„Diagnose: Rett-Syndrom“ – und dann? - bei föpäd.net

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30.12.2012 Aufrufe

4 Kognition, Kommunikation und Sprache von Mädchen und Frauen mit Rett-Syndrom Bevor wir uns in diesem Kapitel dem Kommunikationsverhalten direkt widmen, sollen zunächst die Fähigkeiten betrachtet werden, die die Qualität jeglicher Kommunikation beeinflussen. Das Verhältnis zwischen Kognition und Kommunikation beim Rett-Syndrom wird dabei ebenso betrachtet wie die Fähigkeiten des Klassifizierens und des Ordnens, des Abstrahierens und des Generalisierens sowie des Erkennens von Kausalzusammenhängen. Ebenfalls für die Kommunikation und für Verstehensprozesse von zentraler Bedeutung sind das Symbolverständnis und das Sprachverständnis. In diesem Zusammenhang soll die kommunikative Entwicklung der Mädchen im ersten Lebensjahr betrachtet werden, bevor des Weiteren auf die vielfältigen Signale des kommunikativen Verhaltens der Mädchen im Kindes- und Jugendalter sowie in der Adoleszenz eingegangen wird. Abschließend werden wir den Erwerb von Lese- und Schriftfertigkeiten untersuchen unter Einbeziehung der besonderen Bedingungen, unter denen die Kinder ohne Lautsprache und mit einer körperlichen Beeinträchtigung stehen. 4.1 Kognition und Sprache Nach Einschätzungen von Eltern und Sonderpädagogen sind Mädchen mit Rett- Syndrom als hochgradig geistig behindert einzustufen. Dobslaff räumt jedoch ein, dass es sehr schwierig ist, den genauen geistigen Entwicklungsstand bei den Mädchen festzustellen (vgl. Dobslaff 1999, 209). Lindberg berichtet, dass es für einen geistigen Entwicklungsrückschritt keine so deutliche Bestätigung gibt wie für das Zurückbleiben in anderen, motorischen Bereichen (vgl. Lindberg 2000, 46). Beide Autoren, Lindberg wie auch Dobslaff, sind der Ansicht, dass sich die geistige Behinderung in zunehmendem Alter manifestiert und dass die Leistungen der Menschen mit Rett-Syndrom nicht dem biologischen Alter entsprechen, „sondern ihr Verhalten und Urteilsvermögen sind so, wie wir es normalerweise bei Kindern unter zwei Jahren sehen können“ (vgl. ebd.). Uns widerstrebt der Vergleich mit dem biologischen Alter. Mädchen und Frauen mit Rett-Syndrom sammeln während ihres Lebens, wie alle anderen Menschen auch, Erfahrungen, die sie zu einer eigenen Persönlichkeit werden lassen. www.foepaed.net 54

Einer Frau wie Kim (37 Jahre, Diagnose: Rett-Syndrom) zu sagen, sie habe den Intellekt eines zweijährigen Kindes ist unseres Erachtens nach grotesk und zu alldem nicht nur eine Missachtung ihrer Person, sondern auch eine Verletzung ihrer Würde, die laut Grundgesetz unantastbar ist. Lindberg und Dobslaff beziehen sich auf das Entwicklungsschema von Piaget, indem sie das Gesamtniveau der Mädchen kaum höher einstufen als das sensomotorische Stadium IV, was bedeuten würde, dass die Mädchen keine Objektpermanenz und kein Symbolverständnis entwickeln (vgl. Lindberg 2000, 54; Dobslaff 1999, 213f.). Demeter kritisiert, im Gegensatz zu Dobslaff, die Theorie Piagets, indem er darauf hinweist, dass Piaget in großem Maße motorische Fähigkeiten als Nachweis für geistige Prozesse heranzieht, welche die Mädchen wie in Kapitel 1 gesehen nicht haben bzw. nur sehr schwer und mühsam entwickeln können. “An important problem in most studies on the developmental level of profoundly handicapped children is that the models used to understand intelligence, e.g. the Piagetian theory, are focused on the knowledge which a child acquires about their ‘material’ world. This focus is much emphasised in the diagnostic instruments developed from these theories” (Demeter 2000, 230) Unser persönlicher Eindruck von den insgesamt acht Mädchen und Frauen, die wir zusammen über ein halbes Jahr lang begleiteten, ist jedoch der, dass sie über mehr kognitive Fähigkeiten verfügen als bisher angenommen. Bestätigt wurde uns diese Vermutung durch die Leistungen, welche sie mit Hilfe der Methoden der Unterstützten Kommunikation zum Vorschein brachten. So fällt es uns schwer zu glauben, dass beispielsweise eine Klientin (16 Jahre, gestützt mit Hilfe des ‘Lightwriters’ kommunizierend) hochgradig geistig behindert sein soll, die fähig ist, über die Scheidung ihrer Eltern zu diskutieren und uns mitteilt, wie sehr sie unter der Trennung vom Vater leidet. Fontenasi und Haas plädieren deshalb dafür, dass für Intelligenztests bei Mädchen und Frauen mit Rett-Syndrom nicht die Methoden herangezogen werden, die für Menschen mit Autismus entwickelt wurden, sondern jene, die für Kinder mit körperlicher Behinderung zu Grunde gelegt werden (vgl. Fontenasi/Haas 1988, 23). www.foepaed.net 55

Einer Frau wie Kim (37 Jahre, Diagnose: <strong>Rett</strong>-Syndrom) zu sagen, sie habe den<br />

Intellekt eines zweijährigen Kindes ist unseres Erachtens nach grotesk <strong>und</strong> zu alldem<br />

nicht nur eine Missachtung ihrer Person, sondern auch eine Verletzung ihrer Würde,<br />

die laut Gr<strong>und</strong>gesetz unantastbar ist.<br />

Lindberg <strong>und</strong> Dobslaff beziehen sich auf das Entwicklungsschema von Piaget,<br />

indem sie das Gesamtniveau der Mädchen kaum höher einstufen als das<br />

sensomotorische Stadium IV, was bedeuten würde, dass die Mädchen keine<br />

Objektpermanenz <strong>und</strong> kein Symbolverständnis entwickeln (vgl. Lindberg 2000, 54;<br />

Dobslaff 1999, 213f.). Demeter kritisiert, im Gegensatz zu Dobslaff, die Theorie<br />

Piagets, indem er darauf hinweist, dass Piaget in großem Maße motorische<br />

Fähigkeiten als Nachweis für geistige Prozesse heranzieht, welche die Mädchen <strong>–</strong><br />

wie in Kapitel 1 gesehen <strong>–</strong> nicht haben bzw. nur sehr schwer <strong>und</strong> mühsam<br />

entwickeln können.<br />

“An important problem in most studies on the developmental level of profo<strong>und</strong>ly<br />

handicapped children is that the models used to <strong>und</strong>erstand intelligence, e.g. the<br />

Piagetian theory, are focused on the knowledge which a child acquires about their<br />

‘material’ world. This focus is much emphasised in the diagnostic instruments<br />

developed from these theories” (Demeter 2000, 230)<br />

Unser persönlicher Eindruck von den insgesamt acht Mädchen <strong>und</strong> Frauen, die wir<br />

zusammen über ein halbes Jahr lang begleiteten, ist jedoch der, dass sie über mehr<br />

kognitive Fähigkeiten verfügen als bisher angenommen. Bestätigt wurde uns diese<br />

Vermutung durch die Leistungen, welche sie mit Hilfe der Methoden der<br />

Unterstützten Kommunikation zum Vorschein brachten. So fällt es uns schwer zu<br />

glauben, dass <strong>bei</strong>spielsweise eine Klientin (16 Jahre, gestützt mit Hilfe des<br />

‘Lightwriters’ kommunizierend) hochgradig geistig behindert sein soll, die fähig ist,<br />

über die Scheidung ihrer Eltern zu diskutieren <strong>und</strong> uns mitteilt, wie sehr sie unter der<br />

Trennung vom Vater leidet.<br />

Fontenasi <strong>und</strong> Haas plädieren deshalb dafür, dass für Intelligenztests <strong>bei</strong> Mädchen<br />

<strong>und</strong> Frauen mit <strong>Rett</strong>-Syndrom nicht die Methoden herangezogen werden, die für<br />

Menschen mit Autismus entwickelt wurden, sondern jene, die für Kinder mit<br />

körperlicher Behinderung zu Gr<strong>und</strong>e gelegt werden (vgl. Fontenasi/Haas 1988, 23).<br />

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