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Geht nicht gibts nicht, Dr. Nils Jent

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porträt<br />

<strong>nicht</strong><br />

Gibts <strong>nicht</strong><br />

<strong>Dr</strong>. nils <strong>Jent</strong><br />

Beim Swiss Award wurde er zum<br />

Vize-«Schweizer deS JahreS»<br />

gewählt. <strong>Nils</strong> <strong>Jent</strong> ist blind, körper- und<br />

sprechbehindert und Doktor an der Uni<br />

St. Gallen. Sein Leben meistert er mit<br />

Wille, Geist, Witz – und einem Stempel.<br />

Foto Geri Born <strong>Geht</strong><br />

«Mein Kopf ist mein<br />

Kapital» <strong>Nils</strong> <strong>Jent</strong> in<br />

seinem Wohnzimmer in<br />

St. Gallen. In der Vitrine<br />

bewahrt er seine Schildkrötensammlung<br />

auf.<br />

«Schildkröten sind<br />

wie ich: langsam und<br />

bedächtig, aber zäh<br />

und hartnäckig.»<br />

42 schweizer illustrierte schweizer illustrierte 43


Text marcel huwyler<br />

Fotos helmut wachter<br />

er nennt es ganz undramatisch<br />

«meinen Seitenwechsel». Manchmal<br />

spricht er auch von «Leben 1»<br />

und «Leben 2» und schildert seine Erfahrungen<br />

«in den zwei Welten».<br />

An der Swiss-Award-Gala vom vorletzten<br />

Samstag erringt <strong>Nils</strong> <strong>Jent</strong> den<br />

zweiten Rang bei der Wahl zum Schweizer<br />

des Jahres 2011 (hinter Didier<br />

Cuche). Und ein Millionenpublikum vor<br />

den TV-Geräten fragt sich: Wer ist dieser<br />

Mann im Rollstuhl mit den spastischen<br />

Gesten, dem starren, fliehenden Blick<br />

eines Blinden und dem verschmitzten<br />

Lachen? <strong>Dr</strong>. <strong>Nils</strong> <strong>Jent</strong>, wird dem Publikum<br />

erklärt, sei nominiert für seine Willenskraft<br />

und Rolle als Vorbild für andere,<br />

die ein ähnliches Schicksal teilen.<br />

«Mein Leben ist <strong>nicht</strong> schlimm», sagt<br />

<strong>Nils</strong> <strong>Jent</strong> eine Woche später in seiner<br />

Wohnung in St. Gallen, «mein Leben ist<br />

sehr erfüllend.» Die irritierende, aber<br />

wohl weise Formulierung eines Mannes,<br />

der seit 32 Jahren Übermenschliches<br />

leistet – weil er anders ist. Anders sein,<br />

sagt <strong>Jent</strong>, habe etwas mit Vielfältigkeit<br />

zu tun. Der beste Beweis für seine<br />

These liefert er selber: <strong>Nils</strong> <strong>Jent</strong>, 49 Jahre<br />

alt, ist körper- und sprechbehindert,<br />

blind, Doktor der Ökonomie, Forscher<br />

und Dozent an der Universität St. Gallen.<br />

Bei einem motorradunfall im Mai<br />

1980 wird der 18-jährige Gymnasiast<br />

<strong>Nils</strong> aus Umiken AG schwer verletzt.<br />

Während der Notoperation setzt sein<br />

Herz acht Minuten lang aus. Der «kräftige<br />

junge Mann», wie ein Arzt in den<br />

Akten notiert, fällt ins Koma. <strong>Dr</strong>ei Wochen<br />

später erwacht <strong>Nils</strong> und fühlt sich<br />

«wie ein Stück Holz»; gelähmt, blind,<br />

wehr- und sprachlos, aber geistig präsent<br />

liegt er da und kann sich <strong>nicht</strong> mitteilen.<br />

Mit Zuckungen versucht er, auf<br />

sich aufmerksam zu machen – die Ärzte<br />

deuten dies als epileptischen Anfall<br />

und verordnen Beruhigungsmittel. Es ist<br />

schliesslich <strong>Nils</strong>’ Mutter, der auffällt, dass<br />

ihr Sohn seine Augenlider kontrolliert<br />

öffnet und schliesst. Sie sagt das Alphabet<br />

auf und notiert jenen Buchstaben,<br />

bei dessen Aufzählung <strong>Nils</strong> zwinkert.<br />

A, B, C . . . immer wieder von vorne, so<br />

«diktiert» <strong>Nils</strong> Wörter, Sätze, schliesslich<br />

ganze Mitteilungen. <strong>Nils</strong> ist zurück, im<br />

Leben 2, Welt B, sein Seitenwechsel.<br />

Fotos Wörterseh, Felix Aeberli<br />

Hören statt sehen <strong>Nils</strong> <strong>Jent</strong> ist ein grosser<br />

Musikfan. In seiner Wohnung steht eine<br />

imposante Stereoanlage. Er mag Sinfoniekonzerte<br />

genauso wie Rockmusik.<br />

Punkt neun uhr, wie vereinbart,<br />

öffnet <strong>Jent</strong> die Wohnungstür. Um 5.45 Uhr<br />

sei er aufgestanden, das Ankleiden dauert<br />

bei ihm etwas länger (<strong>nicht</strong> selten<br />

bis zu zwei Stunden). Heute trägt er<br />

ein Poloshirt, dieses könne er problemlos<br />

allein anziehen; bei der Swiss-Award-<br />

Gala wars schwieriger: Hemd und Krawatte<br />

– grauenvolle feinmotorische Kleinst-<br />

«Der kleine<br />

Zusatz ‹<strong>Dr</strong>.› hilft<br />

mir immer<br />

dann, wenn die<br />

Leute meinen,<br />

ich sei debil»<br />

NilS JeNt<br />

Vom SPortler zum BliNde N StudeNteN<br />

Das Team <strong>Nils</strong> <strong>Jent</strong> im Gespräch mit seiner<br />

Arbeitspartnerin, Psychologin Regula Dietsche.<br />

Sie begleitet ihn oft auch an Anlässe.<br />

fingerarbeit. Das Hemd hat ihm<br />

schliesslich Arbeitspartnerin Regula<br />

Dietsche zugeknöpft, die Krawatte knotete<br />

ihm Röbi Koller, jener Fernsehjournalist,<br />

der über <strong>Nils</strong>’ Leben ein Buch<br />

geschrieben hat («<strong>Dr</strong>. <strong>Nils</strong> <strong>Jent</strong> – Ein<br />

Leben am Limit», Wörterseh Verlag).<br />

<strong>Jent</strong> sitzt auf einem Bürostuhl mit<br />

Rollen («mein Rollstuhl ist hier drin zu<br />

Seitenwechsel Foto links: Als junger Gymnasiast<br />

ist <strong>Nils</strong> <strong>Jent</strong> enorm sportlich. Er macht Judo,<br />

fährt Ski, schwimmt und trainiert Turmspringen.<br />

Foto oben: Im Jahre 1990 berichtet die Schweizer<br />

Illustrierte erstmals über den blinden Studenten,<br />

hier (vorne links) im Hörsaal der Uni St. Gallen.<br />

sperrig») und zieht sich mit den Füssen<br />

vorwärts durch seine Wohnung. Designersessel,<br />

elegante Teppiche, eine aparte<br />

Vitrine, raffinierte Bilder und alles dezent,<br />

aber effektvoll ausgeleuchtet. Wer mit<br />

so viel Stilsicherheit einrichtet, verfügt<br />

über ein gutes Auge. Darum sei die<br />

Frage erlaubt, Herr <strong>Jent</strong> (man schämt<br />

sich schon, sie überhaupt zu stellen), diese<br />

Einrichtung … Sie sind doch blind?<br />

<strong>Jent</strong> lächelt (solche Situationen scheint<br />

er zu geniessen) und erklärt erst mal die<br />

Aussicht aus dem Fenster, «mit dem<br />

Kloster St. Gallen dort hinten rechts,<br />

und die Kirche im Vordergrund heisst<br />

St. Mangen». Die Irritation nimmt zu. Oh,<br />

er «sehe» eine ganze Menge, sagt <strong>Jent</strong>.<br />

Als Blinder, der sich nur auf Stimmen<br />

konzentriere, durchschaue er die Menschen<br />

viel besser. Ah ja? <strong>Jent</strong> lächelt und<br />

kontert: «Sie zum Beispiel schreiben<br />

ständig in Ihr Notizbuch, stammen aus<br />

dem Aargau und sind heute Morgen etwas<br />

müde. Brauchen Sie einen Kaffee?»<br />

Ob er auch «sieht», wenn man rot wird?<br />

er spüre, sagt <strong>Jent</strong>, die Energie<br />

von Dingen, selbst Möbel nehme er energetisch<br />

wahr, «ein Holzstuhl etwa hat<br />

eine andere Aura als mein Ledersessel».<br />

Wahre Energiequellen seien Bilder;<br />

überall in seiner Wohnung hängen darum<br />

Ölbilder, Lithografien und Fotos. Er<br />

sieht die Werke <strong>nicht</strong>, geniesst aber<br />

deren Wirkung auf Besucher. Gäste wie<br />

Regula Dietsche, die heute Morgen ebenfalls<br />

hier ist. Und von Forscherkollege<br />

<strong>Jent</strong> ein Kompliment kriegt: Sie sei sehr<br />

schön gekleidet. Wie zum Himmel . . .?<br />

«Ich höre, wie sich Regula bewegt, wie<br />

ihre Kleider rascheln, das verrät mir, was<br />

sie trägt.» Zusammen mit der Psychologin<br />

leitet <strong>Jent</strong> den Bereich der angewandten<br />

Forschung am Center for<br />

Disability and Integration (Behinderung<br />

und Integration) an der Uni St. Gallen,<br />

wo das Team an Möglichkeiten forscht,<br />

wie Unternehmen Arbeitsstellen für Behinderte<br />

schaffen können. Ein Problem,<br />

das <strong>Jent</strong> nur zu gut kennt. Aus eigener<br />

schmerzhafter Erfahrung.<br />

Nach seinem töffunfall muss <strong>Nils</strong><br />

<strong>Jent</strong> – blind, partiell gelähmt und sprechbehindert<br />

– selbst einfachste Dinge wie<br />

essen, reden oder sich waschen neu lernen.<br />

Sechs Jahre dauert es, bis er Leben 2<br />

einigermassen im Griff hat. Ein IV-Berufsberater<br />

empfiehlt ihm, Korbflechter zu<br />

werden. Aber <strong>nicht</strong> mit <strong>Nils</strong>! Nicht mit<br />

ihm, dem Schnell-, Viel- und Schrägdenker.<br />

<strong>Nils</strong> will die Matura machen, ein Internat<br />

in Schiers GR nimmt ihn auf. Mutter <strong>Jent</strong><br />

spricht ihrem Sohn den gesamten Schulstoff<br />

auf Tonbandkassetten, 2500 Stück à<br />

90 Minuten. Jede Kassette hört sich <strong>Nils</strong><br />

dreimal an, dann hat er die Materie intus.<br />

Mit 27 Jahren besteht er die Matura (als<br />

Klassenbester) und beginnt ein Studium<br />

der Ökonomie in St. Gallen. Nicht zur<br />

Freude aller. Noch heute erinnert sich <strong>Jent</strong><br />

an jenen Professor, der meinte: «Jesses,<br />

wo führt das hin, wenn jetzt auch noch die<br />

Behinderten meinen, sie können bei uns<br />

studieren?»<br />

daheim in seinem Büro hängt –<br />

pergamentfarben, gerahmt und hinter<br />

Glas – das Zertifikat. «Die Universität<br />

St. Gallen verleiht <strong>Nils</strong> Henrik <strong>Jent</strong> ...»,<br />

und etwas weiter unten stehts: «Doktor<br />

der Wirtschaftswissenschaften», das Datum:<br />

«2. April 2002». Seit dem Herzstillstand<br />

von 1980 sind 22 Jahre vergangen.<br />

Die Abkürzung «<strong>Dr</strong>.» hilft. «Immer<br />

dann, wenn die Leute meinen, ich sei<br />

debil.» Er spricht undeutlich und verwaschen.<br />

Und der Schnelldenker ist<br />

sehr langsam in allem, was er tut. Die<br />

ganze Arbeitswelt, sagt er, jetzt ganz<br />

der Uni-Dozent, sei auf Beschleunigung<br />

und Effizienz ausgerichtet. Alles muss so<br />

schnell wie möglich und so gut als nötig<br />

gemacht werden. Behinderte sind da<br />

chancenlos. Die Effektivität muss gleich<br />

viel Wichtigkeit bekommen wie die Effizienz,<br />

verlangt <strong>Jent</strong>. «Es muss also heissen:<br />

So gut wie möglich, so schnell als<br />

nötig.» <strong>Jent</strong> ist führender Experte im<br />

Diversity Management, Diversity bedeutet<br />

Vielfalt, «und Vielfalt bedeutet Gewinn».<br />

Menschen mit einer Behinderung<br />

haben andere Kompetenzen als Nichtbehinderte,<br />

so <strong>Jent</strong>, sie bringen verschiedene<br />

Ansätze und Lösungen in ein<br />

Unternehmen ein – ein Gewinn für alle,<br />

auch ökonomisch.<br />

das Behinderten-taxi zum Bahnhof<br />

kommt in ein paar Minuten. <strong>Nils</strong> <strong>Jent</strong><br />

und Regula Dietsche reisen nach Arosa,<br />

wo «sein» Buch vor Publikum vorgestellt<br />

wird. Natürlich signiert <strong>Jent</strong> auf Wunsch<br />

die Bücher. Von Hand schreiben kann er<br />

zwar <strong>nicht</strong>, aber seinen Stempel hat er<br />

immer bei sich, ein Mordsding, in Tetrapak-Grösse,<br />

mit Anlauf bedienbar. Das<br />

<strong>Dr</strong>ei-Zeilen-Autogramm ist ihm Signatur,<br />

Kodex und Lebensmotto zugleich:<br />

«<strong>Geht</strong> <strong>nicht</strong> <strong>gibts</strong> <strong>nicht</strong>, <strong>Dr</strong>. <strong>Nils</strong> <strong>Jent</strong>.»<br />

Autogramm Mit seinem übergrossen Stempel<br />

signiert <strong>Nils</strong> <strong>Jent</strong> die Bücher.<br />

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porträt

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