„Diagnose: Rett-Syndrom“ – und dann? - bei föpäd.net
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Einleitung 1966 entdeckt der Wiener Kinderarzt, Dr. Andreas Rett, mehrere Mädchen, die alle die gleichen merkwürdigen Symptome zeigen. Aus verschiedenen Gründen finden seine Beobachtungen in der Fachwelt zunächst keine große Resonanz. Das ändert sich Anfang der 80er Jahre, als ein schwedischer Kollege, Bengt Hagberg, die gleichen Anzeichen an einer Gruppe von Kindern diagnostiziert und einige Aufsätze im englischsprachigen Raum veröffentlicht. Dem Behinderungsbild wird international der Name ‚Rett-Syndrom’ zu eigen, worüber der „Entdecker“ sich in seinen Memoiren wie folgt äußert: „Der Umstand also, daß mein Name mit einer so tragischen und einer bis zum heutigen Tage definitiv unheilbaren Krankheit verbunden ist, belastet mich mitunter sehr. Auch der oft verwendete Ausdruck ‚Rett-girl’ schockiert mich immer wieder“ 3 (Rett 1990, 127). Aus verschiedenen Gründen, die wir in dieser Arbeit noch erörtern werden, widerstrebt es uns von einer „unheilbaren Krankheit“ zu sprechen. Rett hält bis heute die Mädchen und Frauen nicht für lernfähig (vgl. ebd.), eine Auffassung, die unserer Meinung nach nicht zu halten ist, was im Laufe dieser Arbeit auch noch begründet werden wird. Das Ausmaß der Tragik, von der Rett spricht, kann durch vielfältige pädagogisch-therapeutische Methoden reduziert werden. Zwei mögliche Methoden, die der Unterstützten und die der Gestützten Kommunikation, werden wir in dieser Arbeit genauer betrachten, da die Kommunikation ein Grundbedürfnis eines jeden Menschen ist. Wir werden nachstehend von Mädchen mit Rett-Syndrom sprechen, wenngleich dabei auch immer Jugendliche und erwachsene Frauen in unsere Gedanken mit einbezogen sind. Seit Anfang der 80er Jahre forschen weltweit Pädiater, Humangenetiker und Fachkräfte aus den verschiedensten Disziplinen nach den Ursachen dieser Behinderung sowie nach pädagogisch-therapeutischen Interventionen. Im Jahr 1999 gelang einem amerikanischen Forscherteam die genetische Lokalisierung des Syndroms. Das ‚Rett-Gen’ war gefunden. Diese Entdeckung machte das Rett- 3 Anmerk. d. Verf.: Zitate in dieser Arbeit können die alte Rechtschreibung enthalten. Aus Gründen der Lesbarkeit verzichten wir im Folgenden auf eine ausdrückliche Kennzeichnung. www.foepaed.net 8
Syndrom etwas bekannter, sodass Hollywoodstar Julia Roberts für ein Filmprojekt 4 der Internationalen Rett-Syndrom Assoziation (IRSA) gewonnen werden konnte, um das öffentliche Interesse auf diese Kinder zu lenken. Anlass für eine intensive Auseinandersetzung sowohl mit dem Rett-Syndrom als auch mit den Theorien über Kommunikation und hier vor allem mit den Methoden der alternativen Kommunikation bildete für uns ein dreimonatiger Aufenthalt am DEAL Communication Centre in Melbourne, Australien. In dieser Beratungs- und Therapieeinrichtung für Menschen mit verschiedensten Kommunikations- beeinträchtigungen erhielten wir, an der Seite von Rosemary Crossley und ihrem Team, einen Einblick in Gestaltungsprozesse von Kommunikation mittels alternativer Methoden. Während dieses Aufenthalts lernten wir einige Mädchen und Frauen mit Rett-Syndrom sowie ihre Angehörigen kennen, die dort Begleitung auf dem Weg zu mehr Kommunikation durch alternative Methoden erfahren und teilweise beachtliche kommunikative und schriftsprachliche Leistungen entwickeln. Zu unserem Bedauern mussten wir feststellen, dass die aktuelle deutschsprachige Fachliteratur zum Rett-Syndrom ein sehr negatives Bild von diesen Mädchen und Frauen entwirft, welches die Leistungen, die uns die Klientinnen zeigten, nicht einmal ansatzweise zulässt. Das Ziel dieser Arbeit ist es, die Potentiale der Mädchen und Frauen im Bereich der Kommunikation herauszustellen, weil diese häufig nicht erkannt werden. Darüber hinaus plädieren wir für eine differenziertere Wahrnehmung der Signale, die von den Mädchen ‚ausgesendet’ werden. Letzen Endes bedeutet dies für uns eine veränderte Sichtweise des Rett-Syndroms. Es ist uns ein wichtiges Anliegen, die Anregungen und Erfahrungen, die wir in Australien sammeln durften, an andere weiterzugeben. Der Weg zu mehr Kommunikation ist häufig beschwerlich und bedarf Anleitung sowie vieler praktischer Ideen. Diese Arbeit stellt die theoretische Ausgangsbasis für den beiliegenden Leitfaden (vgl. Anlage Nr. 1) dar, der Eltern, Pädagogen und Therapeuten Möglichkeiten der Unterstützten Kommunikation aufzeigen soll. Selbstverständlich können die Ideen und Vorschläge auch der Förderung anderer nichtsprechender Kinder als Anregung 4 Anmerk. d. Verf.: Der Film heißt “Silent Angels. The Rett syndrome story”(2000) und liegt den Verfassern dieser Arbeit vor. www.foepaed.net 9
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Einleitung<br />
1966 entdeckt der Wiener Kinderarzt, Dr. Andreas <strong>Rett</strong>, mehrere Mädchen, die alle<br />
die gleichen merkwürdigen Symptome zeigen. Aus verschiedenen Gründen finden<br />
seine Beobachtungen in der Fachwelt zunächst keine große Resonanz. Das ändert<br />
sich Anfang der 80er Jahre, als ein schwedischer Kollege, Bengt Hagberg, die<br />
gleichen Anzeichen an einer Gruppe von Kindern diagnostiziert <strong>und</strong> einige Aufsätze<br />
im englischsprachigen Raum veröffentlicht. Dem Behinderungsbild wird<br />
international der Name ‚<strong>Rett</strong>-Syndrom’ zu eigen, worüber der „Entdecker“ sich in<br />
seinen Memoiren wie folgt äußert:<br />
„Der Umstand also, daß mein Name mit einer so tragischen <strong>und</strong> einer bis zum<br />
heutigen Tage definitiv unheilbaren Krankheit verb<strong>und</strong>en ist, belastet mich<br />
mitunter sehr. Auch der oft verwendete Ausdruck ‚<strong>Rett</strong>-girl’ schockiert mich<br />
immer wieder“ 3 (<strong>Rett</strong> 1990, 127).<br />
Aus verschiedenen Gründen, die wir in dieser Ar<strong>bei</strong>t noch erörtern werden,<br />
widerstrebt es uns von einer „unheilbaren Krankheit“ zu sprechen. <strong>Rett</strong> hält bis heute<br />
die Mädchen <strong>und</strong> Frauen nicht für lernfähig (vgl. ebd.), eine Auffassung, die unserer<br />
Meinung nach nicht zu halten ist, was im Laufe dieser Ar<strong>bei</strong>t auch noch begründet<br />
werden wird. Das Ausmaß der Tragik, von der <strong>Rett</strong> spricht, kann durch vielfältige<br />
pädagogisch-therapeutische Methoden reduziert werden. Zwei mögliche Methoden,<br />
die der Unterstützten <strong>und</strong> die der Gestützten Kommunikation, werden wir in dieser<br />
Ar<strong>bei</strong>t genauer betrachten, da die Kommunikation ein Gr<strong>und</strong>bedürfnis eines jeden<br />
Menschen ist.<br />
Wir werden nachstehend von Mädchen mit <strong>Rett</strong>-Syndrom sprechen, wenngleich<br />
da<strong>bei</strong> auch immer Jugendliche <strong>und</strong> erwachsene Frauen in unsere Gedanken mit<br />
einbezogen sind.<br />
Seit Anfang der 80er Jahre forschen weltweit Pädiater, Humange<strong>net</strong>iker <strong>und</strong><br />
Fachkräfte aus den verschiedensten Disziplinen nach den Ursachen dieser<br />
Behinderung sowie nach pädagogisch-therapeutischen Interventionen. Im Jahr 1999<br />
gelang einem amerikanischen Forscherteam die ge<strong>net</strong>ische Lokalisierung des<br />
Syndroms. Das ‚<strong>Rett</strong>-Gen’ war gef<strong>und</strong>en. Diese Entdeckung machte das <strong>Rett</strong>-<br />
3 Anmerk. d. Verf.: Zitate in dieser Ar<strong>bei</strong>t können die alte Rechtschreibung enthalten. Aus Gründen<br />
der Lesbarkeit verzichten wir im Folgenden auf eine ausdrückliche Kennzeichnung.<br />
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