". Das Marxsche Schema der<br />

erweiterten Reproduktion kennt freilich eine solche nicht und läßt auch keinen Raum für sie übrig. <strong>Die</strong><br />

industrielle Reservearmee kann nämlich durch die natürliche Fortpflanzung <strong>des</strong> kapitalistischen<br />

Lohnproletariats nicht gebildet werden. Sie muß andere soziale Reservoirs haben, aus denen ihr die<br />

Arbeitskraft zufließt - Arbeitskraft, die bis dahin noch nicht unter dem Kommando <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong> stand<br />

und erst nach Bedarf dem Lohnproletariat zugefügt wird. <strong>Die</strong>se zuschüssigen Arbeitskräfte kann die<br />

kapitalistische Produktion nur aus nichtkapitalistischen Schichten und Ländern ständig beziehen. In<br />

seiner Analyse der industriellen Re- servearmee (Das Kapital, Band I, Kapitel 23, 3) [Karl Marx:<br />

Das Kapital, Erster Band. In: Karl Marx/Friedrich Engels: Werke, Bd. 23, S.650-677.] berücksichtigt<br />

Marx freilich nur 1. die Verdrängung älterer Arbeiter durch die Maschinerie, 2. den Zuzug ländlicher<br />

Arbeiter in die Stadt als Folge der Herrschaft der kapitalistischen Produktion in der Agrikultur, 3. die von<br />

der Industrie ausrangierten Arbeitskräfte mit unregelmäßiger Beschäftigung, endlich 4. als den tiefsten<br />

Niederschlag der relativen Übervölkerung - den Pauperismus. Alle diese Kategorien stellen in<br />

verschiedener Form selbst schon Ausscheidungsprodukte der kapitalistischen Produktion dar, in dieser<br />

oder jener Form verbrauchte und überzählig gemachte Lohnproletarier. Auch die in die Stadt ständig<br />

ziehenden Landarbeiter sind bei Marx Lohnproletarier, die früher schon unter dem Kommando <strong>des</strong><br />

agrikolen <strong>Kapitals</strong> standen und nunmehr bloß unter die Botmäßigkeit <strong>des</strong> industriellen <strong>Kapitals</strong> kommen.<br />

Marx hatte dabei augenscheinlich englische Verhältnisse auf hoher Stufe der kapitalistischen<br />

Entwicklung im Auge. Hingegen behandelt er in diesem Zusammenhang nicht die Frage, woher dieses<br />

städtische und ländliche Proletariat beständig zufließt, berücksichtigt nicht die in den europäischen<br />

Verhältnissen <strong>des</strong> Kontinents wichtigste Quelle dieses Zuflusses: die ständige Proletarisierung der<br />

ländlichen und städtischen Mittelschichten, den Verfall der bäuerlichen Wirtschaft und <strong>des</strong><br />

handwerksmäßigen Kleingewerbes, also gerade den ständigen Übergang der Arbeitskräfte aus<br />

nichtkapitalistischen Verhältnissen in kapitalistische, als Ausscheidungsprodukt nicht der<br />

kapitalistischen, sondern vorkapitalistischer Produktionsweisen in dem fortschreitenden Prozeß ihres<br />

Zusammenbruchs und ihrer Auflösung. Hierher gehört aber nicht bloß die Zersetzung der europäischen<br />

Bauernwirtschaft und <strong>des</strong> Handwerks, sondern auch die Zersetzung der verschiedensten primitiven<br />

Produktions- und Gesellschaftsformen in außereuropäischen Ländern.<br />

Sowenig die kapitalistische Produktion sich auf die Naturschätze und Produktivkräfte der gemäßigten<br />

Zone beschränken kann, vielmehr zu ihrer Entfaltung der Verfügungsmöglichkeit über alle Erdstriche<br />

und Klimate bedarf, sowenig kann sie mit der Arbeitskraft der weißen Rasse allein auskommen. Das<br />

Kapital braucht zur Nutzbarmachung von Erdstrichen, in denen die weiße Rasse arbeitsunfähig ist,<br />

andere Rassen, es braucht überhaupt die unumschränkte Verfügungsmöglichkeit über alle Arbeitskräfte<br />

<strong>des</strong> Erdrunds, um mit ihnen alle Produktivkräfte der Erde - soweit dies in den Schranken der<br />

Mehrwertproduktion möglich - mobil zu machen. <strong>Die</strong>se Arbeitskräfte findet es aber meist in festen<br />

Banden überkommener vorkapitalistischer Produktionsverhältnisse, aus denen sie erst "befreit" <br />

werden müssen, um in die tätige Armee <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong> enrolliert zu werden. Der Prozeß der Ausscheidung<br />

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der Arbeitskräfte aus primitiven sozialen Verhältnissen und ihr Aufsaugen durch das kapitalistische<br />

Lohnsystem ist eine der unumgänglichen historischen Grundlagen <strong>des</strong> Kapitalismus. <strong>Die</strong> englische<br />

Baumwollindustrie als erster echt kapitalistischer Produktionszweig wäre unmöglich nicht bloß ohne die<br />

Baumwolle der Südstaaten der nordamerikanischen Union, sondern auch ohne die Millionen<br />

Afrikaneger, die nach Amerika verpflanzt wurden, um die Arbeitskräfte für die Plantagen zu liefern, und<br />

nach dem Sezessionskriege als freies Proletariat der kapitalistischen Lohnarbeiterklasse zugewachsen<br />

sind.(8) <strong>Die</strong> Wichtigkeit <strong>des</strong> Bezuges von erforderlichen Arbeitskräften aus nichtkapitalistischen<br />

Gesellschaften wird dem Kapital sehr fühlbar in der Form der sogenannten Arbeiterfrage in den<br />

Kolonien. Der Lösung dieser Frage dienen alle möglichen Methoden der "sanften Gewalt", um die<br />

anderen sozialen Autoritäten und Produktionsbedingungen untergeordneten Arbeitskräfte von diesen<br />

loszulösen und dem Kommando <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong> zu unterstellen. Aus diesem Bestreben ergeben sich in den<br />

Kolonialländern die seltsamsten Mischformen zwischen modernem Lohnsystem und primitiven<br />

Herrschaftsverhältnissen.(9) <strong>Die</strong>se illustrieren handgreiflich die Tat- sache, daß die kapitalistische<br />

Produktion ohne Arbeitskräfte aus anderen sozialen Formationen nicht auszukommen vermag.<br />

Marx behandelt freilich eingehend sowohl den Prozeß der Aneignung nichtkapitalistischer<br />

Produktionsmittel wie den Prozeß der Verwandlung <strong>des</strong> Bauerntums in kapitalistisches Proletariat. Das<br />

ganze 24. Kapitel im ersten Band <strong>des</strong> "<strong>Kapitals</strong>" ist der Schilderung der Entstehung <strong>des</strong> englischen<br />

Proletariats, der agrikolen kapitalistischen Pächterklasse sowie <strong>des</strong> industriellen <strong>Kapitals</strong> gewidmet. <strong>Ein</strong>e<br />

hervorragende Rolle im letzteren Vorgang spielt in der Marxschen Schilderung die Ausplünderung der<br />

Kolonialländer durch das europäische Kapital. <strong>Die</strong>s alles aber wohlgemerkt nur unter dem<br />

Gesichtswinkel der sogenannten "primitiven <strong>Akkumulation</strong>". <strong>Die</strong> angegebenen Prozesse illustrieren bei<br />

Marx nur die Genesis, die Geburtsstunde <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, sie bezeichnen die Geburtswehen bei dem<br />

Heraustreten der kapitalistischen Produktionsweise aus dem Schoße der feudalen Gesellschaft. Sobald er<br />

die theoretische Analyse <strong>des</strong> Kapitalprozesses gibt - Produktion wie Zirkulation -, kehrt er ständig zu<br />

seiner Voraussetzung: allgemeine und ausschließliche Herrschaft der kapitalistischen Produktion, zurück.<br />

Wir sehen jedoch, daß der Kapitalismus auch in seiner vollen Reife in jeder Beziehung auf die<br />

gleichzeitige Existenz nichtkapitalistischer Schichten und Gesellschaften angewiesen ist. <strong>Die</strong>ses<br />

Verhältnis erschöpft sich nicht durch die nackte Frage <strong>des</strong> Absatzmarktes für das "überschüssige<br />

Produkt", wie das Problem von Sismondi und den späteren Kritikern und Zweiflern der kapitalistischen<br />

<strong>Akkumulation</strong> gestellt wurde. Der <strong>Akkumulation</strong>sprozeß <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong> ist durch alle seine<br />

Wertbeziehungen und Sachbeziehungen: konstantes Kapital, variables Kapital und Mehrwert an<br />

nichtkapitalistische Produktionsformen gebunden. Letztere bilden das gegebene historische Milieu jenes<br />

Prozesses. <strong>Die</strong> Kapitalakkumulation kann so wenig unter der Voraussetzung der ausschließlichen und<br />

absoluten Herrschaft der kapitalistischen Produktionsweise dargestellt werden, daß sie vielmehr ohne das<br />

nichtkapitalistische Milieu in jeder Hinsicht undenkbar ist. Freilich zeigten Sismondi und seine<br />

Nachfolger einen richtigen Instinkt für die Daseinsbedingungen der <strong>Akkumulation</strong>, wenn sie deren<br />

Schwierigkeiten einzig und allein auf die Realisierung <strong>des</strong> Mehrwerts reduzierten. Zwischen den<br />

Bedingungen dieser letzteren und den Bedingungen der Erweiterung <strong>des</strong> konstanten und <strong>des</strong> variablen<br />

<strong>Kapitals</strong> in ihrer Sachgestalt besteht ein wichtiger Unterschied. Das Kapital kann ohne die<br />

Produktionsmittel und die Arbeitskräfte <strong>des</strong> gesamten Erdballes nicht auskommen, zur ungehinderten<br />

Entfaltung seiner <strong>Akkumulation</strong>sbewegung braucht es die Naturschätze und die Arbeitskräfte aller<br />

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Erdstriche. Da diese sich tatsächlich in überwiegender Mehrzahl in den Banden vorkapitalistischer<br />

Produktionsformen befinden - dies das geschichtliche Milieu der Kapitalakkumulation -, so ergibt sich<br />

daraus der ungestüme Drang <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, sich jener Erdstriche und Gesellschaften zu bemächtigen. An<br />

sich wäre der kapitalistischen Produktion z.B. auch mit kapitalistisch betriebenen Kautschukplantagen,<br />

wie sie z.B. in Indien bereits angelegt sind, gedient. Aber die tatsächliche Vorherrschaft<br />

nichtkapitalistischer Gesellschaftsverhältnisse in den Ländern jener Produktionszweige ergibt für das<br />

Kapital die Bestrebung, jene Länder und Gesellschaften unter seine Botmäßigkeit zu bringen, wobei die<br />

primitiven Verhältnisse allerdings so außerordentlich rasche und gewaltsame Griffe der <strong>Akkumulation</strong><br />

ermöglichen, wie sie unter rein kapitalistischen Gesellschaftsverhältnissen ganz undenkbar wären.<br />

Anders die Realisierung <strong>des</strong> Mehrwerts. <strong>Die</strong>se ist von vornherein an nichtkapitalistische Produzenten<br />

und Konsumenten als solche gebunden. <strong>Die</strong> Existenz nichtkapitalistischer Abnehmer <strong>des</strong> Mehrwerts ist<br />

also direkte Lebensbedingung für das Kapital und seine <strong>Akkumulation</strong>, insofern also der entscheidende<br />

Punkt im Problem der Kapitalakkumulation.<br />

Ob aber so oder anders, faktisch ist die Kapitalakkumulation als geschichtlicher Prozeß in allen<br />

ihren Beziehungen auf nichtkapitalistische Gesellschaftsschichten und -formen angewiesen.<br />

<strong>Die</strong> Lösung <strong>des</strong> Problems, um das sich die Kontroverse in der Nationalökonomie fast über ein ganzes<br />

Jahrhundert zieht, liegt also zwischen den beiden Extremen: zwischen der kleinbürgerlichen Skepsis der<br />

Sismondi, v. Kirchmann, Woronzow, Nikolai-on, die die <strong>Akkumulation</strong> für unmöglich erklärten, und<br />

dem rohen Optimismus Ricardo-Say-Tugan-Baranowskis, für die der Kapitalismus sich selbst<br />

schrankenlos befruchten kann, ergo - was nur eine logische Konsequenz - von ewiger Dauer ist. <strong>Die</strong><br />

Lösung liegt, im Sinne der Marxschen Lehre, in dem dialektischen Widerspruch, daß die kapitalistische<br />

<strong>Akkumulation</strong> zu ihrer Bewegung nichtkapitalistischer sozialer Formationen als ihrer Umgebung bedarf,<br />

in ständigem Stoffwechsel mit ihnen vorwärtsschreitet und nur so lange existieren kann, als sie dieses<br />

Milieu vorfindet.<br />

Von hier aus können die Begriffe <strong>des</strong> inneren und auswärtigen Absatzmarktes, die im theoretischen Streit<br />

um das Problem der <strong>Akkumulation</strong> eine so hervorragende Rolle gespielt haben, revidiert werden. Innerer<br />

und äußerer Markt spielen gewiß eine große und grundverschiedene Rolle im Gang der kapitalistischen<br />

Entwicklung, jedoch nicht als Begriffe der politischen Geographie, sondern als die der sozialen<br />

Ökonomie. Innerer Markt vom Standpunkt der kapitalistischen Produktion ist kapitalistischer Markt, ist<br />

diese Produktion selbst als Abnehmerin ihrer eigenen Produkte und Bezugsquelle ihrer eigenen<br />

Produktionselemente. Äußerer Markt für das Kapital ist die nichtkapitalistische soziale Umgebung, die<br />

seine Produkte absorbiert und ihm Produktionselemente und Arbeitskräfte liefert. Von diesem<br />

Standpunkt, ökonomisch, sind Deutschland und England in ihrem gegenseitigen Warenaustausch<br />

füreinander meist innerer, kapitalistischer Markt, während der Austausch zwischen der deutschen<br />

Industrie und den deutschen bäuerlichen Konsumenten wie Produzenten für das deutsche Kapital<br />

auswärtige Marktbeziehungen darstellt. Wie aus dem Schema der Reproduktion ersichtlich, sind dies<br />

strenge, exakte Begriffe. Im innern kapitalistischen Verkehr können im besten Fall nur bestimmte<br />

Wertteile <strong>des</strong> gesellschaftlichen Gesamtprodukts realisiert werden: das verbrauchte konstante Kapital,<br />

das variable Kapital und der konsumierte Teil <strong>des</strong> Mehrwerts; hingegen muß der zur Kapitalisierung<br />

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bestimmte Teil <strong>des</strong> Mehrwerts "auswärts" realisiert werden. Ist die Kapitalisierung <strong>des</strong> Mehrwerts der<br />

eigentliche Zweck und das treibende Motiv der Produktion, so ist andererseits die Erneuerung <strong>des</strong><br />

konstanten und variablen <strong>Kapitals</strong> (so- wie <strong>des</strong> konsumierten Teils <strong>des</strong> Mehrwerts) die breite<br />

Basis und die Vorbedingung jener. Und wird mit der internationalen Entwicklung <strong>des</strong> Kapitalismus die<br />

Kapitalisierung <strong>des</strong> Mehrwerts immer dringender und prekärer, so wird die breite Basis <strong>des</strong> konstanten<br />

und variablen <strong>Kapitals</strong> als Masse absolut und im Verhältnis zum Mehrwert immer gewaltiger. Daher die<br />

widerspruchsvolle Erscheinung, daß die alten kapitalistischen Länder füreinander immer größeren<br />

Absatzmarkt darstellen, füreinander immer unentbehrlicher werden und zugleich einander immer<br />

eifersüchtiger als Konkurrenten in Beziehungen mit nichtkapitalistischen Ländern bekämpfen.(10) <strong>Die</strong><br />

Bedingungen der Kapitalisierung <strong>des</strong> Mehrwerts und die Bedingungen der Erneuerung <strong>des</strong><br />

Gesamtkapitals treten miteinander immer mehr in Widerspruch, der übrigens nur ein Reflex <strong>des</strong><br />

widerspruchsvollen Gesetzes der fallenden Profitrate ist.<br />

Fußnoten von <strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong><br />

(1) "Je größer das Kapital, je entwickelter die Produktivität der Arbeit, überhaupt die Stufenleiter der<br />

kapitalistischen Produktion, um so größer auch die Masse der Waren, die sich in dem Übergang aus der<br />

Produktion in die Konsumtion (individuelle und industrielle), in Zirkulation, auf dem Markt befinden,<br />

und um so größer die Sicherheit für je<strong>des</strong> besondre Kapital, seine Reproduktionsbedingungen fertig auf<br />

dem Markt vorzufinden." (Marx: Theorien über den Mehrwert, Bd. II, Teil 2, S. 251.) [Karl Marx:<br />

Theorien über den Mehrwert, Zweiter Teil. In: Karl Marx/Friedrich Engels: Werke, Bd. 26.2, S. 484.]


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<strong>Die</strong> Länge der 1898 exportierten Baumwollstückware betrug 5 1/4 Milliarden Yards, vor denen 2 1/4<br />

Milliarden nach Vorderindien gingen. (E. Jaffé: <strong>Die</strong> englische Baumwollindustrie und die Organisation<br />

<strong>des</strong> Exporthandels. In: Schmollers Jahrbücher [Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und<br />

Volkswirtschaft], XXIV. Jg., S. 1033.)<br />

1908 betrug die britische Ausfuhr an Baumwollgarn allein 262 Mill. Mark. (Statistisches Jahrbuch für<br />

das Deutsche Reich, 1910.)


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Baumwolle Sklaven<br />

1800 5,2 Mill. Doll. 893.041<br />

1810 15,1 Mill. Doll. 1.191.364<br />

1820 26,3 Mill. Doll. 1.543.688<br />

1830 34,1 Mill. Doll. 2.009.053<br />

1840 74,6 Mill. Doll. 2.487.255<br />

1850 111,8 Mill. Doll. 3.179.509<br />

1851 137,3 Mill. Doll. 3.200.300<br />

(Simons: Klassenkämpfe in der Geschichte Amerikas. Ergänzungsheft der "Neuen Zeit", Nr. 7, S. 39.)<br />


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seltsamen Negerretorte ein Dutzend Sprachen hören, wenn man von Gruppe zu Gruppe geht." <strong>Die</strong> Neger<br />

pflegen nach mehreren Monaten Arbeit mit ihrem aufgesparten Lohn das Bergwerk zu verlassen, um zu<br />

ihrem Stamme zurückzukehren, sich für das Geld eine Frau zu kaufen und wieder in ihren hergebrachten<br />

Verhältnissen zu leben. (James Bryce: Impressions of South Africa, 1897, deutsche Ausgabe 1900, S.<br />

206.) Ebenda siehe auch die recht lebendige Schilderung der Methoden wie man in Südafrika die<br />

"Arbeiterfrage" löst. Wir erfahren da, daß man die Neger zur Arbeit in den Bergwerken und Plantagen in<br />

Kimberley, in Witwatersrand, in Natal, im Matabeleland zwingt dadurch, daß man ihnen alles Land und<br />

alles Vieh, d.h. die Existenzmittel nimmt, sie proletarisiert, sie auch mit Branntwein demoralisiert<br />

(später, als sie schon in der "<strong>Ein</strong>friedung" <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong> sind, werden ihnen, die an Alkohol erst gewöhnt<br />

worden, "geistige Getränke" streng verboten: Das Ausbeutungsobjekt muß in brauchbarem Zustand<br />

erhalten werden.), schließlich einfach mit Gewalt, Gefängnis, Auspeitschung in das "Lohnsystem" <strong>des</strong><br />

<strong>Kapitals</strong> preßt.


<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 27. Kapitel<br />

26. Kapitel | Inhalt | 28. Kapitel<br />

<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - Gesammelte Werke. Herausgegeben vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Band<br />

5. <strong>Berlin</strong>/DDR. 1975. "<strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>", S. 316-333.<br />

1. Korrektur.<br />

Erstellt am 20.10.1998<br />

Siebenundzwanzigstes Kapitel<br />

Der Kampf gegen die Naturalwirtschaft<br />

Der Kapitalismus kommt zur Welt und entwickelt sich historisch in einem nichtkapitalistischen<br />

sozialen Milieu. In den westeuropäischen Ländern umgibt ihn zuerst das feudale Milieu, aus <strong>des</strong>sen<br />

Schoß er hervorgeht - die Fronwirtschaft auf dem platten Lande, das Zunfthandwerk in der Stadt -, dann,<br />

nach Abstreifung <strong>des</strong> Feudalismus, ein vorwiegend bäuerlich-handwerksmäßiges Milieu, als einfache<br />

Warenproduktion in der Landwirtschaft wie im Gewerbe. Außerdem umgibt den europäischen<br />

Kapitalismus ein gewaltiges Terrain außereuropäischer Kulturen, welches die ganze Skala von<br />

Entwicklungsstufen von den primitivsten kommunistischen Horden wandernder Jäger und Sammler bis<br />

zur bäuerlichen und handwerksmäßigen Warenproduktion darbietet. Mitten in diesem Milieu arbeitet<br />

sich der Prozeß der Kapitalakkumulation vorwärts.<br />

Es sind dabei drei Phasen zu unterscheiden: der Kampf <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong> mit der Naturalwirtschaft, der<br />

Kampf mit der Warenwirtschaft und der Konkurrenzkampf <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong> auf der Weltbühne um die Reste<br />

der <strong>Akkumulation</strong>sbedingungen.<br />

Der Kapitalismus bedarf zu seiner Existenz und Fortentwicklung nichtkapitalistischer Produktionsformen<br />

als seiner Umgebung. Aber nicht mit jeder dieser Formen ist ihm gedient. Er braucht nichtkapitalistische<br />

soziale Schichten als Absatzmarkt für seinen Mehrwert, als Bezugsquellen seiner <br />

Produktionsmittel und als Reservoirs der Arbeitskräfte für sein Lohnsystem. Zu allen diesen Zwecken<br />

kann das Kapital mit naturalwirtschaftlichen Produktionsformen nichts anfangen. In allen<br />

naturalwirtschaftlichen Formationen - ob es sich um primitive Bauerngemeinden mit Gemeineigentum an<br />

Grund und Boden, feudale Fronverhältnisse oder dergleichen handelt - ist die Produktion für den<br />

Selbstbedarf das Ausschlaggebende der Wirtschaft, daher kein oder geringer Bedarf nach fremden Waren<br />

und in der Regel auch kein Überfluß an eigenen Produkten oder zum min<strong>des</strong>ten kein dringen<strong>des</strong><br />

Bedürfnis, überschüssige Produkte loszuwerden. Was das wichtigste jedoch: Alle naturalwirtschaftlichen<br />

Produktionsformen beruhen auf dieser oder jener Art Gebundenheit sowohl der Produktionsmittel wie<br />

der Arbeitskräfte. <strong>Die</strong> kommunistische Bauerngemeinde so gut wie der feudale Fronhof und dergleichen<br />

stützen sich in ihrer wirtschaftlichen Organisation auf die Fesselung <strong>des</strong> wichtigsten Produktionsmittels -<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 27. Kapitel<br />

<strong>des</strong> Grund und Bodens - sowie der Arbeitskräfte durch Recht und Herkommen. <strong>Die</strong> Naturalwirtschaft<br />

setzt somit den Bedürfnissen <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong> in jeder Hinsicht starre Schranken entgegen. Der Kapitalismus<br />

führt <strong>des</strong>halb vor allem stets und überall einen Vernichtungskampf gegen die Naturalwirtschaft in<br />

jeglicher historischer Form, auf die er stößt, gegen die Sklavenwirtschaft, gegen den Feudalismus, gegen<br />

den primitiven Kommunismus, gegen die patriarchalische Bauernwirtschaft. In diesem Kampfe bilden<br />

politische Gewalt (Revolution, Krieg), staatlicher Steuerdruck und Billigkeit der Waren die<br />

Hauptmethoden, die teils nebeneinander laufen, teils einander folgen und sich gegenseitig unterstützen.<br />

Äußerte sich die Gewalt im Kampfe gegen den Feudalismus in Europa in revolutionärer Gestalt (die<br />

bürgerlichen Revolutionen <strong>des</strong> 17., 18. und 19. Jahrhunderts gehören in letzter Linie hierher), so in<br />

außereuropäischen Ländern - im Kampfe gegen primitivere soziale Formen - in der Gestalt der<br />

Kolonialpolitik. Das hier praktizierte Steuersystem wie der Handel, namentlich mit primitiven<br />

Gemeinwesen, stellen ein Gemisch dar, in dem politische Gewalt und ökonomische Faktoren eng<br />

ineinandergreifen.<br />

<strong>Die</strong> ökonomischen Zwecke <strong>des</strong> Kapitalismus im Kampfe mit naturalwirtschaftlichen Gesellschaften sind<br />

im einzelnen:<br />

1. sich wichtiger Quellen von Produktivkräften direkt zu bemächtigen, wie Grund und Boden, Wild der<br />

Urwälder, Mineralien, Edelsteine und Erze, Erzeugnisse exotischer Pflanzenwelt, wie Kautschuk usw.;<br />

2. Arbeitskräfte "frei" zu machen und zur Arbeit für das Kapital zu zwingen;<br />

3. die Warenwirtschaft einzuführen;<br />

4. Landwirtschaft von Gewerbe zu trennen.<br />

Bei der primitiven <strong>Akkumulation</strong>, d.h. in den ersten geschichtlichen Anfängen <strong>des</strong> Kapitalismus in<br />

Europa am Ausgang <strong>des</strong> Mittelalters und bis ins 19. Jahrhundert hinein, bildete das Bauernlegen in<br />

England und auf dem Kontinent das großartigste Mittel zur massenhaften Verwandlung der<br />

Produktionsmittel und Arbeitskräfte in Kapital. In<strong>des</strong> dieselbe Aufgabe wird bis auf den heutigen Tag<br />

durch das herrschende Kapital in ganz anders großartigem Maßstab ausgeführt - in der modernen<br />

Kolonialpolitik. Es ist eine Illusion, zu hoffen, der Kapitalismus würde sich je nur mit<br />

Produktionsmitteln begnügen, die er auf dem Wege <strong>des</strong> Warenhandels erstehen kann. <strong>Die</strong> Schwierigkeit<br />

für das Kapital besteht in dieser Hinsicht schon darin, daß auf gewaltigen Strecken der exploitierbaren<br />

Erdoberfläche die Produktivkräfte sich im Besitz von gesellschaftlichen Formationen befinden, die<br />

entweder zum Warenhandel nicht neigen oder aber gerade die wichtigsten Produktionsmittel, auf die es<br />

dem Kapital ankommt, überhaupt nicht feilbieten, weil die Eigentumsformen wie die ganze soziale<br />

Struktur dies von vornherein ausschließen. Dahin gehören vor allem Grund und Boden mit dem ganzen<br />

Reichtum an mineralischem Gehalt im Innern sowie mit dem Wiesen-, Wälder- und Wasserbestand an<br />

der Oberfläche, ferner Viehherden bei viehzüchtenden primitiven Völkern. Sich hier auf den Prozeß der<br />

langsamen auf Jahrhunderte berechneten inneren Zersetzung dieser naturalwirtschaftlichen Gebilde<br />

verlassen und ihre Resultate erst abwarten, bis sie zur Entäußerung der wichtigsten Produktionsmittel auf<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 27. Kapitel<br />

dem Wege <strong>des</strong> Warenhandels führen, würde für das Kapital soviel bedeuten, wie überhaupt auf die<br />

Produktivkräfte jener Gebiete verzichten. Daraus folgert der Kapitalismus gegenüber den<br />

Kolonialländern die gewaltsame Aneignung der wichtigsten Produktionsmittel als eine Lebensfrage für<br />

sich. Da aber gerade die primitiven sozialen Verbände der <strong>Ein</strong>geborenen der stärkste Schutzwall der<br />

Gesellschaft wie ihrer materiellen Existensbasis sind, so erfolgt als einleitende Methode <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong> die<br />

systematische, planmäßige Zerstörung und Vernichtung der nichtkapitalistischen sozialen Verbände, auf<br />

die es in seiner Ausbreitung stößt. Hier haben wir es nicht mehr mit der primitiven <strong>Akkumulation</strong> zu tun,<br />

der Prozeß dauert fort bis auf den heutigen Tag. Jede neue Kolonialerweiterung wird naturgemäß von<br />

diesem hartnäckigen Krieg <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong> gegen die sozialen und ökonomischen Zusammenhänge<br />

der <strong>Ein</strong>geborenen begleitet sowie von dem gewaltsamen Raub ihrer Produktionsmittel und ihrer<br />

Arbeitskräfte. <strong>Die</strong> Hoffnung, den Kapitalismus ausschließlich auf den "friedlichen Wettbewerb", d.h. auf<br />

den regelrechten Warenhandel, wie er zwischen kapitalistisch produzierenden Ländern geführt wird, als<br />

die einzige Grundlage seiner <strong>Akkumulation</strong> verweisen zu können, beruht auf der doktrinären Täuschung,<br />

als ob die Kapitalakkumulation ohne die Produktivkräfte und die Nachfrage primitiverer Gebilde<br />

auskommen, sich auf den langsamen inneren Zersetzungsprozeß der Naturalwirtschaft verlassen könnte.<br />

Sowenig die Kapitalakkumulation in ihrer sprunghaften Ausdehnungstätigkeit auf den natürlichen<br />

Zuwachs der Arbeiterbevölkerung zu warten und mit ihm auszukommen vermag, sowenig wird sie auch<br />

die natürliche langsame Zersetzung der nichtkapitalistischen Formen und ihren Übergang zur<br />

Warenwirtschaft abwarten und sich mit ihm begnügen. Das Kapital kennt keine andere Lösung der Frage<br />

als Gewalt, die eine ständige Methode der Kapitalakkumulation als geschichtlicher Prozeß ist, nicht bloß<br />

bei der Genesis, sondern bis auf den heutigen Tag. Für die primitiven Gesellschaften aber gibt es, da es<br />

sich in jedem solchen Falle um Sein oder Nichtsein handelt, kein anderes Verhalten als Widerstand und<br />

Kampf auf Tod und Leben, bis zur völligen Erschöpfung oder bis zur Ausrottung. Daher die ständige<br />

militärische Besetzung der Kolonien, die Aufstände der <strong>Ein</strong>geborenen und die Kolonialexpeditionen zu<br />

ihrer Niederwerfung als permanente Erscheinungen auf der Tagesordnung <strong>des</strong> Kolonialregimes. <strong>Die</strong><br />

gewaltsame Methode ist hier die direkte Folge <strong>des</strong> Zusammenpralls <strong>des</strong> Kapitalismus mit<br />

naturalwirtschaftlichen Formationen, die seiner <strong>Akkumulation</strong> Schranken setzen. Ohne ihre<br />

Produktionsmittel und Arbeitskräfte kann er nicht auskommen, sowenig wie ohne ihre Nachfrage nach<br />

seinem Mehrprodukt. Um ihnen aber Produktionsmittel und Arbeitskräfte zu entnehmen, um sie in<br />

Warenabnehmer zu verwandeln, strebt er zielbewußt danach, sie als selbständige soziale Gebilde zu<br />

vernichten. <strong>Die</strong>se Methode ist vom Standpunkt <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong> die zweckmäßigste, weil sie zugleich die<br />

rascheste und profitabelste ist. Ihre andere Seite ist nämlich der wachsende Militarismus, über <strong>des</strong>sen<br />

Bedeutung für die <strong>Akkumulation</strong> in anderem Zusammenhang weiter unten. <strong>Die</strong> klassischen Beispiele der<br />

Anwendung dieser Methoden <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong> in den Kolonien bieten die Politik der Engländer in Indien und<br />

die der Franzosen in Algier.<br />

<strong>Die</strong> uralte Wirtschaftsorganisation der Inder - die kommunistische Dorfgemeinde - hatte sich in ihren<br />

verschiedenen Formen durch Jahr- tausende erhalten und eine lange innere Geschichte<br />

durchgemacht, trotz aller Stürme "in den politischen Wolkenregionen". Im 6. Jahrhundert vor der<br />

christlichen Ära drangen in das Indusgebiet die Perser und unterwarfen sich einen Teil <strong>des</strong> Lan<strong>des</strong>. Zwei<br />

Jahrhunderte später zogen die Griechen ein und hinterließen als Ableger einer ganz fremden Kultur die<br />

alexandrinischen Kolonien. <strong>Die</strong> wilden Skythen machten eine Invasion ins Land. Jahrhundertelang<br />

herrschten die Araber in Indien. Später kamen von den Höhen <strong>des</strong> Iran die Afghanen, bis auch diese<br />

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durch den ungestümen Ansturm der Tatarenhorden aus Transoxanien vertrieben wurden. Schrecken und<br />

Vernichtung bezeichneten den Weg, auf dem die Mongolen vorüberzogen, ganze Dörfer wurden<br />

niedergemetzelt, und die friedlichen Fluren mit den zarten Reishalmen färbten sich purpurn von Strömen<br />

vergossenen Blutes. Aber die indische Dorfgemeinde hat alles überdauert. Denn alle mohammedanischen<br />

Eroberer, die einander ablösten, ließen schließlich das innere soziale Leben der Bauernmasse und seine<br />

überlieferte Struktur unangetastet. Sie setzten bloß in den Provinzen ihre Statthalter ein, die die<br />

militärische Organisation überwachten und Abgaben von der Bevölkerung einsammelten. Alle Eroberer<br />

gingen auf die Beherrschung und Ausbeutung <strong>des</strong> Lan<strong>des</strong> aus, keiner hatte ein Interesse daran, dem<br />

Volke seine Produktivkräfte zu rauben und seine soziale Organisation zu vernichten. Der Bauer mußte<br />

im Reiche <strong>des</strong> Großmoguls jährlich seinen Tribut in Naturalien an die Fremdherrschaft entrichten, aber<br />

er konnte in seinem Dorf ungeschoren leben und auf seiner Sholgura wie seine Urväter Reis bauen. Dann<br />

kamen die Engländer, und der Pesthauch der kapitalistischen Zivilisation vollbrachte in kurzer Zeit, was<br />

Jahrtausende nicht vermocht und was das Schwert der Nogaier nicht fertiggebracht hatte: die ganze<br />

soziale Organisation <strong>des</strong> Volkes zu zertrümmern. Der Zweck <strong>des</strong> englischen <strong>Kapitals</strong> war in letzter Linie,<br />

die Existenzbasis selbst der indischen Gemeinde: den Grund und Boden, in die eigene Macht zu kriegen.<br />

Zu diesem Zwecke diente vor allem die bei den europäischen Kolonisatoren seit jeher beliebte Fiktion,<br />

wonach alles Land in der Kolonie Eigentum der politischen Herrscher wäre. <strong>Die</strong> Engländer schenkten<br />

nachträglich ganz Indien als Privatbesitz dem Großmogul und seinen Statthaltern, um es als deren<br />

"rechtmäßige" Nachfolger zu erben. <strong>Die</strong> angesehensten Gelehrten der Nationalökonomie, wie James<br />

Mill, stützten diese Fiktion diensteifrig mit "wissenschaftlichen" Gründen, so namentlich mit dem<br />

famosen Schluß: man müsse annehmen, daß das Grundeigentum in Indien dem Herrscher gehörte, "denn<br />

wollten wir annehmen, daß nicht er der Grundeigentümer war, so wären wir nicht imstande zu<br />

sagen: Wer war denn Bjgentümer?"(1) Demgemäß verwandelten die Engländer schon 1793 in Bengalen<br />

alle Samindars, d.h. die vorgefundenen mohammedanischen Steuerpächter oder auch die erblichen<br />

Marktvorsteher in ihren Bezirken in Grundbesitzer dieser Bezirke, um sich auf diese Weise einen starken<br />

Anhang im Lande bei ihrem Feldzuge gegen die Bauernmasse zu schaffen. Genauso verfuhren sie auch<br />

später bei neuen Eroberungen, in der Provinz Agra, in Audh, in den Zentralprovinzen. <strong>Die</strong> Folge war<br />

eine Reihe von stürmischen Bauernaufständen, bei denen die Steuereinnehmer häufig vertrieben wurden.<br />

In der allgemeinen Verwirrung und Anarchie, die dabei entstand, wußten englische Kapitalisten einen<br />

ansehnlichen Teil der Ländereien in ihre Hände zu bringen.<br />

Ferner wurde die Steuerlast so rücksichtslos erhöht, daß sie fast die ge- samte Frucht der Arbeit<br />

der Bevölkerung verschlang. Es kam so weit, daß (nach dem offiziellen Zeugnis der englischen<br />

Steuerbehörde aus dem Jahre 1854) in den Distrikten Delhi und Allahabad die Bauern es vorteilhaft<br />

fanden, ihre Landanteile lediglich gegen die als Steuer auf sie entfallende Summe zu verpachten und zu<br />

verpfänden. Auf dem Boden dieses Steuersystems zog der Wucher in das indische Dorf ein und setzte<br />

sich in ihm fest, wie ein Krebs von innen die soziale Organisation zerfressend.(2) Zur Beschleunigung<br />

<strong>des</strong> Prozesses führten die Engländer ein Gesetz ein, das allen Traditionen und Rechtsbegriffen der<br />

Dorfgemeinde ins Gesicht schlug: die zwangsweise Veräußerlichkeit der Dorffelder wegen<br />

Steuerrückständen. Der alte Geschlechtsverband suchte sich dagegen vergeblich durch das Vorkaufsrecht<br />

der Gesamtmark und der verwandten Marken zu schützen. <strong>Die</strong> Auflösung war im vollen Gange.<br />

Zwangsversteigerungen, Austritte einzelner aus der Mark, Verschuldung und Enteignung der Bauern<br />

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waren an der Tagesordnung.<br />

<strong>Die</strong> Engländer suchten sich dabei, wie es ihre Taktik in den Kolonien stets war, den Anschein zu geben,<br />

als sei ihre Gewaltpolitik, die völlige Unsicherheit der Grundbesitzverhältnisse und den Zusammenbruch<br />

der Bauernwirtschaft der Hindus herbeigeführt hatte, gerade im Interesse <strong>des</strong> Bauerntums und zu seinem<br />

Schutze gegen die eingeborenen Tyrannen und Ausbeuter notwendig gewesen.(3) Erst schuf England<br />

künstlich eine Landaristokratie in Indien auf Kosten uralter Eigentumsrechte der <br />

Bauerngemeinden, um hinterdrein die Bauern gegen diese Bedrücker zu schützen und das<br />

"widerrechtlich usurpierte Land" in die Hände englischer Kapitalisten zu bringen.<br />

So entstand in Indien in kurzer Zeit der Großgrundbesitz, während die Bauern auf enormen Strecken in<br />

eine verarmte, proletarisierte Masse kleiner Pächter mit kurzen Pachtfristen verwandelt wurden.<br />

Endlich kam noch in einem markanten Umstand die spezifische Kapitalmethode der Kolonisation zum<br />

Ausdruck. <strong>Die</strong> Engländer waren die ersten Eroberer Indiens, die eine rohe Gleichgültigkeit für die<br />

öffentlichen Kulturwerke wirtschaftlichen Charakters mitbrachten. Araber, Afghanen wie Mongolen<br />

leiteten und unterstützten in Indien großartige Kanalanlagen, durchzogen das Land mit Straßen,<br />

überspannten Flüsse mit Brücken, ließen wasserspendende Brunnen graben. Der Ahne der<br />

Mongolendynastie in Indien, Timur oder Tamerlan, trug Sorge für die Bodenkultur, Bewässerung,<br />

Sicherheit der Wege und Verpflegung der Reisenden.(4) "<strong>Die</strong> primitiven Radschas Indiens, die<br />

afghanischen oder mongolischen Eroberer, zuweilen grausam für die Individuen, bezeichneten<br />

wenigstens ihre Herrschaft durch jene wunderbaren Konstruktionen, die man heute auf jedem Schritt<br />

findet und die das Werk einer Rasse von Riesen zu sein scheinen ... <strong>Die</strong> Kompanie (die englische<br />

Ostindische Kompanie, die bis 1858 in Indien herrschte - R. L.) hat nicht eine Quelle geöffnet, nicht<br />

einen Brunnen gegraben, nicht einen Kanal gebaut, nicht eine Brücke zum Nutzen der Inder errichtet."(5)<br />

<strong>Ein</strong> anderer Zeuge, der Engländer James Wilson, sagt: "In der Provinz von Madras wird jedermann<br />

unwillkürlich durch die grandiosen altertümlichen Bewässerungsanlagen frappiert, deren Spuren sich bis<br />

auf unsere Zeit erhalten haben. Stausysteme die die Flüsse stauten, bildeten ganze Seen, aus denen<br />

Kanäle auf 60 und 70 Meilen im Umkreis Wasser ver- breiteten. Auf großen Flüssen gab es<br />

solcher Schleusen 30-40 Stück ... Das Regenwasser, das von den Bergen hinabfloß, wurde in besonders<br />

zu diesem Behufe gebauten Teichen gesammelt, von denen viele bis jetzt 15 bis 25 Meilen im Umkreis<br />

haben. <strong>Die</strong>se gigantischen Konstruktionen waren fast alle vor dem Jahre 1750 vollendet. In der Epoche<br />

der Kriege der Kompanie mit den mongolischen Herrschern und, wir müssen hinzufügen, während der<br />

ganzen Periode unserer Herrschaft in Indien sind sie in großen Verfall geraten."(6)<br />

Ganz natürlich: Für das englische Kapital kam es nicht darauf an, die indischen Gemeinwesen<br />

lebensfähig zu erhalten und wirtschaftlich zu stützen, sondern im Gegenteil, sie zu zerstören, ihnen die<br />

Produktivkräfte zu entreißen. <strong>Die</strong> rasch zugreifende ungestüme Gier der <strong>Akkumulation</strong>, die ihrem ganzen<br />

Wesen nach von "Konjunkturen" lebt und nicht an den morgigen Tag zu denken imstande ist, kann den<br />

Wert der alten wirtschaftlichen Kulturwerke von weitsichtigerem Standpunkt nicht einschätzen. In<br />

Ägypten zerbrachen sich kürzlich die englischen Ingenieure, als sie für die Zwecke <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong> am Nil<br />

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Riesenstauwerke errichten sollten, den Kopf, um die Spuren jener antiken Kanalsysteme aufzudecken,<br />

die sie in ihren indischen Provinzen mit der stupiden Sorglosigkeit von Botokuden hatten gänzlich<br />

verfallen lassen. <strong>Die</strong> Engländer haben das edle Werk ihrer Hände erst einigermaßen zu würdigen gelernt,<br />

als die furchtbare Hungersnot, die im Distrikt Orissa allein in einem Jahre eine Million Menschenleben<br />

dahingerafft hatte, im Jahre 1867 eine Untersuchung über die Ursachen der Notlage vom englischen<br />

Parlament erzwungen hat. Gegenwärtig sucht die englische Regierung die Bauern auf administrativem<br />

Wege vor dem Wucher zu retten. <strong>Die</strong> Punjab Alienation Act (1900) verbietet die Veräußerung oder<br />

Belastung <strong>des</strong> Bauernlan<strong>des</strong> zugunsten von Angehörigen anderer Kasten als die landbautreibende und<br />

macht Ausnahmen im <strong>Ein</strong>zelfalle von der Genehmigung <strong>des</strong> Steuereinnehmers abhängig.(7) Nachdem<br />

sie die schützenden Bande der uralten sozialen Verbände der Hindus planmäßig zerrissen und einen<br />

Wucher großgezogen haben, bei dem ein Zinsfuß von 15 Prozent eine gewöhnliche Erscheinung ist,<br />

stellen die Engländer den ruinierten und verelendeten indischen Bauer unter die Vormundschaft <strong>des</strong><br />

Fiskus und seiner Beamten, d.h. unter den "Schutz" seiner unmittelbaren Blutsauger.<br />

Neben dem Martyrium Britisch-Indiens beansprucht in der kapitalistischen Kolonialwirtschaft die<br />

Geschichte der französischen Politik in Algerien einen Ehrenplatz. Als die Franzosen Algerien eroberten,<br />

herrschten unter der Masse der arabisch-kabylischen Bevölkerung die uralten sozialen und<br />

wirtschaftlichen <strong>Ein</strong>richtungen, die sich trotz der langen und bewegten Geschichte <strong>des</strong> Lan<strong>des</strong> bis ins 19.<br />

Jahrhundert, ja zum Teil bis heute erhalten haben.<br />

Mochte in den Städten, unter den Mauren und Juden, unter Kaufleuten, Handwerkern und Wucherern<br />

Privateigentum herrschen und auf dem flachen Lande bereits große Strecken von der türkischen<br />

Vasallenherrschaft her als staatliche Domänen usurpiert sein, immerhin gehörte noch fast die Hälfte <strong>des</strong><br />

benutzten Lan<strong>des</strong> in ungeteiltem Eigentum den arabisch-kabylischen Stämmen, und hier herrschten noch<br />

uralte, patriarchalische Sitten. Dasselbe Nomadenleben, nur dem oberflächlichen Blick unstet und<br />

regellos, in Wirklichkeit streng geregelt und höchst eintönig, führte wie seit jeher noch im 19.<br />

Jahrhundert viele arabische Geschlechter mit Männern, Weibern und Kindern, mit Herden und Zelten<br />

jeden Sommer an den von Meereswinden angefächelten kühleren Küstenteil Tell und jeden Winter<br />

wieder in die schützende Wärme der Wüste zurück. Jeder Stamm und je<strong>des</strong> Geschlecht hatte seine<br />

bestimmten Wanderungsstrecken und bestimmte Sommer- und Winterstationen, wo sie ihre Zelte<br />

aufschlugen. <strong>Die</strong> ackerbautreibenden Araber besaßen das Land gleichfalls vielfach noch im<br />

Gemeineigentum der Geschlechter. Und ebenso patriarchalisch nach althergebrachten Regeln lebte die<br />

kabylische Großfamilie unter der Leitung ihrer gewählten Oberhäupter.<br />

<strong>Die</strong> Hauswirtschaft dieses großen Familienkreises war ungeteilt von dem ältesten weiblichen Mitglied<br />

geleitet, jedoch gleichfalls auf Grund der Wahl der Familie, oder aber von den Frauen der Reihe nach.<br />

<strong>Die</strong> kabylische Großfamilie, die in dieser Organisation am Saum der afrikanischen Wüste ein<br />

eigentümliches Seitenstück zu der berühmten südslawischen "Zadruga" darbot, war Eigentümerin nicht<br />

bloß <strong>des</strong> Grund und Bodens, sondern auch aller Werkzeuge, Waffen und Gelder, die zum Betrieb <strong>des</strong><br />

Berufs aller Mitglieder erforderlich waren und von ihnen er- worben wurden. Als Privateigentum<br />

gehörte jedem Mann nur ein Anzug und jeder Frau nur die Kleidungsstücke und die Schmucksachen, die<br />

sie als Brautgeschenk erhalten hatte. Alle kostbareren Gewänder aber und Juwelen galten als ungeteiltes<br />

Familieneigentum und durften von einzelnen nur mit <strong>Ein</strong>willigung aller gebraucht werden. War die<br />

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Familie nicht zu zahlreich, so nahm sie ihre Mahlzeiten an einem gemeinsamen Tische ein, wobei alle<br />

Frauen nach der Reihe kochten, die ältesten aber die Verteilung besorgten. War der Kreis der Personen<br />

zu groß, dann wurden allmonatlich die Nahrungsmittel vom Vorstand in rohem Zustand bei Beobachtung<br />

strenger Gleichheit unter die <strong>Ein</strong>zelfamilien verteilt und von diesen zubereitet. Engste Bande der<br />

Solidarität, gegenseitiger Hilfe und Gleichheit umspannten diese Gemeinwesen, und die Patriarchen<br />

pflegten sterbend den Söhnen das treue Festhalten am Familienverband als letztes Vermächtnis ans Herz<br />

zu legen.(8)<br />

Schon die türkische Herrschaft, die sich im 16. Jahrhundert in Algerien etablierte, hatte ernste <strong>Ein</strong>griffe<br />

in diese sozialen Verhältnisse gemacht. Freilich war es nur eine später von den Franzosen erfundene<br />

Fabel, daß die Türken sämtlichen Grund und Boden für den Fiskus konfisziert hätten. <strong>Die</strong>se wilde<br />

Phantasie, die nur den Europäern einfallen konnte, befand sich im Widerspruch mit der ganzen<br />

ökonomischen Grundlage <strong>des</strong> Islams und seiner Bekenner. Im Gegenteil, die Grundbesitzverhältnisse der<br />

Dorfgemeinden und der Großfamilien wurden von den Türken im allgemeinen nicht angetastet. Nur ein<br />

großer Teil unbebauter Ländereien wurde von ihnen als Staatsdomäne den Geschlechtern gestohlen und<br />

unter den türkischen Lokalverwaltern in Beyliks verwandelt, die zum Teil direkt von Staats wegen mit<br />

eingeborenen Arbeitskräften bewirtschaftet, zum Teil gegen Zins oder Naturalleistungen in Pacht<br />

gegeben wurden. Daneben benutzten die Türken jede Meuterei der unterworfenen Geschlechter und jede<br />

Verwirrung im Lande, um durch umfassende Landkonfiskationen die fiskalischen Besitzungen zu<br />

vergrößern und darauf Militärkolonien zu gründen oder die konfiszierten Guter öffentlich zu versteigern,<br />

wobei sie meist in die Hände von türkischen und anderen Wucherern gerieten. Um den Konfiskationen<br />

und dem Steuerdruck zu ent- gehen, begaben sich viele Bauern, genau wie in Deutschland im<br />

Mittelalter, unter den Schutz der Kirche, die auf diese Weise zum obersten Grundherrn über ansehnliche<br />

Strecken Lan<strong>des</strong> wurde. Schließlich stellten die Besitzverhältnisse Algeriens nach all diesen<br />

wechselvollen Geschicken zur Zeit der französischen Eroberung das folgende Bild dar: 1.500.000 Hektar<br />

Land umfaßten die Domänen, 3.000.000 Hektar unbenutztes Land waren gleichfalls dem Staate<br />

unterstellt als "Gemeineigentum aller Rechtgläubigen" (Bled-el-Islam); das Privateigentum umfaßte<br />

3.000.000 Hektar, die sich noch von römischen Zeiten her im Besitze der Berber befanden, und<br />

1.500.000 Hektar, die unter der türkischen Herrschaft in Privathände übergegangen waren. In<br />

ungeteiltem Gemeineigentum der arabischen Geschlechter verblieben danach nur noch 5.000.000 Hektar<br />

Land. Was die Sahara betrifft, so befanden sich darin zirka 3.000.000 Hektar brauchbaren Lan<strong>des</strong> im<br />

Bereiche der Oasen teils in ungeteiltem Großfamilienbesitz, teils in Privatbesitz. <strong>Die</strong> übrigen 23.000.000<br />

Hektar stellten meist Ödland dar.<br />

<strong>Die</strong> Franzosen begannen, nachdem sie Algerien in ihre Kolonie verwandelt hatten, mit großem Tamtam<br />

ihr Werk der Zivilisierung. War doch Algerien, nachdem es anfangs <strong>des</strong> 18. Jahrhunderts die<br />

Abhängigkeit von der Türkei abgestreift hatte, ein freies Seeräubernest geworden, welches das<br />

Mittelmeer unsicher machte und Sklavenhandel mit Christen trieb. Gegen diese Ruchlosigkeiten der<br />

Mohammedaner erklärten namentlich Spanien und die nordamerikanische Union, die selbst im<br />

Sklavenhandel zu jener Zeit Erkleckliches leisteten, unerbittlichen Krieg. Auch während der Großen<br />

Französischen Revolution wurde ein Kreuzzug gegen die Anarchie in Algerien proklamiert. <strong>Die</strong><br />

Unterwerfung Algeriens durch Frankreich war also unter den Losungen der Bekämpfung der Sklaverei<br />

und der <strong>Ein</strong>führung geordneter, zivilisierter Zustände durchgeführt. <strong>Die</strong> Praxis sollte bald zeigen, was<br />

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dahinter steckte. In den vierzig Jahren, die seit der Unterwerfung Algeriens verflossen waren, hat<br />

bekanntlich kein europäischer Staat so häufigen Wechsel <strong>des</strong> politischen Systems durchgemacht wie<br />

Frankreich. Auf die Restauration war die Julirevolution und das Bürgerkönigtum gefolgt, auf diese die<br />

Februarrevolution, die Zweite Republik, das Zweite Kaiserreich, endlich das Debakel <strong>des</strong> Jahres 1870<br />

und die Dritte Republik. Adel, Hochfinanz, Kleinbürgertum, die breite Schicht der Mittelbourgeoisie<br />

lösten einander in der politischen Herrschaft ab. Aber ein ruhender Pol in dieser Erscheinungen Flucht<br />

war die Politik Frankreichs in Algerien, die von Anfang bis Ende auf ein und dasselbe Ziel gerichtet war<br />

und am Saum der afrikanischen Wüste am besten ver- riet, daß sich sämtliche Staatsumwälzungen<br />

Frankreichs im 19. Jahrhundert um ein und dasselbe Grundinteresse: um die Herrschaft der<br />

kapitalistischen Bourgeoisie und ihrer Eigentumsform, drehten.<br />

"<strong>Die</strong> Ihrem Studium unterbreitete Gesetzesvorlage", sagte der Abgeordnete Humbert am 30. Juni 1873 in<br />

der Sitzung der französischen Nationalversammlung als Berichterstatter der Kommission zur Ordnung<br />

der Agrarverhältnisse in Algerien, "ist nicht mehr als die Krönung <strong>des</strong> Gebäu<strong>des</strong>, <strong>des</strong>sen Fundament<br />

durch eine ganze Reihe von Ordonnanzen, Dekreten, Gesetzen und Senatuskonsulten gelegt war, die alle<br />

zusammen und je<strong>des</strong> insbesondere ein und dasselbe Ziel verfolgen: die Etablierung <strong>des</strong> Privateigentums<br />

bei den Arabern." <strong>Die</strong> planmäßige, bewußte Vernichtung und Aufteilung <strong>des</strong> Gemeineigentums, das war<br />

der unverrückbare Pol, nach dem sich der Kompaß der französischen Kolonialpolitik ungeachtet aller<br />

Stürme im inneren Staatsleben während eines halben Jahrhunderts richtete, und zwar aus dem folgenden<br />

klar erkannten Doppelinteresse. <strong>Die</strong> Vernichtung <strong>des</strong> Gemeineigentums sollte vor allem die Macht der<br />

arabischen Geschlechter als sozialer Verbände zertrümmern und damit ihren hartnäckigen Widerstand<br />

gegen das französische Joch brechen, der sich trotz aller Militärübermacht Frankreichs in unaufhörlichen<br />

Rebellionen der Stämme kundtat und einen unaufhörlichen Kriegszustand in der Kolonie zur Folge<br />

hatte.(9) Ferner war der Ruin <strong>des</strong> Gemeineigentums eine Vorbedingung, um in den wirtschaftlichen<br />

Genuß <strong>des</strong> eroberten Lan<strong>des</strong> zu treten, d.h. den seit einem Jahrtausend von den Arabern besessenen<br />

Grund und Boden ihren Händen zu entreißen und in die Hände französischer Kapitalisten zu bringen. Zu<br />

diesem Behufe diente vor allem dieselbe uns schon bekannte Fiktion, wonach der gesamte Grund und<br />

Boden nach muselmännischem Gesetz Eigentum <strong>des</strong> jeweiligen Herrschers wäre. Genau wie die<br />

Engländer in Britisch-Indien erklärten die Gouverneure Louis-Philippes in Algerien die Existenz eines<br />

Gemeineigentums ganzer Geschlechter für eine "Unmöglichkeit" Auf Grund dieser Fiktion wurden die<br />

meisten unbebauten Ländereien, namentlich aber die Almenden, Wälder und Wiesen für Staatseigentum<br />

erklärt und zu Kolonisationszwecken verwendet. Es kam ein ganzes System der Ansiedelungen, die sog.<br />

Cantonnements, auf, bei dem inmitten der Geschlechterländereien französische Kolonisten gesetzt, die<br />

Stämme selbst aber auf einem minimalen Gebiet zusammengepfercht werden sollten. Durch Er- <br />

lasse vom Jahre 1830, 1831,1840, 1844, 1845, 1846 wurden diese <strong>Die</strong>bstähle an arabischen<br />

Geschlechterländereien "gesetzlich" begründet. <strong>Die</strong>ses Ansiedelungssystem führte aber in Wirklichkeit<br />

gar nicht zur Kolonisation, es hat bloß zügellose Spekulation und Wucher großgezogen. <strong>Die</strong> Araber<br />

verstanden in den meisten Fällen, die ihnen weggenommenen Ländereien zurückzukaufen, wobei sie<br />

freilich tief in Schulden gerieten. Der französische Steuerdruck wirkte nach derselben Richtung.<br />

Namentlich aber hat das Gesetz vom 16. Juni 1851, das alle Forsten zum Staatseigentum erklärte und so<br />

2,4 Millionen Hektar halb Weide, halb Gestrüpp den <strong>Ein</strong>geborenen stahl, der Viehzucht die<br />

Existenzbasis entzogen. Unter dem Platzregen all dieser Gesetze, Ordonnanzen und Maßnahmen<br />

entstand in den Eigentumsverhältnissen <strong>des</strong> Lan<strong>des</strong> eine unbeschreibliche Verwirrung. Zur Ausnutzung<br />

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der herrschenden fieberhaften Bodenspekulation und in der Hoffnung auf baldige Zurückgewinnung <strong>des</strong><br />

Bodens veräußerten viele <strong>Ein</strong>geborene ihre Grundstücke an Franzosen, wobei sie häufig an zwei und drei<br />

Käufer zugleich dasselbe Grundstück verkauften, das sich obendrein gar nicht als ihr Eigentum, sondern<br />

als unveräußerliches Geschlechtereigentum herausstellte. So glaubte eine Spekulantengesellschaft aus<br />

Rouen 20.000 Hektar gekauft zu haben, während sie im Resultat nur 1.370 Hektar strittigen Gebietes ihr<br />

eigen nennen durfte. In einem anderen Falle stellte sich ein verkauftes Gebiet von 1.230 Hektar nach der<br />

Aufteilung als 2 Hektar aus. Es folgte eine unendliche Reihe von Prozessen, wobei die französischen<br />

Gerichte prinzipiell alle Aufteilungen und Ansprüche der Käufer unterstützten. Unsicherheit der<br />

Verhältnisse, Spekulation, Wucher und Anarchie wurden allgemein. Aber der Plan der französischen<br />

Regierung, sich mitten in der arabischen Bevölkerung eine starke Stütze in einer französischen<br />

Kolonistenmasse zu schaffen, hat elend Schiffbruch gelitten. Deshalb nimmt die französische Politik<br />

unter dem Zweiten Kaiserreich eine andere Wendung: <strong>Die</strong> Regierung, die sich nach 30 Jahren<br />

hartnäckigen Leugnens <strong>des</strong> Gemeineigentums in ihrer europäischen Borniertheit eines Besseren hat<br />

belehren lassen müssen, erkannte endlich offiziell die Existenz <strong>des</strong> ungeteilten Geschlechtereigentums<br />

an, doch nur, um im gleichen Atem die Notwendigkeit seiner gewaltsamen Aufteilung zu proklamieren.<br />

<strong>Die</strong>sen Doppelsinn hat der Senatuskonsult vom 22. April 1863. "<strong>Die</strong> Regierung", erklärte General Allard<br />

im Staatsrat, "verliert nicht aus dem Auge, daß das allgemeine Ziel ihrer Politik dies ist, den <strong>Ein</strong>fluß der<br />

Geschlechtervorsteher zu schwächen und die Geschlechter aufzulösen. Auf diese Weise wird es die<br />

letzten Reste <strong>des</strong> Feudalismus (!) beseitigen, als <strong>des</strong>sen Verteidiger die Gegner der Regierungs- <br />

vorlage auftreten. <strong>Die</strong> Herstellung <strong>des</strong> Privateigentums, die Ansiedelung europäischer Kolonisten<br />

inmitten der arabischen Geschlechter ..., das werden die sichersten Mittel zur Beschleunigung <strong>des</strong><br />

Auflösungsprozesses der Geschlechtsverbände sein."(10) Das Gesetz vom Jahre 1863 schuf zum Zwecke<br />

der Aufteilung der Ländereien besondere Kommissionen, die folgendermaßen zusammengesetzt waren:<br />

ein Brigadegeneral oder Hauptmann als Vorsitzender, ferner ein Unterpräfekt, ein Beamter der<br />

arabischen Militärbehörden und ein Beamter der Domänenverwaltung. <strong>Die</strong>sen geborenen Kennern<br />

wirtschaftlicher und sozialer Verhältnisse Afrikas wurde die dreifache Aufgabe gestellt: erst die Grenzen<br />

der Geschlechtergebiete genau abzustecken, dann das Gebiet je<strong>des</strong> einzelnen Geschlechts unter seine<br />

einzelnen Zweige oder Großfamilien aufzuteilen und endlich auch diese Großfamilienländereien in<br />

einzelne Privatparzellen zu zerschlagen. Der Feldzug der Brigadegeneräle ins Innere Algeriens wurde<br />

pünktlich ausgeführt, die Kommissionen begaben sich an Ort und Stelle, wobei sie Feldmesser,<br />

Landaufteiler und obendrein Richter in allen Landstreitigkeiten in einer Person waren. Der<br />

Generalgouverneur von Algerien sollte die Aufteilungspläne in letzter Instanz bestätigen. Nachdem die<br />

Kommissionen 10 Jahre lang im Schweiße ihres Angesichts gearbeitet hatten, war das Resultat<br />

folgen<strong>des</strong>: Von 1863 bis 1873 wurden von den 700 arabischen Geschlechtergebieten zirka 400 unter die<br />

Großfamilien aufgeteilt. Schon hier wurde zur künftigen Ungleichheit, zum Großgrundbesitz und zur<br />

kleinen Parzelle der Grund gelegt. Denn je nach der Größe <strong>des</strong> Gebietes und der Zahl der Mitglieder<br />

eines Geschlechts entfiel pro Mitglied bald 1 bis 4 Hektar, bald 100 und selbst 180 Hektar Land. <strong>Die</strong><br />

Aufteilung blieb jedoch bei den Großfamilien stehen. <strong>Die</strong> Aufteilung <strong>des</strong> Familiengebietes begegnete<br />

trotz aller Brigadegeneräle unüberwindlichen Schwierigkeiten in den Sitten der Araber. Der Zweck der<br />

französischen Politik: die Schaffung <strong>des</strong> individuellen Eigentums und <strong>des</strong>sen Überführung in den Besitz<br />

der Franzosen, war also wieder einmal im großen und ganzen gescheitert.<br />

Erst die Dritte Republik, das unumwundene Regiment der Bourgeoisie, hat den Mut und den Zynismus<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 27. Kapitel<br />

gefunden, alle Umschweife auf die Seite zu legen und ohne die vorbereitenden Schritte <strong>des</strong> Zweiten<br />

Kaiserreichs die Sache vom anderen Ende anzugreifen. <strong>Die</strong> direkte Aufteilung der Gebiete aller 700<br />

arabischen Geschlechter in individuelle Anteile, eine parforce <strong>Ein</strong>führung <strong>des</strong> Privateigentums in<br />

kürzester Zeit, das war der offen ausgesprochene Zweck <strong>des</strong> Gesetzes, den die Nationalversammlung im<br />

Jahre 1873 ausgearbeitet hat. Den Vorwand dazu boten die verzweifelten Zustände der Kolonie. Genau<br />

wie erst die große Hungersnot in Indien 1866 der Öffentlichkeit in England die schönen Resultate der<br />

englischen Kolonialpolitik drastisch vor die Augen geführt und eine parlamentarische Kommission zur<br />

Untersuchung der Mißstände veranlaßt hatte, so wurde Europa zu Ende der sechziger Jahre durch den<br />

Notschrei aus Algerien alarmiert, wo massenhafte Hungersnot und außerordentliche Sterblichkeit unter<br />

den Arabern über 40 Jahre französischer Herrschaft quittierten. Zur Untersuchung der Ursachen und zur<br />

Beglückung der Araber durch neue gesetzliche Maßnahmen wurde eine Kommission eingesetzt, die zu<br />

dem einstimmigen Beschlusse kam, daß den Arabern als Rettungsanker nur eins helfen könne - das<br />

Privateigentum. Dann erst würde nämlich jeder Araber in der Lage sein, sein Grundstück zu verkaufen<br />

oder darauf Hypotheken aufzunehmen und sich so vor der Not zu schützen. Um also der Notlage der<br />

Araber abzuhelfen, die durch teilweise von den Franzosen bereits ausgeführte <strong>Die</strong>bereien an algerischem<br />

Grund und Boden wie durch die von ihnen geschaffene Steuerlast und damit verbundene Verschuldung<br />

der Araber entstanden war, erklärte man als einziges Mittel: die vollständige Auslieferung der Araber in<br />

die Krallen <strong>des</strong> Wuchers. <strong>Die</strong>se Possenreißerei wurde vor der Nationalversammlung mit völlig ernstem<br />

Gesicht Vorgetragen und von der würdigen Körperschaft mit ebensolchem Ernst aufgenommen. <strong>Die</strong><br />

Schamlosigkeit der "Sieger" über die Pariser Kommune feierte Orgien.<br />

Zwei Argumente dienten besonders in der Nationalversammlung zur Stütze <strong>des</strong> neuen Gesetzes. <strong>Die</strong><br />

Araber selbst wünschen dringend die <strong>Ein</strong>führung <strong>des</strong> Privateigentums, betonten immer wieder die<br />

Verteidiger der Regierungsvorlage. In der Tat, sie wünschten es, nämlich die Bodenspekulanten und die<br />

Wucherer in Algerien, die ein dringen<strong>des</strong> Interesse daran hatten, ihre Opfer aus den schützenden Banden<br />

der Geschlechter und ihrer Solidarität zu "befreien". Solange nämlich das muselmännische Recht in<br />

Algerien galt, fand die Verpfändung <strong>des</strong> Grund und Bodens an der Nichtveräußerlichkeit <strong>des</strong> Gentil- und<br />

Familienbesitzes eine unüberwindliche Schranke. Erst das Gesetz von 1863 hatte darin eine Bresche<br />

geschlagen. Es galt, das Hindernis ganz wegzuräumen, um dem Wucher freien Spielraum zu lassen. Das<br />

zweite Argument war ein "wissenschaftliches". Es stammte aus demselben geistigen Arsenal, aus dem<br />

der ehrwürdige James Mill seine Verständnislosigkeit für die Eigentumsverhältnisse Indiens schöpfte:<br />

aus der englischen klassischen Nationalökonomie. Das Privateigentum ist die notwendige<br />

Vorbedingung jeder intensiveren, besseren Bodenbebauung in Algerien, die Hungersnöten vorbeugen<br />

würde, denn es ist klar, daß niemand Kapital oder intensive Arbeit in einen Boden stecken will, der nicht<br />

sein individuelles Eigentum ist und <strong>des</strong>sen Früchte nicht ausschließlich von ihm genossen werden -<br />

deklamierten mit Emphase die wissenschaftlich gebildeten Jünger Smith-Ricardos. <strong>Die</strong> Tatsachen<br />

freilich redeten eine andere Sprache. Sie zeigten, daß die französischen Spekulanten das von ihnen in<br />

Algerien geschaffene Privateigentum zu allem anderen gebrauchten, nur nicht zur intensiveren und<br />

höheren Bodenbebauung. Von den 400.000 Hektar Lan<strong>des</strong>, die im Jahre 1873 den Franzosen gehörten,<br />

befanden sich 120.000 Hektar in den Händen der beiden kapitalistischen Gesellschaften, der Algerischen<br />

und der Setif-Kompanie, die ihre Ländereien überhaupt nicht selbst bewirtschafteten, sondern den<br />

<strong>Ein</strong>geborenen in Pacht zurückgaben, die sie ihrerseits in althergebrachter Weise bebauten. <strong>Ein</strong> Viertel der<br />

übrigen französischen Eigentümer befaßte sich ebensowenig mit Landwirtschaft. <strong>Die</strong> Kapitaleinlagen<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 27. Kapitel<br />

und intensive Bodenbebauung ließen sich eben hier sowenig wie die kapitalistischen Verhältnisse<br />

überhaupt künstlich aus dem Boden stampften. <strong>Die</strong>se bestanden nur in der profitgierigen Phantasie der<br />

französischen Spekulanten und in der doktrinären Nebelwelt ihrer wissenschaftlichen Ideologen aus der<br />

Nationalökonomie. Es handelte sich einfach, wenn man die Vorwände und die Floskeln in der<br />

Begründung <strong>des</strong> Gesetzes von 1873 auf die Seite schiebt, um den nackten Wunsch, den Arabern ihre<br />

Existenzbasis, den Grund und Boden, zu entreißen. Und trotz aller Fadenscheinigkeit der Argumentation,<br />

trotz offensichtlicher Verlogenheit seiner Begründung wurde das Gesetz, das der Bevölkerung Algeriens<br />

und ihrem materiellen Wohlstand den To<strong>des</strong>stoß versetzen sollte, am 26. Juli 1873 fast einstimmig<br />

angenommen.<br />

Doch das Fiasko <strong>des</strong> Gewaltstreiches ließ nicht lange auf sich warten. <strong>Die</strong> Politik der Dritten Republik<br />

scheiterte an der Schwierigkeit, das bürgerliche Privateigentum in uralten kommunistischen<br />

Großfamilienverbänden mit einem Schlage einzuführen, genauso, wie die Politik <strong>des</strong> Zweiten<br />

Kaiserreichs daran gescheitert war. Das Gesetz vom 26. Juli 1873, das durch ein zweites Gesetz vom 28.<br />

April 1887 ergänzt wurde, ergab nach 17jähriger Wirkung das folgende Resultat: Bis 1890 waren 14<br />

Millionen Franc für ein Bereinigungsverfahren von 1,6 Millionen Hektar ausgegeben. Man berechnete,<br />

daß die Fortsetzung <strong>des</strong> Verfahrens bis 1950 hätte dauern und weitere 60 Millionen Franc kosten müssen.<br />

Das Ziel jedoch, den Großfamilienkommunismus zu beseitigen, war dabei immer noch nicht<br />

erreicht. Das einzige, was wirklich und unzweifelhaft bei alledem erreicht wurde, war eine tolle<br />

Bodenspekulation, ein üppig gedeihender Wucher und der wirtschaftliche Ruin der <strong>Ein</strong>geborenen.<br />

Das Fiasko der gewaltsamen <strong>Ein</strong>führung <strong>des</strong> Privateigentums führte darauf zu einem neuen Experiment.<br />

Obwohl das algerische Generalgouvernement schon 1890 eine Kommission eingesetzt hatte, die die<br />

Gesetze von 1873 und 188 nachgeprüft und verurteilt hat, dauerte es noch 7 Jahre, bis die Herren<br />

Gesetzgeber an der Seine sich zu einer Reform im Interesse <strong>des</strong> ruinierten Lan<strong>des</strong> aufrafften. Bei der<br />

neuen Schwenkung hat man von der zwangsweisen <strong>Ein</strong>führung <strong>des</strong> Privateigentums von Staats wegen im<br />

Prinzip abgesehen. Das Gesetz vom 27. Februar 1897 sowie die Instruktion <strong>des</strong> algerischen<br />

Generalgouverneurs vom 7. März 1898 sehen hauptsächlich die <strong>Ein</strong>führung <strong>des</strong> Privateigentums auf<br />

freiwilligen Antrag der Eigentümer oder der Erwerber vor.(11) Da jedoch bestimmte Klauseln auch die<br />

<strong>Ein</strong>führung <strong>des</strong> Privateigentums auf Antrag eines Eigentümers ohne Zustimmung der übrigen<br />

Miteigentümer <strong>des</strong> Grund und Bodens für zulässig erklären und da ferner ein "freiwilliger" Antrag der<br />

verschuldeten Besitzer unter dem Drucke <strong>des</strong> Wucherers jeden Augenblick nach Wunsch herbeigeführt<br />

werden kann, so öffnet auch das neue Gesetz der weiteren Zernagung und Ausplünderung der<br />

Stammesländereien und der Großfamilienbesitzungen durch französische und eingeborene Kapitalisten<br />

Tür und Tor.<br />

<strong>Die</strong> achtzigjährige Vivisektion an Algerien findet namentlich in der letzten Zeit um so schwächeren<br />

Widerstand, als die Araber durch die Unterwerfung einerseits Tunesiens 1881, anderseits neuerdings<br />

Marokkos von dem französischen Kapital immer mehr eingekreist und ihm rettungslos preisgegeben<br />

werden. Das jüngste Ergebnis <strong>des</strong> französischen Regimes in Algerien ist die Massenauswanderung der<br />

Araber nach der asiatischen Türkei. (12)<br />

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Fußnoten von <strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong><br />

(1) Nachdem er in seiner Geschichte Britisch-Indiens die Zeugnisse aus den verschiedensten Quellen, aus<br />

Mungo Park, Herodot, Volney, Acosta, Garcilaso de la Vega, Abbé Grosier, Barrow, Diodorus, Strabo<br />

u.a., wahllos und kritiklos zusammengeschleppt hat, um den Satz zu konstruieren, daß in primitiven<br />

Verhältnissen der Grund und Boden stets und überall Eigentum <strong>des</strong> Herrschers war, zieht Mill durch<br />

Analogie auch für Indien den folgenden Schluß: "From these facts only one conclusion can be drawn,<br />

that the property of the soil resided in the sovereign, for if it did not reside in him, it will be impossible to<br />

show to whom it belonged." (James Mill: The History of British-India, Bd. I, 4. Aufl., 1840. S. 311) Zu<br />

dieser klassischen Schlußfolgerung <strong>des</strong> bürgerlichen Ökonomen gibt sein Herausgeber H. H. Wilson, der<br />

als Professor <strong>des</strong> Sanskrit an der Universität in Oxford genauer Kenner der altindischen<br />

Rechtsverhältnisse war, einen interessanten Kommentar. Nachdem er schon in der Vorrede seinen Autor<br />

als einen Parteigänger charakterisiert, der die ganze Geschichte Britisch-Indiens zur Rechtfertigung der<br />

theoretical views of Mr. Bentham zurechtgestutzt und dabei mit zweifelhaftesten Mitteln ein Zerrbild <strong>des</strong><br />

Hinduvolkes gezeichnet hätte (a portrait of the Hindus which has no resemblance whereever to the<br />

original, and which almost outrages humanity), macht er die folgende Fußnote: "The greater part of the<br />

text and of the notes here is wholly irrelevant. The illustrations drawn from Mahometans practice,<br />

supposing them to be correct, have nothing to do with the laws and rights of the Hindus. They are not,<br />

however, even accurate, and Mr. Mill's gui<strong>des</strong> have misled him." Wilson bestreitet dann rundweg<br />

speziell in bezug auf Indien die Theorie von dem Eigentumsrecht <strong>des</strong> Souveräns auf Grund und Boden.<br />

(Siehe l.c., S. 305, Fußnote.) Auch Henry Maine meint, daß die Engländer ihren anfänglichen Anspruch<br />

auf den gesamten Grundbesitz in Indien, den Maine wohl als grundfalsch erkennt, von ihren<br />

muselmanischen Vorgängern übernommen hätten: "The assumption which the English first made was<br />

one which they inherited from their Mahometan predecessors. It was, that all the soil belonged in<br />

absolute property to the sovereign, and that all private property in land existed by his sufferance. The<br />

Mahometan theory and the corresponding Mahometan practice had put out of sight the ancient view of<br />

the sovereign's rights, which though it assigned to him a far larger share of the produce of the land than<br />

any western ruler has ever claimed, yet in nowise denied the existence of private property in land"<br />

(Village communities in the East and West, 5. Aufl., 1890. 104). Maxim Kowalewski hat demgegenüber<br />

gründlich nachgewiesen, daß die angebliche "muselmännische Theorie und Praxis" bloß eine englische<br />

Fabel war. (Siehe seine ausgezeichnete Studie in russischer Sprache: Das Gemeineigentum an Grund und<br />

Boden. Ursachen, Verlauf und Folgen seiner Zersetzung. Teil I, Moskau 1879.) <strong>Die</strong> englischen Gelehrten<br />

wie übrigens auch ihre französischen Kollegen halten jetzt zum Beispiel an einer analogen Fabel in<br />

bezug auf China fest, indem sie behaupten, alles Land sei dort Eigentum <strong>des</strong> Kaisers gewesen. Siehe die<br />

Widerlegung dieser Legende bei Dr. O. Franke: <strong>Die</strong> Rechtsverhältnisse am Grundeigentum in China.<br />

1903.)


<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 27. Kapitel<br />

langjährigen Vertreter der englischen Macht in Indien, Lord Roberts of Kandahar, der zur Erklärung <strong>des</strong><br />

Sepoyaufstan<strong>des</strong> nichts anderes anzuführen weiß als lauter "Mißverständnisse" über die väterlichen<br />

Absichten der englischen Regenten: "Der Siedelungskommission warf man fälschlicherweise<br />

Ungerechtigkeit vor, wenn sie, wie es ihre Pflicht war, die Berechtigung von Landbesitz und auch die<br />

Führung von damit verbundenen Titeln kontrollierte, um dann den rechtmäßigen Besitzer eines<br />

Grundstücks zur Grundsteuer heranzuziehen ... Nachdem Frieden und Ordnung hergestellt war, mußte<br />

der Landbesitz, welcher teilweise durch Raub und Gewalt erlangt war, wie das unter den eingeborenen<br />

Regenten und Dynastien die Gewohnheit ist, geprüft werden. Unter diesen Gesichtspunkten wurden<br />

Erörterungen angestellt in bezug auf Besitzrecht usw. Das Resultat dieser Untersuchungen war, daß viele<br />

Familien von Rang und <strong>Ein</strong>fluß sich einfach das Eigentum ihrer weniger angesehenen Nachbarn<br />

angeeignet hatten oder sie zu einer Steuer heranzogen, die ihrem Landbesitz entsprach. Das wurde in<br />

gerechter Weise abgeändert. Obwohl diese Maßregel mit großer Rücksicht und in der besten Meinung<br />

getroffen wurde, war sie doch den höheren Klassen äußerst unangenehm, während es nicht gelang, die<br />

Massen zu versöhnen. <strong>Die</strong> regierenden Familien nahmen uns die Versuche, eine gerechte Verteilung der<br />

Rechte und gleichmäßige Besteuerung <strong>des</strong> Landbesitzes herbeizuführen, gehörig übel ... Obwohl auf der<br />

anderen Seite die Landbevölkerung durch unsere Regierung bessergestellt wurde, kam sie doch nicht zur<br />

Erkenntnis, daß wir beabsichtigten, durch alle diese Maßregeln ihre Lage zu bessern." (Forty one years in<br />

India, Bd. I, deutsche Ausgabe 1904, S. 307.)


<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 27. Kapitel<br />

(7) Siehe Victor v. Leyden: Agrarverfassung und Grundsteuer in Britisch-Ostindien In: Jahrbuch für<br />

Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft, XXXVI. Jg., Heft 4, S. 1855.


<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 28. Kapitel<br />

27. Kapitel | Inhalt | 29. Kapitel<br />

<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - Gesammelte Werke. Herausgegeben vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Band<br />

5. <strong>Berlin</strong>/DDR. 1975. "<strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>", S. 334-342.<br />

1. Korrektur.<br />

Erstellt am 20.10.1998<br />

Achtundzwanzigstes Kapitel<br />

<strong>Die</strong> <strong>Ein</strong>führung der Warenwirtschaft<br />

<strong>Die</strong> zweite wichtigste Vorbedingung, sowohl zur Erwerbung von Produktionsmitteln wie zur<br />

Realisierung <strong>des</strong> Mehrwerts, ist die Hineinbeziehung der naturalwirtschaftlichen Verbände, nachdem und<br />

indem sie zerstört werden, in den Warenverkehr und in die Warenwirtschaft. Alle nichtkapitalistischen<br />

Schichten und Gesellschaften müssen für das Kapital zu Warenabnehmern werden und müssen ihm ihre<br />

Produkte verkaufen. Es scheint, daß hier wenigstens der "Friede" und die "Gleichheit" beginnen, das do<br />

ut <strong>des</strong>, die Gegenseitigkeit der Interessen, der "friedliche Wettbewerb" und die "Kultureinflüsse". Kann<br />

das Kapital mit Gewalt fremden sozialen Verbänden Produktionsmittel entreißen und die Arbeitenden<br />

mit Gewalt zwingen, Objekte der kapitalistischen Ausbeutung zu werden, so kann es sie doch nicht mit<br />

Gewalt zu Abnehmern seiner Waren machen, es kann sie nicht zwingen, seinen Mehrwert zu realisieren.<br />

Was diese Annahme zu. bestätigen scheint, ist der Umstand, daß Transportmittel - Eisenbahnen,<br />

Schiffahrt, Kanäle - die unumgängliche Vorbedingung der Verbreitung der Warenwirtschaft in<br />

naturalwirtschaftlichen Gebieten darstellen. Der Eroberungszug der Warenwirtschaft beginnt meist mit<br />

großartigen Kulturwerken modernen Verkehrs, wie Eisenbahnlinien, die Urwälder durchschneiden und<br />

Gebirge durchstechen, Telegraphendrähte, die Wüsten überspannen, Ozeandampfer, die in weltfremde<br />

Häfen einlaufen. Doch ist die Friedlichkeit dieser Umwälzungen bloßer Schein. <strong>Die</strong> Handelsbeziehungen<br />

der ostindischen Kompanien mit den Gewürzländern waren so gut Raub, Erpressung und grober<br />

Schwindel unter der Flagge <strong>des</strong> Handels wie heute die Beziehungen der amerikanischen Kapitalisten zu<br />

den Indianern in Kanada, denen sie Pelze abkaufen, oder der deutschen Händler zu den Afrikanegern.<br />

Das klassische Beispiel <strong>des</strong> "sanften" und "friedliebenden" Warenhandels mit rückständigen<br />

Gesellschaften ist die moderne Geschichte Chinas, durch die sich wie ein roter Faden seit Beginn der<br />

vierziger Jahre, das ganze 19. Jahrhundert hin- durch die Kriege der Europäer ziehen, deren<br />

Zweck war, China gewaltsam dem Warenverkehr zu erschließen. Durch Missionare provozierte<br />

Christenverfolgungen, von Europäern angezettelte Tumulte, periodische blutige Kriegsgemetzel, in<br />

denen sich die völlige Hilflosigkeit eines friedlichen Ackerbauervolkes mit der modernsten<br />

kapitalistischen Kriegstechnik der vereinigten europäischen Großmächte messen sollte, schwere<br />

Kriegskontributionen mit dem ganzen System von öffentlicher Schuld, europäischen Anleihen,<br />

europäischer Kontrolle der Finanzen und europäischer Besetzung der Festungen im Gefolge, erzwungene<br />

Eröffnung von Freihäfen und erpreßte Konzessionen zu Eisenbahnbauten an europäische Kapitalisten -<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 28. Kapitel<br />

das waren die Geburtshelfer <strong>des</strong> Warenhandels in China von Anfang der vierziger Jahre <strong>des</strong> vorigen<br />

Jahrhunderts bis zum Ausbruch der chinesischen Revolution.<br />

<strong>Die</strong> Periode der Erschließung Chinas für die europäische Kultur, d.h. für den Warenaustausch mit dem<br />

europäischen Kapital, wird durch den Opiumkrieg inauguriert, in dem China gezwungen wird, das Gift<br />

aus den indischen Plantagen abzunehmen, um es für die englischen Kapitalisten zu Geld zu machen. Im<br />

17. Jahrhundert war die Kultur <strong>des</strong> Opiums durch die englische Ostindische Kompanie in Bengalen<br />

eingeführt und durch ihre Zweigniederlassung in Kanton der Gebrauch <strong>des</strong> Gifts in China verbreitet. Zu<br />

Beginn <strong>des</strong> 19. Jahrhunderts fiel das Opium so stark im Preise, daß es rapid zum "Volksgenußmittel"<br />

wurde. Noch im Jahre 1821 betrug die <strong>Ein</strong>fuhr <strong>des</strong> Opium nach China 4.628 Kisten zum Preise von<br />

durchschnittlich 1.325 Dollar, dann fiel der Preis auf die Hälfte, und 1825 stieg die chinesische <strong>Ein</strong>fuhr<br />

auf 9.62l Kisten, 1830 auf 26.670 Kisten.(1) <strong>Die</strong> verheerenden Wirkungen <strong>des</strong> Gifts, namentlich der<br />

billigsten von der armen Bevölkerung gebrauchten Sorten, gestalteten sich zur öffentlichen Kalamität<br />

und riefen als Notwehr seitens Chinas ein Verbot der <strong>Ein</strong>fuhr hervor. Bereits 1828 hatte der Vizekönig<br />

von Kanton den Import von Opium verboten, was aber den Handel nur in andere Hafenstädte lenkte.<br />

<strong>Ein</strong>er der Pekinger Zensoren wurde mit der Untersuchung der Frage beauftragt und gab folgen<strong>des</strong><br />

Gutachten ab:<br />

"Ich habe in Erfahrung gebracht, daß die Opiumraucher nach diesem schädlichen Medikament ein so<br />

heftiges Verlangen haben, daß sie alles aufbieten, um sich <strong>des</strong>sen Genuß zu verschaffen. Wenn sie das<br />

Opium nicht zur gewohnten Stunde erhalten, fangen ihre Glieder an zu zittern, dicke Schweißtropfen<br />

fließen ihnen von der Stirn und über das Gesicht, und sie sind unfähig, die geringste Beschäftigung<br />

vorzunehmen. Bringt man ihnen aber eine Pfeife mit Opium, atmen sie einige Züge davon ein und sind<br />

sogleich geheilt.<br />

Das Opium ist daher für alle, die es rauchen, ein notwendiges Bedürfnis geworden, und man darf sich gar<br />

nicht wundern, daß sie, wenn sie von der Ortsbehörde zur Verantwortung gezogen werden, weit lieber<br />

jede Züchtigung ertragen als den Namen <strong>des</strong>jenigen offenbaren, der ihnen das Opium liefert. Zuweilen<br />

erhalten die Ortsbehörden auch Geschenke, um dieses Übel zu dulden oder um eine eingeleitete<br />

Untersuchung aufzuhalten. <strong>Die</strong> meisten Kaufleute, die Handelsartikel nach Kanton bringen, verkaufen<br />

auch Opium als Schmuggelware.<br />

Ich bin der Ansicht, daß Opium ein weit größeres Übel ist als das Spiel und daß man daher den<br />

Opiumrauchern keine geringere Strafe auferlegen sollte als den Spielern."<br />

Der Zensor schlug vor, daß jeder überführte Opiumraucher zu 80 Bambushieben, einer, der den<br />

Verkäufer nicht angeben wolle, zu 100 Hieben und dreijähriger Verbannung verurteilt werden sollte.<br />

Und mit einer für europäische Behörden unerhörten Offenherzigkeit schloß der bezopfte Cato von<br />

Peking sein Gutachten: "Es scheint, daß das Opium zumeist durch unwürdige Beamte von außerhalb<br />

eingeführt wird, die im <strong>Ein</strong>verständnis mit gewinnsüchtigen Kaufleuten es ins Innere <strong>des</strong> Lan<strong>des</strong><br />

befördern, wo zuerst junge Leute aus guter Familie, reiche Private und Kaufleute sich dem Genuß<br />

zuwenden, der sich endlich auch bei dem gemeinen Manne verbreitet. Ich habe in Erfahrung gebracht.<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 28. Kapitel<br />

daß sich in allen Provinzen nicht allein unter den Zivilbeamten, sondern auch in der Armee<br />

Opiumraucher befinden. Während die Beamten der verschiedenen Bezirke durch Edikte das gesetzliche<br />

Verbot <strong>des</strong> Verkaufs <strong>des</strong> Opium von neuem einschärfen, rauchen ihre Eltern, Verwandten, Untergebenen<br />

und <strong>Die</strong>ner nach wie vor, und die Kaufleute benutzen das Verbot, den Preis zu steigern. Selbst die<br />

Polizei, die ebenfalls dafür eingenommen ist, kauft diesen Artikel, statt zu seiner Unterdrückung<br />

beizutragen. und dies ist auch der Grund, weshalb alle Verbote und Verfügungen unberücksichtigt blei-<br />

ben."(2) Daraufhin wurde 1833 ein verschärftes Gesetz erlassen, das für jeden Opiumraucher<br />

hundert Hiebe und zweimonatige Ausstellung am Pranger festsetzte. <strong>Die</strong> Gouverneure der Provinzen<br />

wurden verpflichtet, in ihren Jahresberichten die Erfolge <strong>des</strong> Kampfes mit dem Opium zu<br />

berücksichtigen. Der doppelte Erfolg dieses Kampfes lief freilich darauf hinaus, daß einerseits im Innern<br />

Chinas. namentlich in den Provinzen Honan, Setschuan und Kweitschou, Mohnkulturen im großen<br />

Maßstab angelegt wurden und daß andererseits England China den Krieg erklärte, um es zur Freigabe der<br />

<strong>Ein</strong>fuhr zu zwingen. Nun begann die glorreiche "Erschließung" Chinas für die europäische Kultur in<br />

Gestalt der Opiumpfeife.<br />

Der erste Angriff erfolgte auf Kanton. <strong>Die</strong> Befestigung der Stadt am Haupteingang <strong>des</strong> Perlflusses war<br />

denkbar primitiv. Ihr Hauptstück bestand in einer Sperre von eisernen Ketten, die täglich bei<br />

Sonnenuntergang in verschiedenen Abständen an verankerten Holzflößen befestigt wurden. Man muß<br />

noch berücksichtigen, daß die chinesischen Geschütze ohne jedwede Vorrichtung zum Höher- und<br />

Niedrigerstellen, also beim Gebrauch ganz harmlos waren. Mit dieser primitiven Befestigung, die gerade<br />

imstande war, ein paar Handelsschiffe an der <strong>Ein</strong>fahrt zu verhindern, begegneten die Chinesen dem<br />

englischen Angriff. Zwei englische Kriegsschiffe genügten denn auch, um am 7. September 1839 die<br />

Durchfahrt zu erzwingen. <strong>Die</strong> sechzehn Kriegsdschunken und dreizehn Brander, mit denen die Chinesen<br />

sich widersetzten, wurden in dreiviertel Stunden zusammengeschossen und zerstreut. Nach diesem ersten<br />

Siege verstärkten die Engländer ihre Kriegsflotte bedeutend und gingen zu Beginn 1841 zum erneuten<br />

Angriff über. <strong>Die</strong>smal erfolgte der Angriff gleichzeitig gegen die Flotte und gegen die Forts. <strong>Die</strong><br />

chinesische Flotte bestand in einer Anzahl Kriegsdschunken. Schon die erste Brandrakete drang durch<br />

die Planken in die Pulverkammer einer Dschunke, so daß diese mit der ganzen Mannschaft in die Luft<br />

flog. Nach kurzer Zeit waren elf Dschunken einschließlich <strong>des</strong> Admiralschiffes zerstört, der Rest suchte<br />

in wilder Flucht sein Heil. <strong>Die</strong> Aktion zu Lande nahm einige Stunden mehr in Anspruch. Bei der<br />

gänzlichen Untauglichkeit der chinesischen Geschütze schritten die Engländer mitten durch die<br />

Befestigungen, erklommen einen wichtigen Punkt. der ganz unbesetzt geblieben war, und metzelten die<br />

wehrlosen Chinesen von oben nieder. <strong>Die</strong> Schlußrechnung der Schlacht war: auf chinesischer Seite 600<br />

Tote, auf englischer - 1 Toter und 30 Verwundete, wovon mehr als die Hälfte durch das zufällige<br />

Auffliegen eines Pulver- magazins Schaden erlitt. <strong>Ein</strong>ige Wochen später lieferten die Engländer<br />

ein neues Heldenstück. Es galt, die Forts von Anunghoi und Nord-Wantong zu nehmen. Hierzu standen<br />

auf englischer Seite nicht weniger als 12 Linienschiffe in voller Ausrüstung zur Verfügung. Außerdem<br />

hatten die Chinesen wieder die Hauptsache vergessen, nämlich die Insel Süd-Wantong zu befestigen. <strong>Die</strong><br />

Engländer landeten also dort in aller Seelenruhe eine Haubitzenbatterie und beschossen das Fort von<br />

einer Seite, während die Kriegsschiffe es von der anderen unter Feuer nahmen. Wenige Minuten<br />

genügten, um die Chinesen aus den Forts zu verjagen und die Landung ohne Widerstand zu<br />

bewerkstelligen. <strong>Die</strong> unmenschliche Szene, welche nun folgte - so sagt ein englischer Bericht -, wird<br />

stets ein Gegenstand tiefen Bedauerns für die englischen Offiziere bleiben. <strong>Die</strong> Chinesen waren nämlich,<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 28. Kapitel<br />

als sie aus den Verschanzungen fliehen wollten, in die Gräben gefallen, so daß diese mit hilflosen, um<br />

Gnade flehenden Soldaten buchstäblich angefüllt waren. Auf diese liegende Masse menschlicher Leiber<br />

wurde nun von den Sepoys - angeblich entgegen dem Befehl der Offiziere - unablässig gefeuert. So<br />

wurde Kanton dem Warenhandel erschlossen.<br />

Ebenso erging es den anderen Häfen. Am 4. Juli 1841 erschienen drei englische Kriegsschiffe mit 120<br />

Kanonen bei den Inseln am <strong>Ein</strong>gang zur Stadt Ningpo. Andere Kriegsschiffe trafen am folgenden Tage<br />

ein. Am Abend sandte der englische Admiral eine Botschaft an den chinesischen Gouverneur mit der<br />

Forderung, die Inseln zu übergeben. Der Gouverneur erklärte, daß es ihm zum Widerstande an Macht<br />

fehle, daß er jedoch ohne Befehle aus Peking die Übergabe nicht vornehmen dürfe und daher um<br />

Aufschub bäte. <strong>Die</strong>ser wurde ihm nicht gewährt, und um 2 1/2 Uhr morgens begannen die Engländer den<br />

Sturm auf die wehrlose Insel. In neun Minuten waren Fort und Häuser am Strand ein rauchender<br />

Schutthaufen. <strong>Die</strong> Truppen landeten an der verlassenen Küste, die mit zerbrochenen Spießen, Säbeln,<br />

Schilden, Flinten und einigen Toten bedeckt war, und zogen vor die Wälle der Inselstadt Ting-hai, um sie<br />

einzunehmen. Durch die Mannschaften der inzwischen eingetroffenen weiteren Schiffe verstärkt, legten<br />

sie am nächsten Morgen Sturmleitern gegen die kaum verteidigten Mauern und waren nach wenigen<br />

Minuten Herren der Stadt. <strong>Die</strong>ser glorreiche Sieg wurde von den Engländern mit folgender bescheidener<br />

Meldung verkündet: "Den Morgen <strong>des</strong> 5. Juli 1841 hatte das Geschick als denkwürdigen Tag bezeichnet,<br />

an dem zuerst die Fahne Ihrer Majestät von England über der schönsten Insel <strong>des</strong> himmlischen Reiches<br />

der Mitte weben sollte, das erste europäische Banner, welches siegreich über diesen blühenden<br />

Fluren stand."(3) Am 25. August 1841 erschienen die Engländer vor der Stadt Amoy, deren Forts mit<br />

mehreren hundert Kanonen größten chinesischen Kalibers armiert waren. Bei der fast gänzlichen<br />

Untauglichkeit dieser Geschütze sowie der Unbeholfenheit der Kommandierenden war die <strong>Ein</strong>nahme <strong>des</strong><br />

Hafens wieder ein Kinderspiel. <strong>Die</strong> englischen Schiffe näherten sich unter fortgesetztem Feuern den<br />

Wällen von Kulangsu, dann landeten die Seesoldaten und vertrieben nach kurzem Widerstand die<br />

chinesischen Truppen. <strong>Die</strong> Engländer erbeuteten dabei im Hafen 26 Kriegsdschunken mit 128<br />

Geschützen, die von der Mannschaft verlassen waren. Bei einer Batterie leisteten die Tataren dem<br />

vereinigten Feuer von fünf englischen Schiffen heldenhaften Widerstand, die gelandeten Engländer<br />

fielen ihnen aber in den Rücken und richteten unter ihnen ein vernichten<strong>des</strong> Blutbad an.<br />

So endete der glorreiche Opiumkrieg. Im Friedensschluß vom 27. August 1842 bekamen die Engländer<br />

die Insel Hongkong, ferner mußten Kanton, Amoy, Fu-Tschou, Ningpo und Schanghai dem Handel<br />

erschlossen werden. Fünfzehn Jahre später erfolgte der zweite Krieg gegen China, wobei diesmal die<br />

Engländer gemeinsam mit Franzosen vorgingen, 1857 wurde Kanton durch die verbündete Flotte ebenso<br />

heldenhaft wie im ersten Kriege erstürmt. Im Frieden von Tientsin 1858 wurde der Opiumeinfuhr, dem<br />

europäischen Handel und den Missionen Zutritt ins Innere <strong>des</strong> Lan<strong>des</strong> gewährt. Schon 1859 eröffneten<br />

die Engländer von neuem die Feindseligkeiten und beschlossen, die Befestigungen der Chinesen am Peiho<br />

zu zerstören, wurden aber nach einer mörderischen Schlacht mit 464 Toten und Verwundeten<br />

zurückgeschlagen.(4) Jetzt operierten England und Frankreich wieder zusammen. Mit 12.600<br />

Mann englischer und 7.500 französischer Truppen unter General Cousin-Montauban nahmen sie Ende<br />

August 1860 zunächst die Takuforts ohne einen Schuß, dann drangen sie bis Tientsin und weiter nach<br />

Peking vor. Unterwegs kam es am 21. September 1860 zu der blutigen Schlacht bei Palikao, die Peking<br />

den europäischen Mächten preisgab. <strong>Die</strong> Sieger, die in die fast menschenleere und gar nicht verteidigte<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 28. Kapitel<br />

Stadt einzogen, plünderten zunächst den kaiserlichen Palast, woran sich General Cousin, der spätere<br />

Marschall "Graf von Palikao", mit Eifer persönlich beteiligte, Lord Elgin aber ließ den Palast "zur<br />

Sühne" in Flammen aufgehen.(5)<br />

Jetzt wurde den europäischen Mächten zugestanden, Gesandte in Peking zu halten, Tientsin und andere<br />

Städte wurden dem Handel eröffnet. Während in England die Antiopiumliga gegen die Verbreitung <strong>des</strong><br />

Giftes in London, Manchester und anderen Industriebezirken arbeitete und eine vom Parlament ernannte<br />

Kommission den Genuß <strong>des</strong> Opiums für höchst schädlich erklärte, wurde der Opiumeinfuhr nach China<br />

noch in der Tschi-fu-Konvention 1876 die Freiheit gesichert. Gleichzeitig sicherten alle Staatsverträge<br />

mit China den Europäern - Kaufleuten wie Missionen - das Recht auf Landerwerb zu. Hierbei half neben<br />

dem Feuer der Geschütze auch bewußter Betrug kräftig mit. Nicht nur bot die Zweideutigkeit der<br />

Vertragstexte eine bequeme Handhabe zur stufenweisen Ausdehnung der vom europäischen<br />

Kapital in den Vertragshäfen besetzten Gebiete. Auf Grund der bekannten frechen Fälschung im<br />

chinesischen Text der französischen Zusatzkonvention vom Jahre 1860, den der katholische Missionar<br />

Abbé Delamarre als Dolmetscher ausgefertigt hatte, wurde der chinesischen Regierung in der Folge das<br />

Zugeständnis abgepreßt, den Missionen nicht bloß in den Vertragshäfen, sondern in allen Provinzen <strong>des</strong><br />

Reiches Landerwerb zu gestatten. <strong>Die</strong> französische Diplomatie wie namentlich die protestantischen<br />

Missionen waren einig in der Verurteilung der raffinierten Schwindelei <strong>des</strong> katholischen Paters, was sie<br />

jedoch nicht hinderte, auf der Anwendung der so eingeschmuggelten Rechtserweiterung der<br />

französischen Missionen energisch zu bestehen und sie 1887 ausdrücklich auch auf die protestantischen<br />

Missionen ausdehnen zu lassen.(6)<br />

<strong>Die</strong> Erschließung Chinas für den Warenhandel, die mit dem Opiumkriege begonnen war, wurde mit der<br />

Serie der "Pachtungen" und der Chinaexpedition <strong>des</strong> Jahres 1900 besiegelt, in der die Handelsinteressen<br />

<strong>des</strong> europäischen <strong>Kapitals</strong> offen in internationalen Landraub umschlugen. Fein kehrt diesen Widerspruch<br />

zwischen der anfänglichen Theorie und der schließlichen Praxis der europäischen "Kulturträger" in<br />

China die Depesche der Kaiserin-Witwe hervor, die nach der <strong>Ein</strong>nahme der Takuforts an die Königin<br />

Victoria schrieb:<br />

"Ew. Majestät einen Gruß! - In allen Verhandlungen Englands mit dem chinesischen Reiche, seit<br />

Beziehungen zwischen uns angeknüpft wurden, ist auf seiten Großbritanniens niemals die Rede von<br />

Vergrößerung <strong>des</strong> Landbesitzes gewesen, sondern nur von dem eifrigen Wunsch, die Interessen seines<br />

Handels zu fördern. <strong>Die</strong> Tatsache erwägend, daß unser Land nunmehr in einen entsetzlichen<br />

Kriegszustand gestürzt ist, erinnern wir uns daran, daß ein großer Teil von Chinas Handel, 70 oder 80<br />

Prozent, mit England abgeschlossen wird. Außerdem sind Eure Seezölle die niedrigsten in der Welt und<br />

wenig Beschränkungen in Euren Seehäfen auf fremde <strong>Ein</strong>fuhr gelegt. Aus diesen Gründen haben unsere<br />

freundlichen Beziehungen mit britischen Kaufleuten in unseren Vertragshäfen ununterbrochen während<br />

<strong>des</strong> letzten halben Jahrhunderts zu unserem wechsel- seitigen Vorteil bestanden. Aber ein<br />

plötzlicher Wechsel ist nun eingetreten, und ein allgemeiner Verdacht hat sich gegen uns erhoben. Wir<br />

möchten Euch daher bitten, zu überlegen, wenn durch eine gewisse Kombination der Umstände die<br />

Unabhängigkeit unseres Reiches verlorengehen sollte und die Mächte sich einigen, ihren längst gehegten<br />

Plan, sich unseres Gebietes zu bemächtigen, durchzuführen (in einer gleichzeitigen Depesche an den<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 28. Kapitel<br />

Kaiser von Japan spricht die temperamentvolle Tsi Hsi offen von den "landhungrigen Mächten <strong>des</strong><br />

Westens, deren gefräßige Tigeraugen in unsere Richtung hin schielen" - R. L.), so würde das Ergebnis<br />

unglücklich und verhängnisvoll auf Euren Handel wirken. Zur Zeit bemüht sich unser Reich auf das<br />

äußerste, ein Heer und Mittel aufzubringen, die seinen Schutz verbürgen. Inzwischen verlassen wir uns<br />

auf Eure guten <strong>Die</strong>nste als Zwischenträger und erwarten dringend Eure Entschließung."(7)<br />

Zwischendurch laufen in jedem Kriege Plünderung und <strong>Die</strong>bstahl en gros der europäischen Kulturträger<br />

in den chinesischen Kaiserpalästen, öffentlichen Gebäuden, an altertümlichen Kulturdenkmälern, so gut<br />

im Jahre 1860, wo der Palast <strong>des</strong> Kaisers mit seinen märchenhaften Schätzen von Franzosen geplündert<br />

wurde, wie 1900, wo "alle Nationen" öffentliches und privates Gut um die Wette stahlen. Rauchende<br />

Trümmer größter und ältester Städte, Verfall der Ackerkultur auf großen Strecken platten Lan<strong>des</strong>,<br />

unerträglicher Steuerdruck zur Erschwingung der Kriegskontributionen waren die Begleiter je<strong>des</strong><br />

europäischen Vorstoßes, Hand in Hand mit den Fortschritten <strong>des</strong> Warenhandels. Von den mehr als 40<br />

chinesischen Treaty ports ist jeder mit Blutströmen, Gemetzel und Ruin erkauft worden.<br />

Fußnoten von <strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong><br />

(1) 1854 wurden 77.379 Kisten eingeführt. Später geht die <strong>Ein</strong>fuhr angesichts der Ausbreitung der<br />

heimischen Produktion ein wenig zurück. Trotzdem bleibt China der Hauptabnehmer der indischen<br />

Plantagen. 1873/1874 wurden in Indien 6,4 Millionen Kilogramm Opium produziert, davon 6,1<br />

Millionen Kilogramm an die Chinesen abgesetzt. Jetzt noch werden von Indien jährlich 4,8 Kilogramm<br />

im Werte von 150 Millionen Mark fast ausschließlich nach China und dem Malaiischen Archipel<br />

ausgeführt.


<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 28. Kapitel<br />

wegen <strong>des</strong> vorgeschlagenen Handelsvertrages zu begeben, und haben sogar <strong>des</strong>sen Ratifikation als<br />

Zeichen unserer bona fi<strong>des</strong> verstattet.<br />

Dessen nicht geachtet, entwickelte der Barbarenführer Bruce neuerdings eine Halsstrarrigkeit<br />

unvernünftigster Art und erschien im 8. Monde mit einem Geschwader von Kriegsschiffen auf der<br />

Takureede. Daraufhin griff ihn Seng Ko Liu Ch'in heftig an und zwang ihn so schleunigem Rückzug.<br />

Aus allem diesem geht hervor, daß China keinen Vertrauensbruch begangen hat und daß die Barbaren im<br />

Unrecht gewesen sind. Im laufenden Jahre sind nun die Barbarenchefs Elgin und Gros neuerlich an<br />

unseren Küsten erschienen, aber China, unlustig, zu äußersten Maßregeln zu greifen, gestattete ihnen die<br />

Landung und ihren Besuch in Peking zwecks Ratifikation <strong>des</strong> Vertages.<br />

Wer hätte es glauben können, daß während dieser ganzer Zeit die Barbaren nichts als Ränke gesponnen<br />

haben, daß sie ein Heer von Soldaten und Artillerie mir sich führten, mit denen sie die Takuforts von<br />

rückwärts angegriffen haben und nach Vertreibung der Besatzung auf Tientsin marschiert sind!" (China<br />

unter der Kaiserin-Wltwe, <strong>Berlin</strong> 1912, S. 25. Vgl. auch in dem genannten Werk das ganze Kapitel "<strong>Die</strong><br />

Flucht nach Jehol".)


<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 29. Kapitel<br />

28. Kapitel | Inhalt | 30. Kapitel<br />

<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - Gesammelte Werke. Herausgegeben vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Band<br />

5. <strong>Berlin</strong>/DDR. 1975. "<strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>", S. 342-365.<br />

1. Korrektur.<br />

Erstellt am 20.10.1998<br />

Neunundzwanzigstes Kapitel<br />

Der Kampf gegen die Bauernwirtschaft<br />

<strong>Ein</strong> wichtiges Abschlußkapitel <strong>des</strong> Kampfes mit der Naturalwirtschaft ist die Trennung der<br />

Landwirtschaft vom Gewerbe, die Verdrängung der ländlichen Gewerbe aus der Bauernwirtschaft. Das<br />

Handwerk kommt geschichtlich als eine landwirtschaftliche Nebenbeschäftigung zur Welt, bei den<br />

ansässigen Kulturvölkern als Anhängsel <strong>des</strong> Ackerbaus. <strong>Die</strong> Geschichte <strong>des</strong> europäischen Handwerks im<br />

Mittelalter ist die Geschichte seiner Emanzipation von der Landwirtschaft, seiner Loslösung vom<br />

Fronhof, seiner Spezialisierung und Entwicklung zur zunftmäßigen städtischen Warenproduktion.<br />

Trotzdem die gewerbliche Produktion weiter vom Handwerk über Manufaktur zur großindustriellen<br />

kapitalistischen Fabrik vorgeschritten war, blieb auf dem Lande in der bäuerlichen Wirtschaft das<br />

Handwerk noch zäh an der Landwirtschaft haften. Als häusliche Nebenproduktion in der vom Ackerbau<br />

freien Zeit spielte das Handwerk zum Selbstbedarf in der bäuerlichen Wirtschaft eine hervorragende<br />

Rolle.(1) <strong>Die</strong> Entwicklung der kapitalistischen Produktion entreißt der bäuerlichen Wirtschaft immer<br />

einen Zweig <strong>des</strong> Gewerbes nach dem anderen, um sie zur fabrikmäßigen Massenproduktion zu<br />

konzentrieren. <strong>Die</strong> Geschichte der Textilindustrie ist dafür ein typisches Beispiel. Dasselbe vollzieht sich<br />

aber, weniger auffällig, mit allen anderen Handwerkszweigen der Landwirtschaft. Um die Bauernmasse<br />

zur Abnehmerin seiner Waren zu machen, ist das Kapital bestrebt, die bäuerliche Wirtschaft zunächst auf<br />

den einen Zweig zu reduzieren, <strong>des</strong>sen es sich nicht sofort - und in europäischen Eigentumsverhältnissen<br />

überhaupt nicht ohne Schwierigkeit - bemächtigen kann: auf die Landwirtschaft.(2) Hier scheint<br />

äußerlich alles ganz friedlich abzugehen. Der Prozeß ist unmerklich und gleichsam von rein<br />

ökonomischen Faktoren bewirkt. <strong>Die</strong> technische Überlegenheit der fabrikmäßigen Massenproduktion mit<br />

ihrer Spezialisierung, mit ihrer wissenschaftlichen Analyse und Kombination <strong>des</strong> Produktionsprozesses,<br />

mit ihren Bezugsquellen der Rohstoffe vom Weltmarkt und ihren vervollkommneten Werkzeugen steht<br />

im Vergleich mit dem primitiven bäuerlichen Gewerbe außer jedem Zweifel. In Wirklichkeit sind bei<br />

diesem Prozeß der Trennung der bäuerlichen Landwirtschaft vom Gewerbe Faktoren wie Steuerdruck,<br />

Krieg, Verschleuderung und Monopolisierung <strong>des</strong> nationalen Grund und Bodens wirksam, die<br />

gleichermaßen in das Gebiet der Nationalökonomie, der politischen Gewalt und <strong>des</strong> Strafkodex fallen.<br />

Nirgends ist dieser Prozeß so gründlich durchgeführt wie in den Vereinigten Staaten von Amerika.<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 29. Kapitel<br />

Eisenbahnen, d.h. europäisches, hauptsächlich englisches Kapital, führten den amerikanischen<br />

Farmer Schritt für Schritt über die unermeßlichen Gefilde <strong>des</strong> Ostens und Westens der Union, wo er die<br />

Indianer mit Feuerwaffen, Bluthunden, Schnaps und Syphilis vertilgte und gewaltsam vom Osten nach<br />

dem Westen verpflanzte, um sich ihren Grund und Boden als "freies Land" anzueignen, zu roden und<br />

unter Kultur zu setzen. Der amerikanische Farmer, der "Hinterwäldler" der guten alten Zeit vor dem<br />

Sezessionskrieg, war ein ganz anderer Kerl als der heutige. Er konnte so ziemlich alles, und er kam auf<br />

seiner abgeschiedenen Farm beinahe ohne die Außenwelt ganz gut aus. "Der heutige amerikanische<br />

Farmer", schrieb zu Beginn der 90er Jahre Senator Peffer, einer von den Leitern der Farmers Alliance,<br />

"ist ein ganz anderer Mensch als sein Ahne vor fünfzig oder hundert Jahren. Viele von den heute<br />

Lebenden erinnern sich an die Zeit, wo sich die Farmer in bedeutendem Maße mit Gewerbe befaßten,<br />

d.h., wo sie selbst einen bedeutenden Teil <strong>des</strong>sen verfertigten, was sie für ihren eigenen Bedarf<br />

brauchten. Jeder Farmer hatte eine Kollektion Werkzeuge, mit deren Hilfe er aus Holz Gerätschaften<br />

verfertigte, wie z.B. Heugabel und Harke, Stiele zum Spaten und Pflug, Deichseln für den Wagen und<br />

eine Menge anderer Holzgeräte. Ferner produzierte der Farmer Flachs und Hanf, Schafwolle und<br />

Baumwolle. <strong>Die</strong>se Textilstoffe wurden auf der Farm verarbeitet: Sie wurden im Hause versponnen und<br />

gewoben, ebenso wurden im Hause Kleider, Wäsche und dergleichen verfertigt, und alles dies wurde von<br />

ihm selbst verbraucht. Bei jeder Farm gab es eine kleine Werkstatt für Zimmermann-, Tischler- und<br />

Schlosserarbeit, im Hause selbst aber eine Wollkratze und einen Webstuhl; es wurden Teppiche, Decken<br />

und anderes Bettzeug gewoben; auf jeder Farm wurden Gänse gehalten, mit deren Daunen und Federn<br />

man die Kissen und Federbetten füllte; der Überfluß wurde auf dem Markt der nächsten Stadt verkauft.<br />

Im Winter wurden Weizen, Mehl, Mais in großen mit 6 oder 8 Pferden bespannten Wagen zum Markt<br />

gefahren, hundert oder zweihundert Meilen weit, dort kaufte man für das nächste Jahr Kolonialwaren,<br />

gewisse Stoffe und dergleichen ein. Man konnte auch unter den Farmern verschiedene Handwerker<br />

finden. <strong>Ein</strong> Wagen wurde auf der Farm während der Dauer von einem oder zwei Jahren hergestellt. Das<br />

Material dazu fand man in der Nähe: die Art <strong>des</strong> zu benutzenden Bauholzes wurde im Vertrag mit dem<br />

Nachbar genau festgesetzt; es mußte in einer bestimmten Zeit geliefert und dann eine bestimmte Zeit<br />

lang getrocknet werden, so daß, wenn der Wagen fertig war, beide Parteien <strong>des</strong> Vertrages wußten, woher<br />

je<strong>des</strong> Holzstück kam und wie lange es getrocknet wurde. In der Winterszeit verfertigte der<br />

Zimmermann aus der Nachbarschaft Fensterkreuze, Decken, Türen, Simse und Gebälke für die nächste<br />

Saison. Waren die Herbstfröste gekommen. dann saß der Schuhmacher in der Wohnung <strong>des</strong> Farmers im<br />

Winkel und verfertigte für die Familie Schuhe. Alles dies wurde zu Hause gemacht, und ein großer Teil<br />

der Ausgaben wurde mit Produkten der Farm bezahlt. Wenn der Winter kam, war es Zeit, sich mit<br />

Fleisch zu versehen; dieses wurde zubereitet und geräuchert aufbewahrt. Der Obstgarten lieferte Obst<br />

zum Most, zum Apfelmus und zu allerlei Konserven, vollauf genügend für den Bedarf der Familie<br />

während <strong>des</strong> Jahres und darüber hinaus. Der Weizen wurde allmählich nach Bedarf gedroschen, gerade<br />

soviel, wie man Bargeld brauchte. Alles wurde aufbewahrt und verbraucht. <strong>Ein</strong>e der Folgen derartiger<br />

Wirtschaftsweise war, daß man verhältnismäßig wenig Geld brauchte, um das Geschäft zu führen. Im<br />

Durchschnitt dürften hundert Dollar für die größte Farm genügt haben, um Knechte zu dingen,<br />

Ackergeräte zu reparieren und andere zufällige Ausgaben zu decken.(3)<br />

<strong>Die</strong>ses Idyll sollte nach dem Sezessionskriege ein jähes Ende finden. <strong>Die</strong> enorme Staatsschuld von 6<br />

Milliarden Dollar, die er der Union aufgebürdet hatte, zog eine starke Erhöhung der Steuerlasten nach<br />

sich. Namentlich beginnt aber seit dem Kriege eine fieberhafte Entwicklung <strong>des</strong> modernen<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 29. Kapitel<br />

Verkehrswesens, der Industrie, besonders der Maschinenindustrie, unter Beihilfe <strong>des</strong> steigenden<br />

Schutzzolls. Zur Ermunterung <strong>des</strong> Eisenbahnbaus und der Besiedelung <strong>des</strong> Lan<strong>des</strong> mit Farmern wurden<br />

den Eisenbahngesellschaften großartige Schenkungen aus nationalen Ländereien gemacht. 1867 allein<br />

haben sie über 74 Millionen Hektar Lan<strong>des</strong> bekommen. Das Eisenbahnnetz wuchs denn auch in<br />

beispielloser Weise. 1860 betrug es noch nicht 50.000 Kilometer, 1870 über 85.000, 1880 aber mehr als<br />

150.000 (in derselben Zeit, von 1870 bis 1880, wuchs das gesamte Eisenbahnnetz Europas von 130.000<br />

auf 169.000 Kilometer). <strong>Die</strong> Eisenbahnen und die Bodenspekulanten riefen eine massenhafte<br />

<strong>Ein</strong>wanderung aus Europa nach den Vereinigten Staaten herbei. <strong>Die</strong> <strong>Ein</strong>wanderung betrug in den 23<br />

Jahren 1869 bis 1892 mehr als 4 1/2 Millionen Menschen. Im Zusammenhang damit emanzipierte sich die<br />

Union nach und nach von der europäischen, hauptsächlich englischen Industrie und schuf eigene<br />

Manufakturen, eine eigene Textil Eisen-, Stahl- und Maschinenindustrie. Am raschesten wurde die<br />

Landwirtschaft revolutioniert. Bereits in den ersten Jahren nach dem Bürgerkriege wurden die<br />

Plantagenbesitzer der Südstaaten durch die Emanzipation der Neger gezwungen, den Dampfpflug<br />

einzuführen. Besonders aber wurden die im Westen im Anschluß an den Eisenbahnbau frisch<br />

entstehenden Farmen von vornherein auf die modernste Maschinentechnik gestellt. "Zur selben Zeit",<br />

schrieb der Bericht der landwirtschaftlichen Kommission der Vereinigten Staaten im Jahre 1867,<br />

"während die Anwendung der Maschinerie den Landbau im Westen revolutioniert und das Verhältnis der<br />

angewandten menschlichen Arbeit auf das niedrigste bisher erreichte Maß herabdrückt, ... widmen sich<br />

hervorragende administrative und organisatorische Talente der Landwirtschaft. Farmen von mehreren<br />

tausend Hektar werden mit mehr Geschick geleitet, mit einer zweckmäßigeren und ökonomischeren<br />

Ausnutzung der vorhandenen Mittel und einem höheren Ertrag als Farmen von 40 Hektar."(4)<br />

Gleichzeitig stieg die Last der direkten wie der indirekten Steuern enorm. Mitten im Bürgerkriege wurde<br />

ein neues Finanzgesetz geschaffen. Der Kriegstarif vom 30. Juni 1864, der die Hauptgrundlage <strong>des</strong> noch<br />

heute geltenden Systems bildet, erhöhte die Verbrauchssteuern und die <strong>Ein</strong>kommenssteuern in<br />

außerordentlichem Maße. Hand in Hand damit begann eine wahre Orgie der Schutzzöllnerei, die jene<br />

hohen Kriegssteuern als Vorwand nahm, um die Belastung der einheimischen Produktion durch Zölle<br />

auszugleichen.(5) <strong>Die</strong> Mr. Morrill, Stevens und die anderen Gentlemen, die den Krieg benutzten, um mit<br />

ihrem protektionistischen Programm Sturm zu laufen, haben das System begründet, wonach die<br />

Zollpolitik offen und zynisch zum Werkzeug jeglicher Privatinteressen der Plusmacherei gemacht wurde.<br />

Jeder einheimische Produzent, der vor dem gesetzgebenden Kongreß erschien, um irgendeinen speziellen<br />

Zoll zu verlangen, damit er seine Taschen füllen konnte, sah sein Verlangen in willfähriger Weise erfüllt.<br />

<strong>Die</strong> Zollsätze wurden so hoch hinaufgeschraubt, wie nur irgend jemand es forderte. "Der Krieg", schreibt<br />

der Amerikaner Taussig, "hatte in mancher Hinsicht auf unser Nationalleben erfrischend und veredelnd<br />

gewirkt, aber seine unmittelbare Wirkung auf das Geschäftsleben und auf die ganze Gesetzgebung<br />

betreffend Geldinteressen war eine de- moralisierende. <strong>Die</strong> Grenzlinie zwischen öffentlicher<br />

Pflicht und Privatinteressen war von den Gesetzgebern oft aus dem Auge verloren. Große Vermögen<br />

wurden gemacht durch Gesetzesveränderungen, die von denselben Leuten verlangt und durchgesetzt<br />

wurden, die die Nutznießer der neuen Gesetze waren, und das Land sah mit Bedauern, daß die Ehre und<br />

die Ehrlichkeit der Männer der Politik nicht unangetastet blieben." Und dieser Tarif, der eine ganze<br />

Umwälzung im ökonomischen Leben <strong>des</strong> Lan<strong>des</strong> bedeutete, der zwanzig Jahre lang unverändert gelten<br />

sollte und im Grunde genommen bis jetzt die Basis der zollpolitischen Gesetzgebung der Vereinigten<br />

Staaten bildet, wurde buchstäblich in 3 Tagen im Kongreß und in 2 Tagen im Senat durchgepeitscht -<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 29. Kapitel<br />

ohne Kritik, ohne Debatte, ohne jede Opposition.(6)<br />

Mit diesem Umschwung in der Finanzpolitik der Vereinigten Staaten begann die schamlose<br />

parlamentarische Korruption der Union, der offene und skrupellose Gebrauch der Wahlen, der<br />

Gesetzgebung und der Presse als Werkzeuge nackter Tascheninteressen <strong>des</strong> Großkapitals. Das<br />

Enrichissez-vous wurde zur Losung <strong>des</strong> öffentlichen Lebens seit dem "edlen Kriege" um die Befreiung<br />

der Menschheit vom "Schandfleck der Sklaverei"; der Negerbefreier-Yankee feierte Orgien als<br />

Glücksritter der Spekulation an der Börse, schenkte sich selbst als Gesetzgeber nationale Ländereien,<br />

bereicherte sich selbst durch Zölle und Steuern, durch Monopole, Schwindelaktien, <strong>Die</strong>bstahl <strong>des</strong><br />

öffentlichen Vermögens. <strong>Die</strong> Industrie kam in Blüte. Jetzt waren die Zeiten vorbei, wo der kleine und<br />

mittlere Farmer fast ohne Bargeld auskommen und seinen Weizenvorrat noch nach Bedarf hie und da<br />

dreschen konnte, um ihn zu Geld zu machen. Jetzt mußte der Farmer immer Geld, recht viel Geld haben,<br />

um seine Steuern zu zahlen, er mußte bald alles, was er hervorbrachte, verkaufen, um wieder alles, was<br />

er brauchte, aus der Hand der Manufakturisten als Ware zu erwerben. "Wenn wir uns der Gegenwart<br />

zuwenden", schreibt Peffer, "so finden wir, daß sich fast alles verändert hat. Im ganzen Westen besonders<br />

dreschen alle Farmer ihren Weizen gleichzeitig, sie verkaufen ihn ebenfalls auf einmal. Der Farmer<br />

verkauft sein Vieh und kauft irisches Fleisch oder Speck, er verkauft seine Schweine und kauft Schinken<br />

und Schweinefleisch, er verkauft sein Gemüse und Obst und kauft sie wieder in Form der Konserven.<br />

Wenn er überhaupt Flachs baut, so drischt er den Flachs, anstatt ihn zu verspinnen, sodann Leinwand<br />

daraus zu weben und Wäsche für seine Kinder zu verfertigen, wie das vor 50 Jahren gemacht<br />

wurde, verkauft den Samen, das Stroh aber verbrennt er. Von fünfzig Farmern züchtet jetzt kaum einer<br />

Schafe; er rechnet auf die großen Zuchtfarmen und bezieht seinerseits die Wolle schon in fertiger Gestalt<br />

als Tuch oder Kleid. Sein Anzug wird nicht mehr zu Hause genäht, sondern in der Stadt gekauft. Anstatt<br />

selbst die nötigen Gerätschaften, Gabeln, Harke usw., anzufertigen, begibt er sich nach der Stadt, um das<br />

Heft zum Beil oder den Stiel zum Hammer zu kauten; er kauft Taue und Schnüre und allerlei Faserzeug,<br />

er kauft Kleiderstoffe oder selbst Kleider, er kauft konservierte Früchte, er kauft Speck und Fleisch und<br />

Schinken, er kauft heute fast alles, was er einst selbst produzierte, und er braucht zu alledem Geld. Außer<br />

alledem und was seltsamer scheint als alles andere, ist folgen<strong>des</strong>: Während früher die Heimstätte <strong>des</strong><br />

Amerikaners frei und unverschuldet blieb - nicht in einem Fall auf tausend war eine Heimstätte mit<br />

Hypotheken belastet, um eine Geldanleihe zu sichern - und während bei dem geringen Bedarf an Geld<br />

zur Führung <strong>des</strong> Betriebes stets Geld genug unter den Farmern vorhanden war, ist jetzt, wo zehnmal<br />

soviel Geld benötigt wird, nur wenig oder gar keines zu haben. Etwa die Hälfte der Farmen haben<br />

Hypothekenschulden, die ihren ganzen Wert verschlingen, und die Zinsen sind exorbitant. <strong>Die</strong> Ursache<br />

dieses merkwürdigen Umschwungs liegt in dem Manufakturisten mit seinen Wollen- und<br />

Leinenfabriken, Holzbearbeitungsfabriken, Baumwollspinnereien und Webereien, mit seinen Fleisch-<br />

und Obstkonservenfabriken usw. usw.; die kleinen Farmwerkstätten haben den großen städtischen<br />

Werken den Platz geräumt. <strong>Die</strong> nachbarliche Wagnerwerkstatt hat dem enormen städtischen Werk Platz<br />

gemacht, wo hundert oder zweihundert Wagen pro Woche hergestellt werden; an Stelle der<br />

Schusterwerkstatt ist die große städtische Fabrik getreten, wo der größte Teil der Arbeit vermittels der<br />

Maschinen gemacht wird."(7) Und endlich ist auch die landwirtschaftliche Arbeit <strong>des</strong> Farmers selbst zur<br />

Maschinenarbeit geworden. "Jetzt pflügt, sät und schneidet der Farmer mit Maschinen. <strong>Die</strong> Maschine<br />

schneidet, bindet Garben, und mit Hilfe <strong>des</strong> Dampfes wird gedroschen. Der Farmer kann beim Pflügen<br />

seine Morgenzeitung lesen, und er sitzt auf gedecktem Sitz der Maschine, während er schneidet."(8)<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 29. Kapitel<br />

<strong>Die</strong>se Umwälzung in der amerikanischen Landwirtschart seit dem "großen Kriege" war aber nicht das<br />

Ende, sondern der Anfang <strong>des</strong> Strudels, in den der Farmer hineingeraten war. Seine Geschichte<br />

leitet von selbst zur zweiten Phase der Entwicklung der kapitalistischen <strong>Akkumulation</strong> über, die sie<br />

gleichfalls trefflich illustriert. Der Kapitalismus bekämpft und verdrängt überall die Naturalwirtschaft,<br />

die Produktion für den Selbstbedarf, die Kombinierung der Landwirtschaft mit dem Handwerk, um an<br />

ihre Stelle die einfache Warenwirtschaft zu setzen. Er braucht die Warenwirtschaft als Absatz für den<br />

eigenen Mehrwert. <strong>Die</strong> Warenproduktion ist die allgemeine Form, in der der Kapitalismus erst gedeihen<br />

kann. Hat sich aber auf den Ruinen der Naturalwirtschaft bereits die einfache Warenproduktion<br />

ausgebreitet, dann beginnt alsbald der Kampf <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong> gegen diese. Mit der Warenwirtschaft tritt der<br />

Kapitalismus in ein Konkurrenzverhältnis; nachdem er sie ins Leben gerufen. macht er ihr die<br />

Produktionsmittel streitig, die Arbeitskräfte und den Absatz. Zuerst war der Zweck die Isolierung <strong>des</strong><br />

Produzenten, seine Trennung von der schützenden Gebundenheit <strong>des</strong> Gemeinwesens, dann die Trennung<br />

der Landwirtschaft vom Handwerk, jetzt ist die Trennung <strong>des</strong> kleinen Warenproduzenten von seinen<br />

Produktionsmitteln die Aufgabe.<br />

Wir haben gesehen, daß der "große Krieg" in der amerikanischen Union eine Ära der grandiosen<br />

Plünderung der nationalen Ländereien durch monopolistische Kapitalgesellschaften und einzelne<br />

Spekulanten eröffnet hatte. Im Anschluß an den riesenhaften Eisenbahnbau und noch mehr die<br />

Eisenbahnspekulation entstand eine tolle Bodenspekulation, bei der riesige Vermögen, ganze<br />

Herzogtümer, zur Beute von einzelnen Glücksrittern und Kompanien wurden. Von hier aus wurde durch<br />

einen Heuschreckenschwarm von Agenten, durch alle Mittel einer marktschreierischen skrupellosen<br />

Reklame, durch allerlei Vortäuschungen und Vorspiegelungen der gewaltige Strom der Immigration aus<br />

Europa nach den Vereinigten Staaten geleitet. <strong>Die</strong>ser Strom setzte sich zunächst in den östlichen Staaten<br />

an der atlantischen Küste ab. Je mehr aber hier die Industrie wuchs, um so mehr verschob sich die<br />

Landwirtschaft nach dem Westen. Das "Weizenzentrum", das sich 1850 bei Columbus in Ohio befand,<br />

wanderte in den folgenden 50 Jahren weiter und verschob sich um 99 Meilen nach Norden und 680<br />

Meilen nach Westen. 1850 lieferten die atlantischen Staaten 51,4 Prozent der gesamten Weizenernte, im<br />

Jahre 1880 nur noch 13.6 Prozent, während die nordzentralen Staaten 1880 71,7 Prozent, die westlichen<br />

9,4 Prozent lieferten.<br />

1825 hatte der Kongreß der Union unter Monroe beschlossen, die Indianer vom Osten <strong>des</strong> Mississippi<br />

nach dem Westen zu verpflanzen. <strong>Die</strong> Rothäute wehrten sich verzweifelt, wurden aber - wenigstens der<br />

Rest, der von den Gemetzeln der 40 Indianerkriegen noch verschont geblieben war - wie lästiger<br />

Plunder weggeräumt, wie Büffelherden nach dem Westen getrieben, um hier wie das Wild im Gatter der<br />

"Reservationen" eingepfercht zu werden. Der Indianer mußte dem Farmer weichen; jetzt kam die Reihe<br />

an den Farmer, der dem Kapital weichen mußte und selbst jenseits <strong>des</strong> Mississippi geschoben wurde.<br />

Den Eisenbahnen nach zog der amerikanische Farmer nach dem Westen und Nordwesten in das gelobte<br />

Land, das ihm die Agenten der großen Bodenspekulanten vorgaukelten. Aber die fruchtbarsten,<br />

bestgelegenen Ländereien wurden von den Gesellschaften zu großen rein kapitalistisch betriebenen<br />

Wirtschaften verwendet. Neben dem in die Wildnis geschleppten Farmer erstand als seine gefährliche<br />

Konkurrentin und Todfeindin die "Bonanzafarm", der großkapitalistische Landwirtschaftsbetrieb, wie er<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 29. Kapitel<br />

bis dahin in der Alten und Neuen Welt unbekannt war. Hier wurde die Mehrwertproduktion mit allen<br />

Hilfsmitteln der modernen Wissenschaft und Technik betrieben. "Olivier Dairymple, <strong>des</strong>sen Name heute<br />

auf beiden Seiten <strong>des</strong> Atlantischen Ozeans bekannt ist", schrieb Lafargue 1885, "kann als der beste<br />

Repräsentant der Finanzlandwirtschaft betrachtet werden. Seit 1874 leitet er gleichzeitig eine<br />

Dampferlinie auf dem Roten Flusse und sechs Farmen, die einer Gesellschaft von Finanzleuten gehören,<br />

mit einem Gesamtumfang von 30.000 Hektar. Er teilte dieselben in Abteilungen von je 800 Hektar, deren<br />

jede wieder in drei Unterabteilungen von je 267 Hektar zerfiel. <strong>Die</strong>se stehen unter Werkführern und<br />

Unterwerkführern. Auf jeder Sektion sind Baracken errichtet, in denen sich Unterkunft für fünfzig<br />

Menschen und Ställe für ebensoviel Pferde und Maultiere befinden, sowie Küchen, Magazine für<br />

Lebensmittel für Menschen und Vieh, Schuppen zum Unterbringen der Maschinen, endlich Schmiede-<br />

und Schlosserwerkstätten. Jede Sektion hat ihr vollständiges Inventar: 20 Paar Pferde, 8 Doppelpflüge,<br />

12 Sämaschinen, die vom Pferde aus dirigiert werden, 12 Eggen mit Stahlzähnen, 12 Schneide- und<br />

Garbenbindemaschinen, 2 Dreschmaschinen und 16 Wagen; alle Maßregeln sind getroffen, daß<br />

Maschinen und Arbeitstiere (Menschen, Pferde, Maultiere) in gutem Zustand und fähig sind, die<br />

größtmögliche Summe von Arbeit zu leisten. Alle Sektionen stehen untereinander und mit der<br />

Zentralleitung in telephonischer Verbindung.<br />

<strong>Die</strong> sechs Farmen von 30.000 Hektar werden von einer Armee von 600 Arbeitern bestellt, welche<br />

militärisch organisiert sind; zur Zeit der Ernte wirbt die Zentralleitung noch 500 bis 600 Hilfsarbeiter an,<br />

welche sie unter die Sektionen verteilt. Sind die Arbeiten im Herbst beendigt, dann werden die Arbeiter<br />

entlassen, mit Ausnahme der Werkführer und von zehn Mann per Sektion. Auf manchen Farmen Dakotas<br />

und Minnesotas überwintern die Pferde und Maultiere nicht am Arbeitsorte. Sobald die Stoppeln<br />

umgepflügt sind, treibt man sie in Herden von 100 bis 200 Paaren 1.000 bis 1.500 Kilometer weit nach<br />

dem Süden, von wo sie erst im Frühjahr wieder zurückkehren.<br />

Mechaniker zu Pferde folgen den Pflüge-, Sä- und Erntemaschinen bei der Arbeit; sobald etwas in<br />

Unordnung gerät, galoppieren sie zur betreffenden Maschine, um sie unverzüglich zu reparieren und<br />

wieder in Gang zu bringen. Das geerntete Getreide wird zu den Dreschmaschinen geschafft, die Tag und<br />

Nacht ununterbrochen arbeiten; diese werden mit Strohbündeln geheizt, welche durch Röhren von<br />

Eisenblech in den Feuerherd geschoben werden. Das Korn wird durch Maschinen gedroschen, geworfelt,<br />

gewogen und in Säcke gefüllt, worauf man es zur Bahn bringt, die an der Farm entlang führt; von da geht<br />

es nach Duluth oder Buffalo. Je<strong>des</strong> Jahr vermehrt Dalrymple sein Saatland um 2.000 Hektar. 1880 betrug<br />

es 10.000 Hektar."(9) Es gab schon Ende der 70er Jahre einzelne Kapitalisten und Gesellschaften, die<br />

Gebiete von 14.000 bis 18.000 Hektar unter Weizen ihr eigen nannten. Seit Lafargue dies geschrieben,<br />

haben die technischen Fortschritte in der amerikanischen großkapitalistischen Landwirtschaft und die<br />

Maschinenanwendung noch ganz gewaltig zugenommen.(1)<br />

Mit solchen kapitalistischen Unternehmungen konnte der amerikanische Farmer die Konkurrenz<br />

nicht bestehen. In derselben Zeit. wo ihn die allgemeine Umwälzung in den Verhältnissen: den Finanzen,<br />

der Produktion und dem Transportwesen der Union, zwang, jede Produktion für den Selbstbedarf<br />

aufzugeben und alles für den Markt zu produzieren, wurden die Preise der landwirtschaftlichen Produkte<br />

durch die kolossale Ausbreitung der Ackerkultur außerordentlich herabgedrückt. Und in derselben Zeit,<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 29. Kapitel<br />

wo die Masse der Farmer in ihren Schicksalen an den Markt gekettet wurde, verwandelte sich der<br />

landwirtschaftliche Markt der Union plötzlich aus dem lokalen Absatzgebiet in den Weltmarkt, auf dem<br />

wenige Riesenkapitale und deren Spekulation ihr wil<strong>des</strong> Spiel begannen.<br />

Mit dem in der Geschichte der europäischen wie der amerikanischen Agrarverhältnisse denkwürdigen<br />

Jahre 1879 beginnt der Massenexport <strong>des</strong> Weizens der Union nach Europa.(11)<br />

<strong>Die</strong> Vorteile dieser Erweiterung <strong>des</strong> Absatzgebietes wurden selbstverständlich von dem<br />

Großkapital monopolisiert: <strong>Ein</strong>erseits wuchsen die Riesenfarmen, die den kleinen Farmer mit ihrer<br />

Konkurrenz erdrückten, andererseits wurde er zum Opfer der Spekulanten, die ihm sein Getreide<br />

aufkauften, um damit auf den Weltmarkt einen Druck auszuüben. Hilflos den gewaltigen Mächten <strong>des</strong><br />

<strong>Kapitals</strong> preisgegeben, verfiel der Farmer in Schulden - die typische Form <strong>des</strong> Unterganges der<br />

Bauernwirtschaft. <strong>Die</strong> Verschuldung der Farmen wurde bald zur öffentlichen Kalamität. Im Jahre 1890<br />

schrieb der Landwirtschaftsminister der Union, Rusk in einem speziellen Rundschreiben aus Anlaß der<br />

verzweifelten Lage der Farmer: "<strong>Die</strong> Last der Hypotheken auf den Farmen, den Häusern und dem Boden<br />

nimmt zweifellos höchst beunruhigende Dimensionen an; wiewohl in einzelnen Fällen die Anleihen<br />

zweifellos übereilig aufgenommen wurden, so führte dazu nichts<strong>des</strong>toweniger in der beträchtlichen<br />

Mehrzahl der Fälle die Notwendigkeit ... <strong>Die</strong>se Anleihen, die auf hohe Prozente aufgenommen wurden,<br />

sind infolge <strong>des</strong> Preisfalls der landwirtschaftlichen Produkte höchst drückend geworden und bedrohen<br />

den Farmer in vielen Fällen mit dem Verlust <strong>des</strong> Hauses und <strong>des</strong> Bodens. Das ist eine äußerst schwierige<br />

Frage für alle diejenigen, die die Übel zu kurieren bestrebt sind, an denen die Farmer leiden. Es stellt sich<br />

heraus, daß bei den gegenwärtigen Preisen der Farmer, um einen Dollar zu bekommen, mit dem er seine<br />

Schuld bezahlt, viel mehr Produkte verkaufen muß als damals, wo er diesen Dollar lieh. <strong>Die</strong> Prozente<br />

wachsen, während die Tilgung der Schuld offenbar eine ganz hoffnungslose Sache geworden, angesichts<br />

dieser gedrückten Lage aber, von der wir reden, ist die Erneuerung der Hypothekenaufnahme äußerst<br />

schwierig."(12) <strong>Die</strong> allgemeine Verschuldung <strong>des</strong> Bodens erstreckte sich nach dem Zensus vom 29. Mai<br />

1891 auf 2,5 Millionen Wirtschaften, davon zwei Drittel Betriebe der Farmereigentümer, die Höhe der<br />

Schuld dieser letzteren auf nahezu 2,2 Milliarden Dollar. "Auf diese Weise", schließt Peffer, "ist die<br />

Lage der Farmer höchst kritisch (farmers are passing through the "valley and shadow of death"); die<br />

Farm ist eine gewinnlose Sache geworden; der Preis der landwirtschaftlichen Produkte ist seit<br />

dem großen Kriege um 50 Prozent gefallen, der Wert der Farmen ist im letzten Jahrzehnt um 25 bis 50<br />

Prozent gesunken; die Farmer stecken bis über die Ohren in Schulden, die durch Hypotheken auf ihren<br />

Betrieben gesichert sind, ohne in vielen Fällen imstande zu sein, die Anleihe zu erneuern, da die<br />

Hypothek selbst immer mehr entwertet wird; viele Farmer gehen ihrer Betriebe verlustig, und die<br />

Mühlsteine der Verschuldung fahren fort, sie zu zermalmen. Wir befinden uns in den Händen einer<br />

erbarmungslosen Macht; die Farm geht zugrunde."(13)<br />

Dem verschuldeten und ruinierten Farmer blieb nichts anderes übrig, als entweder in Nebenverdiensten<br />

als Lohnarbeiter sein Heil zu suchen oder seine Wirtschaft ganz zu verlassen und den Staub <strong>des</strong><br />

"gelobten Lan<strong>des</strong>" <strong>des</strong> "Weizenparadieses", das für ihn zur Hölle geworden, von seinen Pantoffeln zu<br />

schütteln, vorausgesetzt, daß seine Farm nicht schon wegen Zahlungsunfähigkeit in die Krallen <strong>des</strong><br />

Gläubigers geriet, was mit Tausenden der Farmen der Fall war. Verlassene und verfallende Farmen<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 29. Kapitel<br />

konnte man massenhaft um die Mitte der 80er Jahre beobachten. "Kann der Farmer zu den festgesetzten<br />

Terminen seine Schulden nicht bezahlen", schrieb Sering 1887 "so steigt der von ihm zu entrichtende<br />

Zins auf 12, 15, ja 20 Prozent. <strong>Die</strong> Bank, der Maschinenhändler, der Krämer drängen auf ihn ein und<br />

berauben ihn der Früchte seiner harten Arbeit ... Der Betreffende bleibt dann entweder als Pächter auf der<br />

Farm, oder er zieht weiter fort gegen Westen, um sein Glück von neuem zu versuchen. Nirgendwo in<br />

Nordamerika habe ich in der Tat so viele verschuldete, enttäuschte und mißvergnügte Farm er getroffen<br />

wie in den Weizendistrikten der nordwestlichen Prärien, keinen einzigen Farmer habe ich in Dakota<br />

gesprochen, der nicht bereit gewesen wäre, seine Farm zu verkaufen."(14) Der Kommissar der<br />

Landwirtschaft in Vermont teilte 1889 über die weit verbreitete Tatsache <strong>des</strong> Verlassens der Farmen mit:<br />

"In diesem Staate", schrieb er, "kann man große Strecken unbebauten, aber zum Anbau geeigneten<br />

Bodens finden, den man zu Preisen kaufen kann, die sich denjenigen in den Weststaaten nähern, dazu in<br />

der Nähe von Schulen und Kirchen und obendrein mit den Bequemlichkeiten der nahegelegenen<br />

Eisenbahn. Der Kommissar hat nicht alle Bezirke <strong>des</strong> Staates besucht, über die berichtet wird, er hat aber<br />

genug besucht, um sich zu überzeugen, daß ein bedeuten<strong>des</strong> Gebiet verlassenen, früher aber bebauten<br />

Lan<strong>des</strong> jetzt zu Ödland geworden ist, obwohl ein bedeutender Teil davon der tüchtigen Arbeit ein gutes<br />

<strong>Ein</strong>kommen liefern könnte."<br />

Der Kommissar <strong>des</strong> Staates New Hampshire veröffentlichte 1890 eine Schrift, in der 67 Seiten<br />

mit der Beschreibung von Farmen gefüllt sind, die zu den billigsten Preisen zu haben waren. Es sind<br />

darin 1.442 verlassene Farmen mit Wohngebäuden beschrieben, die erst vor kurzem aufgegeben wurden.<br />

Dasselbe auch in anderen Gegenden. Tausende von Acres Weizen- und Maiskulturen lagen brach und<br />

wurden zu Ödland. Um das verlassene Land wieder zu bevölkern, trieben die Bodenspekulanten eine<br />

raffinierte Reklame, und sie zogen neue Scharen <strong>Ein</strong>wanderer, neue Opfer ins Land, die dem Schicksal<br />

ihrer Vorgänger nur noch rascher anheimfielen.(15)<br />

"In der Nähe der Eisenbahnen und Absatzmärkte", hieß es in einem Privatbrief, "gibt es nirgends mehr<br />

staatliches Land, es ist ganz in den Händen der Spekulanten. Der Ansiedler übernimmt freies Land und<br />

zählt als Farmer. Aber seine Wirtschaft als Farm sichert ihm kaum die Existenz, und er kann unmöglich<br />

dem großen Farmer Konkurrenz machen. Er bebaut den gesetzlich vorgeschriebenen Pflichtteil seiner<br />

Farm, aber zur Unterstützung seines Wohlstan<strong>des</strong> muß er einen Nebenerwerb außerhalb der<br />

Landwirtschaft suchen. In Oregon z.B. habe ich einen Ansiedler getroffen, der während fünf Jahren<br />

Eigentümer von 160 Acres war, zur Sommerzeit aber, Ende Juni, am Wegebau arbeitete, 12 Stunden<br />

täglich für 1 Dollar Tageslohn. Auch dieser figurierte natürlich als <strong>Ein</strong>heit unter den 5 Millionen<br />

Farmern, die vom Zensus 1890 gezählt worden sind. Oder in Eldorado County sah ich z.B. viele Farmer,<br />

die den Boden nur in dem Umfang bebauten, um sich selbst und das Vieh zu ernähren, nicht aber für den<br />

Markt, denn das wäre unvorteilhaft; ihr Haupterwerb aber besteht im Goldgraben, Holzfällen und<br />

Holzverkauf usw. <strong>Die</strong>se Leute leben im Wohlstand, aber ihr Wohlstand rührt nicht von der<br />

Landwirtschaft her. Vor zwei Jahren arbeiteten wir in Long Cañon, Eldorado County, und wohnten die<br />

ganze Zeit in einer cabin auf einer Parzelle, deren Eigentümer nur einmal im Jahr für einige Tage nach<br />

Hause kam, die übrige Zeit aber in Sacramento an der Eisenbahn arbeitete, Seine Parzelle wurde gar<br />

nicht bebaut. Vor einigen Jahren wurde ein kleiner Teil davon angebaut, um dem Gesetz Genüge zu tun,<br />

einige Acres sind mit Drahtzaun eingezäunt, eine log cabin und ein Schuppen sind errichtet. Aber in den<br />

letzten Jahren steht das alles leer: Der Schlüssel von der Hütte befindet sich beim Nachbar, der uns auch<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 29. Kapitel<br />

die Hütte zur Verfügung gestellt hatte. Im Verlaufe unserer Wanderungen haben wir viele verlassene<br />

Parzellen gesehen, auf denen Versuche gemacht waren, die Wirtschaft zu führen. Vor drei Jahren wurde<br />

mir der Vorschlag gemacht, eine Farm mit Wohnhaus für 100 Dollar zu übernehmen. Später ist<br />

das leere Haus unter der Last <strong>des</strong> Schnees zusammengebrochen. In Oregon sahen wir viele verlassene<br />

Farmen mit Wohnhäuschen und Gemüsegärtchen. <strong>Ein</strong>s davon, das wir besucht haben, war ausgezeichnet<br />

gebaut: ein kräftiges von Meisterhand zusammengefügtes Blockhaus mit einigen Gerätschaften. Und<br />

alles das war vom Farmer verlassen. Jedermann konnte alles unentgeltlich in Besitz nehmen."(16)<br />

Wohin wendet sich der ruinierte Farmer der Union? - Er zieht mit seinem Wanderstab dem<br />

"Weizenzentrum" und den Eisenbahnen nach. Das Weizenparadies verschiebt sich zum Teil nach Kanada<br />

an den Saskatschewan und den Mackenziefluß, wo Weizen noch unter dem 62. Grad nördlicher Breite<br />

gedeiht. Ihm folgt ein Teil der Farmer der Union (17), um nach einiger Zeit in Kanada noch einmal<br />

dasselbe Schicksal durchzumachen. Kanada ist in den letzten Jahren auf dem Weltmarkt in die Reihe der<br />

Weizenausfuhrländer eingetreten, dort wird aber die Landwirtschaft noch mehr vom Großkapital<br />

beherrscht.(18)<br />

<strong>Die</strong> Verschleuderung der öffentlichen Ländereien an privatkapitalistische Gesellschaften ist in Kanada<br />

noch ungeheuerlicher betrieben worden als in den Vereinigten Staaten. Der Charter und Landgrant der<br />

kanadischen Pazifikbahngesellschaft ist etwas Beispielloses an öffentlichem Raub durch das<br />

Privatkapital. Der Gesellschaft war nicht bloß das Monopol auf den Eisenbahnbau für 20 Jahre gesichert,<br />

die ganze zu bebauende Strecke von etwa 713 englischen Meilen im Werte von zirka 35 Millionen Dollar<br />

gratis zur Verfügung gestellt, nicht bloß hatte der Staat auf 10 Jahre eine Zinsgarantie für 3<br />

Prozent auf das Aktienkapital von 100 Millionen Dollar übernommen und ein bares Darlehen von 27 1/2<br />

Millionen Dollar gewährt. Außer alledem ist der Gesellschaft ein Landgebiet von 25 Millionen Acres<br />

geschenkt worden. und zwar zur beliebigen Auswahl unter den fruchtbarsten und bestgelegenen<br />

Ländereien auch außerhalb <strong>des</strong> unmittelbar die Bahn begleitenden Gürtels. Alle die künftigen Ansiedler<br />

auf der<br />

ungeheuren Fläche waren so von vornherein dem Eisenbahnkapital auf Gnade und Ungnade<br />

überantwortet. <strong>Die</strong> Eisenbahnkompanie hat ihrerseits 5 Millionen Acres, um sie möglichst rasch zu Geld<br />

zu machen, gleich weiter an die Nordwest-Landkompanie, d.h. an eine Vereinigung von englischen<br />

Kapitalisten unter Führung <strong>des</strong> Herzogs von Manchester verschleudert. <strong>Die</strong> zweite Kapitalgruppe, an die<br />

öffentliche Ländereien mit vollen Händen verschenkt wurden, ist die Hudsonbaikompanie, die für den<br />

Verzicht auf ihre Privilegien im Nordwesten einen Anspruch auf nicht weniger als ein Zwanzigstel allen<br />

Lan<strong>des</strong> in dem ganzen Gebiet zwischen dem Lake Winnipeg, der Grenze der Vereinigten Staaten, den<br />

Rocky Mountains und dem nördlichen Saskatschewan erhielt. <strong>Die</strong> zwei Kapitalgruppen haben so<br />

zusammen fünf Neuntel <strong>des</strong> besiedelungsfähigen Lan<strong>des</strong> in ihre Hände bekommen. Von den übrigen<br />

Ländereien hatte der Staat einen bedeutenden Teil 26 kapitalistischen "Kolonisationsgesellschaften"<br />

zugewiesen.(19) So befindet sich der Farmer in Kanada fast von allen Seiten in den Netzen <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong><br />

und seiner Spekulation. Und trotzdem die Masseneinwanderung nicht nur aus Europa, sondern auch aus<br />

den Vereinigten Staaten!<br />

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<strong>Die</strong>s sind die Züge der <strong>Kapitals</strong>herrschaft auf der Weltbühne: Aus England trieb sie den Bauern,<br />

nachdem sie ihn vom Boden verdrängt hatte, nach dem Osten der Vereinigten Staaten, vom Osten nach<br />

dem Westen, um aus ihm auf den Trümmern der Indianerwirtschaft wieder einen kleinen<br />

Warenproduzenten zu machen, vom Westen treibt sie ihn, abermals ruiniert, nach dem Norden - die<br />

Eisenbahnen voran und den Ruin hinterher, d.h. das Kapital als Führer vor sich und das Kapital als<br />

Totschläger hinter sich. <strong>Die</strong> allgemeine zunehmende Teuerung der landwirtschaftlichen Produkte ist<br />

wieder an Stelle <strong>des</strong> tiefen Preisfalls der 90er Jahre getreten, aber der amerikanische kleine Farmer hat<br />

davon sowenig Nutzen wie der europäische Bauer.<br />

<strong>Die</strong> Anzahl der Farmen wächst freilich unaufhörlich. Im letzten Jahrzehnt <strong>des</strong> vorigen Jahrhunderts ist<br />

sie von 4,6 Millionen auf 5,7 Millionen gewachsen, und auch im letzten Jahrzehnt ist sie absolut<br />

gestiegen. Gleichzeitig stieg der Gesamtwert der Farmen; während der letzten zehn Jahre ist er von 751,2<br />

Millionen Dollar auf 1.652,8 Millionen Dollar gewachsen.(20) <strong>Die</strong> allgemeine Steigerung der Preise für<br />

Bodenprodukte hätte dem Farmer anscheinend auf einen grünen Zweig verhelfen sollen. Trotzdem sehen<br />

wir, daß die Zahl der Pächter unter den Farmern noch rascher wächst als die Zahl der Farmer im ganzen.<br />

<strong>Die</strong> Pächter bildeten im Verhältnis zur Gesamtzahl der Farmer der Union<br />

1880 25,5%<br />

1890 28,4%<br />

1900 35,3%<br />

1910 37,2%<br />

Trotz der Steigerung der Preise für Bodenprodukte machen die Farmereigentümer relativ immer mehr<br />

den Pächtern Platz. <strong>Die</strong>se aber, die jetzt schon weit über ein Drittel aller Farmer der Union darstellen,<br />

sind in den Vereinigten Staaten die unseren europäischen Landarbeitern entsprechende Schicht, die<br />

richtigen Lohnsklaven <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, das beständig fluktuierende Element, das unter äußerster<br />

Anspannung der Kräfte für das Kapital Reichtümer schafft, ohne für sich selbst etwas anderes als eine<br />

elende und unsichere Existenz herausschlagen zu können.<br />

Derselbe Prozeß in einem ganz anderen historischen Rahmen - in Südafrika - zeigt noch deutlicher die<br />

"friedlichen Methoden" <strong>des</strong> kapitalistischen Wettbewerbs mit dem kleinen Warenproduzenten.<br />

Bis zu den 60er Jahren <strong>des</strong> vorigen Jahrhunderts herrschten in der Kapkolonie und in den<br />

Burenrepubliken rein bäuerliche Verhältnisse. <strong>Die</strong> Buren führten lange Zeit das Leben nomadisierender<br />

Viehzüchter, indem sie den Hottentotten und Kaffern die besten Weideplätze wegnahmen, sie selbst nach<br />

Kräften ausrotteten oder verdrängten. Im 18. Jahrhundert leistete ihnen die von den Schiffen der<br />

Ostindischen Kompanie verschleppte Pest treffliche <strong>Die</strong>nste, indem sie wiederholt ganze<br />

Hottentottenstämme dahinraffte und so für die holländischen <strong>Ein</strong>wanderer den Boden frei machte. Durch<br />

ihre Ausbreitung nach dem Osten prallten sie mit den Bantustämmen zusammen und eröffneten die lange<br />

Periode der furchtbaren Kaffernkriege. <strong>Die</strong> frommen und bibelfesten Holländer, die sich auf ihre<br />

altmodische puritanische Sittenstrenge und ihre Kenntnis <strong>des</strong> Alten Testaments als "auserwähltes Volk"<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 29. Kapitel<br />

nicht wenig zugute taten, begnügten sich jedoch nicht mit dem Raub der Ländereien der<br />

<strong>Ein</strong>geborenen, sondern sie richteten ihre bäuerliche Wirtschaft wie Parasiten auf eiern Rücken der Neger<br />

ein, die sie zur Sklavenarbeit für sich zwangen und zu diesem Behufe systematisch und zielbewußt<br />

korrumpierten und entnervten. Der Branntwein spielte dabei eine so wesentliche Rolle, daß das<br />

Branntweinverbot der englischen Regierung in der Kapkolonie an dem Widerstand der Puritaner<br />

scheiterte. Im allgemeinen blieb die Wirtschaft der Buren bis in die 60er Jahre vorwiegend<br />

patriarchalisch und naturalwirtschaftlich. Wurde doch erst 1859 die erste Eisenbahn in Südafrika gebaut.<br />

Der patriarchalische Charakter verhinderte freilich keineswegs die äußerste Härte und Roheit der Buren.<br />

Livingstone beklagte sich bekanntlich viel mehr über die Buren als über die Kaffern. <strong>Die</strong> Neger schienen<br />

ihnen ein so von Gott und Natur zur Sklavenarbeit für sie bestimmtes Objekt, eine so unentbehrliche<br />

Grundlage der Bauernwirtschaft zu sein, daß sie die Aufhebung der Sklaverei in den englischen Kolonien<br />

im Jahre 1836, trotz der Abfindung der Eigentümer hier mit 3 Millionen Pfund Sterling, mit dem "großen<br />

Treck" beantworteten. <strong>Die</strong> Buren wanderten aus der Kapkolonie über den Oranje und Vaal aus, trieben<br />

dabei die Matabeles nach Norden über den Limpopo und hetzten sie den Makalakas auf den Hals. Wie<br />

der amerikanische Farmer unter den Streichen der <strong>Kapitals</strong>wirtschaft die Indianer vor sich her nach dem<br />

Westen, so trieb der Bur die Neger nach dem Norden. <strong>Die</strong> "freien Republiken" zwischen Oranje und<br />

Limpopo entstanden so als Protest gegen den Anschlag der englischen Bourgeoisie auf das geheiligte<br />

Recht der Sklaverei. <strong>Die</strong> winzigen Bauernrepubliken lagen im ständigen Guerillakrieg mit den<br />

Bantunegern. Auf dem Rücken der Neger wurde nun der jahrzehntelange Kampf zwischen den Buren<br />

und der englischen Regierung ausgefochten. Als Vorwand zum Konflikt zwischen England und den<br />

Republiken diente die Negerfrage, nämlich die angeblich von der englischen Bourgeoisie angestrebte<br />

Emanzipation der Neger. In Wirklichkeit traten hier die Bauernwirtschaft und die großkapitalistische<br />

Kolonialpolitik in Konkurrenzkampf miteinander um die Hottentotten und Kaffern, d.h. um ihr Land und<br />

ihre Arbeitskraft. Das Ziel beider Konkurrenten war genau dasselbe: Niederwerfung, Verdrängung oder<br />

Ausrottung der Farbigen, Zerstörung ihrer sozialen Organisation, Aneignung ihres Grund und Bodens<br />

und Erzwingung ihrer Arbeit im <strong>Die</strong>nste der Ausbeutung. Nur die Methoden waren grundverschieden.<br />

<strong>Die</strong> Buren vertraten die veraltete Sklaverei im kleinen als Grundlage einer patriarchalischen<br />

Bauernwirtschaft, die englische Bourgeoisie - die moderne großangelegte kapitalistische Ausbeutung <strong>des</strong><br />

Lan<strong>des</strong> und der <strong>Ein</strong>geborenen. Das Grundgesetz der Transvaalrepublik erklärte mit bornierter<br />

Schroffheit: "Das Volk duldet keine Gleichheit zwischen Weißen und Schwarzen weder im Staat noch in<br />

der Kirche." In Oranje und in Transvaal durfte kein Neger Land besitzen und ohne Paß reisen oder sich<br />

bei Dunkelheit auf der Straße sehen lassen. Bryce erzählt einen Fall, wo ein Bauer (und zwar ein<br />

Engländer) im östlichen Kapland seinen Kaffer zu Tode gepeitscht hatte. Als der Bauer, vor Gericht<br />

gestellt, freigesprochen wurde, brachten ihn seine Nachbarn mit Musik nach Haus. Häufig suchten sich<br />

die Weißen auch der Löhnung an freie eingeborene Arbeiter dadurch zu entziehen, daß sie sie nach<br />

getaner Arbeit durch Mißhandlungen zur Flucht zwangen.<br />

<strong>Die</strong> englische Regierung befolgte die gerade entgegengesetzte Taktik. Sie trat lange Zeit als die<br />

Beschützerin der <strong>Ein</strong>geborenen auf, umschmeichelte namentlich die Häuptlinge, stützte ihre Autorität<br />

und suchte ihnen das Recht der Disposition über Ländereien zu oktroyieren. Ja, sie machte die<br />

Häuptlinge, soweit es ging, nach bewährter Methode zu Eigentümern <strong>des</strong> Stammlan<strong>des</strong>, obwohl dies dem<br />

Herkommen und den tatsächlichen sozialen Verhältnissen der Neger ins Gesicht schlug. Das Land war<br />

nämlich bei sämtlichen Stämmen Gemeineigentum, und selbst die grausamsten, <strong>des</strong>potischsten<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 29. Kapitel<br />

Herrscher, wie der Matabelehäuptling Lobengula, hatten nur das Recht und die Pflicht, jeder Familie eine<br />

Parzelle zum Anbau anzuweisen, die auch nur so lange im Besitze der Familie blieb, wie sie tatsächlich<br />

bearbeitet wurde. Der Endzweck der englischen Politik war klar: Sie bereitete von langer Hand den<br />

Landraub im großen Stil vor, wobei sie die Häuptlinge der <strong>Ein</strong>geborenen selbst zu ihren Werkzeugen<br />

machte. Vorerst beschränkte sie sich auf die "Pazifizierung" der Neger durch große militärische<br />

Aktionen. Neun blutige Kaffernkriege wurden bis 1879 durchgeführt, um den Widerstand der Bantus zu<br />

brechen.<br />

Offen und mit aller Energie rückte das englische Kapital mit seinen eigentlichen Absichten erst heraus,<br />

als zwei wichtige Ereignisse: die Entdeckung der Diamantfelder Kimberleys 1867/70 und die<br />

Entdeckung der Goldminen Transvaals 1882/83 eine neue Epoche in der Geschichte Südafrikas<br />

eröffneten. Bald trat die Britisch-Südafrikanische Gesellschaft, d.h. Cecil Rho<strong>des</strong> in Aktion. In der<br />

öffentlichen Meinung Englands vollzog sich ein rapider Umschwung. <strong>Die</strong> Gier nach den<br />

südafrikanischen Schätzen trieb die englische Regierung zu energischen Schritten an. Keine <br />

Kosten und keine Blutopfer schienen der englischen Bourgeoisie zu groß, um sich der Länder in<br />

Südafrika zu bemächtigen. Hierher ergoß sich plötzlich ein gewaltiger Strom der <strong>Ein</strong>wanderung. Bis<br />

dahin war sie gering; die Vereinigten Staaten lenkten die europäische Emigration von Afrika ab. Seit den<br />

Entdeckungen der Diamant- und Goldfelder wuchs die Anzahl der Weißen in den südafrikanischen<br />

Kolonien sprunghaft: 1885-1895 waren 100.000 Engländer am Witwatersrand allein eingewandert. <strong>Die</strong><br />

bescheidene Bauernwirtschaft wurde nun in den Hintergrund geschoben, der Bergbau rückte an die erste<br />

Stelle und mit ihm das Grubenkapital.<br />

<strong>Die</strong> englische Regierung machte nun einen schroffen Frontwechsel in ihrer Politik. In den 50er Jahren<br />

hatte England durch den Sand-River-Vertrag und durch den Bloemfontein-Vertrag die Burenrepubliken<br />

anerkannt. Jetzt begann die politische <strong>Ein</strong>kreisung der Bauernstaaten durch die Okkupation aller Gebiete<br />

um die winzigen Republiken herum, um ihnen jede Ausdehnung abzuschneiden, gleichzeitig wurden die<br />

lange beschützten und begönnerten Neger geschluckt. Schlag auf Schlag rückte das englische Kapital<br />

vor. 1868 nahm England das Basutoland - natürlich auf "wiederholtes Flehen" der <strong>Ein</strong>geborenen – unter<br />

seine Herrschaft.(21) 1871 wurden die Diamantfelder am Witwatersrand als "Westgriqualand" dem<br />

Oranjestaat entrissen und zur Kronkolonie gemacht, 1879 wurde das Zululand unterworfen, um später<br />

der Kolonie Natal einverleibt zu werden, 1885 wurde das Betschuanaland unterworfen und nachher der<br />

Kapkolonie angegliedert, 1888 unterwarf sich England die Matabele und das Maschonaland; 1889 bekam<br />

die Britisch-Südafrikanische Gesellschaft den Charter auf beide Gebiete - auch dies natürlich nur aus<br />

Gefälligkeit für die <strong>Ein</strong>geborenen und auf ihre inständigen Bitten (22), 1884 und 1887 wurde die St.-<br />

Lucia-Bai und die ganze Ostküste bis zum portugiesischen Besitz von England annektiert; 1894 nahm<br />

England das Tongaland in Besitz. <strong>Die</strong> Matabele und Maschona rafften sich noch zu einem<br />

Verzweiflungskampf auf, aber die Gesellschaft, mit Rho<strong>des</strong> an der Spitze, erstickte den Aufstand erst im<br />

Blute, um dann das probate Mittel der Zivilisierung und Pazifizierung der <strong>Ein</strong>geborenen anzuwenden:<br />

zwei große Eisenbahnen wurden im aufrührerischen Gebiet gebaut.<br />

Den Burenrepubliken wurde in dieser plötzlichen Umklammerung immer schwüler. Aber auch im Innern<br />

ging alles drunter und drüber. Der mächtige Strom der <strong>Ein</strong>wanderung und die Wellen der neuen<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 29. Kapitel<br />

fieberhaften <strong>Kapitals</strong>wirtschaft drohten alsbald die Schranken der kleinen Bauernstaaten zu sprengen.<br />

Der Widerspruch zwischen der Bauernwirtschaft auf dem Felde wie im Staate und den Anforderungen<br />

und Bedürfnissen der Kapitalakkumulation war in der Tat ein schreiender. Auf Schritt und Tritt<br />

versagten die Republiken gegenüber den neuen Aufgaben. Unbeholfenheit und Primitivität der<br />

Administration, die ständige Kafferngefahr, die wohl von England nicht mit scheelen Blicken angesehen<br />

war, Korruption, die sich in den Volksrand eingeschlichen hatte und durch Bestechung den Willen der<br />

Großkapitalisten durchsetzte, das Fehlen der Sicherheitspolizei, um die zuchtlose Gesellschaft der<br />

Glücksritter im Zaume zu halten, Mangel an Wasserzufuhr und Verkehrsmitteln zur Versorgung einer<br />

plötzlich aufgeschossenen Kolonie von 100.000 <strong>Ein</strong>wanderern, mangelnde Arbeitergesetze, um die<br />

Ausbeutung der Neger im Bergbau zu regeln und zu sichern, hohe Schutzzölle, die den Kapitalisten die<br />

Arbeitskraft verteuerten, hohe Frachten für Kohle - alles das fügte sich zu einem plötzlichen und<br />

betäubenden Bankrott der Bauernrepubliken zusammen.<br />

In ihrer plumpen Borniertheit wehrten sie sich gegen die Schlamm- und Lavaflut <strong>des</strong> Kapitalismus, die<br />

sie verschlang, durch das denkbar primitivste Mittel, das nur im Arsenal der dickköpfigen und starren<br />

Bauern zu finden war: Sie schlossen die Masse der "Uitlander", die sie an Zahl weitaus übertraf und<br />

ihnen gegenüber das Kapital, die Macht, den Zug der Zeit vertrat, von jeglichen politischen Rechten aus.<br />

Aber das war nur ein schlechter Spaß, und die Zeiten waren ernst. <strong>Die</strong> Dividenden litten empfindlich<br />

unter der bäuerlich-republikanischen Mißwirtschaft und konnten sie nicht länger dulden. Das<br />

Grubenkapital revoltierte. <strong>Die</strong> Britisch-Südafrikanische Gesellschaft baute Eisenbahnen, warf Kaffern<br />

nieder, organisierte Aufstände der Uitlander, provozierte endlich den Burenkrieg. <strong>Die</strong> Stunde der<br />

Bauernwirtschaft hatte geschlagen. In den Vereinig- ten Staaten war der Krieg Ausgangspunkt der<br />

Umwälzung, in Südafrika war er ihr Abschluß. Das Ergebnis war dasselbe: der Sieg <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong> über die<br />

kleine Bauernwirtschaft, die ihrerseits auf den Trümmern der primitiven naturalwirtschaftlichen<br />

Organisation der <strong>Ein</strong>geborenen erstanden war. Der Widerstand der Burenrepubliken gegen England war<br />

ebenso aussichtslos wie der Widerstand <strong>des</strong> amerikanischen Farmers gegen die <strong>Kapitals</strong>herrschaft in den<br />

Vereinigten Staaten. In der neuen Südafrikanischen Union, die, eine Verwirklichung <strong>des</strong><br />

imperialistischen Programms Cecil Rho<strong>des</strong>', an Stelle der kleinen Bauernrepubliken einen modernen<br />

Großstaat setzt, hat nunmehr das Kapital offiziell das Kommando übernommen. Der alte Gegensatz<br />

zwischen Engländern und Holländern ist in dem neuen Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit ertränkt<br />

worden:<br />

Beide Nationen haben ihre rührende Verbrüderung in der Union mit der bürgerlichen und politischen<br />

Entrechtung von 5 Millionen farbiger Arbeiterbevölkerung durch eine Million weißer Ausbeuter<br />

besiegelt. Dabei sind nicht bloß die Neger der Burenrepubliken leer ausgegangen, sondern den Negern<br />

der Kapkolonie, die von der englischen Regierung ehemals politische Gleichberechtigung erhalten<br />

hatten, ihre Rechte zum Teil genommen worden. Und dieses edle Werk, das die imperialistische Politik<br />

der Konservativen durch einen schamlosen Gewaltstreich gekrönt hat, sollte gerade von der liberalen<br />

Partei vollendet werden - unter dem frenetischen Beifall "der liberalen Kretins Europas", die mit Stolz<br />

und Rührung in der völligen Selbstverwaltung und Freiheit, die England der Handvoll Weißer in<br />

Südafrika schenkte, den Beweis feierten, welche schöpferische Macht und Größe doch noch dem<br />

Liberalismus in England innewohne.<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 29. Kapitel<br />

Der Ruin <strong>des</strong> selbständigen Handwerks durch die Konkurrenz <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong> ist ein Kapitel für sich, das<br />

weniger geräuschvoll, aber nicht minder qualvoll ist. <strong>Die</strong> kapitalistische Hausindustrie ist der dunkelste<br />

Abschnitt dieses Kapitels. Es erübrigt sich hier, auf diese Erscheinungen näher einzugehen.<br />

Allgemeines Resultat <strong>des</strong> Kampfes zwischen Kapitalismus und einfacher Warenwirtschaft ist dies: Das<br />

Kapital tritt selbst an Stelle der einfachen Warenwirtschaft, nachdem es die Warenwirtschaft an Stelle<br />

der Naturalwirtschaft gesetzt hatte. Wenn der Kapitalismus also von nichtkapitalistischen Formationen<br />

lebt, so lebt er, genauer gesprochen, von dem Ruin dieser Formationen, und wenn er <strong>des</strong><br />

nichtkapitalistischen Milieus zur <strong>Akkumulation</strong> unbedingt bedarf, so braucht er es als Nährboden, auf<br />

<strong>des</strong>sen Kosten, durch <strong>des</strong>sen Aufsaugung die <strong>Akkumulation</strong> sich vollzieht. Historisch aufgefaßt.<br />

ist die Kapitalakkumulation ein Prozeß <strong>des</strong> Stoffwechsels, der sich zwischen der kapitalistischen und den<br />

vorkapitalistischen Produktionsweisen vollzieht. Ohne sie kann die <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong> nicht vor<br />

sich gehen, die <strong>Akkumulation</strong> besteht aber, von dieser Seite genommen, im Zernagen und im<br />

Assimilieren jener. <strong>Die</strong> Kapitalakkumulation kann demnach sowenig ohne die nichtkapitalistischen<br />

Formationen existieren, wie jene neben ihr zu existieren vermögen. Nur im ständigen fortschreitenden<br />

Zerbröckeln jener sind die Daseinsbedingungen der Kapitalakkumulation gegeben.<br />

Das, was Marx als die Voraussetzung seines Schemas der <strong>Akkumulation</strong> angenommen hat, entspricht<br />

also nur der objektiven geschichtlichen Tendenz der <strong>Akkumulation</strong>sbewegung und ihrem theoretischen<br />

Endresultat. Der <strong>Akkumulation</strong>sprozeß hat die Bestrebung, überall an Stelle der Naturalwirtschaft die<br />

einfache Warenwirtschaft, an Stelle der einfachen Warenwirtschaft die kapitalistische Wirtschaft zu<br />

setzen, die Kapitalproduktion als die einzige und ausschließliche Produktionsweise in sämtlichen<br />

Ländern und Zweigen zur absoluten Herrschaft zu bringen.<br />

Hier beginnt aber die Sackgasse. Das Endresultat einmal erreicht - was jedoch nur theoretische<br />

Konstruktion bleibt -, wird die <strong>Akkumulation</strong> zur Unmöglichkeit: <strong>Die</strong> Realisierung und Kapitalisierung<br />

<strong>des</strong> Mehrwerts verwandelt sich in eine unlösbare Aufgabe. In dem Moment, wo das Marxsche Schema<br />

der erweiterten Reproduktion der Wirklichkeit entspricht, zeigt es den Ausgang, die historische Schranke<br />

der <strong>Akkumulation</strong>sbewegung an, also das Ende der kapitalistischen Produktion. <strong>Die</strong> Unmöglichkeit der<br />

<strong>Akkumulation</strong> bedeutet kapitalistisch die Unmöglichkeit der weiteren Entfaltung der Produktivkräfte und<br />

damit die objektive geschichtliche Notwendigkeit <strong>des</strong> Untergangs <strong>des</strong> Kapitalismus. Daraus ergibt sich<br />

die widerspruchsvolle Bewegung der letzten, imperialistischen Phase als der Schlußperiode in der<br />

geschichtlichen Laufbahn <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>.<br />

Das Marxsche Schema der erweiterten Reproduktion entspricht somit nicht den Bedingungen der<br />

<strong>Akkumulation</strong>, solange diese fortschreitet; sie läßt sich nicht in die festen Wechselbeziehungen und<br />

Abhängigkeiten zwischen den beiden großen Abteilungen der gesellschaftlichen Produktion (Abteilung<br />

der Produktionsmittel und Abteilung der Konsumtionsmittel) bannen, die das Schema formuliert. <strong>Die</strong><br />

<strong>Akkumulation</strong> ist nicht bloß ein inneres Verhältnis zwischen den Zweigen der kapitalistischen<br />

Wirtschaft, sondern vor allem ein Verhältnis zwischen Kapital und dem nichtkapitalistischen Milieu, in<br />

dem jeder der beiden großen Zweige der Produktion den <strong>Akkumulation</strong>sprozeß zum Teil auf<br />

eigene Faust unabhängig vom anderen durchmachen kann, wobei sich die Bewegung beider wieder auf<br />

Schritt und Tritt kreuzt und ineinander verschlingt. <strong>Die</strong> sich daraus ergebenden komplizierten<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 29. Kapitel<br />

Beziehungen, die Verschiedenheit <strong>des</strong> Tempos und der Richtung im Gang der <strong>Akkumulation</strong> beider<br />

Abteilungen, ihre sachlichen und Wertzusammenhänge mit nichtkapitalistischen Produktionsformen,<br />

lassen sich nicht unter einen exakten schematischen Ausdruck bringen. Das Marxsche Schema der<br />

<strong>Akkumulation</strong> ist nur der theoretische Ausdruck für denjenigen Moment, wo die <strong>Kapitals</strong>herrschaft ihre<br />

letzte Schranke erreicht haben wird, und insofern ist es ebenso wissenschaftliche Fiktion wie sein<br />

Schema der einfachen Reproduktion, das den Ausgangspunkt der kapitalistischen Produktion theoretisch<br />

formuliert. Aber zwischen diesen beiden Fiktionen allein ist die exakte Erkenntnis der<br />

Kapitalakkumulation und ihrer Gesetze eingeschlossen.<br />

Fußnoten von <strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong><br />

(1) In China hat sich das häusliche Gewerbe bis in die jüngste Zeit sogar beim Bürgertum in weitem<br />

Maße erhalten, selbst in so großen und alten Handelsstädten, wie z.B. Ningpo mit seinen 300.000<br />

<strong>Ein</strong>wohnern. "Noch vor einem Menschenalter machten die Frauen selbst Schuhe, Hüte, Hemden und<br />

sonstiges für ihre Männer und für sich. Es erregte damals in Ningpo viel Aufsehen. wenn eine junge Frau<br />

irgend etwas bei einem Händler einkaufte, was sie durch den Fleiß ihrer Hände selbst hätte herstellen<br />

können." (Nyok-Ching Tsur: <strong>Die</strong> gewerblichen Betriebsformen der Stadt Ningpo. Tübingen 1909. S. 51.)<br />


<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 29. Kapitel<br />

(6) "The necessity of the Situation, the critical state of the country, the urgent need of revenue, may have<br />

justified this haste, which, it is safe to say, is unexampled in the history of civilized countries." (Taussig:<br />

l.c., S. 168.)


<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 29. Kapitel<br />

1874/75 71,8<br />

1879/80 153,2<br />

1885/86 57,7<br />

1890/91 55,1<br />

1899/1900 101,9<br />

(Juratcheks Übersichten der Weltwirtschaft, Bd. VII, Abt. I. S. 32.<br />

Gleichzeitig ging der Preis pro Bushel Weizen loco Farm in Cents folgendermaßen herunter:<br />

1870/79 105<br />

1880/89 83<br />

1895 51<br />

1896 73<br />

1887 81<br />

1898 58<br />

Seit 1883, wo er den Tiefstand von 58 Cents pro Bushel erreicht hat, bewegt sich der Preis wieder<br />

aufwärts:<br />

1900 62<br />

1901 62<br />

1902 63<br />

1903 70<br />

1904 92<br />

(Juraschek: l.c., S. 18.)<br />

Nach den "Monatlichen Nachweisen über den auswärtigen Handel" stand der Preis pro 1.000 Kilogramm<br />

im Juni 1912 in Mark:<br />

<strong>Berlin</strong><br />

Weizen<br />

227,82<br />

Mannheim 247,93<br />

O<strong>des</strong>sa 173,94<br />

New York 178,08<br />

London 170,96<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 29. Kapitel<br />

Paris 243,69<br />

(12) Zit. bei: Peffer: l.c., Teil I: Where we are, Kapitel II: Progress of Agriculture, S. 30/31.


<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 29. Kapitel<br />

(21) "Moshesh, the great Basuto leader, tho whose courage and statesmanship the Basutos owed their<br />

very existence as a people, was still alive at the time, but constant war with the Boers of the Orange Free<br />

State had brought him and his followers to the last stage of distress. Two thousand Basuto warriors had<br />

been killed, cattle had been carried off, native homes had been broken up and crops <strong>des</strong>troyed. The tribe<br />

was reduced to the position of starving refugees, and nothing could save them but the protection of the<br />

British Government, which they had repeatedly implored." (C. P. Lucas: A Historical Geography of the<br />

British Colonies, Oxford, Bd. IV, S. 60.)


<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 30. Kapitel<br />

29. Kapitel | Inhalt | 31. Kapitel<br />

<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - Gesammelte Werke. Herausgegeben vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Band<br />

5. <strong>Berlin</strong>/DDR. 1975. "<strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>", S. 365-391.<br />

1. Korrektur.<br />

Erstellt am 20.10.1998<br />

Dreißigstes Kapitel<br />

<strong>Die</strong> internationale Anleihe<br />

<strong>Die</strong> imperialistische Phase der Kapitalakkumulation oder die Phase der Weltkonkurrenz <strong>des</strong><br />

<strong>Kapitals</strong> umfaßt die Industrialisierung und kapitalistische Emanzipation der früheren Hinterländer <strong>des</strong><br />

<strong>Kapitals</strong>, in denen es die Realisierung seines Mehrwerts vollzog. <strong>Die</strong> spezifischen Operationsmethoden<br />

dieser Phase sind: auswärtige Anleihen, Eisenbahnbauten, Revolutionen und Kriege. Das letzte<br />

Jahrzehnt, 1900-1910, ist besonders charakteristisch für die imperialistische Weltbewegung <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>,<br />

namentlich in Asien und dem an Asien angrenzenden Teil Europas: Rußland, Türkei, Persien, Indien,<br />

Japan, China, sowie in Nordafrika. Wie die Ausbreitung der Warenwirtschaft an Stelle der<br />

Naturalwirtschaft und der Kapitalproduktion an Stelle der einfachen Warenproduktion sich durch Kriege,<br />

soziale Krisen und Vernichtung ganzer sozialer Formationen durchsetzte, so setzt sich gegenwärtig die<br />

kapitalistische Verselbständigung der ökonomischen Hinterländer und Kolonien inmitten von<br />

Revolutionen und Kriegen durch. <strong>Die</strong> Revolution ist in dem Prozeß der kapitalistischen Emanzipation<br />

der Hinterländer notwendig, um die aus den Zeiten der Naturalwirtschaft und der einfachen<br />

Warenwirtschaft übernommene, <strong>des</strong>halb veraltete Staatsform zu sprengen und einen für die Zwecke der<br />

kapitalistischen Produktion zugeschnittenen modernen Staatsapparat zu schaffen. Dahin gehören die<br />

russische, die türkische und die chinesische Revolution. Daß diese Revolutionen, wie namentlich<br />

die russische und die chinesische, gleichzeitig mit den direkten politischen Anforderungen der<br />

<strong>Kapitals</strong>herrschaft teils allerlei veraltete vorkapitalistische Rechnungen, teils ganz neue, sich bereits<br />

gegen die <strong>Kapitals</strong>herrschaft richtende Gegensätze aufnehmen und an die Oberfläche zerren, bedingt ihre<br />

Tiefe und ihre gewaltige Tragkraft, erschwert aber und verzögert zugleich ihren siegreichen Verlauf. Der<br />

Krieg ist gewöhnlich die Methode eines jungen kapitalistischen Staates, um die Vormundschaft der alten<br />

abzustreifen, die Feuertaufe und Probe der kapitalistischen Selbständigkeit eines modernen Staates,<br />

weshalb die Militärreform und mit ihr die Finanzreform überall die <strong>Ein</strong>leitung zur wirtschaftlichen<br />

Verselbständigung bilden.<br />

<strong>Die</strong> Entwicklung <strong>des</strong> Eisenbahnnetzes widerspiegelt ungefähr das Vordringen <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>. Das<br />

Eisenbahnnetz wuchs am raschesten in den 40er Jahren in Europa, in den 50er Jahren in Amerika, in den<br />

60er Jahren in Asien, in den 70er und 80er Jahren in Australien, in den 90er Jahren in Afrika.(1)<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 30. Kapitel<br />

<strong>Die</strong> mit dem Eisenbahnbau wie mit den Militärrüstungen verknüpfte öffentliche Anleihe begleitet alle<br />

Stadien der Kapitalakkumulation: die <strong>Ein</strong>führung der Warenwirtschaft, die Industrialisierung der Länder<br />

und kapitalistische Revolutionierung der Landwirtschaft wie auch die Emanzipation der jungen<br />

kapitalistischen Staaten. <strong>Die</strong> Funktionen der Anleihe in der Kapitalakkumulation sind mannigfache:<br />

Verwandlung von Geld nichtkapitalistischer Schichten, Geld als Warenäquivalent (Ersparnisse <strong>des</strong><br />

kleinen Mittelstan<strong>des</strong>) oder Geld als Konsumtionsfonds <strong>des</strong> Anhanges der Kapitalistenklasse in<br />

Kapital, Verwandlung von Geldkapital in produktives Kapital vermittelst staatlicher Eisenbahnbauten<br />

und Militärlieferungen, Übertragung akkumulierten <strong>Kapitals</strong> aus alten kapitalistischen Ländern in junge.<br />

<strong>Die</strong> Anleihe übertrug im 16. und 17. Jahrhundert das Kapital aus den italienischen Städten nach England,<br />

im 18. Jahrhundert aus Holland nach England, im 19. Jahrhundert aus England nach den amerikanischen<br />

Republiken und nach Australien, aus Frankreich, Deutschland und Belgien nach Rußland, gegenwärtig<br />

aus Deutschland nach der Türkei, aus England, Deutschland, Frankreich nach China und unter<br />

Vermittlung Rußlands nach Persien.<br />

In der imperialistischen Periode spielt die äußere Anleihe die hervorragendste Rolle als Mittel der<br />

Verselbständigung junger kapitalistischer Staaten. Das Widerspruchsvolle der imperialistischen Phase<br />

äußert sich handgreiflich in den Widersprüchen <strong>des</strong> modernen Systems der äußeren Anleihen. <strong>Die</strong>se sind<br />

unentbehrlich zur Emanzipation der aufstrebenden kapitalistischen Staaten und zugleich das sicherste<br />

Mittel für alte kapitalistische Staaten, die jungen zu bevormunden, die Kontrolle ihrer Finanzen und den<br />

Druck auf ihre auswärtige Politik, Zoll- und Handelspolitik auszuüben. Sie sind das hervorragendste<br />

Mittel, dem akkumulierten Kapital alter Länder neue Anlagesphären zu eröffnen und zugleich jenen<br />

Ländern neue Konkurrenten zu schaffen, den Spielraum der Kapitalakkumulation im ganzen zu erweitern<br />

und ihn gleichzeitig einzuengen.<br />

<strong>Die</strong>se Widersprüche <strong>des</strong> internationalen Anleihesystems sind ein klassischer Beleg dafür, wie sehr die<br />

Bedingungen der Realisierung und die der Kapitalisierung <strong>des</strong> Mehrwerts zeitlich und örtlich<br />

auseinanderfallen. <strong>Die</strong> Realisierung <strong>des</strong> Mehrwerts erfordert nur die allgemeine Verbreitung der<br />

Warenproduktion, seine Kapitalisierung hingegen erfordert die fortschreitende Verdrängung der<br />

einfachen Warenproduktion durch die Kapitalproduktion, wodurch sowohl die Realisierung wie die<br />

Kapitalisierung <strong>des</strong> Mehrwerts in immer engere Schranken eingezwängt werden. <strong>Die</strong> Verwendung <strong>des</strong><br />

internationalen <strong>Kapitals</strong> zum Ausbau <strong>des</strong> Welteisenbahnnetzes widerspiegelt diese Verschiebung. In den<br />

30er bis 60er Jahren <strong>des</strong> 19. Jahrhunderts dienten die Eisenbahnbauten und die hierfür aufgenommenen<br />

Anleihen hauptsächlich der Verdrängung der Naturalwirtschaft und der Ausbreitung der<br />

Warenwirtschaft. So die mit europäischem Kapital errichteten nordamerikanischen Eisenbahnen, so die<br />

russischen Eisenbahnanleihen der 60er Jahre. Hingegen dient der Eisenbahnbau in Asien seit zirka 20<br />

Jahren sowie in Afrika fast ausschließlich den Zwecken der imperialistischen Politik, der<br />

wirtschaftlichen Monopolisierung und der politischen Unterwerfung der Hinterländer. So die<br />

ostasiatischen und zentralasiatischen Eisenbahnbauten Rußlands. <strong>Die</strong> militärische Besetzung der<br />

Mandschurei durch Rußland war bekanntlich durch die Truppensendungen zur Sicherung der russischen<br />

Ingenieure bei ihren Arbeiten an der Mandschurischen Bahn vorbereitet worden. Denselben Charakter<br />

tragen die Rußland gesicherten Eisenbahnkonzessionen in Persien, die deutschen<br />

Eisenbahnunternehmungen in Kleinasien und Mesopotamien, die englischen und deutschen in Afrika.<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 30. Kapitel<br />

Hier muß auf ein Mißverständnis eingegangen werden, das die Anlage von Kapitalien in fremden<br />

Ländern und die Nachfrage aus diesen Ländern betrifft. <strong>Die</strong> Ausfuhr englischen <strong>Kapitals</strong> nach Amerika<br />

spielte schon zu Beginn der 20er Jahre <strong>des</strong> vorigen Jahrhunderts eine enorme Rolle und hat die erste<br />

echte Industrie- und Handelskrise Englands im Jahre 1825 in hohem Maße verschuldet. Seit 1824 wurde<br />

die Londoner Börse von südamerikanischen Wertpapieren überschwemmt. 1824-1825 haben die<br />

neugebildeten Staaten von Süd- und Zentralamerika für mehr als 20 Millionen Pfund Sterling<br />

Staatsanleihen in London aufgenommen. Außerdem wurden hier enorme Mengen südamerikanischer<br />

Industrieaktien und dergleichen angebracht. Der plötzliche Aufschwung und die Eröffnung der<br />

südamerikanischen Märkte haben ihrerseits eine starke Erhöhung der Ausfuhr englischer Waren nach den<br />

südamerikanischen und zentralamerikanischen Staaten hervorgerufen. <strong>Die</strong> Ausfuhr britischer Waren<br />

nach jenen Ländern betrug 1821 2,9 Millionen Pfund Sterling, 1825 6,4 Millionen Pfund Sterling.<br />

Den wichtigsten Gegenstand dieser Ausfuhr bildeten Baumwollgewebe. Unter dem Anstoß der starken<br />

Nachfrage wurde die englische Baumwollproduktion rasch erweitert, viele neue Fabriken gegründet. <strong>Die</strong><br />

in England verarbeitete Rohbaumwolle belief sich 1821 auf 129 Millionen Pfund Sterling, 1825 auf 167<br />

Millionen Pfund Sterling.<br />

So waren alle Elemente der Krise vorbereitet. Tugan-Baranowski wirft nun die Frage auf: "Woher haben<br />

aber die südamerikanischen Länder die Mittel genommen, um im Jahre 1825 zweimal soviel Waren zu<br />

kaufen als im Jahre 1821? <strong>Die</strong>se Mittel sind von den Engländern selbst geliefert worden. <strong>Die</strong> Anleihen,<br />

die auf der Londoner Börse aufgenommen worden sind, dienten zur Bezahlung für die eingeführten<br />

Waren. <strong>Die</strong> englischen Fabrikanten wurden durch die von ihnen selbst geschaffene Nach- frage<br />

getäuscht und mußten sich bald durch eigene Erfahrung überzeugen lassen, wie unbegründet ihre<br />

übertriebenen Hoffnungen waren."(2)<br />

Hier wird die Tatsache, daß die südamerikanische Nachfrage nach englischen Waren durch englisches<br />

Kapital hervorgerufen worden war, als eine "Täuschung", ein ungesun<strong>des</strong>, abnormes ökonomisches<br />

Verhältnis aufgefaßt. Tugan übernimmt hier unbesehen Ansichten von einem Theoretiker, mit dem er<br />

sonst nichts gemein haben will. <strong>Die</strong> Auffassung, daß die englische Krise <strong>des</strong> Jahres 1825 durch die<br />

"seltsame" Entwicklung <strong>des</strong> Verhältnisses zwischen dem englischen Kapital und der südamerikanischen<br />

Nachfrage zu erklären wäre, war zur Zeit jener Krise selbst aufgetaucht, und kein anderer als Sismondi<br />

stellte bereits dieselbe Frage wie Tugan-Baranowski und beschrieb in der zweiten Auflage seiner "Neuen<br />

Grundsätze" die Vorgänge mit aller Genauigkeit:<br />

"<strong>Die</strong> Eröffnung <strong>des</strong> ungeheuren Marktes, den das spanische Amerika den Produkten der Industrie darbot,<br />

scheint mir am wesentlichsten auf die Wiedererstarkung der englischen Manufakturen gewirkt zu haben.<br />

<strong>Die</strong> Regierung Englands war derselben Ansicht, und eine bis dahin unbekannte Tatkraft ist in den 7<br />

Jahren seit der Krisis vom Jahre 1818 geübt worden, um den englischen Handel in die entlegensten<br />

Gebiete Mexikos, Columbias, Brasiliens, Rio de la Platas, Chiles und Perus zu tragen. Ehe das<br />

Ministerium sich schlüssig gemacht hatte, diese neuen Staaten anzuerkennen, hatte es schon Vorsorge<br />

getroffen, den englischen Handel durch Schiffsstationen, die dauernd mit Linienschiffen besetzt waren,<br />

zu schützen, deren Befehlshaber mehr diplomatische als militärische Befugnisse hatten. Es hat dem<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 30. Kapitel<br />

Geschrei der Heiligen Allianz getrotzt und die neuen Republiken anerkannt in demselben Augenblick, als<br />

ganz Europa ihre Vernichtung beschloß. Aber wie groß auch die Absatzquellen waren, die das freie<br />

Amerika darbot, sie hätten doch nicht zugereicht, um alle Waren, die England über die Bedürfnisse <strong>des</strong><br />

Verbrauchs produziert hatte, aufzunehmen, wenn die Anleihen der neuen Republiken nicht plötzlich<br />

ohne Maß ihre Mittel, englische Waren zu kaufen, vermehrt hätten. Jeder Staat Amerikas entlieh von den<br />

Engländern eine Summe, um seine Regierung zu befestigen, und obgleich dies ein Kapital war,<br />

verausgabte er sie unmittelbar in demselben Jahre wie ein <strong>Ein</strong>kommen, d.h., er verbrauchte sie gänzlich,<br />

um englische Waren für öffentliche Rechnung zu kaufen oder die zu bezahlen, die für Rechnung von<br />

Privatleuten abgesandt worden waren. Zahlreiche Gesellschaften wurden zu gleicher Zeit gegründet mit<br />

ungeheueren Kapitalien, um alle amerikanischen Minen auszu- beuten, aber alles Geld, das sie<br />

ausgegeben haben, wurde zugleich in England <strong>Ein</strong>nahme, um die Maschinen zu bezahlen, die sie<br />

unmittelbar gebrauchten, oder die Waren, die nach den Orten gesandt waren, an denen die Maschinen<br />

arbeiten sollten. Solange dieser seltsame Handel angedauert hat, in dem die Engländer von den<br />

Amerikanern nur verlangten, daß sie mit dem englischen Kapital englische Waren kauften, schien der<br />

Gang der englischen Manufakturen glänzend zu sein. Nicht mehr das <strong>Ein</strong>kommen, sondern das englische<br />

Kapital hat den Verbrauch bewirkt, die Engländer, die ihre eigenen Waren, die sie nach Amerika<br />

schickten, selbst kauften und bezahlten, haben sich nur das Vergnügen entzogen, sie selbst zu<br />

genießen."(3) Sismondi zieht daraus den ihm eigenen Schluß, daß nur das <strong>Ein</strong>kommen, d.h. die<br />

persönliche Konsumtion, die wirkliche Schranke für den kapitalistischen Absatz bilde, und benutzt auch<br />

dieses Beispiel, um ein übriges Mal vor der <strong>Akkumulation</strong> zu warnen.<br />

In Wirklichkeit ist der Vorgang, der der Krise <strong>des</strong> Jahres 1825 voraufgegangen war, typisch geblieben<br />

für die Aufschwungsperiode und Expansion <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong> bis auf den heutigen Tag, und das "seltsame"<br />

Verhältnis bildet eine der wichtigsten Grundlagen der Kapitalakkumulation. Speziell in der Geschichte<br />

<strong>des</strong> englischen <strong>Kapitals</strong> wiederholt sich das Verhältnis regelmäßig vor jeder Krise, wie Tugan-<br />

Baranowski dies selbst durch folgende Zahlen und Tatsachen belegt. <strong>Die</strong> unmittelbare Ursache der Krise<br />

von 1836 war die Überfüllung der Märkte in den Vereinigten Staaten mit englischen Waren. Aber auch<br />

hier wurden diese Waren mit englischem Geld bezahlt. 1834 übertraf die Wareneinfuhr der Vereinigten<br />

Staaten ihre Ausfuhr um 6 Millionen Dollar, zugleich aber übertraf die <strong>Ein</strong>fuhr der Edelmetalle nach den<br />

Vereinigten Staaten die Ausfuhr fast um 16 Millionen Dollar. Noch im Krisenjahr selbst, 1836, belief<br />

sich der Überschuß der Wareneinfuhr auf 52 Millionen Dollar, und doch betrug der Überschuß der<br />

<strong>Ein</strong>fuhr an Edelmetall noch 9 Millionen Dollar. <strong>Die</strong>ser Geldstrom kam, so wie der Warenstrom auch, in<br />

der Hauptsache aus England, wo Eisenbahnaktien der Vereinigten Staaten massenhaft gekauft wurden.<br />

1835-1836 wurden in den Vereinigten Staaten 61 neue Banken mit 52 Millionen Dollar Kapital -<br />

vorwiegend englischen Ursprungs - gegründet. Also bezahlten die Engländer auch diesmal ihre Ausfuhr<br />

selbst. Genauso wurde der beispiellose industrielle Aufschwung im Norden der Vereinigten Staaten Ende<br />

der 50er Jahre, der in seinem Schlußergebnis zum Bürgerkrieg führte, mit englischem Kapital bestritten.<br />

<strong>Die</strong>ses Kapital schuf wieder in den Vereinigten Staaten den erweiterten Markt für die englische<br />

Industrie.<br />

Und nicht nur das englische, auch das übrige europäische Kapital beteiligte sich nach Kräften an dem<br />

"seltsamen Handel"; nach einer Äußerung Schäffles waren in den 5 Jahren 1849-1854 min<strong>des</strong>tens eine<br />

Milliarde Gulden an den verschiedenen europäischen Börsen in amerikanischen Wertpapieren angelegt.<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 30. Kapitel<br />

<strong>Die</strong> gleichzeitig hervorgerufene Belebung der Weltindustrie mündete auch in den Weltkrach 1857. In den<br />

60er Jahren beeilt sich das englische Kapital, außer in den Vereinigten Staaten dasselbe Verhältnis in<br />

Asien zu schaffen. Es fließt massenhaft nach Kleinasien und nach Ostindien, unternimmt hier großartige<br />

Eisenbahnbauten - das Eisenbahnnetz Britisch-Indiens betrug 1860 1.350, 1870 7.683, 1880 14.977,<br />

1890 27.000 Kilometer -, daraus ergibt sich sofort eine gesteigerte Nachfrage nach englischen Waten.<br />

Aber gleichzeitig strömt das englische Kapital, kaum daß der Sezessionskrieg beendet war, wieder nach<br />

den Vereinigten Staaten. Der enorme Eisenbahnbau der amerikanischen Union in den 60er und 70er<br />

Jahren - das Eisenbahnnetz betrug 1850 14.151, 1860 49.292, 1870 85.139, 1880 150.717, 1890 268.409<br />

Kilometer - wurde wiederum in der Hauptsache mit englischem Kapital bestritten. Zugleich bezogen aber<br />

diese Eisenbahnen ihr Material gleichfalls aus England, was eine der Hauptursachen der sprunghaften<br />

Entwicklung der englischen Kohlen- und Eisenindustrie und der Erschütterung dieser Zweige durch die<br />

amerikanischen Krisen 1866, 1873, 1884 war. Hier stimmte es also wörtlich, was Sismondi als ein<br />

augenscheinlicher Wahnwitz erschien: <strong>Die</strong> Engländer errichteten in den Vereinigten Staaten mit eigenem<br />

Eisen und sonstigem Material die Eisenbahnen, zahlten sich mit eigenem Kapital dafür und enthielten<br />

sich nur <strong>des</strong> "Genusses" dieser Eisenbahnen. <strong>Die</strong>ser Wahnwitz mundete jedoch dem europäischen<br />

Kapital trotz aller periodischen Krisen so gut, daß um die Mitte der 70er Jahre die Londoner Börse von<br />

einem förmlichen Fieber nach ausländischen Anleihen erfaßt wurde. 1870-1875 wurden in London<br />

solcher Anleihen für 260 Millionen Pfund Sterling aufgenommen - ihre unmittelbare Folge war eine<br />

rasch steigende Ausfuhr englischer Waren nach den exotischen Ländern; das Kapital floß massenhaft<br />

dahin, obgleich diese exotischen Staaten zeitweise bankrott wurden. Ende der 70er Jahre haben die<br />

Zinsenzahlung ganz oder teil- weise eingestellt: die Türkei, Ägypten, Griechenland, Bolivien,<br />

Costa Rica, Ecuador, Honduras, Mexiko, Paraguay, Peru, St. Domingo, Uruguay, Venezuela. Trotzdem<br />

wiederholt sich Ende der 80er Jahre das Fieber nach exotischen Staatsanleihen: südamerikanische<br />

Staaten, südafrikanische Kolonien nehmen gewaltige Quantitäten europäischen <strong>Kapitals</strong> auf. <strong>Die</strong><br />

Anleihen der argentinischen Republik z.B. betrugen 1874 10 Millionen Pfund Sterling, 1890 59,1<br />

Millionen Pfund Sterling.<br />

Auch hier baut England Eisenbahnen mit eigenem Eisen und eigener Kohle und bezahlt dafür mit<br />

eigenem Kapital. Das argentinische Eisenbahnnetz betrug 1883 3.123 Kilometer, 1893 13.691 Kilometer.<br />

Zugleich stieg die englische Ausfuhr in<br />

1886 1890<br />

Eisen 21,8 Mill. Pfd.Sterl. 31,6 Mill. Pfd.Sterl.<br />

Maschinen 10,1 Mill. Pfd.Sterl. 16,4 Mill. Pfd.Sterl.<br />

Kohle 9,8 Mill. Pfd.Sterl. 19,0 Mill. Pfd.Sterl.<br />

Speziell nach Argentinien belief sich die englische Gesamtausfuhr 1885 auf 4,7 Millionen Pfund<br />

Sterling, vier Jahre später schon auf 10,7 Millionen Pfund Sterling.<br />

Gleichzeitig fließt das englische Kapital vermittelst Staatsanleihen nach Australien. <strong>Die</strong> Anleihen der 3<br />

Kolonien Victoria, Neusüdwales und Tasmania betrugen Ende der 80er Jahre 112 Millionen Pfund<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 30. Kapitel<br />

Sterling, davon wurden 81 Millionen im Eisenbahnbau angelegt. <strong>Die</strong> Eisenbahnen Australiens umfaßten<br />

1880 4.900 Meilen, 1895 15.600 Meilen.<br />

Auch hier lieferte England zugleich das Kapital und die Materialien zum Bau der Eisenbahnen. Deshalb<br />

wurde es auch mitgerissen in den Strudel durch die Krisen 1890 in Argentinien, Transvaal, Mexiko,<br />

Uruguay wie 1893 in Australien.<br />

In den letzten zwei Jahrzehnten ist in dieser Beziehung nur der Unterschied eingetreten, daß neben<br />

englischem sich in hervorragendem Maße deutsches, französisches und belgisches Kapital in auswärtigen<br />

Anlagen und insbesondere in Anleihen betätigt. Der Eisenbahnbau in Kleinasien wurde seit den 50er und<br />

bis Ende der 80er Jahre vom englischen Kapital ausgeführt. Seitdem hat sich das deutsche Kapital<br />

Kleinasiens bemächtigt und führt den großen Plan der Anatolischen und der Bagdadbahn aus.<br />

<strong>Die</strong> Anlage <strong>des</strong> deutschen <strong>Kapitals</strong> in der Türkei ruft eine gesteigerte Ausfuhr deutscher Waren<br />

nach diesem Lande hervor.<br />

<strong>Die</strong> deutsche Ausfuhr nach der Türkei betrug 1896 28 Millionen Mark, 1911 113 Millionen Mark,<br />

speziell nach der asiatischen Türkei 1901 12 Millionen, 1911 37 Millionen Mark. Auch in diesem Falle<br />

werden die eingeführten deutschen Waren zu einem beträchtlichen Teil mit deutschem Kapital bezahlt,<br />

und die Deutschen enthalten sich nur - nach dem Sismondischen Ausdruck - <strong>des</strong> Vergnügens, ihre<br />

eigenen Erzeugnisse zu genießen.<br />

Sehen wir näher zu.<br />

Realisierter Mehrwert, der in England oder Deutschland nicht kapitalisiert werden kann und brachliegt,<br />

wird in Argentinien, Australien, Kapland oder Mesopotamien in Eisenbahnbau, Wasserwerke,<br />

Bergwerke usw. gesteckt. Maschinen, Material und dergleichen werden aus dem Ursprungslande <strong>des</strong><br />

<strong>Kapitals</strong> bezogen und mit demselben Kapital bezahlt. Aber so wird es auch im Lande selbst unter<br />

kapitalistischer Produktion gemacht: Das Kapital muß selbst seine Produktionselemente kaufen, sich in<br />

ihnen verkörpern, ehe es sich betätigen kann. Freilich - der Genuß der Produkte bleibt dann dem Lande,<br />

während er im ersteren Falle den Ausländern überlassen wird. Aber Zweck der kapitalistischen<br />

Produktion ist nicht Genuß der Produkte, sondern Mehrwert, <strong>Akkumulation</strong>. Das müßige Kapital hatte<br />

im Lande keine Möglichkeit zu akkumulieren, da kein Bedarf nach zuschüssigem Produkt vorhanden<br />

war. Im Auslande aber, wo noch keine kapitalistische Produktion entwickelt ist, ist eine neue Nachfrage<br />

in nichtkapitalistischen Schichten entstanden, oder sie wird gewaltsam geschaffen. Gerade daß der<br />

"Genuß" der Produkte auf andere übertragen wird, ist für das Kapital entscheidend. Denn der Genuß der<br />

eigenen Klassen: Kapitalisten und Arbeiter, kommt für die Zwecke der <strong>Akkumulation</strong> nicht in Betracht.<br />

Der "Genuß" der Produkte muß von den neuen Konsumenten allerdings realisiert, bezahlt werden. Dazu<br />

müssen die neuen Konsumenten Geldmittel haben. <strong>Die</strong>se liefert ihnen zum Teil der gleichzeitig<br />

entstehende Warenaustausch. An den Eisenbahnbau wie an den Bergbau (Goldgruben usw.) knüpft sich<br />

unmittelbar ein reger Warenhandel. <strong>Die</strong>ser realisiert allmählich das im Eisenbahnbau oder Bergbau<br />

vorgeschossene Kapital mitsamt dem Mehrwert. Ob das in dieser Weise ins Ausland fließende Kapital<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 30. Kapitel<br />

auf eigene Faust als Aktienkapital sich ein Arbeitsfeld sucht oder durch die Vermittelung <strong>des</strong> fremden<br />

Staates, als äußere Anleihe aufgenommen, die neue Betätigung in Industrie oder Verkehr findet, ob im<br />

ersteren Falle die Aktiengründungen vielfach als Schwindelgründungen bald verkrachen oder im<br />

letzteren Falle der borgende Staat schließlich bankrott wird und das Kapital auf diese oder jene Weise<br />

den Eigentümern manchmal teilweise verlorengeht, dies alles ändert nichts an der Sache im ganzen. So<br />

geht vielfach das <strong>Ein</strong>zelkapital auch im Ursprungslande bei Krisen verloren. <strong>Die</strong> Hauptsache ist, das<br />

akkumulierte Kapital <strong>des</strong> alten Lan<strong>des</strong> findet im neuen eine neue Möglichkeit, Mehrwert zu erzeugen<br />

und ihn zu realisieren, d.h. die <strong>Akkumulation</strong> fortzusetzen. <strong>Die</strong> neuen Länder umfassen neue große<br />

Gebiete naturalwirtschaftlicher Verhältnisse, die in warenwirtschaftliche umgewandelt, oder<br />

warenwirtschaftlicher, die vom Kapital verdrängt werden. Der für die Anlage <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong> alter<br />

kapitalistischer Länder in jungen charakteristische Eisenbahnbau und Bergbau (namentlich Goldgruben)<br />

hat in hervorragendem Maße die Eigenschaft, in bis dahin naturalwirtschaftlichen Verhältnissen plötzlich<br />

einen regen Warenhandel hervorzurufen; beide sind bezeichnend in der Wirtschaftsgeschichte als<br />

Marksteine der raschen Auflösung alter ökonomischer Formationen, sozialer Krisen, <strong>des</strong> Aufkommens<br />

moderner Verhältnisse, d.h. vor allem der Warenwirtschaft und dann der Kapitalproduktion.<br />

<strong>Die</strong> Rolle der äußeren Anleihen wie der Investierung <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong> in ausländischen Eisenbahn- und<br />

Minenaktien ist <strong>des</strong>halb die beste kritische Illustration zu dem Marxschen Schema der <strong>Akkumulation</strong>. In<br />

diesen Fällen ist die erweiterte Reproduktion <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong> eine Kapitalisierung <strong>des</strong> früher realisierten<br />

Mehrwerts (sofern die Anleihen oder die ausländischen Aktien nicht von kleinbürgerlichen oder<br />

halbproletarischen Ersparnissen gedeckt werden). Der Moment, die Umstände und die Form, worin das<br />

jetzt ins Neuland fließende Kapital der alten Länder realisiert war, haben nichts gemein mit seinem<br />

gegenwärtigen <strong>Akkumulation</strong>sfeld. Das englische Kapital, das nach Argentinien in den Eisenbahnbau<br />

floß, mag selbst früher indisches in China realisiertes Opium gewesen sein. Ferner: Das englische<br />

Kapital, das in Argentinien Eisenbahnen baut, ist nicht nur in seiner reinen Wertgestalt, als Geldkapital,<br />

englischer Provenienz, sondern auch seine sachliche Gestalt: Eisen, Kohle, Maschinen usw., stammt aus<br />

England, d.h., auch die Gebrauchsform <strong>des</strong> Mehrwerts kommt hier in England von vornherein in der für<br />

Zwecke der <strong>Akkumulation</strong> geeigneten Gestalt zur Welt. <strong>Die</strong> Arbeitskraft, die eigentliche<br />

Gebrauchsgestalt <strong>des</strong> variablen <strong>Kapitals</strong>, ist meist fremd; es sind eingeborene Arbeitskräfte, die in den<br />

neuen Ländern vom Kapital der alten als neue Objekte der Ausbeutung unterworfen werden. Wir können<br />

jedoch der Reinheit der Untersuchung halber annehmen, selbst die Arbeitskräfte sind <strong>des</strong>selben <br />

Ursprungs wie das Kapital. In der Tat rufen z.B. neuentdeckte Goldgruben - namentlich in der ersten Zeit<br />

- massenhafte <strong>Ein</strong>wanderung aus alten kapitalistischen Ländern hervor und werden in hohem Maße mit<br />

Arbeitskräften dieser Länder betrieben. Wir können also den Fall setzen, wo in einem neuen Lande<br />

Geldkapital, Produktionsmittel und Arbeitskräfte zugleich aus einem alten kapitalistischen Lande, sagen<br />

wir aus England, stammen. In England waren somit alle materiellen Voraussetzungen der <strong>Akkumulation</strong>:<br />

realisierter Mehrwert als Geldkapital, Mehrprodukt in produktiver Gestalt, endlich Reserven von<br />

Arbeitern vorhanden. Und doch konnte die <strong>Akkumulation</strong> in England nicht vonstatten gehen: England<br />

und seine bisherigen Abnehmer brauchten keine Eisenbahnen und keine Erweiterung der Industrie. Erst<br />

das Auftreten eines neuen Gebietes mit großen Strecken nichtkapitalistischer Kultur schuf den<br />

erweiterten Konsumtionskreis für das Kapital und ermöglichte ihm die erweiterte Reproduktion, d.h. die<br />

<strong>Akkumulation</strong>.<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 30. Kapitel<br />

Wer sind nun eigentlich diese neuen Konsumenten? Wer zahlt in letzter Linie die äußere Anleihe und<br />

realisiert den Mehrwert der mit ihr gegründeten Kapitalunternehmungen? In klassischer Weise<br />

beantwortet diese Frage die Geschichte der internationalen Anleihe in Ägypten.<br />

Drei Reihen von Tatsachen, die sich ineinander verschlingen, charakterisieren die innere Geschichte<br />

Ägyptens in der zweiten Hälfte <strong>des</strong> 19. Jahrhunderts: moderne Kapitalunternehmungen größten Stils, ein<br />

lawinenartiges Anwachsen der Staatsschuld und der Zusammenbruch der Bauernwirtschaft. In Ägypten<br />

bestand bis in die neueste Zeit Fronarbeit und die ungenierteste Gewaltpolitik <strong>des</strong> Wali und nachher <strong>des</strong><br />

Khediven in bezug auf die Grundbesitzverhältnisse. Aber gerade diese primitiven Verhältnisse boten<br />

einen unvergleichlich üppigen Boden für die Operationen <strong>des</strong> europäischen <strong>Kapitals</strong>. Ökonomisch<br />

konnte es sich vorerst nur darum handeln, Bedingungen für die Geldwirtschaft zu schaffen. <strong>Die</strong>se wurden<br />

denn auch mit direkten Gewaltmitteln <strong>des</strong> Staates geschaffen. Mehemed Ali, der Schöpfer <strong>des</strong> modernen<br />

Ägyptens, wandte hierin bis in die 30er Jahre eine Methode von patriarchalischer <strong>Ein</strong>fachheit an: Er<br />

"kaufte" den Fellachen je<strong>des</strong> Jahr von Staats wegen ihre gesamte Ernte ab, um ihnen davon nachher zu<br />

erhöhten Preisen das Minimum zu verkaufen, das zu ihrer Existenz und zur Aussaat notwendig war.<br />

Ferner verschrieb er Baum- wolle aus Ostindien, Zuckerrohr aus Amerika, Indigo und Pfeffer und<br />

schrieb den Fellachen von Staats wegen vor, was und wieviel sie von jedem zu pflanzen hätten, wobei<br />

Baumwolle und Indigo wiederum als Monopol der Regierung erklärt und nur an sie verkauft, also auch<br />

von ihr wiederverkauft werden durften. Durch solche Methoden wurde der Warenhandel in Ägypten<br />

eingeführt. Freilich tat Mehemed Ali auch für die Hebung der Produktivität der Arbeit nicht wenig. Er<br />

ließ alte Kanäle ausheben, Brunnen graben, vor allem begann er mit dem grandiosen Nilstauwerk bei<br />

Kaliub, das die Serie der großen Kapitalunternehmungen in Ägypten eröffnete. <strong>Die</strong>se erstrecken sich<br />

später auf vier große Gebiete: Bewässerungsanlagen, unter denen das Werk bei Kaliub, das von 1845 bis<br />

1853 gebaut wurde und außer der unbezahlten Fronarbeit 50 Millionen Mark verschlungen hatte - um<br />

sich übrigens zunächst als unbrauchbar zu erweisen -, den ersten Platz einnimmt; ferner Verkehrsstraßen,<br />

unter denen der Suezkanal die wichtigste und für die Schicksale Ägyptens fatalste Unternehmung war;<br />

sodann Baumwollbau und Zuckerproduktion. Mit dem Bau <strong>des</strong> Suezkanals hatte Ägypten bereits den<br />

Kopf in die Schlinge <strong>des</strong> europäischen <strong>Kapitals</strong> gesteckt, aus der es ihn nicht mehr herausziehen sollte.<br />

Den Anfang machte das französische Kapital, dem das englische alsbald auf dem Fuße folgte; der<br />

Konkurrenzkampf beider spielt durch die ganzen inneren Wirren in Ägypten während der folgenden 20<br />

Jahre. <strong>Die</strong> Operationen <strong>des</strong> französischen <strong>Kapitals</strong>, das sowohl das große Nilstauwerk in seiner<br />

Unbrauchbarkeit wie den Suezkanal ausführte, waren vielleicht die eigenartigsten Muster der<br />

europäischen Kapitalakkumulation auf Kosten primitiver Verhältnisse. Für die Wohltat <strong>des</strong><br />

Kanaldurchstichs, der Ägypten den europäisch-asiatischen Handel an der Nase vorbei ableiten und so<br />

den eigenen Anteil Ägyptens daran ganz empfindlich treffen sollte, verpflichtete sich das Land erstens<br />

zur Lieferung der Gratisarbeit von 20.000 Fronbauern auf Jahre hinaus, zweitens zur Übernahme von 70<br />

Millionen Mark Aktien gleich 40 Prozent <strong>des</strong> Gesamtkapitals der Suezkompanie. <strong>Die</strong>se 70 Millionen<br />

wurden zur Grundlage der riesigen Staatsschuld Ägyptens, die zwanzig Jahre später die militärische<br />

Okkupation Ägyptens durch England zur Folge hatte. In den Bewässerungsanlagen wurde eine plötzliche<br />

Umwälzung angebahnt, die uralten Sakiji, d.h. mit Ochsen betriebene Schöpfwerke, deren im Delta allein<br />

50.000 durch sieben Monate im Jahre in Bewegung waren, wurden zum Teil durch gewaltige<br />

Dampfpumpen ersetzt. Den Verkehr auf dem Nil zwischen Kairo und Assuan besorgten nunmehr<br />

moderne Dampfer. <strong>Die</strong> größte Umwälzung in den Wirtschaftsverhältnissen Ägyptens brachte aber<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 30. Kapitel<br />

der Baumwollbau mit sich. Als Folge <strong>des</strong> amerikanischen Sezessionskrieges und <strong>des</strong> englischen<br />

Baumwollhungers, der den Preis der Baumwolle von 60 bis 80 Pf pro Kilo auf 4 bis 5 M hinaufgetrieben<br />

hatte, wurde auch Ägypten von einem Fieber <strong>des</strong> Baumwollbaus ergriffen. Alles baute Baumwolle, vor<br />

allem aber die vizekönigliche Familie. Landraub in größtem Maßstab, Konfiskation, erzwungener "Kauf"<br />

oder einfacher <strong>Die</strong>bstahl vergrößerten rasch die vizeköniglichen Ländereien ungeheuer. Zahllose Dörfer<br />

verwandelten sich plötzlich in königliches Privateigentum, ohne daß jemand den rechtlichen Grund<br />

hierfür zu erklären wüßte. Und dieser gewaltige Güterkomplex sollte in kürzester Frist zu<br />

Baumwollplantagen verwendet werden. <strong>Die</strong>s stellte aber die ganze Technik <strong>des</strong> traditionellen<br />

ägyptischen Landhaus auf den Kopf. <strong>Ein</strong>dämmung <strong>des</strong> Lan<strong>des</strong>, um die Baumwollfelder vor der<br />

regelmäßigen Nilüberschwemmung zu schützen, dafür reichliches und geregeltes künstliches Bewässern<br />

tiefes und unermüdliches Pflügen, das dem mit dem Pflug aus den Pharaonenzeiten seinen Boden leicht<br />

kratzenden Fellah ganz unbekannt war, endlich die intensive Arbeit bei der Ernte - alles dies stellte<br />

enorme Anforderungen an die Arbeitskraft Ägyptens. <strong>Die</strong>se Arbeitskraft war aber immer dieselbe<br />

Fronbauernschaft, über die der Staat unumschränktes Verfügungsrecht sich anmaßte. <strong>Die</strong> Fellachen<br />

waren schon zu Tausenden auf die Fron bei dem Stauwerk von Kaliub getrieben, bei dem Suezkanal,<br />

jetzt wurden sie beansprucht für Dammbauten, Kanalarbeiten und Plantagen auf den vizeköniglichen<br />

Gütern. Jetzt brauchte der Khedive die 20.000 Sklaven, die er der Suezgesellschaft zur Verfügung<br />

gestellt hatte, für sich, woraus sich der erste Konflikt mit dem französischen Kapital ergab. <strong>Ein</strong><br />

Schiedsrichterspruch Napoleons III. erkannte der Suezgesellschaft eine Abfindungssumme von 67<br />

Millionen Mark zu, in die der Khedive um so leichteren Herzens einwilligen konnte, als sie doch<br />

schließlich aus denselben Fellachen herausgeschunden werden sollte, um deren Arbeitskraft sich der<br />

Streit drehte. Nun ging es an Bewässerungsarbeiten. Hierzu wurden massenhaft Dampfmaschinen aus<br />

England und Frankreich bezogen, Zentrifugalpumpen und Lokomobilen. Viele Hunderte davon<br />

wanderten aus England nach Alexandrien und weiter auf Dampfschiffen, Nilbooten und Kamelrücken<br />

nach allen Richtungen ins Land. Zur Bodenbearbeitung wurden Dampfpflüge benötigt, zumal 1864 eine<br />

Rinderpest sämtliches Vieh weggerafft hatte. Auch diese Maschinen kamen meist aus England. Das<br />

Fowlersche Unternehmen wurde speziell für den Bedarf <strong>des</strong> Vizekönigs auf Kosten Ägyptens<br />

plötzlich enorm erweitert.(4)<br />

<strong>Ein</strong>e dritte Art Maschinen, die Ägypten plötzlich in Massen benötigte, waren die Apparate zum<br />

Entkörnen und die Pressen zum Packen von Baumwolle. <strong>Die</strong>se Ginanlagen wurden zu Dutzenden in den<br />

Städten <strong>des</strong> Deltas eingerichtet. Sagasik, Tanta, Samanud und andere begannen zu rauchen wie englische<br />

Fabrikstädte. Große Vermögen rollten durch die Banken von Alexandrien und Kairo.<br />

Der Zusammenbruch der Baumwollspekulation kam schon im nächsten Jahr, als nach dem<br />

Friedensschluß in der amerikanischen Union der Preis der Baumwolle in wenigen Tagen von 27 Pence<br />

das Pfund auf 15, 12 und schließlich auf 6 Pence fiel. - Im nächsten Jahre warf sich Ismail Pascha auf<br />

eine neue Spekulation: die Rohrzuckerproduktion. Es galt jetzt den Südstaaten der Union, die ihre<br />

Sklaven verloren hatten, mit der Fronarbeit <strong>des</strong> ägyptischen Fellahs Konkurrenz zu machen. <strong>Die</strong><br />

ägyptische Landwirtschaft wurde zum zweitenmal auf den Kopf gestellt. Französische und englische<br />

Kapitalisten fanden ein neues Feld der raschesten <strong>Akkumulation</strong>. 1868 und 1869 wurden achtzehn riesige<br />

Zuckerfabriken bestellt mit einer Leistungsfähigkeit von je 200.000 Kilogramm Zucker täg- lich,<br />

also einer vierfachen Leistungsfähigkeit der größten bis dahin gekannten Anlagen. Sechs davon wurden<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 30. Kapitel<br />

in England, zwölf in Frankreich bestellt, doch ging infolge <strong>des</strong> Deutsch-Französischen Krieges der<br />

größte Teil <strong>des</strong> Auftrags nach England. Alle 10 Kilometer sollte den Nil entlang eine dieser Fabriken<br />

errichtet werden, als Mittelpunkt eines Distrikts von 10 Quadratkilometern, der das Zuckerrohr zu liefern<br />

hatte. Jede Fabrik benötigte täglich zum vollen Betrieb 2.000 Tonnen Zuckerrohr. Während hundert alte<br />

Dampfpflüge aus der Baumwollperiode zerbrochen umherlagen, wurden hundert neue für Zuckerrohrbau<br />

bestellt. Fellachen wurden zu Tausenden auf die Plantagen getrieben, während andere Tausende an dem<br />

Bau <strong>des</strong> Ibrahimiyehkanals fronten. Stock und Nilpferdpeitsche sausten in voller Tätigkeit. Bald entstand<br />

die Transportfrage: Um die Rohrmassen nach den Fabriken zu schaffen, mußten schleunigst ein Netz von<br />

Eisenbahnen um jede Fabrik, transportable Feldbahnen, fliegende Drahtseile, Straßenlokomotiven<br />

herbeigeschafft werden. Auch diese enormen Bestellungen fielen dem englischen Kapital zu. 1872 wurde<br />

die erste Riesenfabrik eröffnet. Viertausend Kamele besorgten provisorisch den Transport. Aber die<br />

Lieferung der erforderlichen Menge Rohr für den Betrieb erwies sich als bare Unmöglichkeit. Das<br />

Arbeitspersonal war völlig ungeeignet, der Fronfellah konnte mit der Karbatsche nicht plötzlich in einen<br />

modernen Industriearbeiter verwandelt werden. Das Unternehmen brach zusammen, viele bestellte<br />

Maschinen wurden gar nicht aufgestellt. Mit der Zuckerspekulation schließt 1873 die Periode der<br />

gewaltigen Kapitalunternehmungen Ägyptens.<br />

Wer lieferte das Kapital zu diesen Unternehmungen? <strong>Die</strong> internationalen Anleihen. Said Pascha nahm<br />

ein Jahr vor seinem Tode (1863) die erste Anleihe auf, die nominell 66 Millionen Mark, tatsächlich, nach<br />

Abzug von Provisionen, Diskont usw., 50 Millionen Mark in bar eintrug. Er vermachte auf Ismail diese<br />

Schuld und den Suezvertrag, der Ägypten schließlich eine Last von 340 Millionen Mark aufbürdete.<br />

1864 kam die erste Anleihe Ismails zustande, die nominell 114 Millionen zu 7 Prozent, in bar 9<br />

Millionen zu 8 1/4 Prozent betrug. <strong>Die</strong>se Anleihe wurde in einem Jahr verbraucht, wobei allerdings 67<br />

Millionen als Abfindungssumme an die Suezgesellschaft abgingen, der Rest wohl meist durch die<br />

Baumwollepisode verschlungen war. 1865 erfolgte durch die Anglo-Ägyptische Bank das erste<br />

sogenannte Daira-Anlehen, bei dem der Privatgrundbesitz <strong>des</strong> Khediven als Pfand diente; es betrug<br />

nominell 68 Millionen zu 9 Prozent, in Wirklichkeit 50 Millionen zu 12 Prozent. 1866 wurde durch<br />

Frühling und Göschen eine neue Anleihe von nominell 60 Millionen, in bar 52 Mil- lionen<br />

aufgenommen, 1867 eine neue durch die Ottomanische Bank von nominell 40, in Wirklichkeit 34<br />

Millionen. <strong>Die</strong> schwebende Schuld betrug um jene Zeit 600 Millionen. Zur Konsolidierung eines Teils<br />

derselben wurde 1868 eine große Anleihe durch das Bankhaus Oppenheim und Neffen aufgenommen<br />

von nominell 238 Millionen zu 7 Prozent, in Wirklichkeit kriegte Ismail nur 142 Millionen zu 13 1/2<br />

Prozent in die Hand. Damit konnten aber das prunkvolle Fest der Eröffnung <strong>des</strong> Suezkanals vor den<br />

versammelten Spitzen dar europäischen Hof-, Finanz und Halbwelt und die dabei entfaltete wahnwitzige<br />

Verschwendung bestritten sowie ein neuer Backschisch von 20 Millionen dem türkischen Oberherrn,<br />

dem Sultan, in die Hand gedrückt werden. 1870 folgte die Anleihe durch die Firma Bischoffsheim u.<br />

Goldschmidt im Betrage von nominell 142 Millionen zu 7<br />

Prozent, in Wirklichkeit 100 Millionen zu 13 Prozent. Sie diente dazu, die Kosten der Zuckerepisode zu<br />

decken. 1872 und 1873 folgten zwei Anleihen durch Oppenheim, eine kleine von 80 Millionen zu 14<br />

Prozent und eine große von nominell 640 Millionen zu 8 Prozent, die aber, da die von den europäischen<br />

Bankhäusern aufgekauften Wechsel zu <strong>Ein</strong>zahlungen benutzt wurden, in Wirklichkeit nur 220 Millionen<br />

in bar und die Reduktion der schwebenden Schuld auf die Hälfte einbrachte.<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 30. Kapitel<br />

1874 wurde noch der Versuch einer Lan<strong>des</strong>anleihe von 1.000 Millionen Mark gegen eine Jahresrente von<br />

9 Prozent gemacht, der aber nur 68 Millionen ergab. <strong>Die</strong> ägyptischen Papiere standen auf 54 Prozent<br />

ihres Nennwerts. <strong>Die</strong> öffentliche Schuld war im ganzen seit Said Paschas Tode binnen 13 Jahren von<br />

3.293.000 Pfund Sterling auf 94.110.000 Millionen Pfund Sterling, d.h. auf zirka 2 Milliarden Mark<br />

gewachsen.(5) Der Zusammenbruch stand vor der Tür.<br />

Auf den ersten Blick stellen diese Kapitaloperationen den Gipfel <strong>des</strong> Wahnwitzes dar. <strong>Ein</strong>e Anleihe jagte<br />

die andere, die Zinsen alter Anleihen wurden mit neuen Anleihen gedeckt, und riesige<br />

Industriebestellungen bei dem englischen und französischen Industriekapital wurden mit englischem und<br />

französischem geborgtem Kapital bezahlt.<br />

In Wirklichkeit machte das europäische Kapital, unter allgemeinem Kopfschütteln und Stöhnen Europas<br />

über die tolle Wirtschaft Ismails, beispiellose, märchenhafte Geschäfte in Ägypten, Geschäfte, die dem<br />

Kapital in seiner weltgeschichtlichen Laufbahn nur einmal als eine phantastische, modernisierte Auflage<br />

der biblischen fetten ägyptischen Kühe gelingen sollten. Vor allem bedeutete jede Anleihe eine<br />

wucherische Operation, bei der ein Fünftel bis ein Drittel und darüber hinaus der angeblich geliehenen<br />

Summe an den Fingern der europäischen Bankiers kleben blieb. <strong>Die</strong> wucherischen Zinsen mußten<br />

aber so oder anders schließlich bezahlt werden. Wo flossen die Mittel dazu her? Sie mußten in Ägypten<br />

selbst ihre Quelle haben, und diese Quelle war der ägyptische Fellah, die Bauernwirtschaft. <strong>Die</strong>se lieferte<br />

in letzter Linie alle wichtigsten Elemente der grandiosen Kapitalunternehmungen. Sie lieferte den Grund<br />

und Boden, da die in kürzester Zeit zu Riesendimensionen angewachsenen sogenannten<br />

Privatbesitzungen <strong>des</strong> Khediven, die die Grundlage der Bewässerungspläne, der Baumwoll- wie der<br />

Zuckerspekulation bildeten, durch Raub und Erpressung aus zahllosen Dörfern zusammengeschlagen<br />

wurden. <strong>Die</strong> Bauernwirtschaft lieferte auch die Arbeitskraft, und zwar umsonst, wobei die Erhaltung<br />

dieser Arbeitskraft während ihrer Ausbeutung ihre eigene Sorge war. <strong>Die</strong> Fronarbeit der Fellachen war<br />

die Grundlage der technischen Wunder, die europäische Ingenieure und europäische Maschinen in<br />

Bewässerungsanlagen, Verkehrsmitteln, in Landbau und Industrie Ägyptens schufen. Am Nilstauwerk<br />

bei Kaliub wie am Suezkanal, beim Eisenbahnbau wie bei der Errichtung der Dämme, auf den<br />

Baumwollplantagen wie in den Zuckerfabriken arbeiteten unübersehbare Scharen von Fronbauern, sie<br />

wurden nach Bedarf von einer Arbeit zur anderen geworfen und maßlos ausgebeutet. Mußte sich auch<br />

auf Schritt und ritt die technische Schranke der fronenden Arbeitskraft in ihrer Verwendbarkeit für<br />

moderne Kapitalzwecke zeigen, so war dies auf der anderen Seite reichlich wettgemacht durch das<br />

unbegrenzte Kommando über Masse, Dauer der Ausbeutung, Lebens- und Arbeitsbedingungen der<br />

Arbeitskraft, das hier dem Kapital in die Hand gegeben war.<br />

<strong>Die</strong> Bauernwirtschaft lieferte aber nicht nur Grund und Boden und Arbeitskraft, sondern auch Geld.<br />

Dazu diente das Steuersystem, das unter der <strong>Ein</strong>wirkung der <strong>Kapitals</strong>wirtschaft dem Fellah<br />

Daumenschrauben anlegte. <strong>Die</strong> Grundsteuer auf bäuerliche Ländereien, die immer wieder erhöht wurde,<br />

betrug Ende der 60er Jahre 55 M pro Hektar, während der Großgrundbesitz 18 M pro Hektar, die<br />

königliche Familie aber von ihren enormen Privatländereien gar nichts zahlte. Dazu kamen immer neue<br />

spezielle Abgaben, so zur Erhaltung der Bewässerungsanlagen, die fast ausschließlich den<br />

vizeköniglichen Besitzungen zugute kamen, 2,50 M pro Hektar. Für jeden Dattelbaum mußte der Fellah<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 30. Kapitel<br />

1,35 M, für jede Lehmhütte, die er bewohnte, 75 Pf zahlen Ferner kam die Kopfsteuer für jeden Mann<br />

über zehn Jahre im Betrage von 6,50 M hinzu. In Summa entrichteten die Fellachen unter Mehemed Ali<br />

50 Millionen, unter Said 100 Millionen, unter Ismail 163 Millionen Mark.<br />

Je mehr die Verschuldung bei dem europäischen Kapital wuchs, um so mehr mußte aus der<br />

Bauernwirtschaft herausgeschlagen werden.(6) 1869 wurden sämtliche Steuern um 10 Prozent erhöht<br />

und für 1870 im voraus erhoben. 1870 wurde die Grundsteuer um 8 M pro Hektar erhöht. <strong>Die</strong> Dörfer in<br />

Oberägypten begannen sich zu entvölkern, Hütten wurden eingerissen, man ließ das Land unbebaut, um<br />

Steuern zu entgehen. 1876 wurde die Steuer auf Dattelbäume um 50 Pf erhöht. Ganze Dörfer zogen aus,<br />

um ihre Dattelbäume umzuhauen, und mußten mit Gewehrsalven davon abgehalten werden. 1879 sollen<br />

10.000 Fellachen oberhalb Siuts vor Hunger umgekommen sein, da sie die Steuer für die Bewässerung<br />

ihrer Felder nicht mehr erschwingen konnten und ihr Vieh getötet hatten, um der Viehsteuer zu<br />

entgehen.(7)<br />

Jetzt war der Fellah bis auf den letzten Blutstropfen ausgesogen. Der ägyptische Staat hatte seine<br />

Funktion als Saugapparat in den Händen <strong>des</strong> europäischen <strong>Kapitals</strong> vollendet und ward überflüssig. Der<br />

Khedive Ismail wurde verabschiedet. Das Kapital konnte die Liquidation antreten.<br />

1875 hatte England 172.000 Suezkanalaktien für 80 Millionen M gekauft, wofür ihm Ägypten jetzt noch<br />

394.000 ägyptische Pfund Sterling an Zinsen zahlen muß. Englische Kommissionen zur "Ordnung" der<br />

Finanzen Ägyptens traten nun in Aktion. Merkwürdigerweise erbot sich das europäische Kapital, durch<br />

den verzweifelten Zustand <strong>des</strong> bankrotten Lan<strong>des</strong> gar nicht abgeschreckt, zu seiner "Rettung" immer<br />

neue Riesenanleihen zu gewähren. Cave und Stokes schlugen zur Umwandlung aller Schulden eine<br />

Anleihe von 1.520 Millionen Mark zu 7 Prozent vor, Rivers Wilson hielt 2.060 Millionen Mark für<br />

erforderlich. Der Crédit Foncier kaufte Millionen schwebender Wechsel auf und versuchte mit einer<br />

Anleihe von 1.820 Millionen Mark die Gesamtschuld zu konsolidieren, was jedoch fehlschlug. Aber je<br />

verzweifelter und unrettbarer die Finanzlage war, um so näher und unentrinnbarer der Augenblick, wo<br />

das ganze Land mit all seinen Produktivkräften dem europäischen Kapital in die Krallen fallen <br />

mußte. Im Oktober 1878 landeten die Vertreter der europäischen Gläubiger in Alexandrien. <strong>Ein</strong>e<br />

Doppelkontrolle der Finanzen durch das englische und französische Kapital wurde eingesetzt. Jetzt<br />

wurden im Namen der Doppelkontrolle neue Steuern erfunden, die Bauern geprügelt und gepreßt, so daß<br />

die 1876 zeitweilig eingestellten Zinsenzahlungen 1877 wieder aufgenommen werden konnten.(8) Nun<br />

wurden die Forderungsrechte <strong>des</strong> europäischen <strong>Kapitals</strong> zum Mittelpunkt <strong>des</strong> Wirtschaftslebens und zum<br />

einzigen Gesichtspunkt <strong>des</strong> Finanzsystems. 1878 kam eine neue Kommission und ein halbeuropäisches<br />

Ministerium zustande. 1879 kamen die ägyptischen Finanzen unter dauernde Kontrolle <strong>des</strong> europäischen<br />

<strong>Kapitals</strong> in der Person der Commission de la Dette Publique Egyptienne in Kairo. 1878 wurden die<br />

Tschifliks, die Ländereien der vizeköniglichen Familie im Umfange von 431.000 Acres, in<br />

Staatsdomänen verwandelt und den europäischen Kapitalisten für die Staatsschuld verpfändet, ebenso die<br />

Daira-Ländereien, das Privatgut <strong>des</strong> Khediven, das meist in Oberägypten gelegen war und 485.131 Acres<br />

umfaßte; es ist später an ein Konsortium verkauft worden. <strong>Ein</strong> großer Teil <strong>des</strong> sonstigen Grundbesitzes<br />

kam in die Hände von kapitalistischen Gesellschaften, namentlich an die Suezkompanie. <strong>Die</strong> geistlichen<br />

Ländereien der Moscheen und der Schulen hat England für die Kosten der Okkupation beschlagnahmt.<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 30. Kapitel<br />

<strong>Ein</strong>e Militärrevolte der ägyptischen Armee, die von der europäischen Finanzkontrolle ausgehungert<br />

wurde, während die europäischen Beamten glänzende Gehälter bezogen, und ein provoziertet Aufstand<br />

der geweißbluteten Massen in Alexandrien gaben den erwünschten Vorwand zum entscheidenden<br />

Schlag. 1882 rückte englisches Militär in Ägypten ein, um es nicht wieder zu verlassen und die<br />

Unterwerfung <strong>des</strong> Lan<strong>des</strong> zum Ergebnis der grandiosen Kapitaloperationen in Ägypten seit zwanzig<br />

Jahren und zum Abschluß der Liquidation der ägyptischen Bauernwirtschaft durch das europäische<br />

Kapital zu machen.(9) - Hier zeigte sich, daß der bei oberflächlicher Betrach- tung<br />

abgeschmackten Transaktion zwischen dem europäischen Leihkapital und dem europäischen<br />

Industriekapital, das die Bestellungen aus Ägypten mit jenem Leibkapital bezahlt, wobei die Zinsen der<br />

einen Anleihe durch das Kapital der anderen Anleihe gedeckt wurden, ein vom Standpunkt der<br />

Kapitalakkumulation sehr rationelles und "gesun<strong>des</strong>" Verhältnis zugrunde lag. <strong>Die</strong>ses läuft, nach<br />

Weglassung aller maskierenden Zwischenglieder, auf die einfache Tatsache hinaus, daß die ägyptische<br />

Bauernwirtschaft in gewaltigem Umfang vom europäischen Kapital aufgezehrt wurde: Enorme Strecken<br />

Grund und Boden, zahllose Arbeitskräfte und eine Masse Arbeitsprodukte, die als Steuern an den Staat<br />

entrichtet wurden, sind in letzter Linie in europäisches Kapital verwandelt und akkumuliert worden. Es<br />

ist klar, daß diese Transaktion, die den normalen Verlauf einer jahrhundertelangen geschichtlichen<br />

Entwicklung auf zwei bis drei Jahrzehnte zusammenpreßte, nur durch die Nilpferdpeitsche ermöglicht<br />

worden war und daß gerade die Primitivität der sozialen Verhältnisse Ägyptens die unvergleichliche<br />

Operationsbasis für die Kapitalakkumulation geschaffen hatte. Gegenüber dem märchenhaften<br />

Anschwellen <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong> auf der einen Seite erscheint hier als ökonomisches Resultat auf der anderen<br />

neben dem Ruin der Bauernwirtschaft das Aufkommen <strong>des</strong> Warenverkehrs und die Herstellung seiner<br />

Bedingungen in der Anspannung der Produktivkräfte <strong>des</strong> Lan<strong>des</strong>. Das bebaute und eingedämmte Land<br />

Ägyptens wuchs unter Ismails Regierung von 2 auf 2,7 Millionen Hektar, das Kanalnetz von 73.000 auf<br />

87.000 Kilometer, das Eisenbahnnetz von 410 auf 2.020 Kilometer. In Suez und Alexandrien wurden<br />

Docks, in Alexandrien großartige Hafenanlagen gebaut, ein Seedampferdienst für die Mekkapilger auf<br />

dem Roten Meer und entlang der syrischen und kleinasiatischen Küste eingeführt. <strong>Die</strong> Ausfuhr<br />

Ägyptens, die 1861 89 Millionen Mark betrug, schnellte 1864 auf 288 Millionen, die <strong>Ein</strong>fuhr, die unter<br />

Said Pascha 24 Millionen ausmachte, stieg unter Ismail auf 100 bis 110 Millionen Mark. Der Handel, der<br />

sich nach der Eröffnung <strong>des</strong> Suezkanals erst in den 80er Jahren erholt hat, betrug 1890 an <strong>Ein</strong>fuhr 163,<br />

an Ausfuhr 249 Millionen Mark, dagegen 1900 an <strong>Ein</strong>fuhr 238 Millionen, an Ausfuhr 355 Millionen<br />

Mark und 1911 an <strong>Ein</strong>fuhr 557, an Ausfuhr 593 Millionen Mark. Ägypten selbst ist freilich bei dieser<br />

sprunghaften Entwicklung der Warenwirtschaft mit Hilfe <strong>des</strong> europäischen <strong>Kapitals</strong> zu <strong>des</strong>sen Eigentum<br />

geworden. Wie in China, wie jüngst wieder in Marokko, hatte es sich schon in Ägypten gezeigt,<br />

daß hinter internationaler Anleihe, Eisenbahnbau, Wasseranlagen und dergleichen Kulturwerken der<br />

Militarismus als Vollstrecker der Kapitalakkumulation lauert. Während die orientalischen Staaten mit<br />

fieberhafter Hast ihre Entwicklung von der Naturalwirtschaft zur Warenwirtschaft und von dieser zur<br />

kapitalistischen durchmachen, werden sie vom internationalen Kapital verspeist, denn ohne sich diesem<br />

zu verschreiben, können sie die Umwälzung nicht vollziehen.<br />

<strong>Ein</strong> anderes gutes Beispiel aus der jüngsten Zeit bilden die Geschäfte <strong>des</strong> deutschen <strong>Kapitals</strong> in der<br />

asiatischen Türkei. Schon früh hatte sich das europäische, namentlich das englische Kapital dieses<br />

Gebietes, das auf der uralten Route <strong>des</strong> Welthandels zwischen Europa und Asien liegt, zu bemächtigen<br />

gesucht.(10)<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 30. Kapitel<br />

In den 50er und 60er Jahren sind vom englischen Kapital die Eisenbahnlinien Smyrna-Aidin-Diner und<br />

Smyrna-Kassaba-Alaschehr ausgeführt sowie die Konzession für die Weiterführung der Linie bis Afiun<br />

Karahissar erlangt, endlich auch die erste Strecke der Anatolischen Bahn Haidar-Pascha-Ismid gepachtet<br />

worden. Daneben bemächtigte sich das französische Kapital eines Teils <strong>des</strong> Eisenbahnbaus. 1888 tritt das<br />

deutsche Kapital auf den Plan. Durch Unterhandlung namentlich mit der französischen durch die Banque<br />

Ottomane vertretenen Kapitalgruppe kam eine internationale Interessenfusion zustande, wobei an dem<br />

großen Anatolischen und Bagdadbahnunternehmen die deutsche Finanzgruppe sich mit 60 Prozent, das<br />

internationale Kapital mit 40 Prozent beteiligen sollte.(11) <strong>Die</strong> Anatolische Eisenbahngesellschaft, hinter<br />

der hauptsächlich die Deutsche Bank steht, wurde als türkische Gesellschaft am 14. Redscheb <strong>des</strong> Jahres<br />

1306, d.h. am 4. März 1889, zur Übernahme der seit Anfang der 70er Jahre im Betrieb befindlichen Linie<br />

von Haidar-Pascha bis Ismid und zur Ausführung der Konzession der Bahnstrecke Ismid-Eski-Schehr-<br />

Angora (845 Kilometer) gegründet. <strong>Die</strong> Gesellschaft ist auch berechtigt, die Bahn Haidar-Pascha-<br />

Skutari und Zweigbahnen nach Brussa auszuführen. ferner durch die Konzession von 1893 ein<br />

Ergänzungsnetz Eski-Schehr-Konia (zirka 445 Kilometer) zu errichten, endlich die Strecke Angora-<br />

Kaisarie (425 Kilometer). <strong>Die</strong> türkische Regierung leistete der Gesellschaft die folgende Staatsgarantie:<br />

Bruttoeinnahme 10.300 Franc pro Jahr und Kilometer für die Strecke Haidar-Pascha-Ismid und 15.000<br />

Franc für die Strecke Ismid-Angora. Zu diesem Zweck hat die Regierung der Administration de la Dette<br />

Publique Ottomane die aus der Verpachtung der Zehnten der Sandschaks Ismid, Ertogrul, Kutahia und<br />

Angora eingehenden <strong>Ein</strong>nahmen zur direkten <strong>Ein</strong>ziehung überwiesen. <strong>Die</strong> Administration de la Dette<br />

Publique Ottomane soll aus diesen <strong>Ein</strong>nahmen der Bahngesellschaft so viel zahlen wie zur Erfüllung der<br />

von der Regierung garantierten Bruttoeinnahme erforderlich ist. Für die Strecke Angora-Kaisarie<br />

garantiert die Regierung eine Bruttoeinnahme in Gold von 775 türkischen Pfund = 17.800 Franc in Gold<br />

pro Kilometer und Jahr und für Eski-Schehr-Konia 604 türkische Pfund = 13.741 Franc, im letzteren<br />

Falle nur bis zum Höchstbetrage <strong>des</strong> Zuschusses von 219 türkischen Pfund = 4.995 Franc pro Kilometer<br />

und Jahr. Falls dagegen die Bruttoeinnahme die garantierte Höhe übersteigt, erhält die Regierung 25<br />

Prozent <strong>des</strong> Überschusses. <strong>Die</strong> Zehnten der Sandschaks Trebisond und Gümüschchane werden direkt an<br />

die Administration de la Dette Publique Ottomane bezahlt werden, die ihrerseits die erforderlichen<br />

Garantiezuschüsse an die Bahngesellschaft leistet. Alle Zehnten, die zur Erfüllung der von der Regierung<br />

gewährten Garantie bestimmt sind, bilden ein Ganzes. 1898 wurde die Garantie für Eski-Schehr-Konia<br />

von 219 türkischen Pfund auf 296 erhöht.<br />

1899 erwarb die Gesellschaft eine Konzession zum Bau und Betrieb eines Hafens nebst Anlagen in<br />

Haidar-Pascha, zur Warrantausgabe, zum Bau von Elevatoren für Getreide und Depots für Waren aller<br />

Art, ferner das Recht, alle <strong>Ein</strong>- und Ausladungen durch eigenes Personal vornehmen zu lassen, endlich<br />

auf dem Gebiete <strong>des</strong> Zollwesens die <strong>Ein</strong>richtung einer Art Freihafen.<br />

1901 erlangte die Gesellschaft die Konzession für die Bagdadbahn Konia-Bagdad-Basra-Persischer Golf<br />

(2.400 Kilometer), die sich mit der Strecke Konia-Eregli-Bulgurlu an die anatolische Strecke anschließt.<br />

Zur Ausführung der Konzession wurde von der alten eine neue Aktiengesellschaft gegründet, die den<br />

Bau der Linie zunächst bis Bulgurlu an eine in Frankfurt a.M. gegründete Baugesellschaft vergehen hat.<br />

Von 1893 bis 1910 hat die türkische Regierung an Zuschuß geleistet: für die Bahn Haidar-Pascha-<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 30. Kapitel<br />

Angora 48,7 Millionen Franc, für die Eski-Schehr-Konia-Strecke 1,8 Millionen türkische Pfund,<br />

zusammen also zirka 90,3 Millionen Franc.(12) Endlich durch die Konzession von 1907 sind der<br />

Gesellschaft die Arbeiten für die Trockenlegung <strong>des</strong> Sees von Karaviran und die Bewässerung der<br />

Koniaebene übertragen worden. <strong>Die</strong>se Arbeiten sind für die Rechnung der Regierung innerhalb sechs<br />

Jahren auszuführen. <strong>Die</strong>smal streckt die Gesellschaft der Regierung die erforderlichen Kapitalien vor bis<br />

zur Höhe von 19,5 Millionen Franc, mit 5 Prozent Verzinsung und Rückzahlung binnen 36 Jahren. Dafür<br />

hat die türkische Regierung verpfändet: 1. 25.000 türkische Pfund pro Jahr aus den Überschüssen der für<br />

den <strong>Die</strong>nst der Kilometergarantien und verschiedener Anleihen verpfändeten Zehnten, die unter der<br />

Verwaltung der Administration de la Dette Publique Ottomane stehen: 2. die auf den bewässerten<br />

Ländereien erzielten Mehrerträgnisse an Zehnten im Vergleich zu dem in den letzten fünf Jahren vor der<br />

Konzession erbrachten Durchschnittserträge; 3. die aus dem Betriebe der Irrigationsanlagen sich<br />

ergebenden Nettoeinnahmen; 4. den Ertrag <strong>des</strong> Verkaufs der trockengelegten oder bewässerten<br />

Ländereien. Zur Ausführung der Anlagen hat die Gesellschaft in Frankfurt a.M. eine Baugesellschaft "für<br />

die Bewässerung der Koniaebene" mit einem Kapital von 135 Millionen Franc gegründet.<br />

1908 erhielt die Gesellschaft eine Konzession für die Verlängerung der Koniabahn bis Bagdad und zum<br />

Persischen Golf, wieder mit Kilometergarantie.<br />

<strong>Die</strong> 4prozentige Bagdadbahnanleihe in drei Serien (54, 108 und 119 Millionen Franc), die als Zahlung<br />

für den Kilometerzuschuß aufgenommen wurde, ist sichergestellt durch die Verpfändung der Zehnten der<br />

Wilajets Aidin, Bagdad, Mossul, Diarbekr, Urfa und Aleppo, durch die Verpfändung der Hammelsteuer<br />

der Wilajets Konia, Adana und Aleppo u.a.(13)<br />

Hier tritt die Grundlage der <strong>Akkumulation</strong> ganz klar zutage. Das deutsche Kapital baut in der<br />

asiatischen Türkei Eisenbahnen. Häfen, Bewässerungsanlagen. Es preßt bei all diesen Unternehmungen<br />

aus den Asiaten, die es als Arbeitskraft verwendet, neuen Mehrwert aus. <strong>Die</strong>ser Mehrwert muß aber<br />

mitsamt den in der Produktion verwendeten Produktionsmitteln aus Deutschland (Eisenbahnmaterial,<br />

Maschinen usw.) realisiert werden. Wer hilft sie realisieren? Zum Teil der durch die Eisenbahnen,<br />

Hafenanlagen usw. hervorgerufene Warenverkehr, der inmitten der naturalwirtschaftlichen Verhältnisse<br />

Kleinasiens großgezogen wird. Zum Teil, sofern der Warenverkehr für die Realisierungsbedürfnisse <strong>des</strong><br />

<strong>Kapitals</strong> nicht rasch genug wächst, werden Naturaleinkünfte der Bevölkerung vermittels der<br />

Staatsmaschinerie gewaltsam in Ware verwandelt, zu Geld gemacht und zur Realisierung <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong><br />

samt Mehrwert verwendet. Das ist der Sinn der "Kilometergarantie" für Bruttoeinnahmen bei<br />

selbständigen Unternehmungen <strong>des</strong> fremden <strong>Kapitals</strong> sowie der Pfandbürgschaften bei Anleihen. <strong>Die</strong> in<br />

beiden Fällen in unendlichen Variationen verpfändeten sogenannten "Zehnten" (Üschür) sind<br />

Naturalabgaben der türkischen Bauern, die nach und nach ungefähr auf 12 bis 12 1/2 Prozent erhöht<br />

worden sind. Der Bauer in den asiatischen Wilajets muß "Zehnten" zahlen, weil sie ihm sonst mit Hilfe<br />

der Gendarmen und der Staats- und Ortsbeamten einfach abgepreßt werden. <strong>Die</strong> "Zehnten", die hier<br />

selbst eine uralte Äußerung der auf Naturalwirtschaft gegründeten asiatischen Despotie sind, werden von<br />

der türkischen Regierung nicht direkt, sondern durch Pächter in der Art der Steuereinnehmer <strong>des</strong><br />

Ancien régime eingestrichen, denen der Staat den voraussichtlichen Ertrag der Abgabe im Wege der<br />

Auktion für je<strong>des</strong> Wilajet (Provinz) einzeln verkauft. Ist der Zehnt einer Provinz von einem einzelnen<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 30. Kapitel<br />

Spekulanten oder einem Konsortium erstanden, so verkaufen diese den Zehnten je<strong>des</strong> einzelnen<br />

Sandschaks (Kreises) an andere Spekulanten, die ihren Anteil wiederum einer ganzen Reihe kleinerer<br />

Agenten abtreten. Da jeder seine Spesen decken und soviel Gewinn als möglich einstreichen will, so<br />

wächst der Zehnt in dem Maße, wie er sich den Bauern nähert, lawinenartig. Hat sich der Pächter in<br />

seinen Berechnungen geirrt, so sucht er sich auf Kosten <strong>des</strong> Bauern zu entschädigen. <strong>Die</strong>ser wartet, fast<br />

immer verschuldet, mit Ungeduld auf den Augenblick, seine Ernte verkaufen zu können; wenn er aber<br />

sein Getreide geschnitten hat, muß er mit dem Dreschen oft wochenlang Warten, bis es dem<br />

Zehntpächter beliebt, sich den ihm gebührenden Teil zu nehmen. Der Zehntpächter, der gewöhnlich<br />

Getreidehändler ist, benutzt diese Lage <strong>des</strong> Bauern, dem die ganze Ernte auf dem Felde zu verfaulen<br />

droht, um ihn zu zwingen, ihm die Ernte zu niedrigem Preise zu verkaufen, und weiß sich gegen<br />

Beschwerden Unzufriedener die Hilfe der Beamten und besonders der Muktars (Ortsvorsteher) zu<br />

sichern.(14)<br />

Dem internationalen Conseil d'Administration de la Dette Publique Ottomane, der u.a. die Steuern von<br />

Salz, Tabak, Spirituosen, den Seidenzehnt und die Fischereiabgaben direkt verwaltet, sind die Zehnten<br />

als Kilometergarantie oder als Anleihesicherheit mit der je<strong>des</strong>maligen Klausel verpfändet, daß der<br />

Conseil an der Stipulierung der Pachtkontrakte betreffs dieser Zehnten teilnimmt und daß die Erträgnisse<br />

der Zehnten von den Pächtern direkt in die Kassen und Kontore <strong>des</strong> Conseil in den Wilajets abgeführt<br />

werden. Falls es unmöglich ist, einen Pächter für die Zehnten zu finden, werden sie von der türkischen<br />

Regierung in natura in Magazinen aufgespeichert, deren Schlüssel dem Conseil eingehändigt wird, der<br />

den Verkauf der Zehnten für eigene Rechnung übernimmt.<br />

Der ökonomische Stoffwechsel zwischen der kleinasiatischen, syrischen und mesopotamischen<br />

Bauernschaft und dem deutschen Kapital vollzieht sich also auf folgenden Wegen. Das Korn kommt auf<br />

den Fluren der Wilajets Konia, Bagdad, Basra usw. als einfaches Gebrauchsprodukt der primitiven<br />

Bauernwirtschaft zur Welt und wandert sogleich als Staatstribut in die Hand <strong>des</strong> Steuerpächters. Erst in<br />

seiner Hand wird das Korn zur Ware und als Ware zu Geld, das in die Hand <strong>des</strong> Staates übergeht. <strong>Die</strong>ses<br />

Geld, das nur verwandelte Form <strong>des</strong> bäuerlichen Korns ist, welches nicht einmal als Ware<br />

produziert war, dient jetzt dazu, als Staatsgarantie den Eisenbahnbau und -betrieb zum Teil zu bezahlen,<br />

d.h. den Wert der darin verbrauchten Produktionsmittel sowie den beim Bau und Betrieb der Eisenbahn<br />

aus dem asiatischen Bauern und Proletarier ausgepreßten Mehrwert zu realisieren. Da ferner bei dem<br />

Eisenbahnbau in Deutschland hergestellte Produktionsmittel verwendet werden, dient das in Geld<br />

verwandelte asiatische Bauernkorn zugleich dazu, den bei der Herstellung jener Produktionsmittel aus<br />

deutschen Arbeitern ausgepreßten Mehrwert zu vergolden. Bei dieser Funktion wandert das Geld aus der<br />

Hand <strong>des</strong> türkischen Staates in die Kassen der Deutschen Bank, um hier als Gründergewinne, Tantiemen,<br />

Dividenden und Zinsen in den Taschen der Herren Gwinner, Siemens, ihrer Mitverwalter, der Aktionäre<br />

und Kunden der Deutschen Bank sowie <strong>des</strong> ganzen Schlingpflanzensystems ihrer Tochtergesellschaften<br />

als kapitalistischer Mehrwert akkumuliert zu werden. Fällt - wie es in den Konzessionen vorgesehen ist -<br />

der Steuerpächter weg, so reduziert sich die verwickelte Reihe der Metamorphosen auf ihre einfachste<br />

und klarste Form: Das bäuerliche Korn wandert direkt in die Hände der Administration de la Dette<br />

Publique Ottomane, d.h. der Vertretung <strong>des</strong> europäischen <strong>Kapitals</strong>, und wird hier schon in seiner<br />

Naturalgestalt <strong>Ein</strong>nahme <strong>des</strong> deutschen und sonstigen auswärtigen <strong>Kapitals</strong>, es vollzieht die<br />

<strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> europäischen <strong>Kapitals</strong>, selbst bevor es seine eigene bäuerlich-asiatische<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 30. Kapitel<br />

Gebrauchsgestalt abgestoßen hat, es realisiert den kapitalistischen Mehrwert, bevor es Ware geworden<br />

und den eigenen Wert realisiert hat. Der Stoffwechsel geht hier in seiner brutalen und unverblümten<br />

Form direkt zwischen dem europäischen Kapital und der asiatischen Bauernwirtschaft vor sich, während<br />

der türkische Staat auf seine wirkliche Rolle <strong>des</strong> politischen Apparats zur Auspressung der<br />

Bauernwirtschaft für die Zwecke <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong> - die eigentliche Funktion aller orientalischen Staaten in<br />

der Periode <strong>des</strong> kapitalistischen Imperialismus - reduziert wird. Das Geschäft, das äußerlich als eine<br />

abgeschmackte Tautologie als Bezahlen deutscher Waren mit deutschem Kapital in Asien erscheint, bei<br />

dem die braven Deutschen den schlauen Türken nur den "Genuß" der großen Kulturwerke überlassen, ist<br />

im Grunde genommen ein Austausch zwischen dem deutschen Kapital und der asiatischen<br />

Bauernwirtschaft, ein mit Zwangsmitteln <strong>des</strong> Staates durchgeführter Austausch. <strong>Die</strong> Resultate <strong>des</strong><br />

Geschäfts sind: auf der einen Seite die fortschreitende Kapitalakkumulation und eine wachsende<br />

"Interessensphäre" als Vorwand für die weitere politische und wirtschaftliche Expansion <strong>des</strong> deutschen<br />

<strong>Kapitals</strong> in der Türkei; auf der anderen Seite Eisenbahnen und Warenverkehr auf der Grundlage<br />

der rapiden Zersetzung, <strong>des</strong> Ruins und der Aussaugung der asiatischen Bauernwirtschaft durch den Staat<br />

sowie der wachsenden finanziellen und politischen Abhängigkeit <strong>des</strong> türkischen Staates vom<br />

europäischen Kapital.(15)<br />

Fußnoten von <strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong><br />

(1) Das Eisenbahnnetz betrug in Kilometern in<br />

Europa Amerika Asien Afrika Australien<br />

1840 2.925 4.754 - - -<br />

1850 23.504 15.064 - - -<br />

1860 51.862 53.935 1.393 455 367<br />

1870 104.914 93.139 8.185 1.786 1.765<br />

1880 168.983 174.666 16.287 4.646 7.847<br />

1890 223.869 331.417 33.724 9.386 18.889<br />

1900 283.878 402.171 60.301 20.114 24.014<br />

1910 333.848 526.382 101.916 36.854 31.014<br />

Demnach betrug der Zuwachs in<br />

Europa Amerika Asien Afrika Australien<br />

1840-50 710 Proz. 215 Proz. - - -<br />

1850-60 121 Proz. 257 Proz. - - -<br />

1860-70 102 Proz. 73 Proz. 486 Proz. 350 Proz. 350 Proz.<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 30. Kapitel<br />

1870-80 61 Proz. 88 Proz. 99 Proz. 156 Proz. 333 Proz.<br />

1880-90 32 Proz. 89 Proz. 107 Proz. 104 Proz. 142 Proz.<br />

1890-1900 27 Proz. 21 Proz. 79 Proz. 114 Proz. 27 Proz.<br />


<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 30. Kapitel<br />

Umweg über die Türkei an das europäische Kapital. <strong>Die</strong> türkischen Anleihen von 1854, 1855, 1871,<br />

1877 und 1886 sind auf den mehrmals erhöhten ägyptischen Tribut fundiert, der direkt an die Bank von<br />

England gezahlt wird.


<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 30. Kapitel<br />

Mesapotamien, Bd. II, S. 5 u. 36.)


<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 30. Kapitel<br />

einnehmen, und die Gesellschaften werden Millionen einstreichen. <strong>Die</strong> Regierung wird für die Linien<br />

Kassaba und Angora fast den ganzen Betrag der Kilometergarantie zahlen und wird nicht erhoffen<br />

dürfen, von dem ihr im Vertrag zugesicherten 25prozentigen Anteil an dem Überschuß über 15.000<br />

Franc Bruttoeinnahme je profitieren zu können." (l.c., S. 7.)


<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 31. Kapitel<br />

30. Kapitel | Inhalt | 32. Kapitel<br />

<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - Gesammelte Werke. Herausgegeben vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Band<br />

5. <strong>Berlin</strong>/DDR. 1975. "<strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>", S. 391-398.<br />

1. Korrektur.<br />

Erstellt am 20.10.1998<br />

<strong>Ein</strong>unddreißigstes Kapitel<br />

Schutzzoll und <strong>Akkumulation</strong><br />

Der Imperialismus ist der politische Ausdruck <strong>des</strong> Prozesses der Kapitalakkumulation in ihrem<br />

Konkurrenzkampf um die Reste <strong>des</strong> noch nicht mit Beschlag belegten nichtkapitalistischen Weltmilieus.<br />

Geographisch umfaßt dieses Milieu heute noch die weitesten Gebiete der Erde. Gemessen jedoch an der<br />

gewaltigen Masse <strong>des</strong> bereits akkumulierten <strong>Kapitals</strong> der alten kapitalistischen Länder, das um die<br />

Absatzmöglichkeiten für sein Mehrprodukt wie um Kapitalisierungsmöglichkeiten für seinen Mehrwert<br />

ringt, gemessen ferner an der Rapidität, mit der heute Gebiete vorkapitalistischer Kulturen in<br />

kapitalistische verwandelt werden, mit anderen Worten gemessen an dem bereits erreichten hohen Grad<br />

der Entfaltung der Produktivkräfte <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, erscheint das seiner Expansion noch verbleibende Feld<br />

als ein geringer Rest. Demgemäß gestaltet sich das internationale Vorgehen <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong> auf der<br />

Weltbühne. Bei der hohen Entwicklung und der immer heftigeren Konkurrenz der kapitalistischen<br />

Länder um die Erwerbung nichtkapitalistischer Gebiete nimmt der Imperialismus an Energie und an<br />

Gewalttätigkeit zu, sowohl in seinem aggressiven Vorgehen gegen die nichtkapitalistische Welt wie in<br />

der Verschärfung der Gegensätze zwischen den konkurrierenden kapitalistischen Ländern. Je<br />

gewalttätiger, energischer und gründlicher der Imperialismus aber den Untergang nichtkapitalistischer<br />

Kulturen besorgt, um so rascher entzieht er der Kapitalakkumulation den Boden unter den Füßen. Der<br />

Imperialismus ist ebensosehr eine geschichtliche Methode der Existenzverlängerung <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong> wie das<br />

sicherste Mittel, <strong>des</strong>sen Existenz auf kürzestem Wege objektiv ein Ziel zu setzen. Damit ist nicht gesagt,<br />

daß dieser Endpunkt pedantisch erreicht werden muß. Schon die Tendenz zu diesem Endziel der<br />

kapitalistischen Entwicklung äußert sich in Formen, die die Schlußphase <strong>des</strong> Kapitalismus zu einer<br />

Periode der Katastrophen gestalten.<br />

<strong>Die</strong> Hoffnung auf eine friedliche Entwicklung der Kapitalakkumulation, auf den "Handel und Gewerbe,<br />

die nur bei Frieden gedeihen", die ganze offiziöse manchesterliche Ideologie der Interessenharmonie<br />

zwischen den Handelsnationen der Welt - die andere Seite der Interessenharmonie zwischen Kapital und<br />

Arbeit - stammt aus der Sturm-und-Drang-Periode der klassischen Nationalökonomie und schien eine<br />

praktische Bestätigung zu finden in der kurzen Freihandelsära in Europa in den 60er und 70er Jahren. Sie<br />

hat zur Grundlage das falsche Dogma der englischen Freihandelsschule, als sei der Warenaustausch die<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 31. Kapitel<br />

einzige Voraussetzung und Bedingung der Kapitalakkumulation, als sei diese mit der Warenwirtschaft<br />

identisch. <strong>Die</strong> ganze Ricardoschule identifizierte, wie wir sahen, die Kapitalakkumulation und ihre<br />

Reproduktionsbedingungen mit der einfachen Warenproduktion und mit den Bedingungen der einfachen<br />

Warenzirkulation. Noch mehr tritt dies später bei dem praktischen Freihändler vulgaris zutage. <strong>Die</strong> ganze<br />

Beweisführung der Cobden-Liga war zugeschnitten auf die besonderen Interessen der exportierenden<br />

Baumwollfabrikanten von Lancashire. Ihr Hauptaugenmerk war darauf gerichtet, Käufer zu gewinnen,<br />

und ihr Glaubensartikel lautete: Wir müssen dem Auslande abkaufen, damit wir wiederum als Verkäufer<br />

der Industrieprodukte, will sagen: der Baumwollwaren, Abnehmer finden. Der Konsument, in <strong>des</strong>sen<br />

Interesse Cobden und Bright den Freihandel, namentlich die Verbilligung der Nahrungsmittel, forderten,<br />

war nicht der Arbeiter, der das Brot verzehrt, sondern der Kapitalist, der die Arbeitskraft verzehrt.<br />

<strong>Die</strong>ses Evangelium war nie der wirkliche Ausdruck der Interessen der Kapitalakkumulation im ganzen.<br />

In England selbst wurde es schon in den 40er Jahren durch die Opiumkriege Lügen gestraft, die mit<br />

Kanonendonner die Interessenharmonie der Handelsnationen in Ostasien proklamierten, um mit der<br />

Annexion von Hongkong in das Gegenteil, in das System der "Interessensphären" umzuschlagen.(1) Auf<br />

dem europäischen Kontinent war der Freihandel der 60er Jahre schon aus dem Grunde kein Ausdruck der<br />

Interessen <strong>des</strong> industriellen <strong>Kapitals</strong>, weil die führenden Freihandels- länder <strong>des</strong> Kontinents in<br />

jener Zeit noch vorwiegend agrarische Länder, ihre Großindustrie noch verhältnismäßig schwach<br />

entwickelt war. Das Freihandelssystem wurde vielmehr als Maßnahme der politischen Konstituierung der<br />

mitteleuropäischen Staaten durchgesetzt. In Deutschland war es in der Manteuffelschen und<br />

Bismarckschen Politik ein spezifisch preußisches Mittel, Österreich aus dem Bund und dem Zollverein<br />

herauszudrängen und das neue Deutsche Reich unter Preußens Führung zu konstituieren. Ökonomisch<br />

stützte sich der Freihandel hier nur auf die Interessen <strong>des</strong> Kaufmannskapitals namentlich <strong>des</strong> am<br />

Welthandel interessierten <strong>Kapitals</strong> der Hansastädte, und auf agrarische Konsumenteninteressen; von der<br />

eigentlichen Industrie ließ sich die Eisenproduktion nur mit Mühe um die Konzession der Abschaffung<br />

der Rheinzölle für den Freihandel gewinnen, die süddeutsche Baumwollindustrie aber blieb<br />

unversöhnlich in der schutzzöllnerischen Opposition. In Frankreich waren die<br />

Meistbegünstigungsverträge, die die Grundlage für das Freihandelssystem in ganz Europa gelegt haben,<br />

von Napoleon III. ohne und gegen die kompakte schutzöllnerische Mehrheit <strong>des</strong> Parlaments aus<br />

Industriellen und Agrariern abgeschlossen. Der Weg der Handelsverträge selbst wurde von der<br />

Regierung <strong>des</strong> Zweiten Kaiserreichs nur als ein Notbehelf eingeschlagen und von England als solcher<br />

akzeptiert, um die parlamentarische Opposition Frankreichs zu umgehen und hinter dem Rücken der<br />

gesetzgebenden Körperschaft auf internationalem Wege den Freihandel durchzusetzen. Mit dem ersten<br />

grundlegenden Vertrag zwischen Frankreich und England wurde die öffentliche Meinung in Frankreich<br />

einfach überrumpelt.(2) Das alte Schutzzollsystem Frankreichs wurde von 1853 bis 1862 durch 32<br />

kaiserliche Dekrete abgetragen, die dann 1863 in lässiger Beobachtung der Form insgesamt "auf<br />

gesetzgeberischem Wege" bestätigt wurden. In Italien war der Freihandel ein Requisit der Cavourschen<br />

Politik und ihres Anlehnungsbedürfnisses an Frankreich. Schon 1870 wurde unter dem Drängen der<br />

öffentlichen Meinung eine Enquete eröffnet, die den Mangel an Rückhalt für die freihändlerische Politik<br />

in den Interessentenkreisen bloßgelegt hat. Endlich in Rußland war die freihändlerische Tendenz der 60er<br />

Jahre nur erst eine <strong>Ein</strong>leitung zur Schaffung einer breiten Grundlage für die Warenwirtschaft und die<br />

Großindustrie: begleitete sie doch erst die Aufhebung der Leibeigenschaft und die Herstellung eines<br />

Eisenbahnnetzes.(3)<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 31. Kapitel<br />

So konnte der Freihandel als internationales System von vornherein nicht mehr als eine Episode in der<br />

Geschichte der Kapitalakkumulation bleiben. Schon aus diesem Grunde ist es verkehrt, die allgemeine<br />

Umkehr zum Schutzzoll seit Ende der 70er Jahre lediglich als eine Abwehrmaßregel gegen den<br />

englischen Freihandel erklären zu wollen.(4)<br />

Gegen diese Erklärung sprechen die Tatsachen, daß in Deutschland wie in Frankreich und Italien<br />

bei der Umkehr zum Schutzzoll die führende Rolle den agrarischen Interessen zufiel, die sich nicht gegen<br />

die Konkurrenz Englands, sondern gegen die der Vereinigten Staaten richteten, daß im übrigen das<br />

Schutzbedürfnis für die aufkommende einheimische Industrie in Rußland sich z.B. viel stärker gegen<br />

Deutschland, in Italien aber gegen Frankreich richtete als gegen England. <strong>Die</strong> allgemeine dauernde<br />

Depression auf dem Weltmarkt, die sich seit der Krise der 70er Jahre hinzog und die Stimmung für den<br />

Schutzzoll vorbereitet hatte, war ebensowenig mit Englands Monopol verbunden. <strong>Die</strong> allgemeine<br />

Ursache der schutzzöllnerischen Frontänderung lag denn auch tiefer. Der reine Standpunkt <strong>des</strong><br />

Warenaustausches, dem die freihändlerische Illusion der Interessenharmonie auf dem Weltmarkt<br />

entstammte, ist aufgegeben worden, sobald das großindustrielle Kapital in den wichtigsten Ländern <strong>des</strong><br />

europäischen Kontinents so weit Fuß gefaßt hatte, um sich auf seine <strong>Akkumulation</strong>sbedingungen zu<br />

besinnen. <strong>Die</strong>se aber schoben gegenüber der Gegenseitigkeit der Interessen der kapitalistischen Staaten<br />

ihren Antagonismus und die Konkurrenz im Kampfe um das nichtkapitalistische Milieu in den<br />

Vordergrund.<br />

Als die Freihandelsära anhub, wurde Ostasien erst durch die Chinakriege erschlossen, in Ägypten stellte<br />

das europäische Kapital die ersten Schritte. In den 80er Jahren setzt parallel mit dem Schutzzoll die<br />

Expanionspolitik mit zunehmender Energie ein: <strong>Die</strong> Okkupation Ägyptens durch England, die deutschen<br />

Kolonialeroberungen in Afrika, die französische Okkupation von Tunis und die Expedition nach<br />

Tonking, die Vorstöße Italiens in Assab und Massaua, der abessinische Krieg und die Bildung<br />

Eritreas, die englischen Eroberungen in Südafrika-, alle diese Schritte folgten sich in einer<br />

ununterbrochenen Kette die 80er Jahre hindurch. Der Konflikt zwischen Italien und Frankreich wegen<br />

der Interessensphäre in Tunis war das charakteristische Vorspiel zu dem franko-italienischen Zollkrieg<br />

sieben Jahre später, der als drastischer Epilog die freihändlerische Interessenharmonie auf dem<br />

europäischen Kontinent abgeschlossen hat. <strong>Die</strong> Monopolisierung der nichtkapitalistischen<br />

Expansionsgebiete im Innern der alten kapitalistischen Staaten wie draußen in den überseeischen<br />

Ländern wurde zur Losung <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, während der Freihandel, die Politik der "offenen Tür" zur<br />

spezifischen Form der Schutzlosigkeit nichtkapitalistischer Länder gegenüber dem internationalen<br />

Kapital und <strong>des</strong> Gleichgewichts dieses konkurrierenden <strong>Kapitals</strong> geworden ist, zum Vorstadium ihrer<br />

partiellen oder gänzlichen Okkupation als Kolonien oder Interessenssphären. Wenn England allein bisher<br />

dem Freihandel treu geblieben ist, so hängt das in erster Linie damit zusammen, daß es als ältestes<br />

Kolonialteich in seinem gewaltigen Besitz an nichtkapitalistischen Gebieten von Anfang an eine<br />

Operationsbasis fand, die seiner Kapitalakkumulation bis in die jüngste Zeit fast schrankenlose<br />

Aussichten bot und es tatsächlich außerhalb der Konkurrenz anderer kapitalistischen Länder stellte.<br />

Daher der allgemeine Drang der kapitalistischen Länder, sich voneinander durch Schutzzölle<br />

abzusperren, obwohl sie zugleich füreinander in immer höherem Maße Warenabnehmer, aufeinander bei<br />

der Erneuerung ihrer sachlichen Reproduktionsbedingungen immer mehr angewiesen sind und obwohl<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 31. Kapitel<br />

die Schutzzölle heute, vom Standpunkte der technischen Entwicklung der Produktivkräfte, völlig<br />

entbehrlich geworden sind, ja vielfach umgekehrt zur künstlichen Konservierung veralteter<br />

Produktionsweisen führen. Der innere Widerspruch der internationalen Schutzzollpolitik ist, gleich dem<br />

widerspruchsvollen Charakter <strong>des</strong> internationalen Anleihesystems, bloß ein Reflex <strong>des</strong> geschichtlichen<br />

Widerspruchs, in den die Interessen der <strong>Akkumulation</strong>, d.h. der Realisierung und Kapitalisierung<br />

<strong>des</strong> Mehrwerts, der Expansion, zu den reinen Standpunkten <strong>des</strong> Warenaustausches geraten sind.<br />

Letzteres findet namentlich darin seinen handgreiflichen Ausdruck, daß das moderne<br />

Hochschutzzollsystem - entsprechend der kolonialen Expansion und den verschärften Gegensätzen<br />

innerhalb <strong>des</strong> kapitalistischen Milieus - wesentlich auch als Grundlage der verstärkten Militärrüstungen<br />

inauguriert wurde. In Deutschland wie in Frankreich, Italien und Rußland wurde die Umkehr zum<br />

Schutzzoll Hand in Hand mit Heeresvergrößerungen und in deren <strong>Die</strong>nste durchgeführt, als Basis <strong>des</strong><br />

gleichzeitig begonnenen Systems <strong>des</strong> europäischen Wettrüstens erst zu Lande und dann auch zu Wasser.<br />

Der europäische Freihandel, dem das kontinentale Militärsystem mit dem Schwerpunkt im Landheer<br />

entsprach, hat dem Schutzzoll als der Basis und Ergänzung <strong>des</strong> imperialistischen Militärsystems, bei dem<br />

der Schwerpunkt immer mehr in der Flotte liegt, den Platz geräumt.<br />

<strong>Die</strong> kapitalistische <strong>Akkumulation</strong> hat somit als Ganzes, als konkreter geschichtlicher Prozeß, zwei<br />

verschiedene Seiten. <strong>Die</strong> eine vollzieht sich in der Produktionsstätte <strong>des</strong> Mehrwerts - in der Fabrik, im<br />

Bergwerk, auf dem landwirtschaftlichen Gut - und auf dem Warenmarkt. <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> ist, von<br />

dieser Seite allein betrachtet, ein rein ökonomischer Prozeß, <strong>des</strong>sen wichtigste Phase zwischen dem<br />

Kapitalisten und dem Lohnarbeiter sich abspielt, der sich aber in beiden Phasen: im Fabrikraum wie auf<br />

dem Markt, ausschließlich in den Schranken <strong>des</strong> Warenaustausches, <strong>des</strong> Austausches von Äquivalenten<br />

bewegt. Friede, Eigentum und Gleichheit herrschen hier als Form, und es bedurfte der scharfen Dialektik<br />

einer wissenschaftlichen Analyse, um zu enthüllen, wie bei der <strong>Akkumulation</strong> Eigentumsrecht in<br />

Aneignung fremden Eigentums, Warenaustausch in Ausbeutung, Gleichheit in Klassenherrschaft<br />

umschlagen.<br />

<strong>Die</strong> andere Seite der Kapitalakkumulation vollzieht sich zwischen dem Kapital und nichtkapitalistischen<br />

Produktionsformen. Ihr Schauplatz ist die Weltbühne. Hier herrschen als Methoden Kolonialpolitik,<br />

internationales Anleihesystem, Politik der Interessensphären, Kriege. Hier treten ganz unverhüllt und<br />

offen Gewalt, Betrug, Bedrückung, Plünderung zutage, und es kostet Mühe, unter diesem Wust der<br />

politischen Gewaltakte und Kraftproben die strengen Gesetze <strong>des</strong> ökonomischen Prozesses aufzufinden.<br />

<strong>Die</strong> bürgerlich-liberale Theorie faßt nur die eine Seite: die Domäne <strong>des</strong> "friedlichen Wettbewerbs", der<br />

technischen Wunderwerke und <strong>des</strong> reinen Warenhandels, ins Auge, um die andere Seite, das<br />

Gebiet der geräuschvollen Gewaltstreiche <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, als mehr oder minder zufällige Äußerungen der<br />

"auswärtigen Politik" von der ökonomischen Domäne <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong> zu trennen.<br />

In Wirklichkeit ist die politische Gewalt auch hier nur das Vehikel <strong>des</strong> ökonomischen Prozesses, die<br />

beiden Seiten der Kapitalakkumulation sind durch die Reproduktionsbedingungen <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong> selbst<br />

organisch miteinander verknüpft, erst zusammen ergeben sie die geschichtliche Laufbahn <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>.<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 31. Kapitel<br />

<strong>Die</strong>ses kommt nicht bloß "von Kopf bis Zeh, aus allen Poren blut- und schmutztriefend" zur Welt,<br />

sondern es setzt sich auch so Schritt für Schritt in der Welt durch und bereitet so, unter immer heftigeren<br />

konvulsivischen Zuckungen, seinen eigenen Untergang vor.<br />

Fußnoten von <strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong><br />

(1) Und nicht nur in England. "Schon 1859 hatte eine durch ganz Deutschland verbreitete Flugschrift, als<br />

deren Verfasser man den Fabrikanten <strong>Die</strong>rgardt aus Viersen bezeichnete, die eindringliche Mahnung an<br />

Deutschland gerichtet, sich <strong>des</strong> ostasiatischen Marktes rechtzeitig zu versichern. Es gab nur ein Mittel,<br />

um den Japanern, überhaupt den Ostasiaten gegenüber handelspolitisch etwas zu erreichen, das ist<br />

militärische Machtentfaltung. <strong>Die</strong> aus dem Sparpfennig <strong>des</strong> Volkes erbaute deutsche Flotte war ein<br />

Jugendtraum gewesen. Sie war längst durch Hannibal Fischer versteigert. Preußen hatte einige Schiffe,<br />

freilich keine imponierende Marinemacht. Man entschloß sich aber, ein Geschwader auszurüsten, um in<br />

Ostasien Handelsvertragsverhandlungen anzuknüpfen. <strong>Die</strong> Führung der Mission, welche auch<br />

wissenschaftliche Zwecke verfolgte, erhielt einer der fähigsten und besonnensten preußischen<br />

Staatsmänner, Graf zu Eulenburg. Derselbe führte seinen Auftrag unter den schwierigsten Verhältnissen<br />

mit großem Geschick durch. Auf den Plan, damals auch mit den Hawaiischen Inseln<br />

Vertragsbeziehungen anzuknüpfen, mußte man verzichten. Im übrigen erreichte die Expedition ihren<br />

Zweck. Trotzdem die <strong>Berlin</strong>er Presse damals alles besser wußte und bei jeder Nachricht über<br />

eingetretene Schwierigkeiten erklärte, das habe man längst vorausgesehen und alle solche Ausgaben für<br />

Flottendemonstrationen seien eine Verschwendung der Mittel der Steuerzahler, läßt sich das Ministerium<br />

der neuen Ära nicht irremachen. Den Nachfolgern wurde die Genugtuung <strong>des</strong> Erfolges zuteil." (W. Lotz:<br />

<strong>Die</strong> Ideen der deutschen Handelspolitik, S. 80.)


<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 31. Kapitel<br />

verflossenen 60 Jahre, von 1822 bis 1882, hat die größte Produzentin Rußlands, die Landwirtschaft,<br />

viermal unermeßlichen Schaden erleiden müssen, wodurch sie in eine äußerst kritische Lage gebracht<br />

wurde, und in allen vier Fällen lag die unmittelbare Ursache an maßlos hohen Zolltarifen. Umgekehrt ist<br />

die 32jährige Zeitperiode von 1845 bis 1877, während der gemäßigte Zölle bestanden, ohne solche<br />

Notstände abgelaufen, ungeachtet der drei Kriege und eines inneren Bürgerkrieges (gemeint ist der<br />

polnische Aufstand 1863 – R. L.), von denen jeder eine größere oder geringere Anspannung der<br />

Finanzkräfte <strong>des</strong> Staates bewirkte." (Memorandum der Kaiserl. Freien Ökonomischen Gesellschaft in<br />

Sachen der Revision <strong>des</strong> russischen Zolltarifs, Petersburg 1890, S. 148.) Wie wenig in Rußland bis in die<br />

jüngste Zeit die Verfechter <strong>des</strong> Freihandels oder wenigstens eines gemäßigten Schutzzolls als die<br />

Vertreter der Interessen <strong>des</strong> Industriekapitals betrachtet werden dürfen, beweist schon die Tatsache, daß<br />

die wissenschaftliche Stütze dieser freihändlerischen Bewegung, die genannte Freie Ökonomische<br />

Gesellschaft, noch in den 90er Jahren gegen den Schutzzoll gerade als gegen ein Mittel der "künstlichen<br />

Verpflanzung" der kapitalistischen Industrie nach Rußland eiferte und im Geiste reaktionärer<br />

"Volkstümler" den Kapitalismus als die Brutstätte <strong>des</strong> modernen Proletariats denunzierte, "jener Massen<br />

militärdienstuntauglicher, besitzloser und heimatloser Menschen, die nichts zu verlieren haben und die<br />

seit langer Zeit keinen guten Ruf genießen ...". (l.c., S. 171.) Vgl. auch K. Lodyshenski: Geschichte <strong>des</strong><br />

russischen Zolltarifs, Petersburg 1886, S. 239-258.


<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 32. Kapitel<br />

31. Kapitel | Inhalt<br />

<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - Gesammelte Werke. Herausgegeben vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Band<br />

5. <strong>Berlin</strong>/DDR. 1975. "<strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>", S. 398-411.<br />

1. Korrektur.<br />

Erstellt am 20.10.1998<br />

Zweiunddreißigstes Kapitel<br />

Der Militarismus auf dem Gebiet der Kapitalakkumulation<br />

Der Militarismus übt in der Geschichte <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong> eine ganz bestimmte Funktion aus. Er<br />

begleitet die Schritte der <strong>Akkumulation</strong> in allen ihren geschichtlichen Phasen. In der Periode der<br />

sogenannten "primitiven <strong>Akkumulation</strong>", d.h. in den Anfängen <strong>des</strong> europäischen <strong>Kapitals</strong>, spielt der<br />

Militarismus die entscheidende Rolle bei der Eroberung der Neuen Welt und der Gewürzländer Indiens,<br />

später bei der Eroberung der modernen Kolonien, Zerstörung der sozialen Verbände der primitiven<br />

Gesellschaften und Aneignung ihrer Produktionsmittel, bei der Erzwingung <strong>des</strong> Warenhandels in<br />

Ländern, deren soziale Struktur der Warenwirtschaft hinderlich ist, bei der gewaltsamen Proletarisierung<br />

der <strong>Ein</strong>geborenen und der Erzwingung der Lohnarbeit in den Kolonien, bei der Bildung und Ausdehnung<br />

von Interessensphären <strong>des</strong> europäischen <strong>Kapitals</strong> in außereuropäischen Gebieten, bei der Erzwingung von<br />

Eisenbahnkonzessionen in rückständigen Ländern und bei der Vollstreckung der Forderungsrechte <strong>des</strong><br />

europäischen <strong>Kapitals</strong> aus internationalen Anleihen, endlich als Mittel <strong>des</strong> Konkurrenzkampfes der<br />

kapitalistischen Länder untereinander um Gebiete nichtkapitalistischer Kultur.<br />

Dazu kommt noch eine andere wichtige Funktion. Der Militarismus erscheint auch rein ökonomisch für<br />

das Kapital als ein Mittel ersten Ranges zur Realisierung <strong>des</strong> Mehrwerts, d.h. als ein Gebiet der<br />

<strong>Akkumulation</strong>. Bei der Untersuchung der Frage, wer als Abnehmer der Produktenmasse in<br />

Betracht käme, in der der kapitalisierte Mehrwert steckt, haben wir mehrfach den Hinweis auf den Staat<br />

und seine Organe als Konsumenten abgelehnt. Wir haben sie als Vertreter abgeleiteter<br />

<strong>Ein</strong>kommenquellen in dieselbe Kategorie der Nutznießer <strong>des</strong> Mehrwerts (oder zum Teil <strong>des</strong> Arbeitslohns)<br />

eingereiht, der auch die Vertreter liberaler Berufe sowie allerlei Schmarotzerexistenzen der heutigen<br />

Gesellschaft ("König, Pfaff, Professor, Hure, Kriegsknecht") angehören. <strong>Die</strong>se Erledigung der Frage ist<br />

aber erschöpfend nur unter zwei Voraussetzungen: einmal, wenn wir, im Sinne <strong>des</strong> Marxschen Schemas<br />

der Reproduktion, annehmen, daß der Staat keine anderen Steuerquellen besitzt als den kapitalistischen<br />

Mehrwert und den kapitalistischen Arbeitslohn (1); und zweitens, wenn wir den Staat mit seinen Organen<br />

nur als Konsumenten ins Auge fassen. Handelt es sich nämlich um persönliche Konsumtion der<br />

Staatsbeamten (so auch <strong>des</strong> "Kriegsknechts"), so bedeutet das - sofern sie aus Arbeitermitteln bestritten<br />

wird - partielle Übertragung der Konsumtion von der Arbeiterklasse auf den Anhang der<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 32. Kapitel<br />

Kapitalistenklasse.<br />

Nehmen wir für einen Augenblick an, der gesamte den Arbeitern abgepreßte Betrag an indirekten<br />

Steuern, der einen Abzug an ihrer Konsumtion bedeutet, werde darauf verwendet, den Staatsbeamten<br />

Gehälter auszuzahlen und das stehende Heer mit Lebensmitteln zu verproviantieren. Dann wird in der<br />

Reproduktion <strong>des</strong> gesellschaftlichen Gesamtkapitals keine Verschiebung eintreten. Sowohl die Abteilung<br />

der Lebensmittel wie infolge<strong>des</strong>sen auch die Abteilung der Produktionsmittel bleiben unverändert, denn<br />

der Gesamtbedarf der Gesellschaft hat nach Art und Menge keinen Wechsel erlitten. Was jetzt verändert<br />

worden, ist bloß das Wertverhältnis zwischen v als Ware Arbeitskraft und den Produkten der Abteilung<br />

II, d.h. Lebensmitteln. Dasselbe v, derselbe Geldausdruck der Arbeitskraft wird jetzt mit einer geringeren<br />

Menge Lebensmittel ausgetauscht. Was geschieht mit dem so entstehenden Rest an Produkten der <br />

Abteilung II? Er wandert statt an die Arbeiter an Staatsbeamte und das Heer. An Stelle der Konsumtion<br />

der Arbeiter tritt in demselben Umfang die Konsumtion der Organe <strong>des</strong> kapitalistischen Staates. Es ist<br />

also bei gleichbleibenden Reproduktionsbedingungen eine Änderung in der Verteilung <strong>des</strong><br />

Gesamtprodukts eingetreten: <strong>Ein</strong>e Portion der früher zur Konsumtion der Arbeiterklasse, zur Deckung <strong>des</strong><br />

v, bestimmten Produkte der Abteilung II wird nunmehr dem Anhang der Kapitalistenklasse zur<br />

Konsumtion zugeteilt. Vom Standpunkt der gesellschaftlichen Reproduktion läuft diese Verschiebung auf<br />

dasselbe hinaus wie wenn von vornherein der relative Mehrwert um den bestimmten Wertbetrag größer,<br />

und zwar dieser Zuwachs dem zur Konsumtion der Kapitalistenklasse nebst Anhang bestimmten Teil <strong>des</strong><br />

Mehrwerts zugewiesen wäre.<br />

Insofern läuft das Schröpfen der Arbeiterklasse durch den Mechanismus der indirekten Besteuerung, um<br />

daraus die Stützen der kapitalistischen Staatsmaschinerie zu erhalten, einfach auf eine Vergrößerung <strong>des</strong><br />

Mehrwerts, und zwar <strong>des</strong> konsumierten Teils <strong>des</strong> Mehrwerts, hinaus; nur daß diese ergänzende Teilung<br />

zwischen Mehrwert und variablem Kapital post festum, nach dem vollzogenen Austausch zwischen<br />

Kapital und Arbeitskraft geschieht. Haben wir es aber so mit einem nachträglichen Zuwachs <strong>des</strong><br />

konsumierten Mehrwerts zu tun, dann kommt diese Konsumtion der Organe <strong>des</strong> kapitalistischen Staates -<br />

auch wenn sie auf Kosten der Arbeiterklasse geschieht - als Mittel der Realisierung <strong>des</strong> kapitalisierten<br />

Mehrwerts nicht in Betracht. Umgekehrt kann man sagen: Wenn die Arbeiterklasse nicht die<br />

Erhaltungskosten der Staatsbeamten und <strong>des</strong> "Kriegsknechts" zum größten Teil tragen würde, so müßten<br />

die Kapitalisten selbst diese Kosten ganz tragen. Sie müßten der Erhaltung dieser Organe ihrer<br />

Klassenherrschaft direkt aus dem Mehrwert eine entsprechende Portion zuweisen, und zwar entweder auf<br />

Kosten der eigenen Konsumtion, die sie entsprechend einschränken müßten, oder, was das<br />

Wahrscheinlichere, auf Kosten <strong>des</strong> zur Kapitalisierung bestimmten Teils <strong>des</strong> Mehrwerts. Sie könnten<br />

weniger kapitalisieren, weil sie mehr zur direkten Erhaltung ihrer eigenen Klasse verwenden müßten. <strong>Die</strong><br />

Abwälzung der Erhaltungskosten ihres Anhangs zum größten Teil auf die Arbeiterklasse (und auf die<br />

Vertreter der einfachen Warenproduktion: Bauern, Handwerker) erlaubt es den Kapitalisten, eine größere<br />

Portion <strong>des</strong> Mehrwerts für die Kapitalisierung zu befreien. Sie schafft aber noch vorerst keineswegs die<br />

Möglichkeit dieser Kapitalisierung, d.h., sie schafft noch kein neues Absatzgebiet, um mit diesem<br />

befreiten Mehrwert auch tatsächlich neue Waren herstellen und sie auch realisieren zu können. Anders<br />

wenn die durch das Steuer- system in der Hand <strong>des</strong> Staates konzentrierten Mittel zur Produktion<br />

von Kriegsmitteln verwendet werden.<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 32. Kapitel<br />

Auf der Basis der indirekten Besteuerung und Hochschutzzölle werden die Kosten <strong>des</strong> Militarismus in der<br />

Hauptsache bestritten durch die Arbeiterklasse und das Bauerntum. Beide Steuerquoten sind gesondert zu<br />

betrachten. Was die Arbeiterklasse betrifft, so läuft das Geschäft ökonomisch auf das Folgende hinaus.<br />

Vorausgesetzt, daß eine Erhöhung der Löhne bis zum Ausgleich der Lebensmittelverteuerung nicht<br />

stattfindet - was gegenwärtig für die große Masse der Arbeiterklasse zutrifft und was selbst für die<br />

gewerkschaftlich organisierte Minderheit durch den Druck der Kartelle und Unternehmerorganisationen<br />

in hohem Grade bewirkt wird (2), so bedeutet die indirekte Besteuerung die Übertragung eines Teils der<br />

Kaufkraft der Arbeiterklasse auf den Staat. Das variable Kapital als Geldkapital von einer bestimmten<br />

Größe dient nach wie vor dazu, die entsprechende Menge lebendige Arbeit in Bewegung zu setzen, also<br />

das entsprechende konstante Kapital zu Produktionszwecken zu benutzen und die entsprechende Menge<br />

Mehrwert zu produzieren. Nachdem diese Zirkulation <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong> vollzogen, geht eine Teilung zwischen<br />

der Arbeiterklasse und dem Staate vor sich: <strong>Ein</strong> Teil der von ihr im Austausch gegen die Arbeitskraft<br />

erhaltenen Geldmenge wird an den Staat abgeführt. Während das ganze frühere variable Kapital in seiner<br />

Sachgestalt als Arbeitskraft vom Kapital angeeignet wird, bleibt von der Geldform <strong>des</strong> variablen <strong>Kapitals</strong><br />

nur ein Teil in der Hand der Arbeiterklasse, während ein anderer Teil in den Besitz <strong>des</strong> Staates gelangt.<br />

<strong>Die</strong> Transaktion geht je<strong>des</strong>mal nach vollzogener Kapitalzirkulation zwischen Kapital und Arbeit vor sich,<br />

sozusagen hinter dem Rücken <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, sie berührt unmittelbar in nichts diesen fundamentalen Teil<br />

der Kapitalzirkulation und Mehrwertproduktion und geht sie zunächst nichts an. Wohl aber berührt sie die<br />

Bedingungen der Reproduktion <strong>des</strong> Gesamtkapitals. <strong>Die</strong> Übertragung eines Teils der Kaufkraft der<br />

Arbeiterklasse auf den Staat bedeutet, daß der Anteil der Arbeiterklasse an der Konsumtion der<br />

Lebensmittel in demselben Maße geringer geworden ist. Für das Gesamtkapital ist dies identisch mit der<br />

Tatsache, daß es bei der gleichen Größe <strong>des</strong> variablen <strong>Kapitals</strong> (als Geldkapital und als Arbeitskraft) und<br />

gleicher Masse angeeigneten Mehrwerts eine geringere Menge Lebensmittel zur Erhaltung der<br />

Arbeiterklasse produzieren muß, ihr tatsächlich eine Anweisung auf einen geringeren Anteil am<br />

Gesamtprodukt gibt. Daraus ergibt sich, daß bei der Reproduktion <strong>des</strong> Gesamtkapitals nunmehr eine<br />

geringere Menge Lebensmittel produziert werden wird, als es der Wertgröße <strong>des</strong> variablen <strong>Kapitals</strong><br />

entspricht, da sich ja das Wertverhältnis zwischen dem variablen Kapital und der Menge Lebensmittel,<br />

worin es realisiert wird, selbst verändert hat; die Höhe der indirekten Besteuerung äußert sich in der<br />

Preiserhöhung der Lebensmittel, während der Geldausdruck der Arbeitskraft nach unserer Voraussetzung<br />

unverändert bleibt oder sich nicht im Verhältnis zur Preiserhöhung der Lebensmittel verändert.<br />

Nach welcher Richtung wird nun die Verschiebung in den sachlichen Verhältnissen der Reproduktion<br />

stattfinden? Durch die relative Verringerung der zur Erneuerung der Arbeitskraft erforderlichen Menge<br />

Lebensmittel wird eine entsprechende Menge konstantes Kapital und lebendige Arbeit frei. <strong>Die</strong>ses<br />

konstante Kapital und diese lebendige Arbeit können für anderweitige Produktion verwendet werden,<br />

sofern sich ein neuer zahlungsfähiger Bedarf in der Gesellschaft findet. Den neuen Bedarf stellt aber<br />

nunmehr der Staat mit dem von ihm vermöge der Steuergesetzgebung angeeigneten Teil der Kaufkraft der<br />

Arbeiterklasse dar. Der Bedarf <strong>des</strong> Staates richtet sich aber diesmal nicht auf Lebensmittel (von dem<br />

gleichfalls aus Steuern gedeckten Bedarf an Lebensmitteln zur Erhaltung der Staatsbeamten sehen wir<br />

hier nach allem früher sub "dritte Personen" Behandelten ab), sondern auf eine spezifische Produktenart,<br />

auf Kriegsmittel <strong>des</strong> Militarismus zu Lande und zu Wasser.<br />

Um uns die Verschiebungen, die sich dabei in der gesellschaftlichen Reproduktion ergeben, näher<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 32. Kapitel<br />

anzusehen, nehmen wir wieder als Beispiel das zweite Marxsche Schema der <strong>Akkumulation</strong>:<br />

I. 5.000 c + 1.000 v + 1.000 m = 7.000 Produktionsmittel.<br />

II: 1.430 c + 285 v + 285 m = 2.000 Konsummittel.<br />

Nehmen wir nun an, durch die indirekten Steuern und die dadurch erzeugte Teuerung der Lebensmittel<br />

werde der Reallohn, d.h. die Konsumtion der Arbeiterklasse, im ganzen um den Wertbetrag von 100<br />

verringert. <strong>Die</strong> Arbeiter bekommen also nach wie vor 1.000 v + 285 v = 1.285 v in Geld, erlangen aber<br />

dafür in Wirklichkeit Lebensmittel nur im Werte von 1.185. <strong>Die</strong> Geldsumme von 100, die dem<br />

Preisaufschlag der Lebensmittel gleicht, gelangt als Steuer an den Staat. <strong>Die</strong>ser hat außerdem von den<br />

Bauern usw. an Steuern für Militärrüstzeug, sagen wir, 150 in der Hand, zusammen 250. <strong>Die</strong>se 250<br />

stellen eine neue Nachfrage, und zwar nach Kriegsmittel dar. Uns gehen jedoch vorläufig nur die 100, die<br />

aus Arbeits- löhnen herstammen, an. Zur Befriedigung dieses Bedarfs an Kriegsmitteln zum Werte<br />

von 100 entsteht ein entsprechender Produktionszweig, der - unter Voraussetzung einer gleichen, d.h.<br />

durchschnittlichen organischen Zusammensetzung, wie sie im Marxschen Schema angenommen worden -<br />

eines konstanten <strong>Kapitals</strong> von 71,5 und eines variablen von 14,25 bedarf: 71,5 c + 14,25 v + 14,25 m =<br />

100 (Kriegsmittel).<br />

Für den Bedarf dieses Produktionszweigs werden ferner Produktionsmittel im Wertbetrage von 71,5 und<br />

Lebensmittel im Wertbetrage von zirka 13 (entsprechend der nunmehr auch für diese Arbeiter geltenden<br />

Verminderung ihres Reallohns um zirka 1/13) hergestellt werden müssen.<br />

Darauf kann sofort erwidert werden, daß der aus dieser neuen Absatzerweiterung sich ergebende Gewinn<br />

für das Kapital nur ein scheinbarer sei, denn die Verringerung der tatsächlichen Konsumtion der<br />

Arbeiterklasse wird die entsprechende <strong>Ein</strong>schränkung der Lebensmittelproduktion zur unvermeidlichen<br />

Folge haben. <strong>Die</strong>se <strong>Ein</strong>schränkung wird sich für die Abteilung II in der folgenden Proportion ausdrücken.<br />

71,5 c + 14,25 v + 14,25 m = 100.<br />

Dementsprechend wird aber ferner auch die Abteilung der Produktionsmittel ihren Umfang einschränken<br />

müssen, so daß beide Abteilungen infolge der Verringerung der Konsumtion der Arbeiterklasse sich wie<br />

folgt gestalten werden:<br />

I. 4.949,00 c + 989,75 v + 989,75 m = 6.928,50<br />

II: 1.358,50 c + 270,75 v + 270,75 m = 1.900,00<br />

Wenn jetzt dieselben 100 durch die Vermittlung <strong>des</strong> Staates eine Produktion von Kriegsmitteln zum<br />

gleichen Wertbetrage ins Leben rufen und dementsprechend auch die Produktion von Produktionsmitteln<br />

wieder beleben, so erscheint das auf den ersten Blick nur eine äußere Verschiebung in der Sachgestalt der<br />

gesellschaftlichen Produktion: Statt einer Menge Lebensmittel produziere man eine Menge Kriegsmittel.<br />

Das Kapital habe mit der einen Hand nur gewonnen, was es aus der anderen verloren habe. Oder die<br />

Sache kann auch so gefaßt werden: Was der großen Anzahl Kapitalisten, die Lebensmittel für die<br />

Arbeitermasse produzieren, an Absatz abgehe, komme einer kleinen Gruppe von Großindustriellen der<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 32. Kapitel<br />

Kriegsmittelbranche zugute.<br />

Doch so stellt sich die Sache dar, nur solange man auf dem Standpunkt <strong>des</strong> <strong>Ein</strong>zelkapitals steht. Von<br />

diesem Standpunkt ist es freilich gehupft wie gesprungen, ob die Produktion sich auf dieses oder jenes<br />

Gebiet wendet. Für das <strong>Ein</strong>zelkapital existieren überhaupt die Abteilungen der Gesamt- <br />

produktion, wie sie das Schema unterscheidet, nicht, sondern einfach Waren und Käufer, und für den<br />

<strong>Ein</strong>zelkapitalisten ist es <strong>des</strong>halb an sich völlig gleichgültig, ob er Lebensmittel oder To<strong>des</strong>mittel,<br />

Fleischkonserven oder Panzerplatten produziert.<br />

<strong>Die</strong>ser Standpunkt wird häufig von Gegnern <strong>des</strong> Militarismus ins Feld geführt, um darzutun, daß die<br />

Kriegsrüstungen als wirtschaftliche Anlage für das Kapital nur den einen Kapitalisten zugute kommen<br />

lassen, was sie den anderen genommen haben.(3) Auf der anderen Seite suchen das Kapital und sein<br />

Apologet diesen Standpunkt der Arbeiterklasse zu oktroyieren, indem sie ihr einreden, durch die<br />

indirekten Steuern und den Staatsbedarf trete nur eine Verschiebung in der sachlichen Form der<br />

Reproduktion ein; statt anderer Waren produziere man Kreuzer und Kanonen, dank denen der Arbeiter<br />

seine Beschäftigung und sein Brot im gleichen oder noch größeren Maße, ob hier oder dort, finde.<br />

Was die Arbeiter betrifft, so zeigt ein Blick auf das Schema, was daran Wahres ist. Angenommen zur<br />

Erleichterung <strong>des</strong> Vergleichs, daß die Produktion der Kriegsmittel genausoviel Arbeiter wie früher die<br />

Herstellung von Lebensmitteln für die Lohnarbeiter beschäftige, ergibt sich, daß sie jetzt bei einer<br />

Arbeitsleistung, die dem Lohn von 1.285 v entspricht, Lebensmittel für 1.185 kriegen.<br />

Anders vom Standpunkte <strong>des</strong> Gesamtkapitals. Für dieses erscheinen die 100 in der Hand <strong>des</strong> Staates, die<br />

eine Nachfrage nach Kriegsmitteln darstellen, als neues Absatzgebiet. <strong>Die</strong>se Geldsumme war<br />

ursprünglich variables Kapital. Sie hat als solche ihren <strong>Die</strong>nst getan, sich gegen lebendige Arbeit<br />

ausgetauscht, die Mehrwert erzeugt hat. Hinterdrein unterbricht sie die Zirkulation <strong>des</strong> variablen <strong>Kapitals</strong>,<br />

löst sich von ihr ab und erscheint im Besitze <strong>des</strong> Staates als neue Kaufkraft wieder. Gleichsam aus nichts<br />

erschaffen, wirkt sie genauso wie ein neuerschlossenes Absatzgebiet. Freilich, das Kapital wird<br />

zunächst um 100 geringeren Absatz an Lebensmitteln für die Arbeiter haben. Für den <strong>Ein</strong>zelkapitalisten<br />

ist der Arbeiter auch ein ebenso guter Konsument und Warenabnehmer wie jeder andere, wie ein<br />

Kapitalist, der Staat, der Bauer, "das Ausland" usw. Vergessen wir jedoch nicht, daß für das<br />

Gesamtkapital die Ernährung der Arbeiterklasse nur Malum necessarium, nur ein Umweg zum<br />

eigentlichen Zweck der Produktion: zur Erzeugung und Realisierung <strong>des</strong> Mehrwerts, ist. Gelingt es,<br />

dieselbe Menge Mehrwert herauszupressen, ohne der Arbeitskraft dieselbe Menge Lebensmittel zuführen<br />

zu müssen, um so glänzender das Geschäft. Es läuft zunächst auf dasselbe hinaus, wie wenn es - ohne<br />

Lebensmittelteuerung - dem Kapital gelungen wäre, die Geldlöhne entsprechend herabzudrücken, ohne<br />

die Leistung der Arbeiter zu verringern. Zieht doch dauernde Lohnreduktion gleichfalls im weiteten<br />

Gefolge die <strong>Ein</strong>schränkung der Lebensmittelproduktion nach sich. Sowenig sich das Kapital graue Haare<br />

wachsen laßt, daß es weniger Lebensmittel für die Arbeiter wird produzieren müssen, wenn es an ihren<br />

Löhnen Beutelschneiderei treibt, vielmehr diesem Geschäft bei jeder Gelegenheit mit Lust und Liebe<br />

nachgeht, ebensowenig verursacht es dem Kapital im ganzen Beschwerden, daß die Arbeiterklasse dank<br />

der indirekten Besteuerung, die nicht durch Lohnerhöhungen wettgemacht wird, eine geringere Nachfrage<br />

nach Lebensmitteln darstellt. Freilich bleibt bei direkten Lohnreduktionen die Differenz an variablem<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 32. Kapitel<br />

Kapital in der Tasche <strong>des</strong> Kapitalisten und vergrößert, bei gleichbleibenden Warenpreisen, den relativen<br />

Mehrwert, während sie jetzt in die Staatskasse wandert. Allein andererseits sind allgemeine und dauernde<br />

Reduktionen an Geldlöhnen zu allen Zeiten, namentlich aber bei hoher Entwicklung der<br />

gewerkschaftlichen Organisationen, nur selten durchführbar. Der fromme Wunsch <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong> stößt hier<br />

auf starke Schranken sozialer und politischer Natur. Hingegen setzt sich die Herabdrückung der<br />

Reallöhne vermittelst der indirekten Besteuerung prompt, glatt und generell durch, worauf sich der<br />

Widerstand meist erst nach längerer Zeit, auf politischem Gebiete und ohne unmittelbares ökonomisches<br />

Resultat zu äußern pflegt. Ergibt sich daraus hinterdrein eine <strong>Ein</strong>schränkung der Lebensmittelproduktion,<br />

so erscheint das Geschäft vom Standpunkte <strong>des</strong> Gesamtkapitals nicht als ein Verlust an Absatz, sondern<br />

als eine Ersparnis an Unkosten bei der Produktion von Mehrwert. <strong>Die</strong> Herstellung von Lebensmitteln für<br />

Arbeiter ist eine Bedingung sine qua non der Produktion <strong>des</strong> Mehrwerts, nämlich die Reproduktion der<br />

lebendigen Arbeitskraft, niemals aber ein Mittel der Realisierung <strong>des</strong> Mehrwerts.<br />

Nehmen wir unser Beispiel wieder auf:<br />

I. 5.000 c + 1.000 v + 1.000 m = 7.000 Produktionsmittel.<br />

II: 1.430 c + 285 v + 285 m = 2.000 Konsummittel.<br />

Auf den ersten Blick scheint es, als ob hier die Abteilung II auch bei der Herstellung der<br />

Konsumtionsmittel für die Arbeiter Mehrwert erzeugen und realisieren würde, ebenso die Abteilung I,<br />

sofern sie Produktionsmittel herstellt, die zu jener Produktion von Lebensmitteln erforderlich sind. Doch<br />

der Schein verschwindet, wenn wir das gesellschaftliche Gesamtprodukt betrachten. <strong>Die</strong>ses stellt sich so<br />

dar: 6.430 c + 1.285 v + 1.285 m = 9.000.<br />

Nun träte eine Verringerung der Konsumtion der Arbeiter um 100 ein. <strong>Die</strong> Verschiebung in der<br />

Reproduktion infolge der entsprechenden <strong>Ein</strong>schränkung beider Abteilungen wird sich so ausdrücken:<br />

I. 4.949,00 c + 989,75 v + 989,75 m = 6.928,50<br />

II: 1.358,50 c + 270,75 v + 270,75 m = 1.900,00<br />

Und das gesellschaftliche Gesamtprodukt: 6.307,5 c + 1.260,5 v + 1.260,5 m = 8.828,5.<br />

Es ist auf den ersten Blick ein allgemeiner Ausfall in dem Produktionsumfang und auch in der Produktion<br />

von Mehrwert zu konstatieren. <strong>Die</strong>s aber nur, solange wir abstrakte Wertgrößen in der Gliederung <strong>des</strong><br />

Gesamtprodukts, nicht seine sachlichen Zusammenhänge im Auge haben. Sehen wir näher zu, dann stellt<br />

sich heraus, daß der Ausfall gänzlich die Erhaltungskosten der Arbeitskraft und nur diese berührt. Es<br />

werden nunmehr weniger Lebensmittel und Produktionsmittel hergestellt, diese dienten aber<br />

ausschließlich dazu, Arbeiter zu erhalten. Es wird jetzt ein geringeres Kapital beschäftigt und ein<br />

geringeres Produkt hergestellt. Aber Zweck der kapitalistischen Produktion ist nicht, schlechthin ein<br />

möglichst großes Kapital zu beschäftigen, sondern einen möglichst großen Mehrwert zu erzielen. Das<br />

Defizit an Kapital ist aber hier nur dadurch entstanden, daß die Erhaltung der Arbeiter ein geringeres<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 32. Kapitel<br />

Kapital erfordert. Wenn früher 1.285 der Wertausdruck der gesamten Erhaltungskosten der beschäftigten<br />

Arbeiter in der Gesellschaft war, so muß der nun entstandene Ausfall im Gesamtprodukt = 171,5 (9.000 -<br />

8.828,5) ganz von diesen Erhaltungskosten abgezogen werden, und wir bekommen dann die veränderte<br />

Zusammensetzung <strong>des</strong> gesellschaftlichen Produkts: 6.430 c + 1.113,5 v + 1.285 m = 8.828,5.<br />

Das konstante Kapital und der Mehrwert blieben unverändert, das variable Kapital der<br />

Gesellschaft, die bezahlte Arbeit allein hat sich verringert. Oder, da die unveränderte Größe <strong>des</strong><br />

konstanten <strong>Kapitals</strong> frappieren mag, nehmen wir, wie es auch exakt dem Vorgang entspricht, eine der<br />

Verringerung der Lebensmittel der Arbeiter entsprechende Verringerung <strong>des</strong> konstanten <strong>Kapitals</strong> an, dann<br />

erhalten wir die folgende Gliederung <strong>des</strong> gesellschaftlichen Gesamtprodukts: 6.307,5 c + 1.236 v + 1.285<br />

m = 8.828,5.<br />

Der Mehrwert bleibt in beiden Fällen unverändert, trotz der Verringerung <strong>des</strong> Gesamtprodukts, denn die<br />

Erhaltungskosten der Arbeiter und nur diese haben sich verringert.<br />

<strong>Die</strong> Sache läßt sich auch so darstellen. Das gesellschaftliche Gesamtprodukt kann seinem Werte nach in<br />

drei proportionelle Teile eingeteilt werden, die jeweilig ausschließlich das gesamte konstante Kapital der<br />

Gesellschaft, das gesamte variable Kapital und den gesamten Mehrwert repräsentieren. Und zwar so, wie<br />

wenn in der ersten Portion Produkte nicht ein Atom neu hinzugetretene Arbeit, in der zweiten und dritten<br />

nicht ein Atom Produktionsmittel erhalten wäre. Da diese Produktenmasse als solche, ihrer Sachgestalt<br />

nach, ganz das Ergebnis der gegebenen Produktionsperiode, aus der sie hervorgegangen ist, so kann man -<br />

obwohl das konstante Kapital als Wertgröße Resultat früherer Produktionsperioden ist und nur auf neue<br />

Produkte übertragen wird - auch die gesamte Anzahl der beschäftigten Arbeiter in drei Kategorien<br />

einteilen: in solche, die ausschließlich das gesamte konstante Kapital der Gesellschaft herstellen, in<br />

solche, deren ausschließlicher Beruf es ist, für die Erhaltung sämtlicher Arbeiter zu sorgen, endlich in<br />

solche, die ausschließlich den gesamten Mehrwert der Kapitalistenklasse schaffen.<br />

Erfolgt eine <strong>Ein</strong>schränkung der Konsumtion der Arbeiter, dann wird nur aus der zweiten Kategorie eine<br />

entsprechende Anzahl Arbeiter entlassen. Aber diese Arbeiter schaffen von vornherein keinen Mehrwert<br />

für das Kapital, ihre Entlassung ist also vom Standpunkt <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong> kein Verlust, sondern ein Gewinn,<br />

Verminderung der Kosten der Mehrwertproduktion.<br />

Hingegen winkt der gleichzeitig entstehende Absatz auf seiten <strong>des</strong> Staates mit allen Reizen eines neuen<br />

Gebietes zur Realisierung <strong>des</strong> Mehrwerts. <strong>Ein</strong> Teil der in der Zirkulation <strong>des</strong> variablen <strong>Kapitals</strong><br />

begriffenen Geldsumme springt aus der Bahn dieser Zirkulation heraus und stellt in der Hand <strong>des</strong> Staates<br />

eine neue Nachfrage dar. Daß steuertechnisch der Vorgang ein anderer, nämlich der Betrag der indirekten<br />

Steuern faktisch von dem Kapital dem Staate vorgestreckt und erst bei dem Warenkauf im Preis<br />

vom Konsumenten dem Kapitalisten zurückerstattet wird, ändert nichts an der ökonomischen Seite <strong>des</strong><br />

Vorgangs. Ökonomisch ist es entscheidend, daß die als variables Kapital fungierende Geldsumme erst<br />

den Austausch zwischen Kapital und Arbeitskraft vermittelt, um hinterher, bei dem Austausch zwischen<br />

Arbeiter als Konsumenten und Kapitalist als Warenverkäufer, zu einem Teil aus der Hand <strong>des</strong> Arbeiters<br />

an den Staat als Steuer zu wandern. <strong>Die</strong> von dem Kapital in die Zirkulation geworfene Geldsumme erfüllt<br />

damit erst vollauf ihre Funktion im Austausch mit der Arbeitskraft, um darauf in der Hand <strong>des</strong> Staates<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 32. Kapitel<br />

eine ganz neue Laufbahn zu beginnen, nämlich als fremde, dem Kapital wie dem Arbeiter äußerliche<br />

Kaufkraft, die sich auf neue Produkte, auf einen besonderen Zweig der Produktion richtet, der weder zur<br />

Erhaltung der Kapitalistenklasse noch zur Erhaltung der Arbeiterklasse dient und in dem das Kapital<br />

daher eine neue Gelegenheit findet, Mehrwert sowohl zu erzeugen wie zu realisieren. Früher, als wir die<br />

Verwendung der aus dem Arbeiter ausgepreßten indirekten Steuern zu Gehältern für Staatsbeamte und<br />

zur Versorgung <strong>des</strong> Heeres betrachteten, hat sich herausgestellt, daß die "Ersparnis" an der Konsumtion<br />

der Arbeiterklasse ökonomisch dazu führt, die Kosten der persönlichen Konsumtion <strong>des</strong> Anhangs der<br />

Kapitalistenklasse und der Werkzeuge ihrer Klassenherrschaft von den Kapitalisten auf die Arbeiter, vom<br />

Mehrwert auf das variable Kapital abzuschieben und im gleichen Maße den Mehrwert für<br />

Kapitalisierungszwecke frei zu machen. Jetzt sehen wir, wie die Verwendung der dem Arbeiter<br />

abgepreßten Steuern zur Herstellung von Kriegsmitteln dem Kapital eine neue Möglichkeit der<br />

<strong>Akkumulation</strong> bietet.<br />

Praktisch wirkt der Militarismus auf Grundlage der indirekten Steuern nach beiden Richtungen, indem er<br />

auf Kosten der normalen Lebensbedingungen der Arbeiterklasse sowohl die Erhaltung der Organe der<br />

<strong>Kapitals</strong>herrschaft, der stehenden Heere, wie das großartigste <strong>Akkumulation</strong>sgebiet <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong><br />

sichert.(4)<br />

Wenden wir uns an die zweite Quelle der Kaufkraft <strong>des</strong> Staates, in unserem Beispiel die 150 von dem<br />

Gesamtbetrag der 250, die in Kriegsmitteln angelegt werden. <strong>Die</strong> 150 unterscheiden sich wesentlich von<br />

der bis jetzt betrachteten Summe von 100. Sie rühren nicht von den Arbeitern, sondern vom<br />

Kleinbürgertum - Handwerkern und Bauern - her. (Von dem relativ kleinen Anteil der Kapitalistenklasse<br />

selbst an den Steuern sehen wir hier ab.)<br />

<strong>Die</strong> von der Bauernmasse - die wir hier als Vertreterin der nichtproletarischen Konsumentenmasse<br />

nehmen wollen - an den Staat in Gestalt von Steuern abgeführte Geldsumme ist nicht ursprünglich vom<br />

Kapital vorgeschossen und löst sich nicht von der Kapitalzirkulation ab. Sie ist in der Hand der<br />

Bauernmasse das Äquivalent realisierter Waren, Wertniederschlag der einfachen Warenproduktion. Was<br />

hier auf den Staat übertragen wird, ist ein Teil der Kaufkraft nichtkapitalistischer Konsumenten, also<br />

Kaufkraft, die von vornherein dem Kapital dazu dient, für Zwecke der <strong>Akkumulation</strong> den Mehrwert zu<br />

realisieren. Es fragt sich, ob sich für das Kapital aus der Übertragung der Kaufkraft dieser Schichten auf<br />

den Staat zu militaristischen Zwecken ökonomische Veränderungen ergeben und welcher Art. Auf den<br />

ersten Blick handelt es sich auch hier um Verschiebungen in der sachlichen Gestalt der Reproduktion.<br />

Statt einer Menge Produktionsmittel und Lebensmittel für die bäuerlichen Konsumenten wird das Kapital<br />

im gleichen Wertbetrage Kriegsmittel für den Staat produzieren. Tatsächlich ist die Verschiebung eine<br />

tiefergreifende. Vor allem wird die durch den Mechanismus der Besteuerung vom Staate flüssig gemachte<br />

Kaufkraft der nichtkapitalistischen Konsumenten quantitativ eine viel größere sein als die, welche für ihre<br />

eigene Konsumtion tatsächlich auftreten würde.<br />

Es ist ja das moderne Steuersystem selbst, das in hohem Maße bei den Bauern die Warenwirtschaft erst<br />

erzwingt. Der Druck der Besteuerung zwingt den Bauern, fortschreitend einen immer größeren Teil seines<br />

Produkts in Ware zu verwandeln, macht ihn aber auch gleichzeitig immer mehr zum Käufer, treibt das<br />

Produkt der Bauernwirtschaft durch die Zirkulation und verwandelt zwangsweise die Bauern erst in<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 32. Kapitel<br />

Abnehmer auch für Kapitalprodukte. Ferner auch unter der Voraussetzung der bäuerlichen<br />

Warenproduktion entlockt das Steuersystem der Bauernwirtschaft eine größere Kaufkraft, als sie sich<br />

ohnehin aktiv betätigen würde.<br />

Was sonst als Ersparnis der Bauern, <strong>des</strong> kleinen Mittelstan<strong>des</strong> aufgeschatzt wäre, um in Sparkassen und<br />

Banken das anlagesuchende Kapital zu vergrößern, wird jetzt im Besitze <strong>des</strong> Staates umgekehrt eine<br />

Nachfrage und Anlagemöglichkeit für das Kapital. Ferner tritt hier an Stelle einer großen Anzahl kleiner<br />

zersplitterter und zeitlich auseinanderfallender Warennachfragen, die vielfach auch durch die einfache<br />

Warenproduktion befriedigt wären, also für die Kapitalakkumulation nicht in Betracht kämen, eine<br />

zur großen einheitlichen kompakten Potenz zusammengefaßte Nachfrage <strong>des</strong> Staates. <strong>Die</strong>se setzt aber zu<br />

ihrer Befriedigung von vornherein die Großindustrie auf höchster Stufenleiter, also für die<br />

Mehrwertproduktion und <strong>Akkumulation</strong> günstigste Bedingungen voraus. In Gestalt der militaristischen<br />

Aufträge <strong>des</strong> Staates wird die zu einer gewaltigen Größe konzentrierte Kaufkraft der Konsumentenmassen<br />

außerdem der Willkür, den subjektiven Schwankungen der persönlichen Konsumtion entrückt und mit<br />

einer fast automatischen Regelmäßigkeit, mit einem rhythmischen Wachstum begabt. Endlich befindet<br />

sich der Hebel dieser automatischen und rhythmischen Bewegung der militaristischen Kapitalproduktion<br />

in der Hand <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong> selbst - durch den Apparat der parlamentarischen Gesetzgebung und <strong>des</strong> zur<br />

Herstellung der sogenannten öffentlichen Meinung bestimmten Zeitungswesens. Dadurch scheint dieses<br />

spezifische Gebiet der Kapitalakkumulation zunächst von unbestimmter Ausdehnungsfähigkeit. Während<br />

jede andere Gebietserweiterung <strong>des</strong> Absatzes und der Operationsbasis für das Kapital in hohem Maße von<br />

geschichtlichen, sozialen, politischen Momenten abhängig ist, die außerhalb der Willenssphäre <strong>des</strong><br />

<strong>Kapitals</strong> spielen, stellt die Produktion für den Militarismus ein Gebiet dar, <strong>des</strong>sen regelmäßige stoßweise<br />

Erweiterung in erster Linie in den bestimmenden Willen <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong> selbst gegeben zu sein scheint.<br />

<strong>Die</strong> geschichtlichen Notwendigkeiten der verschärften Weltkonkurrenz <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong> um seine<br />

<strong>Akkumulation</strong>sbedingungen verwandeln sich so für das Kapital selbst in ein erstklassiges<br />

<strong>Akkumulation</strong>sfeld. Je energischer das Kapital den Militarismus gebraucht, um die Produktionsmittel und<br />

Arbeitskräfte nichtkapitalistischer Länder und Gesellschaften durch die Welt- und Kolonialpolitik sich<br />

selbst zu assimilieren, um so energischer arbeitet derselbe Militarismus daheim, in den kapitalistischen<br />

Ländern, dahin, den nichtkapitalistischen Schichten dieser Länder, d.h. den Vertretern der einfachen<br />

Warenproduktion, sowie der Arbeiterklasse fortschreitend die Kaufkraft zu entziehen, d.h., die ersteren<br />

immer mehr der Produktivkräfte zu berauben, die letztere in ihrer Lebenshaltung herabzudrücken, um auf<br />

beider Kosten die Kapitalakkumulation gewaltig zu steigern. Von beiden Seiten schlagen aber die<br />

Bedingungen der <strong>Akkumulation</strong> auf einer gewissen Höhe in Bedingungen <strong>des</strong> Untergangs für das Kapital<br />

um.<br />

Je gewalttätiger das Kapital vermittelst <strong>des</strong> Militarismus draußen in der Welt wie bei sich daheim mit der<br />

Existenz nichtkapitalistischer Schichten aufräumt und die Existenzbedingungen aller arbeitenden<br />

Schichten herabdrückt, um so mehr verwandelt sich die Tagesgeschichte der Kapitalakkumulation<br />

auf der Weltbühne in eine fortlaufende Kette politischer und sozialer Katastrophen und Konvulsionen, die<br />

zusammen mit den periodischen wirtschaftlichen Katastrophen in Gestalt der Krisen die Fortsetzung der<br />

<strong>Akkumulation</strong> zur Unmöglichkeit, die Rebellion der internationalen Arbeiterklasse gegen die<br />

<strong>Kapitals</strong>herrschaft zur Notwendigkeit machen werden, selbst ehe sie noch ökonomisch auf ihre natürliche<br />

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<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 32. Kapitel<br />

selbstgeschaffene Schranke gestoßen ist.<br />

Der Kapitalismus ist die erste Wirtschaftsform mit propagandistischer Kraft, eine Form, die die Tendenz<br />

hat, sich auf dem Erdrund auszubreiten und alle anderen Wirtschaftsformen zu verdrängen, die keine<br />

andere neben sich duldet. Er ist aber zugleich die erste, die allein, ohne andere Wirtschaftsformen als ihr<br />

Milieu und ihren Nährboden, nicht zu existieren vermag, die also gleichzeitig mit der Tendenz, zur<br />

Weltform zu werden, an der inneren Unfähigkeit zerschellt, eine Weltform der Produktion zu sein. Er ist<br />

ein lebendiger historischer Widerspruch in sich selbst, seine <strong>Akkumulation</strong>sbewegung ist der Ausdruck,<br />

die fortlaufende Lösung und zugleich Potenzierung <strong>des</strong> Widerspruchs. Auf einer gewissen Höhe der<br />

Entwicklung kann dieser Widerspruch nicht anders gelöst werden als durch die Anwendung der<br />

Grundlagen <strong>des</strong> Sozialismus - derjenigen Wirtschaftsform, die zugleich von Hause aus Weltform und in<br />

sich ein harmonisches System, weil sie nicht auf die <strong>Akkumulation</strong>, sondern auf die Befriedigung der<br />

Lebensbedürfnisse der arbeitenden Menschheit selbst durch die Entfaltung aller Produktivkräfte <strong>des</strong><br />

Erdrun<strong>des</strong> gerichtet sein wird.<br />

Fußnoten von <strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong><br />

(1) <strong>Die</strong>se Annahme macht z B. in der Tat Dr. Renner zur Grundlage seiner Schrift über die Steuern.<br />

"Alles, was in einem Jahre an Werten geschaffen wird", sagt er, "spaltet sich in diese vier Teile. Und also<br />

können die Steuern eines Jahres nur aus ihnen geschöpft werden: Profit, Zins, Rente und Lohn sind die<br />

vier besonderen Steuerquellen." (Das arbeitende Volk und die Steuern, Wien 1909, S. 9.) Renner erinnert<br />

sich zwar gleich darauf den Existenz der Bauern, erledigt sie aber mit einem Satz: "<strong>Ein</strong> Bauer zum<br />

Beispiel ist zugleich Unternehmer, Arbeiter und Grundeigentümer, er bezieht in seinem<br />

Wirtschaftsvertrag unter einem den Lohn, den Profit und die Rente." Es ist klar, daß eine solche Spaltung<br />

<strong>des</strong> Bauerntums in alle Kategorien der kapitalistischen Produktion und die Betrachtung <strong>des</strong> Bauern als<br />

seines eigenen Unternehmers,. Lohnarbeiters und Grundherrn in einer Person eine blutleere Abstraktion<br />

ist. <strong>Die</strong> ökonomische Besonderheit <strong>des</strong> Bauerntums - will man es schon, wie Renner, als eine<br />

unterschiedslose Kategorie behandeln - besteht gerade darin, daß es weder zum kapitalistischen<br />

Unternehmertum noch zum Lohnproletariat gehört und daß es nicht kapitalistische sondern einfache<br />

Warenproduktion repräsentiert.


<strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> - <strong>Die</strong> <strong>Akkumulation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitals</strong>, 32. Kapitel<br />

Kriegsbedarfs herstellt, und der Gesamtheit der Kapitalistenklasse. Für die Fabrikanten, die Kanonen,<br />

Gewehre und sonstiges Kriegsmaterial produzieren, ist die Existenz <strong>des</strong> Militärs zweifellos vorteilhaft<br />

und unentbehrlich. Es ist sehr wohl möglich, daß die Abschaffung <strong>des</strong> Systems <strong>des</strong> bewaffneten Friedens<br />

für die Firma Krupp einen Ruin bedeuten würde, es handelt sich aber nicht um irgendeine besondere<br />

Gruppe von Unternehmen, sondern lediglich um die Kapitalisten als Klasse, um die kapitalistische<br />

Produktion im ganzen." Von diesem letzteren Standpunkte aber sei zu bemerken, daß "wenn die<br />

Steuerlast vorwiegend auf der Masse der arbeitenden Bevölkerung liegt, jede Vergrößerung dieser Last<br />

die Kaufkraft der Bevölkerung, damit aber auch die Nachfrage nach Waren verringert". <strong>Die</strong>se Tatsache<br />

beweise, "daß der Militarismus vom Standpunkte der Produktion <strong>des</strong> Kriegsmaterials betrachtet, wohl die<br />

einen Kapitalisten bereichert, die anderen aber schädigt, auf der einen Seite einen Gewinn, auf der<br />

anderen aber einen Verlust bedeutet". "Der Bote der Jurisprudenz", 1890, Heft I: Militarismus und<br />

Kapitalismus.)

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