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Hinter verschlossenen Türen Sexualität im Orient - [di.wan] Berlin

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[dī.wān] 12.2007<br />

Vom Mittleren Osten bis <strong>Berlin</strong><br />

<strong>Hinter</strong> <strong>verschlossenen</strong> <strong>Türen</strong><br />

<strong>Sexualität</strong> <strong>im</strong> <strong>Orient</strong><br />

++ ZenTralraT der ex-MuSliMe +++ PrOSTiTuTiOn in Syrien +++ STadTrundgang HebrOn ++


Impressum<br />

CVD<br />

Julia Gebert, Jannis Hagmann<br />

REDAKTION<br />

Anna Antonakis, Nushin Atmaca, Philipp Dehne, May Elmah<strong>di</strong>, Dörthe Engels,<br />

Shelley Harten, Thomas Hilleshe<strong>im</strong>, Alexander Kalbarczyk, Karin Kutter,<br />

David Moock, Anna Esther Müller, Sebastian Sons, Nora Wothe<br />

GASTAUTOR_INNEN<br />

Sakina Abushi, Nora Derbal, Felix Koch, Sel<strong>im</strong> Mawad,<br />

Katharina Mühlbeyer, Jasna Zajcek<br />

LAYOUT<br />

Manuela Gaeth<br />

KONTAKT<br />

<strong>di</strong><strong>wan</strong>berlin@yahoo.de<br />

Ein Projekt der Fachschaftsinitiative IsTurArIr der Freien Universität <strong>Berlin</strong>.<br />

Verantwortliche <strong>im</strong> Sinne des Pressegesetzes sind <strong>di</strong>e jeweiligen Autoren.<br />

SPENDENKONTO<br />

[dī.wān]<br />

Kto-Nr. 200823995<br />

BLZ 72050101<br />

Kreissparkasse Augsburg<br />

Draußen vor der Tür:<br />

<strong>Sexualität</strong> <strong>im</strong> <strong>Orient</strong><br />

Nichts wird so verschwiegen und gleichzeitig zerredet, ist unsichtbar und doch allgegenwärtig wie das<br />

Thema <strong>Sexualität</strong>. Es ist schon problema- tisch darüber zu reden – von Casablanca bis<br />

Karatschi. Darüber zu schreiben, sich fest- legen zu lassen, schwarz auf weiß, ist ein<br />

Wagnis.<br />

Der [dī.wān] geht <strong>di</strong>eses Wagnis ein und versucht sich mit <strong>di</strong>eser Ausgabe einigen<br />

Aspekten und Fragen des Komplexes zu nähern.<br />

In <strong>di</strong>esem Geiste ist auch das Titelbild ent- standen, das sich dem Thema <strong>di</strong>eses Heftes<br />

mit ästhetischem Abstand und scharfem Blick nähert: Was verschließt jemand hinter<br />

seiner Tür? Und was will ein Mensch mit niemandem außer seinen engsten<br />

Vertrauten teilen, vielleicht mit nur einer Person oder gar mit niemandem?<br />

<strong>Sexualität</strong>, Int<strong>im</strong>ität, den eigenen Körper.<br />

Der Umgang mit <strong>Sexualität</strong> ist auch <strong>im</strong> me<strong>di</strong>atisierten Zeitalter noch kontextuell<br />

geprägt. Trotz globaler Vernetzung hat sich nicht etwa weltweite Tabuisierung<br />

oder ihr Gegenteil, ein Bruch mit allen Tabus, durchgesetzt. Die Sichtweisen auf<br />

Heirat, Transsexualität, Verhütung, Prostitution oder Polygamie gehen aber<br />

auch unter Umständen schon inner- halb eines engen Personenkreises weit<br />

auseinander – und das sowohl in Eur- opa als auch in der Region des Mittleren<br />

Osten.<br />

In <strong>di</strong>ese Region, in der eine ohrenbe- täubende Tabuisierung herrscht und<br />

Verbote, <strong>di</strong>e vielen Menschen den Zu- gang zu ihrer eigenen <strong>Sexualität</strong> versperren,<br />

will der vierte [dī.wān] ein paar Einblicke geben. Wissend, dass wir keinen exklusiven<br />

Schlüssel in der Hand halten, wollen wir dennoch versuchen, <strong>di</strong>ese Tür einen Spalt weit aufzustoßen.<br />

12.2007 [dī.wān] 3


4 [dī.wān] 12.2007 12.2007 [dī.wān] 5<br />

POLITIK<br />

6 Scharia, was‘n das?<br />

Die Albander verbindet vor<br />

allem eines: Säkularismus.<br />

von Julia Gebert<br />

8 Verbaler oder<br />

militärischer Krieg?<br />

Warum es unwahrscheinlich<br />

ist, dass <strong>di</strong>e USA den Iran<br />

angreifen werden.<br />

von Sel<strong>im</strong> Mawad<br />

10 Silence Please,<br />

Occupation in Progress<br />

Mit Stadtrundgängen durch<br />

Hebron versuchen ehemalige<br />

israelische Soldaten, das<br />

Schweigen über <strong>di</strong>e Siedlungspolitik<br />

zu brechen<br />

von Sakina Abushi<br />

10 24<br />

42 48<br />

GESELLSCHAFT<br />

12 Araber – Jude – Israeli<br />

Israels Schwarze Panther oder<br />

eine kurze Geschichte der<br />

Mizrah<strong>im</strong> in Israel<br />

von Anna Esther Müller<br />

14 „Wir haben abgeschworen“<br />

2007 wurde der Zentralrat der<br />

Ex-Musl<strong>im</strong>e gegründet.<br />

von Dörthe Engels<br />

17 Die Idylle über‘m Fernseher<br />

Die Lebensbe<strong>di</strong>ngungen von<br />

Beduinen <strong>im</strong> israelischen<br />

Negev<br />

von Shelley Harten<br />

19 Nicht dabei statt mittendrin<br />

Bisher kickte nur ein türkischstämmiger<br />

Spieler für <strong>di</strong>e<br />

DFB-Elf.<br />

von Sebastian Sons<br />

21 30. <strong>Orient</strong>alistentag 2007<br />

<strong>Orient</strong>alistik <strong>im</strong> 21. Jahrhundert<br />

– Welche Vergangenheit?<br />

Welche Zukunft?<br />

von Nora Derbal<br />

SPEZIAL<br />

24 Der Tanz der traurigen Gazellen<br />

Prostitution als Broterwerb<br />

minderjähriger irakischer<br />

Flüchtlingsmädchen<br />

von Jasna Zajcek<br />

28 Die Beschneidung der Weiblichkeit<br />

Vor einem Jahr sprachen sich<br />

namhafte Islamgelehrte gegen<br />

<strong>di</strong>e Mädchenbeschneidung aus.<br />

von Dörthe Engels<br />

31 Allah ist nicht männlich<br />

„Islamischer Feminismus – eine<br />

internationale Frauenbewegung<br />

kämpft mit Gottes Hilfe für <strong>di</strong>e<br />

Rechte musl<strong>im</strong>ischer Frauen“<br />

von Katharina Mühlbeyer<br />

33 Regeln für jede Lebenslage?<br />

<strong>Sexualität</strong> in Koran und Sunna,<br />

<strong>im</strong> Diesseits und Jenseits<br />

von Anna Antonakis<br />

35 Let‘s talk about sex<br />

Interview mit der Sexologin<br />

Heba Qutb<br />

von Alexander Kalbarczyk<br />

und Nora Wothe<br />

BERLIN<br />

38 Gegner der Islamisten?<br />

Die neue Mega-Moschee in<br />

Kreuzberg – Wo liegen <strong>di</strong>e<br />

Wurzeln des Trägervereins?<br />

von Julia Gebert<br />

40 Anlagebetrug in Gottes Namen<br />

Wie sogenannte Islam- Hol<strong>di</strong>ngs<br />

gläubige Musl<strong>im</strong>e um mehrere<br />

Milliarden Euro betrügen.<br />

von Karin Kutter<br />

42 Am Tag der Deutschen Einheit...<br />

Eine Fotostrecke aus <strong>Berlin</strong><br />

von Anna Antonakis<br />

und May Elmah<strong>di</strong><br />

INTERVIEW<br />

46 „Die Araber können es sich nicht<br />

leisten, blind zu sein“<br />

GLOSSE<br />

Interview mit Aktam Sul<strong>im</strong>an?<br />

von Julia Gebert<br />

51 Der Falafel-Klau<br />

Unentdeckte Tiefen israelischer<br />

He<strong>im</strong>atgefühle<br />

von Shelley Harten<br />

HÖRBAR<br />

48 Musik mit vielen <strong>Hinter</strong>gründen<br />

Dhafer Youssefs Album<br />

DIVINE SHADOWS<br />

von Felix Koch<br />

LESBAR<br />

49 Wie wär‘s mit einem<br />

neuen Schulbuch?<br />

Ilan Pappe: Die ethnische<br />

Säuberung Palästinas<br />

von Philipp Dehne


6 [dī.wān] 12.2007 12.2007 [dī.wān] 7<br />

Scharia, was is’n das?<br />

Post-kommunistischer Charme, Mittelmeerkl<strong>im</strong>a und Säkularismus – in<br />

Albanien ist Religion unwichtig geworden. Der Anteil von 90% Musl<strong>im</strong>en<br />

an der Bevölkerung existiert nur auf dem Papier<br />

von Julia Gebert<br />

Der Billigflieger Germanwings<br />

hat Albanien 2006 in sein Flugnetz<br />

aufgenommen. Seitdem fliegt <strong>di</strong>e Linie<br />

mit der gelb-violetten Werbung<br />

einmal in der Woche <strong>di</strong>e Hauptstadt<br />

Tirana an. So manch ein Passant, der<br />

an der flächendeckenden Werbung<br />

der Billigfluglinie vorbeigeht, mag<br />

sich fragen, ob da vor Germanwings<br />

überhaupt irgendein Flugzeug gelandet<br />

ist. Aber halt – was wissen<br />

wir eigentlich über Albanien?<br />

Wer den Kosovo-Krieg assoziiert<br />

ist ebenso auf dem Holzweg wie<br />

jemand, der sich ein Land vorstellt,<br />

dessen Straßen von Bärtigen oder<br />

von bewaffneten Milizen gesäumt<br />

POLITIK<br />

sind. Diese Erwartungen gehen an<br />

der Wirklichkeit vorbei, da sich<br />

ja Gott sei Dank „alle kr<strong>im</strong>inellen<br />

Albaner nach Westeuropa abgesetzt<br />

haben“, wie Enklid Milaj, ein<br />

albanisch-stämmiger Anwalt, der in<br />

Mailand arbeitet, erklärt. Das gibt<br />

zu denken.<br />

Minirock statt Kopftuch<br />

Wenn man Albanien besucht,<br />

findet man <strong>di</strong>esen Eindruck aller<strong>di</strong>ngs<br />

bestätigt – <strong>di</strong>e Atmosphäre<br />

ist entspannt, friedlich und erinnert<br />

eher an Italien als an ein mehrheitlich<br />

musl<strong>im</strong>isches Land an der<br />

Schwelle zum <strong>Orient</strong>. Das Land<br />

mit seinen 70-90% Musl<strong>im</strong>en lässt<br />

sich nicht einmal äußerlich als ein<br />

solches erkennen, hier und da stößt<br />

man auf eine Moschee, doch <strong>di</strong>e<br />

meisten sind verschlossen oder verlassen<br />

– <strong>im</strong> <strong>Orient</strong> nahezu ein Ding<br />

der Unmöglichkeit. Dazu kommt<br />

ein Straßenbild, in dem Mini-Röcke<br />

und Alkohol-Werbung dominieren<br />

und man nur einmal<br />

am Tag ein Kopftuch<br />

sieht.<br />

Äußerliche Klischees,<br />

aber an irgendetwas<br />

muss man sich ja orientieren,<br />

bis man eine Moschee findet,<br />

in der es mehr Informationen über<br />

<strong>di</strong>e religiösen Gefühle der Albaner<br />

gibt. Nach fünf vergeblichen Versuchen<br />

in zwei Tagen ist ein Mausole-<br />

um eines Sufi-Ordens <strong>di</strong>e erste islamische<br />

Stätte, <strong>di</strong>e geöffnet ist. Wer<br />

sich kleidungsmäßig um ein angemessenes<br />

Erscheinungsbild für den<br />

Besuch eines islamischen heiligen<br />

Ortes zurechtmachen will, wird zurückgehalten:<br />

„Lassen Sie doch, wir<br />

sind da nicht so“, erklärt eine Frau<br />

auf Englisch, <strong>di</strong>e, am<br />

Eingang sitzend, ein<br />

tief ausgeschnittenes<br />

T-Shirt trägt, mit ein paar Männern<br />

plaudert und türkischen Kaffee<br />

schlürft. Also gut, einfach rein, mit<br />

Schuhen und Tank-Top.<br />

Koran-Lektüre scheint in Albanien<br />

nicht auf der Tagesordnung<br />

zu stehen. Auch Boris hat sein<br />

albanisch-arabisches Exemplar selten<br />

aufgeschlagen. In der Moschee<br />

war er nur einmal in seinem Leben.<br />

„Was soll ich da auch?“ fragt er. Die<br />

nächste Erdbeben-Frage sofort:<br />

„Ach, was ich <strong>im</strong>mer schon mal<br />

wissen wollte, was ist das eigentlich,<br />

<strong>di</strong>ese Scharia?“<br />

Stell Dir vor, es baut einer eine<br />

Moschee, und keiner geht hin<br />

Willkommen in Albanien, dem<br />

säkularsten musl<strong>im</strong>ischen Land, in<br />

dem Sau<strong>di</strong>-Arabien und Iran vergeblich<br />

versuchen, mit dem Bau von<br />

Moscheen Meinungsbildung zu betreiben<br />

und Anhänger für ihre religi-<br />

ösen Doktrinen zu gewinnen. Auch<br />

religiös motiviertes Sponsoring verfängt<br />

nicht, denn <strong>di</strong>e Albaner haben<br />

<strong>im</strong> Laufe der letzten fünf Jahre ein<br />

fünfprozentiges Wirtschaftswachstum<br />

erreicht, zudem fließen Devisen<br />

von in Westeuropa lebenden<br />

Familienmitgliedern ins Land. Ja,<br />

von jenen, <strong>di</strong>e wahrscheinlich nicht<br />

<strong>im</strong>mer auf legale Weise an ihr Geld<br />

kommen, in dem sie zum Beispiel<br />

das Hamburger Rotlichtviertel kontrollieren<br />

und in Nor<strong>di</strong>talien der<br />

Mafia Konkurrenz machen.<br />

Aber eben in Westeuropa, nicht<br />

dahe<strong>im</strong>. Dort bezaubern weiße<br />

Strände und türkises Meer, noch<br />

fehlt sogar der Neckermann-Sonnenschirm.<br />

Der große Tourismus-<br />

Die Albaner verbindet vor allem<br />

eins: Säkularismus<br />

Boom wird erst erwartet, wenn<br />

Kroatien einmal überlaufen ist. Dies<br />

könnte <strong>im</strong>merhin willkommene Nebenwirkungen<br />

für <strong>di</strong>e Infrastruktur<br />

in Albanien haben, <strong>di</strong>e bislang noch<br />

wenig touristenfreundlich ist: Busse<br />

des öffentlichen Nahverkehrs sind<br />

niemals beschriftet und ihre Haltestellen<br />

unauffindbar, zudem brauchen<br />

sie aufgrund der mit Schlaglöchern<br />

übersäten Straße für zehn<br />

Kilometer eine halbe Stunde. Wäre<br />

Albanien EU-Kan<strong>di</strong>dat, ließe sich<br />

durch Zuschüsse aus Brüssel, das<br />

tra<strong>di</strong>tionell <strong>di</strong>e ersten Gelder für <strong>di</strong>e<br />

POLITIK<br />

gemeinsame, EU-weite Infrastruktur<br />

bewilligt, auf bal<strong>di</strong>ge Besserung<br />

hoffen. Doch Verhandlungen werden<br />

mit Zagreb geführt, nicht mit<br />

Tirana.<br />

Für <strong>di</strong>e Al baner steht vielmehr<br />

<strong>di</strong>e erhoffte Autonomie des Kosovo<br />

ganz oben auf der Prioritätenliste.<br />

Die religiösen Spannungen zwischen<br />

Kosovaren und Serben werden<br />

verstanden, aber nicht auf Albanien<br />

übertragen. „Das ist ja ganz<br />

anders hier, wir haben kein Problem<br />

als Christen“, sagt Enklid, selbst<br />

Katholik. Auch wenn er sich ein<br />

bisschen über <strong>di</strong>e neue Moschee in<br />

seinem He<strong>im</strong>atdorf ärgert, <strong>di</strong>e mit<br />

ihrem Minarett den Kirchturm um<br />

einen halben Meter überragt. Den-<br />

noch:Drangsalierung und<br />

Diskr<strong>im</strong>inierung<br />

religiöser<br />

Minderheiten lässt sich zumindest<br />

in der jüngeren Geschichte Albaniens<br />

nicht festmachen. Der Diktator<br />

Hoxa, der Albanien in eine internationale<br />

Isolation ähnlich der des<br />

Chinas von Mao Tse Tung geführt<br />

hatte, hat seinen Landsleuten Spiritualität<br />

und Religion nachhaltig<br />

ausgetrieben.<br />

So stehen dort heute Gotteshäuser<br />

beider Religionen nebeneinander<br />

– und sind beide leer.<br />

Wahrscheinlich, weil <strong>di</strong>e Albaner<br />

vor allem eines verbindet: Nämlich<br />

Säkularismus.<br />

(rechts)_ Im Stadtbild der Hauptstadt Tirana dominieren kommunistische<br />

Architektur und me<strong>di</strong>terranes Lebensgefühl<br />

(links)_ Skanderbeg: Albanischer Fürst, der sein Land <strong>im</strong> 15. Jahrhundert<br />

gegen <strong>di</strong>e Osmanen vertei<strong>di</strong>gte – erst nach seinem Tod fiel Albanien<br />

dem Osmanischen Reich zu


8 [dī.wān] 12.2007 POLITIK<br />

POLITIK<br />

12.2007 [dī.wān] 9<br />

Verbaler oder militärischer Krieg?<br />

Trotz aller Rhetorik: Es gibt viele Gründe, warum es unwahrscheinlich ist,<br />

dass <strong>di</strong>e USA dem Iran den Krieg erklären werden<br />

Schon seit Jahren werden ein<br />

möglicher amerikanischer Militärschlag<br />

gegen Iran und <strong>di</strong>e Konsequenzen<br />

für den Nahen Osten und<br />

<strong>di</strong>e amerikanische Außenpolitik in<br />

der Region <strong>di</strong>skutiert. Dabei werden<br />

viele Fragen aufgeworfen und<br />

ganz unterschiedlich beantwortet:<br />

Kann Amerika Iran angreifen und<br />

sich damit einmal mehr der Frage<br />

„Warum hassen sie uns?“ aussetzen?<br />

Sind <strong>di</strong>e USA in der Lage, ihre arabischen<br />

Alliierten zu halten, ohne<br />

<strong>di</strong>e Bevölkerungen gegen deren<br />

autokratische Reg<strong>im</strong>e aufzubringen?<br />

Kann Amerika<br />

sich noch ein militärisches<br />

Abenteuer <strong>im</strong><br />

Nahen Osten leisten,<br />

solange <strong>di</strong>e Missionen<br />

in Afghanistan und Irak unvollendet<br />

sind? Wollen <strong>di</strong>e USA das<br />

Risiko einer erhöhten Gefährdung<br />

Israels in Kauf nehmen? Haben <strong>di</strong>e<br />

amerikanische Regierung und ihre<br />

europäischen Partner <strong>di</strong>e Folgen<br />

einer solchen militärischen Aktion<br />

für ihre eigenen ökonomischen<br />

Interessen in der Region bedacht?<br />

Und könnte ein gespaltenes Europa<br />

es sich leisten, noch mehr aufgebrachte<br />

Musl<strong>im</strong>e in der Mitte ihrer<br />

Gesellschaften zu haben?<br />

Es spricht einiges dafür, dass es<br />

hier gar nicht mehr um einen Militärschlag<br />

geht. Obwohl sie offizielle<br />

Gegenspieler sind, ist <strong>di</strong>e Ähnlichkeit<br />

zwischen George W. Bush<br />

und dem iranischen Präsidenten<br />

Mahmud Ahma<strong>di</strong>nejad verblüffend.<br />

von Sel<strong>im</strong> Mawad<br />

Jeder für sich ist ein Repräsentant<br />

der konservativen Strömung seines<br />

Landes und führt einen verbalen<br />

Krieg gegen seinen Amtskollegen.<br />

Insofern ist es in gewisser Hinsicht<br />

nicht übertrieben zu sagen: Bush<br />

und Ahma<strong>di</strong>nejad brauchen einander,<br />

beide mobilisieren anhand des<br />

Feindbildes <strong>di</strong>e eigene Bevölkerung<br />

für außenpolitische Projekte und<br />

sichern sich damit innenpolitische<br />

Unterstützung. Dieser Rückhalt<br />

war jedoch keineswegs von Anfang<br />

an gegeben: Bush erlebte zwei sehr<br />

knappe Wahlsiege und auch Ahma-<br />

Bush und Ahma<strong>di</strong>nejad:<br />

Ein Diplomatie-Tandem<br />

<strong>di</strong>nejad verfügte nicht <strong>im</strong>mer über<br />

so großen Rückhalt in der eigenen<br />

Gesellschaft wie heute. Erst <strong>di</strong>e<br />

Androhung eines Militärschlags<br />

machte es ihm möglich, das iranische<br />

Atomprojekt als ein „musl<strong>im</strong>isches<br />

Projekt“ und als „nationale<br />

Vertei<strong>di</strong>gung“ darzustellen und so<br />

<strong>di</strong>e iranische Bevölkerung hinter<br />

sich zu bringen. Ein möglicher Angriff<br />

auf den Iran könnte <strong>di</strong>e Bevölkerung<br />

noch stärker mobilisieren<br />

und auch <strong>di</strong>e letzten liberalen und<br />

pro-westlichen St<strong>im</strong>men <strong>im</strong> Iran<br />

zum Schweigen bringen. Ohne <strong>di</strong>ese<br />

Basis würde es in Zukunft fast<br />

unmöglich, <strong>di</strong>e amerikanisch-iranischen<br />

Beziehungen zu reparieren.<br />

Konservative Kräfte <strong>im</strong> Iran sind<br />

von <strong>di</strong>eser US-Außenpolitik erst<br />

Recht gestärkt worden. Die Mullahs<br />

haben ohnehin auf eine iranische<br />

Führungsrolle unter den Schiiten<br />

der Region mit der Wahl Ahma<strong>di</strong>nejads<br />

hingearbeitet, was durch<br />

<strong>di</strong>e zunehmende Destabilisierung<br />

des Irak extrem befördert wurde.<br />

Und <strong>di</strong>e moralische Unterstützung<br />

für den Iran würde <strong>di</strong>e Grenzen der<br />

schiitischen Musl<strong>im</strong>e <strong>im</strong> Falle eines<br />

Militärschlags sicher überschreiten.<br />

Die Rolle der<br />

arabischen Nachbarn<br />

Selbst Sau<strong>di</strong>-Arabien als starke<br />

sunnitische Regionalmacht und<br />

politökonomischer Konkurrent des<br />

Iran würde einem Militärschlag<br />

wahrscheinlich nicht zust<strong>im</strong>men,<br />

da es <strong>di</strong>e möglichen Konsequenzen<br />

eines destabilisierten Irans sowie<br />

<strong>di</strong>e Zunahme von Angriffen bewaffneter<br />

Gruppen auf amerikanische<br />

Einrichtungen oder auf <strong>di</strong>e Ölindustrie<br />

in Sau<strong>di</strong>-Arabien befürchten<br />

müsste.<br />

Was das Dreieck Iran-Hizbollah-Syrien<br />

angeht, so ist es wahrscheinlich,<br />

dass <strong>im</strong> Zuge eines Angriffs<br />

auf Iran <strong>di</strong>e anti-Israel Front<br />

in Syrien und Libanon reaktiviert<br />

würde – ein fragwür<strong>di</strong>ges Risiko<br />

für den amerikanischen Alliierten.<br />

Dass speziell Syrien nicht aus <strong>di</strong>eser<br />

Dreier-Allianz gelöst wird, ist<br />

offensichtlich: Seit dem 11. September<br />

2001 ist in der amerikanischen<br />

Politik nichts Wohlwollendes<br />

gegenüber Syrien zu finden, was das<br />

Land zu pro-amerikanischer Politik<br />

bewegen könnte – und das trotz der<br />

deutlichen Kooperationsangebote<br />

des syrischen Präsidenten Al-Assad.<br />

Die USA haben <strong>di</strong>e von Syrien angebotene<br />

Kooperation <strong>im</strong> „Kampf gegen<br />

den Terror“ ausgeschlagen und<br />

dem Land weder <strong>im</strong> Irak noch <strong>im</strong><br />

Wer spricht für <strong>di</strong>e EU?<br />

Libanon eine geostrategische Rolle<br />

zugedacht.<br />

Ein anderer Akteur, der <strong>im</strong>mer<br />

wieder mit uneinheitlichem<br />

außenpolitischem Auftreten <strong>im</strong><br />

Nahen Osten besticht, ist <strong>di</strong>e Europäische<br />

Union. Es ist fraglich, ob<br />

der französische Premier Nicolas<br />

Sarkozy wirklich für <strong>di</strong>e gesamte<br />

EU steht, wenn er vor der UN-Generalversammlung<br />

von einer „Bedrohung<br />

für <strong>di</strong>e Welt“ spricht und<br />

damit das Nuklearprogramm des<br />

Iran meint. Schon zeigte sich <strong>di</strong>e<br />

Gespaltenheit der EU, als der italienische<br />

Ministerpräsident Romano<br />

Pro<strong>di</strong> auf <strong>di</strong>e Äußerungen Sarkozys<br />

schockiert reagierte und erklärte,<br />

dass <strong>di</strong>ese Position nicht von allen<br />

europäischen Staaten geteilt würde.<br />

Es wird abzuwarten sein, wie viele<br />

weitere Länder sich <strong>di</strong>eser Position<br />

anschließen, denn: Ein Kriegsgang<br />

mit einer uneinigen EU gegen den<br />

Iran ist noch weitaus heikler<br />

als Bushs „Koalition der<br />

Willigen“, <strong>di</strong>e in den Irak zog.<br />

Wenn man bedenkt, was bei<br />

einem Angriff auf den Iran auf dem<br />

Spiel steht, kann man nur hoffen,<br />

dass Bush es bei einem verbalen<br />

Krieg belässt und den Konflikt nicht<br />

auf militärischer Ebene fortführt.<br />

Aus dem Englischen<br />

von Julia Gebert<br />

Sel<strong>im</strong> Mawad ist Leiter der Nicht-Regierungsorganisation<br />

„Sustainable Democracy Center“ in Beirut. Er war er als<br />

außenpolitischer Berater des „Institute of World Affairs“<br />

in Washington D.C. tätig.<br />

http://sdclebanon.org/


10 [dī.wān] 12.2007 12.2007 [dī.wān] 11<br />

Der Bazar in der Altstadt Hebrons –<br />

Aus Sicherheitsgründen geschlossen<br />

Das Kaffeefahrtgefühl, das sich<br />

auf den ersten Kilometern unserer<br />

Reise eingestellt hat, verflüchtigt<br />

sich abrupt, als unser Bus in Hebron<br />

zum Stehen kommt. Eine bunt<br />

zusammengewürfelte Gruppe –<br />

hauptsächlich Israelis und internationale<br />

Besucher – steigt zögerlich<br />

aus dem Bus und beginnt unter der<br />

Führung von Yoav langsam ihren<br />

Rundgang. Von Straße zu Straße<br />

steigt <strong>di</strong>e Anspannung, <strong>di</strong>e Gruppe<br />

rückt näher zusammen. Yoav ermahnt<br />

uns, nicht zurückzubleiben.<br />

Wir besichtigen Hebron, <strong>di</strong>e<br />

zweitgrößte Stadt in der Westbank<br />

mit einer palästinensischen Bevölkerungszahl<br />

von 170.000 Menschen.<br />

Ungefähr dreiviertel der Fläche Hebrons,<br />

das sogenannte „H1“, befindet<br />

sich zumindest formal unter pa-<br />

POLITIK<br />

„Silence Please,<br />

Occupation in Progress“<br />

Die israelische Organisation Breaking the Silence möchte das Schweigen<br />

brechen und bietet ganz spezielle Stadtrundgänge durch Hebron an<br />

von Sakina Abushi<br />

lästinensischer Kontrolle. Man sagt,<br />

das Leben dort sei erträglich. Doch<br />

heute werden wir uns in „H2“ bewegen,<br />

dem israelisch kontrollierten<br />

Teil, wo unter 35.000 Palästinensern<br />

geschätzte 600 bis 800 israelische<br />

Siedler leben. Ebenfalls präsent sind<br />

etwa 1500 israelische Soldaten, <strong>di</strong>e<br />

<strong>di</strong>e Siedler vor Übergriffen schützen<br />

sollen. Hebron ist, bis auf das 1967<br />

von Israel annektierte Ostjerusalem,<br />

<strong>di</strong>e einzige palästinensische Stadt,<br />

in deren unmittelbarem Kern sich<br />

israelische Siedlungen befinden.<br />

Wie <strong>di</strong>e anderen Gründungsmitglieder<br />

von Breaking the Silence hat<br />

auch Yoav während der zweiten Intifada<br />

als Soldat in Hebron ge<strong>di</strong>ent.<br />

Um über <strong>di</strong>ese Zeit zu berichten,<br />

initiierte er mit anderen jungen Soldaten<br />

für ihre Familien und Freunde<br />

eine Fotoausstellung, <strong>di</strong>e den Alltag<br />

der Besatzer und Besetzten dokumentiert.<br />

Die Ausstellung war ein<br />

enormer Erfolg und <strong>di</strong>e Gruppe begann,<br />

hunderte ehemaliger Soldaten<br />

nach ihren Erfahrungen in den<br />

besetzten Gebieten zu befragen und<br />

<strong>di</strong>e Ergebnisse zu publizieren.<br />

Die Stadtführungen stellen ei-<br />

Kämpfer der Zweiten Intifada informieren über<br />

den Alltag in den besetzten Gebieten<br />

nen Teil der Arbeit der Organisation<br />

dar. Wir beginnen <strong>im</strong> Kern der<br />

Altstadt, an der Abraham-Moschee<br />

bzw. der Höhle von Machpela, einer<br />

der wichtigsten heiligen Stätten aller<br />

drei abrahamitischen Religionen<br />

– und somit für Juden als auch für<br />

Musl<strong>im</strong>e und Christen bedeutsam.<br />

Vom Handelszentrum<br />

zur Geisterstadt<br />

Wir bewegen uns weiter in<br />

Richtung des alten Marktviertels.<br />

Viele Teilnehmer der Führung sind<br />

irritiert von der Sterilität der Straßen.<br />

Wir befinden uns an einem<br />

der touristisch interessantesten<br />

Punkte Palästinas und inmitten des<br />

früheren Handelszentrums der gesamten<br />

südlichen Westbank. Doch<br />

abgesehen von den israelischen Soldaten<br />

sind nur selten Menschen auf<br />

den Straßen zu sehen. <strong>Türen</strong> und<br />

Fenster sind geschlossen; der Stadtkern<br />

gleicht einer Geisterstadt.<br />

Yoav erklärt: „Wir befinden uns in<br />

der Innenstadt von H2, dem seit<br />

1967 israelisch kontrollierten Teil<br />

Hebrons. In unmittelbarer Nähe<br />

der vier israelischen Siedlungen, <strong>di</strong>e<br />

zumeist nur aus einzelnen Häusern<br />

oder Häuserblocks bestehen, und<br />

in denen insgesamt einige hundert<br />

Siedler leben, verfolgt <strong>di</strong>e Armee<br />

ihre sogenannte ‚Trennungspolitik‘.<br />

Rund achtzig Prozent der Straßen<br />

dürfen von Palästinensern nicht<br />

befahren, ein Großteil auch von<br />

Fußgängern nicht genutzt werden.<br />

Rund 1700 Geschäfte wurden hier<br />

geschlossen. Daher seht ihr keine<br />

Menschen auf den Straßen.“<br />

Wir folgen Yoav eine der Geisterstraßen<br />

hoch. „Das ist der einzige<br />

Straßenteil, auf dem Siedler<br />

und Palästinenser gleichermaßen<br />

laufen dürfen. Er ist ungefähr hundert<br />

Meter lang.“ Plötzlich biegen<br />

wir um eine Ecke und befinden uns<br />

<strong>im</strong> Chaos: Zerstörte Gebäude, eingeschlagene<br />

Fenster. In der Mitte<br />

eines kleinen Platzes ein Haufen<br />

verkohlter Gegenstände, Möbel,<br />

Maschinen. „Ihr befindet euch auf<br />

dem Fleischmarkt von Hebron. Vor<br />

ein paar Jahren von der Armee ge-<br />

POLITIK<br />

schlossen, in der Folge langsam von<br />

den Siedlern zerstört.“<br />

Was bewegt jemanden dazu, in<br />

<strong>di</strong>esem Teil der Stadt wohnen zu<br />

bleiben? Wieso ziehen <strong>di</strong>e Menschen<br />

nicht fort, allein schon ihrer<br />

Kinder wegen? „Im anderen Teil der<br />

Stadt herrschen achtzig Prozent Arbeitslosigkeit.<br />

Die palästinensische<br />

Behörde zahlt den Menschen, <strong>di</strong>e<br />

hier bleiben, Miete, Strom, Gas,<br />

alles. Jede Woche liefert das Rote<br />

Kreuz hier Nahrungsmittelrationen.<br />

Die Anwohner hier haben<br />

keine Wahl, sonst wären sie schon<br />

lange weg.“<br />

Unsere letzte Station führt uns<br />

über einen steinigen Weg in das<br />

Haus von Imad. Seit einiger Zeit<br />

sind Yoav und Imad Freunde und<br />

regelmäßig führt Yoav fremde Menschen<br />

in Imads Wohnz<strong>im</strong>mer, um<br />

ihnen das Gespräch mit einem der<br />

palästinensischen Einwohner Hebrons<br />

zu ermöglichen. Ein großer<br />

Mann mit festem Händedruck empfängt<br />

uns und beginnt zu erzählen.<br />

Von den nächtlichen Einbrüchen<br />

der Siedler, bei denen sein Haus<br />

verwüstet und seine Frau verletzt<br />

wurde. Von Ausgangssperren, <strong>di</strong>e<br />

vom Militär exklusiv für Palästinenser<br />

verhängt werden, oftmals<br />

anlässlich jü<strong>di</strong>scher Feierlichkeiten<br />

in den Straßen Hebrons. Und dem<br />

monatelangen Ausharren in den eigenen<br />

vier Wänden während der Intifada.<br />

Von seinen drei Kindern, <strong>di</strong>e<br />

unter Schutz von internationalen<br />

Freiwilligen zur Schule gehen, weil<br />

sie regelmäßig von Siedlerkindern<br />

angegriffen werden. Ein Amateurvideo<br />

wird gezeigt, in dem Imads<br />

Töchter zu sehen sind, wie sie über<br />

den Friedhof von der Schule nach<br />

Hause gehen, denn <strong>di</strong>e Benutzung<br />

der nahe gelegenen Straße ist ihnen<br />

untersagt. Plötzlich kommen weitere<br />

Kinder, zehn oder zwölf Jahre<br />

alt, <strong>di</strong>e <strong>di</strong>e Mädchen besch<strong>im</strong>pfen<br />

und schubsen, treten und schlagen.<br />

Ein israelischer Soldat läuft mit,<br />

greift aber nicht ein. „Wo sind denn<br />

<strong>di</strong>e Eltern <strong>di</strong>eser Kinder?” fragt eine<br />

ältere Dame empört. „Schauen Sie<br />

genau hin. Die Eltern sind <strong>im</strong> Bild<br />

zu sehen. Sie stehen abseits und geben<br />

ihren Kindern Anweisungen“,<br />

antwortet Yoav. „In Israel kann ein<br />

Kind unter zwölf Jahren nicht strafrechtlich<br />

belangt werden.“<br />

In Imads Garten setze ich mich<br />

unter einen Weinbaum. Sein Stamm<br />

ist wie bei den anderen Bäumen des<br />

Gartens durchgeschnitten. Seine<br />

Krone hängt in einem Metallgestell,<br />

noch ranken sich seine Blätter grün<br />

und leben<strong>di</strong>g um das Haus. „Wer<br />

Auch Gewalt kommt in täglichen Rationen<br />

Ein von einem Siedler durchsägter Weinbaum<br />

hat das getan?” frage ich das kleine<br />

Mädchen, das in den Ranken herumklettert,<br />

und weiß doch schon<br />

<strong>di</strong>e Antwort. Die Kleine zuckt mit<br />

den Schultern: „Siedler.”<br />

Als ich zurück zu der Führung<br />

stoße, höre ich <strong>di</strong>e letzte Frage, <strong>di</strong>e<br />

an Imad gerichtet wird: „Warum<br />

kooperieren Sie mit den jungen Israelis?<br />

Warum beteiligen Sie sich an<br />

Yoavs Arbeit?” Einen Moment denkt<br />

der Mann nach, dann antwortet<br />

er bedächtig: „Irgend<strong>wan</strong>n haben<br />

meine Kinder mich gefragt: ‚Papa,<br />

warum schlagen uns <strong>di</strong>e jü<strong>di</strong>schen<br />

Kinder? Warum spucken sie uns ins<br />

Gesicht?’ Ich wollte ihnen erklären<br />

können, dass jede Gesellschaft zwei<br />

Seiten hat, eine gute und eine böse.<br />

Seit Yoav und seine Freunde uns<br />

hier besuchen kommen, kann ich<br />

ihnen das beweisen.“


12 [dī.wān] 12.2007 GESELLSCHAFT<br />

GESELLSCHAFT<br />

12.2007 [dī.wān] 13<br />

Araber – Jude – Israeli<br />

Israels Schwarze Panther oder eine kurze Geschichte der Mizrah<strong>im</strong> in Israel<br />

Ruven Abergjil, Gründer der Schwarzen Panther 2007 in Jerusalem<br />

Ruven Abergjil redet schnell,<br />

hastig und vor allem viel.<br />

Sein unbän<strong>di</strong>ger Geist spiegelt sich<br />

in seinem Gesicht wider. Ein kleiner,<br />

agiler Mann, dessen Streitbarkeit<br />

schon vielen Konflikten einen<br />

Rahmen bot: mit sich selbst, dem<br />

System, seinen Mitmenschen. Das<br />

Wort Rassismus, Hebräisch gazanut,<br />

ist ein konstanter Bestandteil<br />

seiner Sätze, wenn man mit ihm<br />

über Politik in Israel generell und<br />

<strong>di</strong>e Behandlung der Mizrah<strong>im</strong> speziell<br />

spricht.<br />

Ruven und seine Familie verließen<br />

1947 Marokko. Knapp drei Jahre<br />

verbrachte der damals Fünf- bis<br />

Siebenjährige in Transitionslagern<br />

in Südeuropa. Viele der Schwachen<br />

und Kranken seien zurückgelassen<br />

bzw. ausselektiert worden oder<br />

seien freiwillig nicht mitgekommen,<br />

erzählt er. An Probleme in Marokko<br />

können er oder seine Familie sich<br />

nicht erinnern, aber an Probleme in<br />

Israel dafür um so mehr.<br />

Kulturelle<br />

Unterdrückung<br />

Wenn er heute über <strong>di</strong>ese<br />

spricht, hat er <strong>im</strong>mer noch <strong>di</strong>esen<br />

kämpferischen Unterton, der einen<br />

ahnen lässt, was für ein wütender<br />

junger Mann Ruven gewesen sein<br />

muss, als er 1971 mit einer Handvoll<br />

anderer junger Männer aus<br />

Musrara, damals einem Jerusalemer<br />

Stadtteil für Mizrah<strong>im</strong>, <strong>di</strong>e Schwarzen<br />

Panther Israels gründete, Ha-<br />

Panter<strong>im</strong> HaShachor<strong>im</strong>. Sie und<br />

ihre bis zu 5000 Mitdemonstranten<br />

konnten sich mehr mit dem „Amerikanischen<br />

Alptraum“ von Malcom<br />

X identifizieren als mit dem Traum<br />

von der „Schweiz <strong>im</strong> Mittleren Osten“<br />

von Theodor Herzl.<br />

von Anna Esther Müller<br />

„...vielleicht sind das nicht <strong>di</strong>e Juden, von denen wir<br />

uns wünschen, dass sie herkommen, aber wir können<br />

ihnen kaum sagen nicht zu kommen...“<br />

Aus: The Zionist Executive, 5 June 1949. In: Tom Segev, “The First Israelis“<br />

Ganz spontan wurde damals<br />

sein Ein-Z<strong>im</strong>mer Haus mit seiner<br />

12-köpfigen Familie darin mit der<br />

charakterisierenden schwarzen<br />

Faust neben den Worten „HaPanter<strong>im</strong><br />

HaShachor<strong>im</strong>“ besprüht und<br />

zum Hauptquartier der jungen Bewegung<br />

gemacht. Eine der Haupterrungenschaften<br />

der Schwarzen<br />

Panther war, das Thema der Unterdrückung<br />

der Mizrah<strong>im</strong> in den<br />

formellen israelischen Diskurs gebracht<br />

und <strong>di</strong>e kulturelle Anerkennung<br />

der „orientalischen Juden“ erreicht<br />

zu haben.<br />

Der Vater des Zionismus, The-<br />

odor Herzl, hatte hingegen seinen<br />

Traum von Israel als einem „europäischen<br />

Bollwerk gegen Asien,<br />

einem Außenposten der Zivilisation<br />

<strong>im</strong> Gegensatz zum Barbarismus“<br />

beschrieben. Im Rahmen eurozentristischen<br />

Gedankenguts wurden<br />

nicht-europäische Kulturen und<br />

deren Menschen als barbarisch,<br />

unmenschlich, unzivilisiert, dumm<br />

und rückstän<strong>di</strong>g stigmatisiert. Die<br />

Mizrah<strong>im</strong> sollten durch „Umerziehung<br />

den <strong>Orient</strong>alen“ – und somit<br />

mehrheitlich den Araber – in sich<br />

verdrängen und okzidentale Israelis<br />

werden. So <strong>di</strong>e Vorstellung. Araber<br />

waren von nun an <strong>di</strong>e Feinde –<br />

und man kann ja nicht beides sein,<br />

Freund und Feind. Viele Mizrah<strong>im</strong><br />

der ersten Generation durchlebten<br />

einen Identitätskonflikt. Wie jemanden<br />

hassen, der man ja auch<br />

selbst ist?<br />

Mit dem Oktoberkrieg 1973<br />

wurde das Mizrahi Thema wieder<br />

von der politischen Agenda gestrichen<br />

und durch Sicherheit ersetzt.<br />

Die Ära der Schwarzen Panther<br />

hatte nach drei Jahren ein schnelles<br />

Ende gefunden. Ruven Abergjil hielt<br />

„Ein Staat, in dem <strong>di</strong>e Hälfte der Bevölkerung wie Könige leben und <strong>di</strong>e andere<br />

Hälfte wie ausgebeutete Sklaven – wir werden ihn niederbrennen!“<br />

Sa´a<strong>di</strong> Martziano, einer der Führer und Hauptredner der Schwarzen Panther auf einer Demonstration in Jerusalem, 1971<br />

sich danach hauptsächlich mit sozialen<br />

Jobs über Wasser, als letztes als<br />

Streetworker mit Mizrahi Jugendlichen.<br />

2003 wurde er gefeuert. Er<br />

hatte sich mit Ehud Olmert wegen<br />

einer öffentlichen Grünanlage in Jerusalem<br />

angelegt, auf <strong>di</strong>e <strong>di</strong>eser sein<br />

Haus bauen wollte. Ehud Olmert<br />

verlor den Gerichtsprozess und Ruven<br />

Abergjil seinen Job. Mit 65 ist<br />

er nun arbeitslos und ver<strong>di</strong>ent sich<br />

sein Taschengeld mit Vorträgen an<br />

Universitäten, bei privaten Institutionen,<br />

NGOs oder Kibbutz<strong>im</strong>.<br />

Ökonomische<br />

Unterdrückung<br />

Ungefähr sechzig Jahre zuvor<br />

hatten <strong>di</strong>e Väter Israels schnell<br />

nach der Staatsgründung realisiert,<br />

dass sich der Staat in seiner jetzigen<br />

Position nicht halten konnte.<br />

Man brauchte mehr Bevölkerung,<br />

Arbeiter und eine größere Armee.<br />

Ben Gurion, der Gründungsvater<br />

Israels, erklärte in einer Knessetsitzung<br />

1949 einmal, dass der Grund,<br />

warum der junge Staat arabische<br />

Juden hole, der gleiche sei, aus dem<br />

<strong>di</strong>e USA <strong>di</strong>e Schwarzen geholt hatte:<br />

Als Arbeiter. Was somit als kulturelle,<br />

ökonomische und soziale<br />

Diskr<strong>im</strong>inierung begann, hat sich<br />

heute in einer Klassenposition verfestigt,<br />

in der <strong>di</strong>e Mizrah<strong>im</strong> neben<br />

den Äthiopischen Juden und den<br />

Palästinensern <strong>di</strong>e unteren ökonomischen<br />

Ränge der Gesellschaft<br />

bekleiden.<br />

Für <strong>di</strong>e jungen Männer aus<br />

Musrara wie Ruven war es damals<br />

schwer ihre Situation zu begreifen.<br />

Die Eltern waren damit beschäftigt<br />

mit der Familie zu überleben. „Für<br />

politischen Aktivismus blieb da keine<br />

Zeit“, erklärt Ruven. Seine Gene-<br />

ration fand sich ohne Ausbildung<br />

schnell <strong>im</strong> Sumpf der Gelegenheitsjobs,<br />

Kleinkr<strong>im</strong>inalität und Drogen<br />

wieder. Golda Meir nannte <strong>di</strong>e<br />

Panther nach einem Treffen einmal<br />

„keine netten Menschen!“ Ruven<br />

zeigt stolz grinsend <strong>di</strong>e Transkription<br />

des Gespräches.<br />

Als erklärter Anti-Zionist<br />

hatte er es nicht leicht in seinem<br />

Land – <strong>di</strong>e Panther und Ruvens<br />

Dickkopf waren eine Gefahr für<br />

das Establishment. Manche seiner<br />

Mitstreiter sind in den 70ern gar<br />

verschwunden und bis heute nicht<br />

wieder aufgetaucht. Der Staat erklärte<br />

Ruven damals, er sei kein<br />

Staatsbürger. Bis 1996 besaß er le<strong>di</strong>glich<br />

ein „Laissez passer“-Papier,<br />

einen Pass für Flüchtlinge, wie ihn<br />

„75% der Todesfälle in der israelischen Armee während der<br />

zweiten Intifada kamen aus periphären sozialen Gruppen“<br />

Yagil Levy, in einem Artikel über <strong>di</strong>e Israeli Defense Force, 2006<br />

auch viele Palästinenser haben. Ein<br />

Jude in Israel, als Flüchtling <strong>im</strong> Ausland<br />

auf Reisen.<br />

Heute sieht Ruven seinen Ausweg<br />

in einem politischen Bündnis<br />

von Palästinensern und Mizrah<strong>im</strong><br />

„um das zionistische Ashkenazi<br />

Establishment zu Frieden und Gerechtigkeit<br />

zu zwingen.“ Aber gerade<br />

unter Mizrah<strong>im</strong> hat er es schwer<br />

mit seiner Einstellung. Viele von ihnen<br />

wählen heute <strong>di</strong>e rechte Volkspartei<br />

Likud und <strong>di</strong>e religiös-rechte<br />

Mizrahi Partei Shas. Manche nennen<br />

ihn daher naiv. Andere Mizrahi<br />

Aktivisten sehen in seinen Vorstellungen<br />

eher einen schönen Traum.<br />

Auch wenn sie ihn auf kultureller<br />

Ebene nachvollziehen können, so<br />

halten sie ihn politisch doch für unrealistisch.<br />

Dass irgend<strong>wan</strong>n <strong>di</strong>e Palästinenser<br />

den Kurs <strong>di</strong>eser beiden Länder<br />

best<strong>im</strong>men werden, glauben ja<br />

viele, von den Rechten bis zu den<br />

Linken, mit jeweils anderen Interpretationen<br />

und Lösungsvorschlägen.<br />

Ruven selbst geht es um seine<br />

teilweise verloren gegangenen Wurzeln,<br />

Idealismus und Gerechtigkeit.<br />

Aufgehört zu kämpfen hat er jedenfalls<br />

nicht. Besonders wenn es um<br />

Politik geht. Er drückt seine Zigarette<br />

aus und muss zum nächsten<br />

politischen Treffen. „Alles Anti-<br />

Zionisten!“ hebt er stolz hervor und<br />

grinst schon wieder. Shalom.<br />

Aschkenaz<strong>im</strong>: Juden aus Mittel- und Osteuropa<br />

Sephard<strong>im</strong>: Juden aus Spanien und Portugal, nach den Vertreibungen 1492 auch<br />

M arokko, Griechenland und Türkei<br />

Mizrah<strong>im</strong> (<strong>di</strong>e „Östlichen“ oder „<strong>Orient</strong>alen“): Juden aus der islamisch geprägten Welt<br />

Die Bezeichnung „Mizrah<strong>im</strong>“ für <strong>di</strong>e Juden aus der islamisch geprägten Welt wurde erst<br />

nach der Staatsgründung Israels eingeführt. Heute sind sie neben den Aschkenaz<strong>im</strong><br />

eine der Gruppen der jü<strong>di</strong>schen Gesellschaft <strong>im</strong> Land. Bis in <strong>di</strong>e Mitte der 80er Jahre<br />

hat das israelische Statistikbüro <strong>di</strong>e Juden bei ihrer Ein<strong>wan</strong>dung nach Erez Israel (hebr.<br />

Aliya) der Herkunft des Vaters entsprechend unterschiedlich behandelt. Wohlhabende<br />

Juden aus dem „entwickelten“ West-Europa waren eher willkommen als <strong>di</strong>e zumeist<br />

verarmten Juden Nord-Afrikas und des Nahen Ostens. Für <strong>di</strong>e europäischen Juden<br />

wurden spezielle Fördermittel bereit gestellt, während <strong>di</strong>e arabischen Juden schlechtere<br />

Wohnorte <strong>im</strong> Lande zugewiesen bekamen. Heute lebt allein eine halbe Million<br />

marokkanischer Juden in Israel, <strong>di</strong>e weiterhin eine starke Bindung an ihre He<strong>im</strong>at mit<br />

eigener Kultur pflegen.<br />

Für alle, <strong>di</strong>e nachschlagen wollen<br />

www.hila-equal-edu.org.il<br />

www.adva.org (u.a. „Israel: A Social Report, 2005“)<br />

The Alternative Information Center (www.alternativenews.org)<br />

• weitere Links und Infos ab 2008 auf der [<strong>di</strong>.<strong>wan</strong>]-Homepage


14 [dī.wān] 12.2007 GESELLSCHAFT<br />

GESELLSCHAFT<br />

12.2007 [dī.wān] 15<br />

„Wir haben abgeschworen“<br />

Seit der Gründung des Zentralrates der Ex-Musl<strong>im</strong>e steht <strong>di</strong>e Vorsitzende<br />

Mina Aha<strong>di</strong> unter Polizeischutz. Während ra<strong>di</strong>kale Musl<strong>im</strong>e sie als Verräterin<br />

besch<strong>im</strong>pfen, loben deutsche Politiker sie als positives Beispiel für <strong>di</strong>e<br />

erfolgreiche Integration des Islams in <strong>di</strong>e deutsche Gesellschaft – und sitzen<br />

dabei wieder einmal einem großen Irrtum auf von Dörthe Engels<br />

Plakat der Kampagne „Wir schwören ab“<br />

Gesicht zeigen – Sich zum Abfall vom<br />

Islam zu bekennen, fordert oftmals sehr<br />

viel Mut<br />

Zahlen sind für <strong>di</strong>e Politik stets<br />

brisantes Gut. Auch <strong>im</strong> Falle der<br />

Integrationsbemühungen „des“ Islams<br />

in „<strong>di</strong>e“ deutsche Gesellschaft<br />

werden sie von allen Seiten gerne<br />

herangezogen, um <strong>di</strong>e eine oder andere<br />

Sichtweise auf <strong>di</strong>e Dinge zu belegen.<br />

Eine der interessantesten Ziffern<br />

der vergangenen Monate war<br />

<strong>di</strong>e 4000. Als so stark gab <strong>im</strong> Januar<br />

<strong>di</strong>eses Jahres das Islam-Archiv in<br />

Soest <strong>di</strong>e Gruppe der vom Christentum<br />

zum Islam konvertierten Deutschen<br />

an. Nachdem <strong>di</strong>e Zahl bis auf<br />

das letzte zur Heraufbeschwörung<br />

der islamischen Gefahr in der Bundesrepublik<br />

ausge wrungen worden<br />

war, stand plötzlich weitaus dezenter<br />

<strong>di</strong>e Seriosität des genannten<br />

Instituts in der Kritik.<br />

Zur selben Zeit gründete sich<br />

ein Verein, der von der deutschen<br />

Öffentlichkeit um einiges wohlwollender<br />

aufgenommen wurde als <strong>di</strong>e<br />

4000 Konvertiten. Auf einer Pressekonferenz<br />

in <strong>Berlin</strong> stellte sich<br />

der „Zentralrat der Ex-Musl<strong>im</strong>e“<br />

als neugegründete Vereinigung religionsfreier<br />

Menschen, <strong>di</strong>e musl<strong>im</strong>ischen<br />

Glaubens waren oder aus<br />

einem musl<strong>im</strong>isch geprägten Land<br />

stammen, vor.<br />

Der Name des Vereins lehnt sich<br />

an den Zentralrat der Musl<strong>im</strong>e an,<br />

der ca. 15.000 bis 20.000 der offiziell<br />

drei Millionen in Deutschland lebenden<br />

Musl<strong>im</strong>e vertritt. Auch das<br />

Logo greift auf den Zentralrat zurück,<br />

wobei neben dem Halbmond<br />

ein großes „Ex“ prangt. Die Provokation<br />

sei von den Gründern bewusst<br />

gewollt, um neben den Vertretern<br />

verschiedener islamischer<br />

Organisationen eine andere St<strong>im</strong>me<br />

gegenüber dem deutschen Staat zu<br />

Gehör zu bringen, so <strong>di</strong>e Vereinsvorsitzende<br />

Mina Aha<strong>di</strong>.<br />

Wie viele Ex-Musl<strong>im</strong>e sie vertritt,<br />

ist ungewiss. Diejenigen, <strong>di</strong>e<br />

aus einem sehr religiösen Umfeld<br />

aussteigen, schweigen meist aus<br />

Angst vor Repressalien seitens ih-<br />

rer ehemaligen Glaubensbrüder<br />

und -schwestern. Andere vertreten<br />

eine kritische Sicht auf den Islam<br />

und werden <strong>im</strong> Gegensatz zu ihrem<br />

eigenen Empfinden von anderen<br />

als Ungläubige wahrgenommen.<br />

Und schließlich bezeichnet <strong>di</strong>e<br />

Mehrheitsgesellschaft selbst alle<br />

aus dem islamischen Kulturkreis<br />

nach Deutschland einge<strong>wan</strong>derten<br />

Menschen pauschal als Musl<strong>im</strong>e,<br />

ohne deren tatsächliche Gläubigkeit<br />

wahrzunehmen.<br />

Scheinbar bleiben genügend<br />

Personen übrig, <strong>di</strong>e den Einsatz der<br />

1956 <strong>im</strong> Iran geborenen Frau zu<br />

einem großen Risiko werden lassen.<br />

Seit der Gründung des Vereins<br />

steht Aha<strong>di</strong> unter Polizeischutz, da<br />

sie mehrfach mit dem Tode bedroht<br />

wurde. Trotzdem hält sie selbstbewusst<br />

fest: „Wenn man nichts sagt,<br />

wenn man nichts tut, und wenn<br />

man schweigt, dann wird es noch<br />

schl<strong>im</strong>mer!“ Ihre Kraft zieht Aha<strong>di</strong><br />

aus dem ihr <strong>im</strong> Namen des Islams<br />

zugefügten Unrecht. Ihr Mann wurde<br />

nach der islamischen Revolution<br />

unter Khomeini zusammen mit anderen<br />

Intellektuellen hingerichtet,<br />

sie selbst musste sich Jahre lang <strong>im</strong><br />

Untergrund verstecken, bis ihr <strong>di</strong>e<br />

Flucht<br />

n a c h<br />

Europa<br />

gelang.<br />

Seit 1996 lebt sie in Köln, wo sie bereits<br />

verschiedene Organisationen<br />

gegen <strong>di</strong>e Todesstrafe gründete.<br />

Provokation, um sich Gehör zu verschaffen<br />

Abfall vom Islam<br />

als Tabubruch<br />

Die Ex-Musl<strong>im</strong>e des Zentralrates<br />

sehen ihre Hauptaufgabe in<br />

der Durchführung der Kampagne<br />

„Wir haben abgeschworen“. Der<br />

Name lehnt sich an den Feldzug<br />

der Frauenbewegung „Wir haben<br />

abgetrieben“ an und beschreibt<br />

nach eigener Aussage des Zentralrates<br />

einen ganz ähnlichen Tabubruch.<br />

Ziel sei es, mit der offenen<br />

Kritik am Islam eine Aufklärung<br />

zu bewirken, an deren Ende sich<br />

<strong>di</strong>e Vernunft gegenüber der Leichtgläubigkeit<br />

durchsetzen solle. In der<br />

Konsequenz bedeute <strong>di</strong>es <strong>di</strong>e ra<strong>di</strong>kale<br />

Verdrängung der Religion aus<br />

dem öffentlichen Leben, d. h. eine<br />

strickte Trennung des Staates von<br />

religiösen Doktrinen und Bräuchen.<br />

Zu <strong>di</strong>esen zählt der Zentralrat laut<br />

der Kampagnen-Broschüre „Ehrenmorde,<br />

weibliche Genitalverstümmelung,<br />

Steinigungen, Hinrichtungen,<br />

Folterungen sowie andere<br />

unmenschliche Praktiken“. Mittel<br />

und Wege der Zurückdrängung der<br />

Religion seien das Kopftuchverbot<br />

an Schulen, <strong>di</strong>e Verpflichtung musl<strong>im</strong>ischer<br />

Jungen und Mädchen zum<br />

Sport- und Sexualkundeunterricht<br />

und <strong>di</strong>e Ersetzung des konfessionellen<br />

Religionsunterrichts durch<br />

ein Ethikfach.<br />

Die Verbindung ihrer Religion<br />

mit den genannten Menschenrechtsverletzungen<br />

ist für Musl<strong>im</strong>e<br />

starker Tobak und erklärt zum Teil<br />

<strong>di</strong>e gereizten Reaktionen auf Aha<strong>di</strong>s<br />

Kritiken. Der Hauptärger entzündet<br />

sich jedoch vor allem am Namen<br />

des Vereins. Der Abfall vom Islam<br />

ist vermutlich eines der sensibelsten<br />

Themen unter gläubigen Musl<strong>im</strong>en.<br />

In einigen Ländern wie Sau<strong>di</strong>-Arabien,<br />

Iran oder Afghanistan können<br />

Konvertiten sogar hingerichtet werden<br />

oder wie in Ägypten schwerwiegenden<br />

zivilrechtlichen Konsequenzen<br />

wie Z<strong>wan</strong>gsscheidung vom<br />

Ehepartner oder der Enterbung ausgesetzt<br />

sein. Amnesty International<br />

berichtet von nicht minder schwerwiegenden<br />

Ausgrenzungen durch<br />

Ver<strong>wan</strong>dte, Freunde und Nachbarn<br />

– auch in Deutschland.<br />

Nach der Auffassung von gläubigen<br />

Musl<strong>im</strong>en ist der Islam <strong>di</strong>e<br />

vollkommenste aller Religionen,<br />

da Muhammad als letzter Prophet<br />

Der Islam als <strong>di</strong>e wahre Religion<br />

das wahre Wort Gottes in Form des<br />

Korans den Menschen überbracht<br />

hat. Die islamische Erziehung ist<br />

ein großes Glück für den Menschen


16 [dī.wān] 12.2007 GESELLSCHAFT<br />

GESELLSCHAFT<br />

12.2007 [dī.wān] 17<br />

und <strong>di</strong>e Abkehr von der Religion ein<br />

Affront gegen <strong>di</strong>e Eltern und vor<br />

allem Gott.<br />

Während <strong>di</strong>e allgemeine Erklärung<br />

der Menschenrechte von<br />

1948 <strong>di</strong>e Religionsfreiheit ohne Einschränkung<br />

garantiert, ist <strong>di</strong>ese in<br />

islamischen Deklarationen mit dem<br />

Zusatz „nach den Best<strong>im</strong>mungen<br />

der Scharia“ versehen. Die Mehrheit<br />

der frühen Rechtsgelehrten<br />

best<strong>im</strong>mte als Strafe für den Abfall<br />

vom Islam den Tod, obwohl <strong>im</strong><br />

Koran allein von den Höllenqualen<br />

<strong>im</strong> Jenseits <strong>di</strong>e Rede ist. In der Prophetentra<strong>di</strong>tion<br />

(Sunna) kann man<br />

jedoch zahlreiche Aussagen wie<br />

<strong>di</strong>ese finden: „Wer seine Religion<br />

wechselt, den tötet.“ Derartige Befehle<br />

des Propheten werden heute<br />

unter musl<strong>im</strong>ischen Freidenkern als<br />

politisch motiviert interpretiert. Im<br />

Gegensatz zum heutigen Religionsverständnis<br />

in Europa war der Islam<br />

zu <strong>di</strong>eser Zeit nicht nur ein Glaubensbekenntnis,<br />

sondern <strong>di</strong>e Bindung<br />

an eine Gemeinschaft, deren<br />

vorsätzliche Leugnung oder Kritik<br />

als Verrat und Gefahr verstanden<br />

wurde.<br />

Ex-Musl<strong>im</strong>e unter Polizeischutz<br />

Dass es scheinbar viele Ex-Musl<strong>im</strong>e<br />

gibt, zeigt sich in der Gründung<br />

weiterer Zentralräte in Großbritannien,<br />

Skan<strong>di</strong>navien und den<br />

Niederlanden. Der hollän<strong>di</strong>sche<br />

Vereinsvorsitzende Ehsan Jami<br />

musste kürzlich wie Mina Aha<strong>di</strong><br />

unter Polizeischutz gestellt werden,<br />

nachdem er zum dritten Mal Opfer<br />

islamistischer Gewalt geworden<br />

war. Es bedarf also nicht unbe<strong>di</strong>ngt<br />

eines autoritären Staates, der Menschen<br />

Gewalt androht, um Angst bei<br />

Konvertiten auszulösen. Es scheint,<br />

als herrsche ein hoch ausgeprägter<br />

Selbstkontrollmechanismus in musl<strong>im</strong>ischen<br />

Gesellschaften bei der<br />

Frage des wahren Musl<strong>im</strong>seins vor,<br />

der derartige Übergriffe zur Folge<br />

haben kann.<br />

Dabei will <strong>di</strong>e Publizistin Arzu<br />

Toker, <strong>di</strong>e vor kurzem von ihrem<br />

Posten der zweiten Vorsitzenden<br />

des deutschen Zentralrates zurücktrat,<br />

den Islam gar nicht <strong>di</strong>ffamieren,<br />

sondern le<strong>di</strong>glich <strong>im</strong> Sinne<br />

des menschlichen Verstandes nach<br />

Kant kritisieren und damit Veränderungen<br />

herbeiführen. In ihrem<br />

Zehn-Punkte-Programm, warum<br />

man aus dem Islam austreten sollte,<br />

bezeichnet sie Musl<strong>im</strong>e als „Untertan<br />

eines totalitären, von Männern<br />

beherrschten gewalttätigen<br />

Rechtssystems“. Der Islam sei damit<br />

das Gegenstück von Demokratie<br />

und rechtsstaatlicher Verfassung.<br />

Muhammad sei kein Vorbild, da<br />

er Kriege führte, Andersgläubige<br />

und Kritiker tötete sowie mehrere<br />

Frauen und kleine Mädchen ehelichte.<br />

In ihrer Schlussbetrachtung<br />

fasst sie zusammen: „Anderthalb<br />

Jahrtausende schon haben <strong>di</strong>e<br />

Wahnideen <strong>di</strong>eses archaischen<br />

Gotteskriegers Mohammed <strong>di</strong>e<br />

Hirne der Menschen vernebelt und<br />

weltweit Unfrieden gestiftet. Es ist<br />

an der Zeit, <strong>di</strong>esem Wahnsinn ein<br />

Ende zu bereiten.“<br />

Zugegeben: Diese provokante<br />

Kritik ist für einen gläubigen Musl<strong>im</strong><br />

kaum zu ertragen. Dennoch<br />

liegt es nun an ihnen,<br />

auf <strong>di</strong>e scharfen Vorwürfe<br />

der Ex-Musl<strong>im</strong>e zu reagieren<br />

und sie in eine innerislamische<br />

Diskussion einzubetten. Damit<br />

würden <strong>di</strong>e islamischen Vertreter<br />

der Angst von Toker und vieler<br />

anderer Deutschen vor einer staatlichen<br />

Anerkennung des Islams positiv<br />

begegnen und allen Kritikern<br />

den Wind aus den Segeln nehmen.<br />

Mina Aha<strong>di</strong>,<br />

<strong>di</strong>e erste Vorsitzende des Zentralrates der Exmusl<strong>im</strong>e,<br />

steht seit der Gründung des Vereins unter Polizeischutz<br />

Die Idylle über‘m Fernseher<br />

Rahat, eine Stadt am Rande der<br />

israelischen Negev-Wüste. Hind Al-<br />

Turi wohnt mit ihrem Mann und<br />

ihren drei Söhnen in der oberen<br />

Etage eines zweistöckigen Hauses.<br />

Die Rollläden <strong>im</strong> Wohnz<strong>im</strong>mer sind<br />

zugezogen – gegen <strong>di</strong>e Mittagshitze,<br />

da <strong>di</strong>e Kl<strong>im</strong>aanlage schon seit<br />

langem kaputt ist. Im Wohnz<strong>im</strong>mer<br />

herrscht fast totale Finsternis.<br />

Auf den ersten Blick ist nur das<br />

Flackern des Fernsehers sichtbar.<br />

Es ist Samstag und <strong>di</strong>e Kinder zappen<br />

zwischen jordanischer Musik<br />

und amerikanischen Cartoons<br />

hin- und her. Über dem Fernseher<br />

hängt ein Bild mit einer Szene, <strong>di</strong>e<br />

aus den herrlichsten Fantasien romantischer<br />

<strong>Orient</strong>-Fans kommen<br />

könnte: In sanften Farben gemalt<br />

sitzen leicht verschleierte und mit<br />

Schmuck behängte Frauen mit<br />

großen schönen Augen nebst einem<br />

älteren, bärtigen, Turban tragenden<br />

Herrn mit Pluderhose und bereiten<br />

auf tra<strong>di</strong>tionell beduinische<br />

Art Kaffee zu. Währenddessen<br />

kocht Hind in Wirklichkeit in<br />

der Küche Huhn mit Gemüse und<br />

Reis und trägt <strong>di</strong>eses kleine essbare<br />

Para<strong>di</strong>es auf einem riesigen Blech-<br />

Mit der Staatsgründung Israels erlitten <strong>di</strong>e<br />

Beduinen <strong>im</strong> israelischen Negev Vertreibung,<br />

Gewalt und koloniale Ignoranz. Noch heute sind<br />

viele von ihnen hin- und hergerissen zwischen<br />

Karriere und herkömmlichem Brotbacken,<br />

zwischen Städteplanung und Stammesfehden,<br />

zwischen eigener Tra<strong>di</strong>tion und israelischer Politik<br />

von Shelley Harten<br />

teller ins Wohnz<strong>im</strong>mer. Die dünnen<br />

Brotfladen hat sie vorher in der<br />

Hütte gebacken, <strong>di</strong>e neben dem eigentlichen<br />

Haus liegt und genaugenommen<br />

nur aus einer überdachten<br />

Feuergrube besteht, über <strong>di</strong>e eine<br />

große, gewölbte Metallfläche gelegt<br />

wird.<br />

Neue Horizonte?<br />

Draußen ist es sehr heiß und<br />

<strong>di</strong>e Sonne strahlt grell auf <strong>di</strong>e hinter<br />

dem Haus liegenden einstöckigen<br />

Silos, <strong>di</strong>e sich kaum vom Sand abheben.<br />

Hinds Haus liegt am Rand<br />

von Rahat und von ihrem Balkon<br />

scheint es, als gehe <strong>di</strong>e Stadt mit den<br />

Silos sanft in <strong>di</strong>e weite Wüste über.<br />

Aber auf dem gegenüber liegenden<br />

Hügel sieht man schon <strong>di</strong>e Umrisse<br />

einer Stadt entstehen, <strong>di</strong>e von<br />

allen Rahat II genannt wird. Noch<br />

sind es nur Furchen <strong>im</strong> Sand, doch<br />

bald soll dort Hinds<br />

neues Haus entstehen.<br />

Sie stu<strong>di</strong>ert<br />

Erziehungswissenschaften<br />

und arbeitet<br />

in der Verwal-<br />

tung von Rahat, wo sie täglich mit<br />

den Unzulänglichkeiten der israelischen<br />

Regierung zu kämpfen hat.<br />

Obwohl Beduinen wie andere israelische<br />

Bürger Steuern zahlen und<br />

viele von ihnen sogar den dreijährigen<br />

Militär<strong>di</strong>enst ableisten, gibt<br />

es hier zu wenige Schulplätze, kaum<br />

genug Sozialarbeiter und nur eine<br />

bröckelnde Infrastruktur.<br />

Land-Nomaden<br />

Dabei hat es Hinds Familie<br />

vergleichsweise gut. Zur gleichen<br />

Zeit, zu der sie und ihr Mann <strong>di</strong>e<br />

Baupläne ihres neuen Eigenhe<strong>im</strong>s<br />

stu<strong>di</strong>eren, hausen etwa fünfzig Prozent<br />

der Beduinen Israels in kleinen<br />

Wellblechhütten ohne Strom<br />

und fließend Wasser. Diese „nicht<br />

anerkannten“ Siedlungen ziehen<br />

sich durch den ganzen Negev und<br />

haben nicht mehr viel mit den alten,


18 [dī.wān] 12.2007 GESELLSCHAFT<br />

GESELLSCHAFT<br />

12.2007 [dī.wān] 19<br />

tra<strong>di</strong>tionellen schwarzen Zelten gemein.<br />

Die Beduinen weigern sich,<br />

ihr Recht auf ihr eigenes, 1948 von<br />

Israel in Besitz genommenes, Land<br />

aufzugeben. Gleichzeitig würden<br />

sie be<strong>im</strong> Umzug in <strong>di</strong>e Stadt beduinisches<br />

Recht brechen, da sie<br />

nach tra<strong>di</strong>tioneller Lesart das Land<br />

fremder Stämme besiedeln würden.<br />

So sind sie aber einer fremden<br />

Auffassung von Recht unterworfen,<br />

nämlich der israelischen. Immer<br />

wieder kommt <strong>di</strong>e Polizei mit Bulldozern<br />

und stampft <strong>di</strong>e blechernen<br />

Wohnungen nieder – <strong>im</strong>mer wieder<br />

bauen <strong>di</strong>e Beduinen <strong>di</strong>e Hütten neben<br />

den Trümmern wieder auf. Es<br />

ist erstaunlich, wie <strong>di</strong>ese unaufhörliche<br />

Vertreibung <strong>im</strong> Schatten des<br />

palästinensisch-israelischen Konfliktes<br />

kaum Beachtung findet.<br />

Rahat gehört zu den von der israelischen<br />

Regierung für Beduinen<br />

geplanten Städten. Die erste in den<br />

sechziger Jahren erbaute Stadt, Tel<br />

Mein Viertel – mein Stamm<br />

Sheva, war ein totaler Reinfall, weshalb<br />

Rahat in den 70ern mit mehr<br />

Sinn für beduinische Raumkonzeptionen<br />

geplant werden sollte. Die beduinische<br />

Vorstellung von Raum ist<br />

vor allem von Geschlecht, Familie<br />

und Stamm geprägt – eine Frau bewegt<br />

sich am freiesten in dem Raum<br />

ihrer Familie und <strong>di</strong>e Familie am<br />

sichersten <strong>im</strong> Raum ihres Stammes.<br />

Und so wohnt auch Hind auf einem<br />

Grundstück, das ihrem Schwiegervater<br />

zugewiesen wurde. Die Straße<br />

gehört der erweiterten Hamula, der<br />

Familie. In ihrem Viertel wohnen<br />

nur Familien des gleichen Stammes.<br />

Nur eine einzige Straße führt aus<br />

dem Viertel heraus in weitere Nachbarschaften,<br />

<strong>di</strong>e genauso konzipiert<br />

sind. Tatsächlich ist es nicht ratsam,<br />

wenn <strong>di</strong>verse Familien- oder<br />

Stammesfehden noch nicht beigelegt<br />

sind, best<strong>im</strong>mte Straßen oder<br />

Viertel zu betreten wenn man den<br />

‚falschen‘ Namen trägt.<br />

Freiheit dritter Klasse<br />

Wegen der hohen Geburtenrate<br />

wird <strong>di</strong>e Stadt <strong>im</strong>mer enger. Der Bau<br />

von Rahat II, meint Hind, sei schon<br />

längst überfällig. Zwölf Jahre musste<br />

<strong>di</strong>e Familie auf eine Baugenehmigung<br />

warten. Derweilen muss sich<br />

Hind das Haus mit dem Schwiegervater<br />

und dessen zwei Frauen teilen,<br />

<strong>di</strong>e <strong>im</strong> Untergeschoss wohnen. Sie<br />

ist sich sicher, dass ihr Mann nicht<br />

wie sein Vater noch eine 25-Jährige<br />

mit ins Haus bringt. Sie sagt, sie<br />

vermisst <strong>di</strong>e Unabhängigkeit ihres<br />

vorehelichen Lebens. Gleich nach<br />

der arrangierten Hochzeit musste<br />

sie zur Familie ihres Mannes nach<br />

Rahat ziehen und ihre He<strong>im</strong>atstadt<br />

Lod verlassen. Früher fuhr sie<br />

mit kurzen Röcken, großer<br />

Frisur und Lippenstift nach<br />

Tel Aviv, um auszugehen.<br />

Heute kann sie sich als verheiratete<br />

Frau nur mit langem Shador und<br />

nach hinten gebundenem Kopftuch<br />

in Rahat sehen lassen. Der stän<strong>di</strong>gen<br />

familiären Beobachtung möchte sie<br />

mit dem Umzug nach Rahat II entgehen.<br />

Doch auch dort wird sie den<br />

mangelnden Leistungen des israelischen<br />

Staates, der Ignoranz gegenüber<br />

ihrer Kultur in den Schulen ihrer<br />

Kinder und der langen Fahrt bis<br />

zum nächsten Krankenhaus nicht<br />

entfliehen können, wenn das Problem<br />

der Integration der Beduinen<br />

in <strong>di</strong>e israelische Gesellschaft noch<br />

länger ein unbequemes Randthema<br />

bleibt.<br />

Nicht dabei statt mittendrin<br />

Türkischstämmige Fußballspieler sind <strong>im</strong> deutschen Nationalteam<br />

nicht vertreten. Viele von ihnen kicken lieber für <strong>di</strong>e Türkei – ein<br />

Phänomen, zu dem auch der Deutsche Fußball-Bund (DFB) seinen<br />

Teil beigetragen hat<br />

von Sebastian Sons<br />

Letztes Jahr waren sie unsere<br />

Helden: Der Traumsturm Lukas<br />

Podolski und Miroslav Klose be<strong>im</strong><br />

deutschen „Sommermärchen“ während<br />

der Fußball-WM. Oder Gerald<br />

Asamoah und David Odonkor. Sie<br />

sind Teil einer deutschen Nationalmannschaft,<br />

<strong>di</strong>e begeistert gefeiert<br />

wurde. Obwohl Odonkor und<br />

Asamoah ghanaische, Podolski und<br />

Klose polnische Wurzeln haben. Sie<br />

werden akzeptiert und anerkannt<br />

– auch wegen ihrer auslän<strong>di</strong>schen<br />

Herkunft. Multikulturelle Einflüsse<br />

in Länderteams sind längst nichts<br />

besonderes mehr. In Frankreich best<strong>im</strong>men<br />

Migrantensöhne wie Zine<strong>di</strong>ne<br />

Zidane <strong>di</strong>e Identität der Equipe<br />

tricolore. Im Schweizer WM-Kader<br />

von 2006 standen gar neun so genannte<br />

„Secundos“, Migrantensöhne<br />

von der Elfenbeinküste oder aus<br />

dem Kosovo.<br />

Wurde <strong>im</strong> Ruhrgebiet geboren:<br />

Der türkische Nationalspieler Hamit Altintop<br />

Chance und Dilemma<br />

vieler türkischer Migranten<br />

Da erscheint es erstaunlich, dass<br />

<strong>di</strong>e größte in Deutschland lebende<br />

Migrantengruppe mit keinem Spieler<br />

<strong>im</strong> Nationalteam vertreten ist:<br />

<strong>di</strong>e Türken. Über 2,5 Millionen leben<br />

hier, viele haben den deutschen<br />

Pass. Darunter etliche aktuelle türkische<br />

Nationalspieler, <strong>di</strong>e <strong>di</strong>e Möglichkeit<br />

gehabt hätten, für Deutschland<br />

zu spielen, da sie hier geboren<br />

sind. Hier aufgewachsen haben viele<br />

von ihnen noch nie in der Türkei gespielt.<br />

Sie leben in Deutschland und<br />

kennen sich hier oft besser aus als in<br />

der Türkei. Trotzdem entschieden<br />

sie sich für das Geburtsland ihrer<br />

Eltern. Ein Phänomen, das gleichzeitig<br />

Chance und Dilemma vieler<br />

türkischer Migranten beschreibt:


20 [dī.wān] 12.2007 GESELLSCHAFT<br />

GESELLSCHAFT<br />

12.2007 [dī.wān] 21<br />

Auf der einen Seite boten ihnen ihre<br />

Eltern <strong>di</strong>e Möglichkeit, in einem<br />

Verein Fuß zu fassen und auch so<br />

Teil der Gesellschaft zu werden. Auf<br />

der anderen Seite steht <strong>di</strong>e familiäre<br />

Tra<strong>di</strong>tion, in der <strong>di</strong>e türkischen<br />

Wurzeln gepflegt werden. So sagt<br />

Hamit Altintop, türkischer Nationalspieler<br />

vom FC Bayern München,<br />

aufgewachsen <strong>im</strong> Ruhrgebiet:<br />

„Ich bin zwar hier geboren, aber<br />

trotzdem bin und fühle ich mich<br />

als Türke. Sonst könnte ich auch<br />

nicht für <strong>di</strong>e türkische Nationalmannschaft<br />

spielen.“ Cem Özdemir,<br />

Mitglied des Europa-Parlaments,<br />

sagt dazu: „Die Familie spielt eine<br />

größere Rolle als <strong>di</strong>e eigentliche<br />

Bindung an <strong>di</strong>e He<strong>im</strong>at der Eltern,<br />

denn <strong>di</strong>ese Angehörigen der zweiten<br />

Generation kennen <strong>di</strong>e Türkei<br />

nur aus Urlaubsreisen.“ Das bestätigt<br />

auch der Zwillingsbruder von<br />

Hamit Altintop, Halil. Der Stürmer<br />

vom FC Schalke 04 entschied sich<br />

für sein Herkunftsland, „weil meine<br />

Eltern aus der Türkei stammen. Das<br />

ist Grund genug.“<br />

Untätiger DFB<br />

Fakt ist aber auch: Jahrelang<br />

kümmerte sich der Deutsche<br />

Fußball-Bund (DFB) zu wenig um<br />

Talente türkischer Herkunft. Dahingegen<br />

bauten <strong>di</strong>e Späher des<br />

türkischen Verbandes hier ein System<br />

zur Nachwuchssichtung auf<br />

und überzeugten <strong>di</strong>e Talente häufig,<br />

später einmal für <strong>di</strong>e Türkei<br />

aufzulaufen. Hier blieb der DFB<br />

untätig, offenbar geblendet von<br />

der Illusion, Nachwuchsförderung<br />

regele sich von allein und von der<br />

Fehleinschätzung, Deutschland sei<br />

kein Ein<strong>wan</strong>derungsland. Eine Haltung,<br />

<strong>di</strong>e erst in den letzten Jahren<br />

teilweise revi<strong>di</strong>ert wurde: Mittlerweile<br />

stehen in den verschiedenen<br />

Jugendmannschaften des DFB rund<br />

20 Talente mit auslän<strong>di</strong>schen Wurzeln.<br />

Darunter auch türkischstämmige<br />

Nachwuchskicker, wie der<br />

19-jährige Jungstar Mesut Özil von<br />

Schalke. Vielleicht spielt er bald in<br />

der ‚richtigen‘ Nationalmannschaft.<br />

„Es wäre vor dem Anpfiff etwas<br />

Außergewöhnliches, nach dem ersten<br />

Spiel jedoch ein Zeichen von<br />

Normalität“, so Özdemir. 1999 gab<br />

es das bereits: Der Türke Mustafa<br />

Doğan spielte unter Nationaltrainer<br />

Erich Ribbeck. Doch damals galt<br />

noch: Ausnahmen bestätigen <strong>di</strong>e<br />

Regel.<br />

„Hamit – der Deutsche des 21. Jahrhunderts“<br />

„Natürlich gehört auch eine<br />

deutsche Identität dazu, um in der<br />

deutschen Nationalmannschaft zu<br />

spielen. Aber könnte man <strong>di</strong>e Herausbildung<br />

einer solchen deutschen<br />

Identität nicht durch symbolische<br />

Handlungen und das ausdrückliche<br />

Werben um <strong>di</strong>eses Talent verstärken?“,<br />

fragt Özdemir. Er meint damit<br />

beispielsweise, <strong>di</strong>e Familie zu<br />

besuchen und <strong>di</strong>e Ansprache an<br />

<strong>di</strong>e Eltern, in der man <strong>di</strong>e Chancen<br />

ihres Sohnes betont. Doch <strong>di</strong>e Versäumnisse<br />

des DFB sind auch ein<br />

Sinnbild für <strong>di</strong>e generell rud<strong>im</strong>entäre<br />

Integrationspolitik in den letz-<br />

ten Jahren, <strong>di</strong>e oft nur den Auf<strong>wan</strong>d,<br />

selten jedoch den möglichen Ertrag<br />

sah. „Wir landen bei der Debatte<br />

um eine deutsche Leitkultur, <strong>di</strong>e auf<br />

Ein<strong>wan</strong>derer vielleicht irritierend<br />

wirkt und ihnen das Gefühl gibt,<br />

hier nicht willkommen zu sein“,<br />

beschreibt es Özdemir. Türkischstämmige<br />

Nationalspieler würden<br />

Rassismus und Intoleranz zwar<br />

nicht auslöschen, aber: Ein Türke in<br />

der Nationalmannschaft zwänge <strong>di</strong>e<br />

Öffentlichkeit dazu, Türken als produktive<br />

und bereichernde Realität<br />

zu akzeptieren – wie auch <strong>di</strong>e Türken<br />

in Deutschland. „Sie könnten<br />

sich nicht nur mit <strong>di</strong>esem Spieler,<br />

sondern dann auch leichter mit der<br />

deutschen Mannschaft identifizieren“,<br />

erläutert Özdemir. „Der moderne<br />

und erfolgreiche Deutsche<br />

des 21. Jahrhunderts kann Hamit<br />

oder Ahmet heißen.“ Oder Mesut<br />

Özil – vielleicht der Held der nächsten<br />

Europameisterschaft.<br />

„Der moderne und erfolgreiche Deutsche des 21. Jahrhunderts kann Hamit oder Ahmet heißen.“ (Cem Özdemir)<br />

30. <strong>Orient</strong>alistentag 2007 –<br />

Orchideenfächer <strong>im</strong> Aktualitätsschock<br />

Unter dem Motto „<strong>Orient</strong>alistik <strong>im</strong> 21. Jahrhundert – Welche Vergangenheit?<br />

Welche Zukunft?“ folgten mehr als 1000 Wissenschaftler und deren<br />

Nachwuchs dem Aufruf der Deutschen Morgenlän<strong>di</strong>schen Gesellschaft (DMG)<br />

nach Freiburg, wo sie mehr als 650 Vorträge, Workshops und Diskussionen<br />

erwarteten Nora Derbal<br />

Die Berichterstatter des 30. <strong>Orient</strong>alistentages<br />

scheinen sich einig<br />

zu sein, dass <strong>di</strong>e Stu<strong>di</strong>erenden und<br />

Lehrenden, <strong>di</strong>e sich vom 24. bis 29.<br />

September in Freiburg zu einem<br />

europäischen Gipfeltreffen ihres<br />

Fachbereichs eingefunden haben,<br />

zu den Nutznießern der politischen<br />

und gesellschaftlichen Folgen der<br />

Terroranschläge des 11. Septembers<br />

zählen. Doch wie geht <strong>di</strong>e Fachwelt<br />

selbst mit <strong>di</strong>eser Haltung der Öf-<br />

fentlichkeit gegenüber der Disziplin<br />

der <strong>Orient</strong>alistik um?<br />

Die Selbstbezeichnung „<strong>Orient</strong>alist“<br />

ist sowohl historisch, als<br />

auch politisch und symbolisch<br />

beladen und gilt in anderen Ländern<br />

wie etwa den USA schon fast<br />

als Belei<strong>di</strong>gung. Trotzdem hat <strong>di</strong>e<br />

DMG mit <strong>di</strong>eser Selbstbezeichnung<br />

ihres Fachkongresses in Freiburg<br />

<strong>di</strong>eses Risiko in Kauf genommen:<br />

„Wir sind uns als <strong>Orient</strong>alisten in<br />

Deutschland des Erbes des europäischen<br />

<strong>Orient</strong>alismus bewusst und<br />

wollen alle auf eine konstruktive<br />

Weise damit umgehen“, erklärt Professor<br />

Reinkowski, Mitorganisator<br />

des <strong>di</strong>esjährigen DOT. Stephan Leder,<br />

erster Vorsitzender der DMG,<br />

betont, dass man trotz allem in Europa<br />

auf eine „beeindruckende Gelehrtengeschichte<br />

mit großartigen<br />

Leistungen“ blickt, und unterstreicht<br />

<strong>di</strong>e Vorteile eines solch inter-


22 [dī.wān] 12.2007 12.2007 [dī.wān] 23<br />

<strong>di</strong>sziplinären Kongresses. Neben 18<br />

fachspezifischen Sektionen, von der<br />

Indogermanistik über Turkologie<br />

und Klassische Archäologie bietet<br />

das Programm des DOT inter<strong>di</strong>sziplinär<br />

ausgerichtete Foren und<br />

fachübergreifende Diskussionspanels.<br />

Jedoch ist <strong>di</strong>e Umsetzung <strong>di</strong>eses<br />

Mammutprojekts nicht <strong>im</strong>mer für<br />

alle zufriedenstellend. „Wo sind wir<br />

hier eigentlich? Das ist doch Theologie<br />

und kein Strafrecht!“, wirft<br />

der Jurist Hilmer Krüger etwa <strong>im</strong><br />

Forum „Recht“ ein, als Ibrah<strong>im</strong> Abu<br />

el-Naga <strong>di</strong>e Perspektiven des islamischen<br />

Strafrechts erläutert.<br />

Neben <strong>di</strong>esem begeisternden<br />

und zugleich in seiner Fülle erschlagenden<br />

Angebot an <strong>di</strong>e Fachwelt<br />

zeichnete sich der DOT 2007 durch<br />

ein Abendprogramm aus, das für<br />

jedermann offen war. „Der <strong>Orient</strong>alistentag<br />

sucht <strong>di</strong>e Öffentlichkeit<br />

wie nie zuvor“, unterstreicht Ludwig<br />

Amman, Pressesprecher des<br />

DOT, in der Ba<strong>di</strong>schen Zeitung.<br />

„Er (der DOT, d.R.) will dem gewachsenen<br />

Bedürfnis nach seriösen<br />

Informationen über <strong>di</strong>e Welt des<br />

Islam, aber auch über China und<br />

In<strong>di</strong>en Rechnung tragen.“ International<br />

renommierte Publikumsmagneten<br />

widmeten sich dafür in Festvorträgen<br />

einigen tagespolitischen<br />

Brennpunkten. Patricia Crone aus<br />

Princeton referierte über „Islam<br />

und religiöse Freiheit“, der iranische<br />

Reformtheologe Muhammed<br />

Schabestari aus Teheran nahm sich<br />

des komplexen Themas „Islam, Demokratie<br />

und Menschenrechte“ an.<br />

Nicht minder brisant waren abendliche<br />

Po<strong>di</strong>ums<strong>di</strong>skussionen. In prominenter<br />

Runde wurden „Konflikte<br />

in Asien und Afrika“ <strong>di</strong>skutiert. Die<br />

Frage des Abends „Was ist Politik,<br />

was ist Religion?“ musste am Ende<br />

jedoch offen bleiben.<br />

GESELLSCHAFT<br />

„Kriegsgewinner – Islamexperten – <strong>Orient</strong>alisten”<br />

– so beschreibt <strong>di</strong>e Ba<strong>di</strong>sche Zeitung<br />

den Deutschen <strong>Orient</strong>alistentag (DOT).<br />

Die Abende zeigten sich insgesamt<br />

gemäß dem Motto des DOT<br />

wie eine Kartographie bestehender<br />

Auffassungen in der Islamwissenschaft,<br />

<strong>di</strong>e der Öffentlichkeit präsentiert<br />

wurden. Ebenso <strong>di</strong>e Frage<br />

nach den Wurzeln der <strong>Orient</strong>alistik,<br />

<strong>di</strong>e in der abschließenden Po<strong>di</strong>ums<strong>di</strong>skussion<br />

zum Motto des DOT <strong>di</strong>e<br />

Gemüter besänftigte: Man berief<br />

sich auf <strong>di</strong>e Herkunft der <strong>Orient</strong>alistik<br />

aus der Philologie, schließlich<br />

hätten sich <strong>Orient</strong>alisten von Anfang<br />

an durch ihre Sprachkenntnisse<br />

ausgezeichnet.<br />

Dass Aktualität in der Wissenschaft<br />

nicht nur Segen, sondern<br />

zugleich auch Fluch sein kann, zeigt<br />

sich nicht nur an dem ungewöhnlich<br />

modernen und einseitig auf den<br />

Islam ausgerichteten Programm des<br />

DOT. Auch in Bezug auf <strong>di</strong>e Zukunft<br />

der <strong>Orient</strong>alistik wurde der gesellschaftlichen<br />

Verantwortung der<br />

Wissenschaft in Zeiten wachsender<br />

Islamophobie und Terrorangst ein<br />

hoher Stellenwert beigemessen.<br />

Günter Meyer, Vorsitzender des<br />

Zentrums für Forschung zur Arabischen<br />

Welt (ZFAW), forderte gar,<br />

„an den deutschen Universitäten<br />

mehr denn je <strong>di</strong>e Stu<strong>di</strong>erenden dahingehend<br />

auszubilden, dass sie für<br />

solche Diskussionen gerüstet sind<br />

und den einseitig verzerrenden Polemiken<br />

und Klischees erfolgreich<br />

entgegentreten können.“<br />

Dass für <strong>di</strong>e Analyse aktueller<br />

Prozesse grundlegende Kenntnisse<br />

über historische Entwicklungen,<br />

sowie geistes- und sozialwissenschaftliche<br />

Rahmenbe<strong>di</strong>ngungen<br />

unverzichtbar sind, bewiesen an<br />

anderer Stelle viele junge Wissenschaftler<br />

und Wissenschaftlerinnen,<br />

denen der Kongress <strong>di</strong>e<br />

Möglichkeit bot, ihre<br />

Forschung ein erstes Mal<br />

einem wissenschaftlichen<br />

Publikum vorzustellen.<br />

Auch bot das Werkstattgespräch<br />

der Deutschen Arbeitsgemeinschaft<br />

Vorderer <strong>Orient</strong><br />

(DAVO) eine von vielen Berufseinsteigern<br />

genutzte „Plattform für <strong>di</strong>e<br />

Präsentation von Stu<strong>di</strong>enabschlussarbeiten<br />

und Promotionsvorhaben,<br />

<strong>di</strong>e sich in der Konzeptions- oder<br />

Durchführungsphase befinden“, wie<br />

es in der viel versprechenden Programmauskunft<br />

beschrieben wurde.<br />

Darüber hinaus nutzten zahlreiche<br />

Nachwuchsforscher <strong>di</strong>e Gelegenheit,<br />

ein Forschungspanel zu leiten<br />

und so den <strong>Orient</strong>alistentag selbst<br />

mitzugestalten. Angesichts <strong>di</strong>e-<br />

Aktualität ist Segen und Fluch zugleich<br />

ser Fülle von Veranstaltungen, <strong>di</strong>e<br />

sich auf dem dreißigsten <strong>Orient</strong>alistentag<br />

in berauschender Weise<br />

gepaart fanden mit einer stetigen<br />

öffentlichen Erwartungshaltung,<br />

aktueller Brisanz und der Frage<br />

nach der Zukunft der <strong>Orient</strong>alistik<br />

resümiert Maurus Rainmkowski, es<br />

sei „eine gute Vorbereitung auf <strong>di</strong>e<br />

heutige Gesellschaft“, wenn den angehenden<br />

<strong>Orient</strong>alisten das Gefühl<br />

„permanenter Überforderung“ ihrer<br />

älteren Kollegen vermittelt würde.<br />

Trotz später Stunde: Po<strong>di</strong>ums<strong>di</strong>skussionen als Publikumsmagneten<br />

GESELLSCHAFT<br />

Der Deutsche <strong>Orient</strong>alistentag (DOT), ursprünglich als Mitgliederversammlung der Deutschen Morgenlän<strong>di</strong>schen<br />

Gesellschaft (DMG) 1921 ins Leben gerufen, trifft sich als Fachkongress alle drei Jahre an wechselnden<br />

Orten innerhalb Deutschlands. Bei steigender Teilnehmerzahl hat <strong>di</strong>eses Gipfeltreffen nach eigener Aussage<br />

dabei den Anspruch, „<strong>di</strong>e repräsentative Veranstaltung der deutschsprachigen <strong>Orient</strong>alistik“ zu sein. Der <strong>Orient</strong>,<br />

geographisch vom Senegal nach Japan reichend, erstreckt sich dabei in Fach<strong>di</strong>sziplinen von der Afrikanistik<br />

über Alttestamentarische Stu<strong>di</strong>en, Judaistik und Islamwissenschaft bis zur Iranistik und Sinologie. So sind theoretisch<br />

all jene Fächer auf einem DOT vertreten, <strong>di</strong>e sich auf eine „gemeinsame Herkunft aus der Philologie, <strong>di</strong>e<br />

kulturwissenschaftliche Beschäftigung mit der nicht-europäischen Welt berufen und <strong>di</strong>e oft ähnlichen Problemen<br />

bei der Vertei<strong>di</strong>gung <strong>di</strong>eser Fächer gegenüber der Wissenschaftspolitik und in der Universität“ ausgesetzt<br />

sind (Maurus Reinkowski, Mitorganisator).<br />

www.dot2007.de


24 [dī.wān] 12.2007 SPECIAL<br />

SPECIAL<br />

12.2007 [dī.wān] 25<br />

Der Tanz der traurigen Gazellen<br />

In einem Vorort von Damaskus beträgt der Preis, den ein<br />

minderjähriges Flüchtlingsmädchen aus dem kriegsgebeutelten Irak<br />

kostet, derzeit sieben Euro z<strong>wan</strong>zig.<br />

Bei zwei „Arbeiterinnen“ in der Familie lässt sich so <strong>im</strong>merhin <strong>di</strong>e<br />

Monatsmiete bezahlen<br />

von Jasna Zajcek<br />

Mit unbeholfenen Fingern zupft<br />

Raschida <strong>di</strong>e figurformende Miederhose<br />

unter dem langen, engen<br />

Kleid zurecht. Die 14-jährige Irakerin<br />

versucht, ihren Babyspeck<br />

an den Hüften zu kaschieren. Ihre<br />

kleine Schwester Nadya zupft sich<br />

neben ihr das ausgestopfte Dekolleté<br />

zurecht. Raschida und Nadya, <strong>di</strong>e<br />

bis vor kurzem noch Schülerinnen<br />

mit guten Noten und Kopftuch in<br />

Baghdad waren, stehen vor einem<br />

fast blinden Spiegel <strong>im</strong> verdreckten<br />

Vorraum der Damentoilette des<br />

Nachtclubs Gazelle. Aus dem Tanzraum<br />

tönt ohrenbetäubend <strong>di</strong>e Musik<br />

zum tra<strong>di</strong>tionellen arabischen<br />

Schreittanz, dem Dabka, herein.<br />

Rashida hebt ihr hochgeschlitztes<br />

Kleid, um <strong>di</strong>e hautfarbene Stretch-<br />

Hose über <strong>di</strong>e Taille bis unter den<br />

ausgestopften Push-Up-BH zu ziehen.<br />

Eine besonders schöne Frau<br />

wird <strong>im</strong> arabischen Raum als Gazelle<br />

bezeichnet, <strong>di</strong>ese haben lange<br />

Gliedmaßen. Zumindest auf den<br />

ersten Eindruck möchte Raschida<br />

als eine solche wirken, denn <strong>di</strong>e<br />

sau<strong>di</strong>schen Gäste bleiben nur den<br />

Sommer über in Syrien, was der nasse,<br />

kalte Winter bringen wird, weiß<br />

niemand. Der syrische Staat bietet<br />

Flüchtlingen keine weitere Unterstützung<br />

außer der lebensrettenden<br />

Aufenthaltserlaubnis. So versuchen<br />

viele Eltern, ihre Mädchen in Clubs<br />

wie Gazelle arbeiten zu lassen. Als<br />

Gazelle tanzt Raschida aus Baghdad<br />

vor zahlungskräftigen Kunden,<br />

solange, bis einer sie will. Vielleicht<br />

erhofft sie sich durch den anhand<br />

der figurformenden Hose um zwei<br />

Zent<strong>im</strong>eter reduzierten Hüftumfang<br />

etwas mehr als <strong>di</strong>e üblichen<br />

500 syrischen Pfund – sieben Euro<br />

z<strong>wan</strong>zig, <strong>di</strong>e eine Nacht mit einem<br />

minderjährigen Flüchtlingsmädchen<br />

aus dem kriegsgebeutelten<br />

Nachbarland derzeit in Damaskus<br />

kostet.<br />

Ihre Mutter, in schwarz gekleidet,<br />

mit Kopftuch über den tätowierten<br />

Augenbrauen, sitzt neben<br />

der Toilette, beobachtet ihre Töchter<br />

und bewacht den Schminkkasten<br />

der beiden. Sie erklärt energisch,<br />

dass sie stolze Leute – „Schiiten!“<br />

– in Baghdad gewesen seien, bevor<br />

der Krieg <strong>di</strong>e Familie ins Exil und<br />

ihre beiden ältesten Töchter in <strong>di</strong>e<br />

Prostitution trieb. Einen Vater gebe<br />

es nicht mehr. Zunächst half der<br />

Verkauf des Besitzes, Geld, das auf<br />

der Flucht und während der ersten<br />

Monate in Damaskus zerrann. Die<br />

Miete für <strong>di</strong>e Familienwohnung<br />

kostet rund 440 Euro monatlich,<br />

also müsste Raschida 60 Nächte<br />

arbeiten, wäre sie Alleinver<strong>di</strong>enerin.<br />

Doch zum Glück,<br />

sagt <strong>di</strong>e Mutter, arbeite auch<br />

ihre 13-jährige Schwester, <strong>di</strong>e<br />

ebenso aufwän<strong>di</strong>g geschminkt<br />

ist, so dass <strong>di</strong>e Körper der beiden<br />

Teenies, wenn sie denn jede Nacht<br />

einen Freier finden, zumindest für<br />

das Dach über dem Kopf der siebenköpfigen<br />

Familie sorgen können.<br />

Doch das Angebot an Sexarbeite-<br />

rinnen ist mittlerweile übergroß, es<br />

gibt Hunderte solcher Clubs, 30 bis<br />

50 Mädchen pro Etablissement.<br />

Nur ihre Plateauschuhe mit<br />

viel zu hohen Absätzen sorgen dafür,<br />

dass das hübsche, schüchterne<br />

Mädchen sich überhaupt <strong>im</strong> Spiegel<br />

der verdreckten Toilette betrachten<br />

kann. Sie überprüft das <strong>di</strong>cke Make-<br />

Up, dass ihre Mutter ihr aufgetragen<br />

hat, um ihre Pubertätspickel zu kaschieren.<br />

Ihr schwarzes Haar ziert<br />

ein goldfarbenes Plastikkrönchen,<br />

auch <strong>di</strong>e anderen Mädchen, <strong>di</strong>e<br />

sich in der Toilette zu verstecken<br />

suchen, sind wie Prinzessinnen aus<br />

einem orientalischen Märchen verkleidet.<br />

Alle tragen aufreizend eng<br />

und tief dekolletiert geschnittene<br />

Kleider mit Spaghettiträgern, und<br />

nicht wenige der Polyesterroben<br />

geben frische rote Dehnungsstrei-<br />

„Zum Glück arbeitet ihre Schwester auch“<br />

fen an den hochgeschnürten, noch<br />

<strong>im</strong> Wachstum befindlichen Brüsten<br />

frei. Manch eine misst trotz hoher<br />

Schuhe gerade mal einen Meter<br />

vierzig.<br />

„Jalla, jalla!“ ruft eine wütende<br />

Männerst<strong>im</strong>me in den Toilettenraum,<br />

in dem ein Loch <strong>im</strong> Boden als<br />

Abort <strong>di</strong>ent. Stockschläge knallen<br />

an <strong>di</strong>e Tür. Raschida und ihre Kolleginnen<br />

wissen, dass sie jetzt wieder<br />

tanzen müssen. Sie klammern<br />

sich in Zweier- oder Dreierpaaren<br />

aneinander, verknoten ihre Finger<br />

ineinander und verlassen ihr Refugium<br />

um sich auf der Bühne zu präsentieren.<br />

Die Mädchengruppe besteigt<br />

<strong>di</strong>e zirkusmanegenartige Bühne<br />

und reiht sich bei den bereits zirkelnden<br />

Kolleginnen ein. Auf Kommando<br />

der Männerst<strong>im</strong>me, des<br />

„Managers“, lösen sich <strong>di</strong>e Paare<br />

auf. Sie positionieren sich entlang<br />

des Bühnenrandes. Das grelle Licht<br />

gibt bei vielen Verletzungen preis:<br />

zerschnittene Arme, Zigarettenbrandwunden,<br />

blaue und Knutschflecken.<br />

Manche von ihnen tragen<br />

tätowierte und übertätowierte<br />

Schriftzüge, andere haben gezielt<br />

geschnittene, dreireihige Narben an<br />

den Oberarmen. Nach den Verletzungen<br />

befragt, geben sie an, dass<br />

sie sich <strong>di</strong>ese selbst zugefügt hätten<br />

oder aber es ein „Habibi“, ein „Liebling“,<br />

also ein Kunde gewesen sei,<br />

der sie mißhandelt habe. Sie kommentieren<br />

es mit Schulterzucken<br />

und tiefen Blicken aus den traurigen<br />

Kinderaugen unter <strong>di</strong>ck getuschten<br />

W<strong>im</strong>pern. Da es offiziell keine Prostitution<br />

in Syrien gibt, suchen <strong>di</strong>e<br />

Mädchen einen „Habibi“, und sei es<br />

nur für eine Nacht, für sieben Euro<br />

z<strong>wan</strong>zig.<br />

Die Frauenorganisation Al-<br />

Thara weiß mehr über <strong>di</strong>e Realität,<br />

auch, dass einige irakische Familien<br />

ihre Töchter in <strong>di</strong>e Golfstaaten verkauften,<br />

um das Geld für <strong>di</strong>e Flucht<br />

nach Syrien zusammen zu bekommen.<br />

Die Eltern sagen, dass sie nun<br />

als Hausangestellte arbeiten würden.<br />

Für Yahia Al-Anus, Gründer<br />

von Al-Thara sind es eher „Leibeigene“.<br />

Am Tisch des „Managers“ kann<br />

beobachtet werden, wie sich ein junges<br />

Mädchen, 14 vielleicht, sträubt,<br />

<strong>di</strong>e Tanzfläche zu besteigen. Sie ist<br />

zum ersten Mal hier. Ihr Vater wirkt<br />

früh ergraut, unglücklich und übernächtigt.<br />

Er verhandelt mit dem<br />

Manager zur einen und mit seiner<br />

Tochter zur anderen Seite. Sie ist<br />

geschminkt, trägt aber Turnschuhe<br />

Offiziell gibt es keine Prostitution in Syrien<br />

und Jeans. Immer wieder rennt das<br />

Mädchen weinend hinaus, <strong>im</strong>mer<br />

wieder holt der Vater sie herein, und<br />

man sieht, dass es ihm nicht leicht<br />

fällt, sein Mädchen zu nötigen.


26 [dī.wān] 12.2007 SPECIAL<br />

SPECIAL<br />

12.2007 [dī.wān] 27<br />

Der laute Dabka geht zu Ende,<br />

ein romantisches Lied ertönt. Nun<br />

wiegen sich <strong>di</strong>e Teenager <strong>im</strong> Takt der<br />

Musik, schauen von Tisch zu Tisch<br />

und versuchen, durch Blickkontakt<br />

zu flirten. Manche Mädchen ziehen<br />

dabei beide Augenbrauen gleichzeitig<br />

<strong>im</strong> Takt der Musik hoch, so dass<br />

<strong>di</strong>e geschminkten Kinder eher wie<br />

kleine Clowns denn wie Freudenmädchen<br />

aussehen. Einige starren<br />

ins Leere, manche weinen plötzlich<br />

und laufen zu ihren Müttern.<br />

Drei ältere<br />

Sau<strong>di</strong>s sind an Raschida<br />

und ihrer<br />

Schwester interessiert.<br />

Die Ärmel ihrer Dschalabiyas<br />

zieren aufwän<strong>di</strong>ge goldene Manschettenknöpfe.<br />

Diamantbesetzte<br />

Uhren blitzen hervor, als sie <strong>di</strong>e<br />

Arme heben, um eine großmännische,<br />

heranholende Bewegung in<br />

Richtung der schreitenden Mädchen<br />

zu machen. Nach einem weiteren<br />

Blickkontakt begeben sich <strong>di</strong>e<br />

Auserwählten zu den Interessenten<br />

und leisten den Herren Gesellschaft.<br />

Gesprochen wird kaum, <strong>di</strong>e Musik<br />

ist zu laut, und wahrscheinlich<br />

möchte auch keiner wissen, warum<br />

sich seine Glaubensschwestern hier<br />

verkaufen müssen. Die Mädchen<br />

werden ausführlich begutachtet,<br />

in ihre Oberarme gekniffen. Alkohol<br />

ist den Mädchen verboten zu<br />

trinken, so dürfen sie ein wenig an<br />

der Wasserpfeife saugen, bevor der<br />

Freier sie nach ihrer Telefonnummer<br />

fragt und wieder<br />

Ausführliche<br />

Begutachtung<br />

auf <strong>di</strong>e Tanzfläche<br />

schickt.<br />

Das System der „Touristischen<br />

Clubs und Restaurants“ sieht keinen<br />

Sex in der ersten Nacht vor.<br />

Der Schein, ein Land ohne <strong>di</strong>e<br />

Probleme des Westens – wie dem<br />

Verfall der Sitten – zu sein, muss<br />

in Baschar Al-Assads syrischer Republik<br />

gewahrt werden. Seit der<br />

Libanon aufgrund der unsicheren<br />

Lage als Sex-Para<strong>di</strong>es des Nahen<br />

Ostens ausgefallen ist, zieht es<br />

Scharen von reichen Golfstaatlern<br />

nach Damaskus. Doch Diskretion<br />

muss hier gewahrt werden. Nach<br />

dem Austausch der Nummern gibt<br />

der Kunde dem Mädchen, das sich<br />

wieder auf <strong>di</strong>e Tanzfläche verabschiedet,<br />

einen „Missed Call“, sie<br />

speichert <strong>di</strong>e Nummer und meldet<br />

sich zu Feierabend wieder bei ihm.<br />

Der Vater, der Bruder oder ein Taxifahrer<br />

fährt <strong>di</strong>e Mädchen dann zum<br />

Treffpunkt, in ein Hotel oder in ein<br />

Apartment. Oft warten <strong>di</strong>e Fahrer<br />

<strong>im</strong> Empfangsz<strong>im</strong>mer oder <strong>im</strong> Taxi,<br />

bis <strong>di</strong>e Arbeit verrichtet ist.<br />

Der Nachtclub Gazelle liegt wie<br />

unzählige andere Etablissements<br />

<strong>di</strong>eser Art nördlich von Damaskus.<br />

Die Eingangstür ziert ein Foto des<br />

Präsidenten. Jeder Damaszener Taxifahrer<br />

kennt Ma´araba, <strong>di</strong>e Vorstadt<br />

der Nachtclubs, <strong>di</strong>e sich seit<br />

Beginn des Irakkriegs entwickelte.<br />

Bis zum Horizont erstrecken sich<br />

<strong>di</strong>e grellen bunten Reklamelichter<br />

der Vergnügungsclubs. Und jede<br />

Nacht von Mitternacht bis zum er-<br />

sten Gebetsruf kurz vor Sonnenaufgang<br />

herrscht Hochbetrieb, warten<br />

Taxifahrer auf Gäste, kurven wüstensandverschmierteLuxuskarossen<br />

heran, verkaufen Imbissbuden<br />

gegrillte Hähnchen an <strong>di</strong>e Freier,<br />

bieten Süßwarenstände vor den<br />

Etablissements Kaugummi, Schokoriegel<br />

und L<strong>im</strong>onade für <strong>di</strong>e unfreiwilligen<br />

Sexarbeiterinnen feil.<br />

Polizei oder gar <strong>di</strong>e Sittenpolizei<br />

lässt sich hier nicht blicken. „Und<br />

wenn, dann nur in zivil – um sich<br />

zu amüsieren und um abzukassie-<br />

„Die Polizei lässt sich hier nur zum Amüsieren blicken“<br />

ren“, wie der Frauenrechtler Yahia<br />

Al-Anus berichtet. „Diese Mädchen<br />

haben niemanden, an den sie sich<br />

wenden können. Sie haben weder<br />

Hoffnung auf staatliche Unterstützung,<br />

noch eine Ausbildung oder<br />

einen Ehemann, der sie versorgen<br />

könnte. Können Sie sich vorstellen,<br />

was solch ein Lebens<strong>wan</strong>del in einer<br />

Kultur, in der schon bei Verdacht<br />

auf unsittliches Treiben für <strong>di</strong>e Ehre<br />

gemordet wird, für <strong>di</strong>e Psyche der<br />

Bildmaterial von Falko Siewert<br />

Mädchen bedeutet?“ Die Mittel<br />

für ein dringend benötigtes Frauenhaus,<br />

eine <strong>di</strong>skrete Anlaufstelle<br />

zumindest, fehlen Al-Thara. Die syrische<br />

NGO, deren Website von der<br />

syrischen Zensur regelmäßig vom<br />

Netz genommen wird, hat nicht<br />

einmal das Geld für einen sicheren<br />

auslän<strong>di</strong>schen Server.<br />

Während ganze Stadtteile von<br />

Damaskus täglich unter Strom- und<br />

Wasserausfall aufgrund des durch<br />

1,4 Millionen irakische Flüchtlinge<br />

gesteigerten Bedarfs leiden,<br />

scheint in Ma´araba<br />

von Not keine Spur. Jeder<br />

Parkplatz ist voll belegt.<br />

Die parkenden Luxuswagen<br />

kommen aus Sau<strong>di</strong>-<br />

Arabien und aus Kuwait,<br />

am Seitenausgang, sind<br />

ältere Kleinwagen<br />

mit syrischen<br />

oder irakischen<br />

Kennzeichen zu<br />

sehen. In ihnen schlafen<br />

<strong>di</strong>e kleinen Brüder der<br />

Tänzerinnen, bewacht<br />

vom Vater oder den älteren<br />

Brüdern. Die kleinen<br />

Schwestern sind bei<br />

den Müttern <strong>im</strong> Club.<br />

Sie laufen von Tisch zu<br />

Tisch und betteln um<br />

Geld. Schon Sechsjährige<br />

sind so hübsch und<br />

sexy zurechtgemacht,<br />

dass man sich Weiteres<br />

nicht vorstellen möchte.<br />

Manchen der sau<strong>di</strong>schen Wagen<br />

sieht man <strong>di</strong>e Fahrt durch <strong>di</strong>e<br />

Wüste noch an. Viele Gruppen<br />

kommen den Sommer über, um<br />

sich allnächtlich an dem in ihrem<br />

Land verbotenen Alkohol und den<br />

Mädchen zu erfreuen. Mischal,<br />

21-jähriger Angestellter bei der<br />

kuwaitischen Armee, hat sich mit<br />

acht Freunden eine Villa in Damaskus<br />

gemietet. „Den ganzen August<br />

lang können wir uns vergnügen!“<br />

erzählt er lachend und scheinbar<br />

auch stolz, „wirklich jede Nacht“<br />

käme er hierher, und aufgrund der<br />

billigen Preise könnten er und seine<br />

Freunde allnächtlich zwei oder drei<br />

Mädchen – „pro Mann, natürlich!“<br />

mitnehmen. Zwar versuche er, ein<br />

guter Musl<strong>im</strong> zu sein – so trinke<br />

seine Clique keinen Alkohol – zwar<br />

habe er ein Mädchen in Kuwait, das<br />

er lieben würde, aber da er noch<br />

nicht genug Geld für <strong>di</strong>e Hochzeit<br />

gespart habe, wolle er <strong>di</strong>e Freuden<br />

des jugendlichen Lebens jetzt und<br />

hier genießen. „Bei uns ist doch<br />

alles verboten, unsere Mädchen<br />

sind anstän<strong>di</strong>g, aber hier haben wir<br />

eine Party-Villa, nicht mal MTV<br />

würde senden, was jede Nacht bei<br />

uns abgeht!“ Der aktuelle Hit der<br />

Nachtclubszene ertönt und seine<br />

Begleiter zwischen 17 und 24 Jahren<br />

ziehen ihn auf <strong>di</strong>e Tanzfläche.<br />

Die jungen Männer in den tra<strong>di</strong>tionellen<br />

langen weißen Dschalabi-<br />

Mischals Clique trinkt keinen Alkohol<br />

yas fassen sich an den Händen und<br />

tanzen zunächst gemeinsam, bis sie<br />

scheinbar beliebig Mädchen aus der<br />

zirkelnden Menge an den Händen<br />

greifen, eng an sich pressen und mit<br />

ihnen tanzen. Ein Außenstehender<br />

würde be<strong>im</strong> Blick durch <strong>di</strong>e schmierigen<br />

Scheiben wohl eher den Eindruck<br />

bekommen, es handele sich<br />

um einen Schulabschlussball.


28 [dī.wān] 12.2007 SPECIAL<br />

SPECIAL<br />

12.2007 [dī.wān] 29<br />

Fatwa-Unterzeichnung auf der Azhar-Konferenz<br />

Die Beschneidung der Weiblichkeit<br />

Vor einem Jahr trafen namhafte Islamgelehrte an der<br />

Azhar-Universität in Kairo zusammen und berieten über<br />

<strong>di</strong>e islamische Position zur Mädchenbeschneidung.<br />

Ihre gemeinsame Verurteilung wurde in deutschen<br />

Me<strong>di</strong>en als Revolution gefeiert. Doch <strong>di</strong>e Frage, was sich<br />

seitdem an der Situation afrikanischer Frauen geändert<br />

hat, lässt sich leicht beantworten: (noch) nichts<br />

von Dörthe Engels<br />

An zwei Tagen <strong>im</strong> November<br />

2006 berieten sich verschiedene<br />

Islamgelehrte mit Me<strong>di</strong>zinern und<br />

Menschenrechtsaktivisten aus<br />

Afrika und Europa an der Kairoer<br />

Azhar-Universität über <strong>di</strong>e Mädchenbeschneidung.<br />

Initiator der<br />

Konferenz war Rü<strong>di</strong>ger Nehberg,<br />

Leiter der deutschen Menschenrechtsorganisation<br />

Target e.V.. Seit<br />

2000 kämpft er gegen <strong>di</strong>e „genitale<br />

Verstümmelung“, von der nach Angaben<br />

der Weltgesundheitsorganisation<br />

(WHO) weltweit 100 bis 140<br />

Millionen Mädchen und Frauen betroffen<br />

sind und jährlich etwa drei<br />

Millionen bzw. täglich 8000 hinzukommen.<br />

Ausgehend von der Tatsache,<br />

dass <strong>di</strong>e meisten der <strong>di</strong>e Beschneidung<br />

von Mädchen praktizierenden<br />

Ethnien in Afrika islamisch geprägt<br />

sind, sieht Nehberg „in der Kraft<br />

des Islam <strong>di</strong>e stärkste Waffe, um<br />

den blutigen Brauch zu beenden“.<br />

Gemeinsam mit Islamvertretern<br />

möchte Target e.V. das Dogma<br />

durchsetzen: „Frauenverstümmelung<br />

ist unvereinbar mit dem Koran<br />

und der Ethik des Islams!“ Somit war<br />

<strong>di</strong>e Strategie Nehbergs bisher nicht<br />

nur <strong>di</strong>e konkrete Aufklärungsarbeit<br />

vor Ort, sondern vor allem auch<br />

<strong>di</strong>e Einbindung der politischen wie<br />

religiösen Autoritäten. 2001 rief er<br />

hierfür <strong>di</strong>e Pro-Islamische Allianz<br />

(PIA) ins Leben, der bis heute der<br />

Zentralrat der Musl<strong>im</strong>e in Deutschland<br />

wie afrikanische Muftis und<br />

Imame beigetreten sind. Das Volk<br />

der Afar in Äthiopien und Dschibuti<br />

schaffte schließlich auf Bestreben<br />

ihres religiösen Oberhauptes Ali<br />

Mira Hanfari <strong>di</strong>e Beschneidung ab<br />

und ernannte Nehberg und dessen<br />

Lebensgefährtin Anette Weber zu<br />

ihren Ehrenbürgern.<br />

„Stoppt den Film! Er ist eine Lüge, vom Westen gedreht, um uns zu<br />

<strong>di</strong>skr<strong>im</strong>inieren. So ein Verbrechen gibt es bei uns <strong>im</strong> Islam nicht.“<br />

Ein Mann <strong>im</strong> Zuschauerraum der Azhar-Konferenz <strong>im</strong> November 2006 be<strong>im</strong> Zeigen einer Beschneidungsszene<br />

Die Erfahrung, dass <strong>di</strong>e Einbindung<br />

religiöser Autoritäten in den<br />

Kampf gegen <strong>di</strong>e Beschneidung sehr<br />

hilfreich ist, veranlasste Nehberg,<br />

sich an <strong>di</strong>e älteste und einflussreichste<br />

Lehrstätte des sunnitischen<br />

Islams zu wenden. Nachdem bereits<br />

der Großscheich der Azhar-Universität<br />

Muhammad Sayyid Tantawi<br />

eine Fatwa gegen <strong>di</strong>e Mädchenbeschneidung<br />

ausgestellt hatte, konnte<br />

Nehberg den ägyptischen Großmufti<br />

Ali Guma’a als Schirmherr für <strong>di</strong>e<br />

November-Konferenz gewinnen.<br />

Deren Titel entsprach Nehbergs<br />

Ziel: „Verbot der Verstümmelung<br />

des weiblichen Körpers durch Beschneidung“.<br />

Von dem tatsächlichen<br />

Ergebnis waren sowohl Nehberg<br />

als auch internationale Beobachter<br />

dennoch überwältigt: Erstmals<br />

formulierte eine Gruppe hochrangiger<br />

Islamgelehrter gemeinsam ein<br />

Rechtsgutachten, dass <strong>di</strong>e Beschneidung<br />

von Frauen ohne Ausnahme<br />

verbietet. Als „kleine Revolution“,<br />

„großen Erfolg“ und „ein Fanal der<br />

Hoffnung für Millionen islamischer<br />

Frauen“ feierten dementsprechend<br />

deutsche Zeitungen<br />

<strong>di</strong>ese<br />

Wendung <strong>im</strong><br />

jahrzehntelangen<br />

Kampf<br />

gegen <strong>di</strong>e Beschneidung.<br />

Der WHO zufolge ist <strong>di</strong>e Mädchenbeschneidung<br />

in vier Kategorien<br />

einteilbar. Die ersten beiden<br />

Beschneidungsformen, <strong>di</strong>e von der<br />

teilweisen Entfernung der Klitoris<br />

bis zum Herausschneiden der kleinen<br />

Schamlippen reichen, treten<br />

großflächig in Zentralafrika auf und<br />

stellen nach Angaben der WHO<br />

etwa 80 Prozent der Fälle. Die<br />

drastischsten Formen finden sich<br />

„Die weibliche Genitalverstümmelung ist <strong>di</strong>e teilweise oder völlige Entfernung der<br />

äußeren weiblichen Genitalien oder anderer Verletzungen der weiblichen Organe<br />

aus kulturellen oder anderen nicht-therapeutischen Gründen“<br />

gemeinsame Erklärung der Weltgesundheitsorganisation (WHO), des Kinderhilfswerks der Vereinten Nationen (UNICEF) und des<br />

Bevölkerungsfonds (UNFPA) <strong>im</strong> April 1997<br />

Sexualkundeunterricht<br />

vorwiegend am Horn von Afrika<br />

(Somalia, Dschibuti, Eritrea), <strong>im</strong><br />

Sudan, Äthiopien sowie <strong>im</strong> subsaharischen<br />

Westafrika (vor allem<br />

Mali). Bei der so genannten „pharaonischen“<br />

oder „sudanesischen“<br />

Beschneidung werden sämtliche innere<br />

Genitalien weggeschnitten, <strong>di</strong>e<br />

äußeren Schamlippen ausgeschabt<br />

und bis auf eine kleine Öffnung für<br />

den Austritt von Urin und Menstruationsblut<br />

vernäht. Laut WHO sind<br />

etwa 15 Prozent aller betroffenen<br />

Frauen auf <strong>di</strong>ese Weise beschnitten.<br />

In <strong>di</strong>e vierte Kategorie der Beschneidungsformen<br />

ordnet sie schließlich<br />

sämtliche Eingriffe in Aussehen und<br />

Funktion der Genitalien wie Durchstechen<br />

der Klitoris, Dehnen der<br />

Vaginaöffnung, Verbrennungen und<br />

Verätzungen bis hin zum Herausschneiden<br />

der gesamten Vulva ein.<br />

Derartige Formen sind auch unter<br />

einigen Ethnien in Südamerika<br />

oder Australien anzutreffen. Ferner<br />

werden auf der arabischen Halbinsel,<br />

<strong>im</strong> Irak, In<strong>di</strong>en, Malaysia und<br />

Indonesien Mädchen und Frauen<br />

auf verschiedene Art beschnitten.<br />

Aufgrund der Präsenz afrikanischer<br />

Ein<strong>wan</strong>derer existiert <strong>di</strong>e Beschneidung<br />

heute auch in Europa.<br />

Oftmals wird das Mädchen unter<br />

unzureichenden hygienischen<br />

Verhältnissen – etwa in einer Hütte<br />

auf dem Fußboden – beschnitten.<br />

Dabei werden unsterile Geräte wie<br />

Glasscherben oder Rasierklingen<br />

benutzt, keinerlei Betäubungsmittel<br />

ver<strong>wan</strong>dt und <strong>di</strong>e Wunde le<strong>di</strong>glich<br />

mit Hausmittelchen behandelt. In<br />

den Großstädten werden <strong>di</strong>e Mädchen<br />

– trotz teilweise empfindlicher<br />

Strafandrohungen durch den Staat<br />

– auch he<strong>im</strong>lich in Arztpraxen beschnitten.<br />

Die gesundheitlichen und<br />

psychologischen Folgen können<br />

eklatant sein. Zu den sofortigen<br />

Komplikationen zählen vor allem<br />

Schockzustände, starke Blutungen<br />

oder <strong>di</strong>e Verletzung anderer Organe.<br />

Wie viele Mädchen bei der Beschneidung<br />

sterben, ist nicht bekannt.<br />

Später können Geschwüre an der<br />

Narbe, Inkontinenz, Unfruchtbarkeit<br />

und Risikosch<strong>wan</strong>gerschaften<br />

hinzukommen. Meist leiden <strong>di</strong>e<br />

Frauen unter einem schmerzvollen


30 [dī.wān] 12.2007 SPECIAL<br />

SPECIAL<br />

12.2007 [dī.wān] 31<br />

und unbefrie<strong>di</strong>genden Geschlechtsverkehr.<br />

Die panische Angst, der<br />

große Schmerz, das erniedrigende<br />

Gefühl der absoluten Wehrlosigkeit<br />

und Ohnmacht sowie <strong>di</strong>e Empfi n-<br />

dung, betrogen worden zu sein,<br />

können ein psychisches Trauma zurücklassen.<br />

Die <strong>di</strong>e Beschneidung ausübenden<br />

Ethnien verstehen<br />

<strong>di</strong>ese <strong>im</strong> Gegensatz<br />

zu der durch<br />

internationale Menschenrechtsorganisationen<br />

angebrachten<br />

Kritik keineswegs als<br />

Verstümmelung. Die<br />

Landessprachen belegen<br />

<strong>di</strong>e Beschneidung<br />

der Frau zumeist mit<br />

positiven Termini<br />

wie Reinigung oder<br />

Verschönerung.Die<br />

Beschneidung gilt in<br />

Zentralafrika als jahrhundertealter<br />

Brauch,<br />

der unverzichtbar für<br />

das Fortbestehen gesellschaftlicher<br />

Werte und Normen<br />

ist. Eine unbeschnittene Frau wird<br />

meist als schmutzig, krank und unmoralisch<br />

stigmatisiert und ausgeschlossen.<br />

Die Beschneidung wird in Afri-<br />

„Wäre Genitalverstümmelung ein Männerproblem,<br />

wäre alles längst erle<strong>di</strong>gt.“<br />

ka von Anhängern aller Religionen<br />

praktiziert, wobei <strong>di</strong>e Musl<strong>im</strong>e mit<br />

etwa 80 Prozent <strong>di</strong>e größte Gruppe<br />

stellen. Sie bezeichnen <strong>di</strong>e Beschneidung<br />

überwiegend als Sunna,<br />

ein von Gott gewolltes Gebot. Dabei<br />

findet sich <strong>im</strong> Koran weder für Männer<br />

noch für Frauen ein Hinweis<br />

auf <strong>di</strong>e Beschneidung. Auch in der<br />

zweiten Quelle der Rechtsfindung,<br />

der Sunna, lassen sich kaum eindeutige<br />

Aussagen des Propheten zur<br />

Verbindlichkeit der Beschneidung<br />

ausmachen. Dies erstaunt, wird<br />

doch heute in der Forschung angenommen,<br />

dass <strong>di</strong>e Beschneidung zu<br />

Zeiten des Propheten Muhammads<br />

auf der arabischen Halbinsel in<br />

einem nicht abzuschätzenden Ausmaß<br />

praktiziert wurde. Der Ursprung<br />

der Beschneidung wird <strong>im</strong><br />

pharaonischen Afrika gesucht. Im<br />

Zuge der islamischen Eroberung<br />

von Teilen Afrikas vermischten sich<br />

<strong>di</strong>e lokalen mit islamischen Tra<strong>di</strong>tionen<br />

und erfuhren nachträglich eine<br />

rechtliche Legit<strong>im</strong>ierung, um <strong>di</strong>e<br />

Bevölkerung<br />

der neuen Gebieteunproblematischer<br />

in das neue<br />

Gesellschafts-<br />

und Glaubenssystem zu integrieren.<br />

Die islamische Rechtswissenschaft<br />

hat in der Vergang enheit <strong>di</strong>e Beschneidung<br />

von Frauen daher sehr<br />

unter schied lich bewertet. Während<br />

beispielsweise <strong>di</strong>e Rechtsschule der<br />

Hanbaliten <strong>di</strong>e Beschneidung als<br />

„ehrenvolle Tat“ ohne Verpflichtung<br />

bezeichnete, sprachen <strong>di</strong>e Schafiiten<br />

von ritueller Pflicht.<br />

In den vergangenen Jahren beschäftigten<br />

sich Islamgelehrte aufgrund<br />

der internationalen Kritik<br />

wieder vermehrt mit der Frage der<br />

Beschneidung. Im November hatten<br />

sie eine schwierige Grad<strong>wan</strong>de-<br />

Waris Dirie, somalische Autorin<br />

„Sie versprachen mir ein herrliches Fest.<br />

Über den ungeheuren Schmerz hat mir niemand<br />

etwas gesagt.“ Binta Si<strong>di</strong>be<br />

rung zwischen kultureller Identität<br />

bzw. Abgrenzung gegen den Westen<br />

und Akzeptanz wissenschaftlicher<br />

Erkenntnisse und Frauenrechten<br />

zu meistern. Für das Thema der<br />

Mädchenbes<br />

chneidung<br />

bedeutet <strong>di</strong>es<br />

ein hochexplosivesGemisch<br />

aus<br />

Sexualmoral,<br />

Religion und<br />

Me<strong>di</strong>zin, das<br />

wie so oft allein<br />

Männer<br />

zu maßregeln<br />

versuchen.<br />

Die gem<br />

e i n s a m e<br />

Deklaration<br />

der Mädchenbeschneidung<br />

als unislamisch<br />

und für <strong>di</strong>e Frau schädlich ist<br />

zweifelsohne ein Erfolg. Die St<strong>im</strong>men<br />

von so populären Gelehrten<br />

wie Ali Guma’a, Muhammad Sayyid<br />

Tantawi oder Yusuf al-Qaradawi<br />

werden in der islamischen Welt<br />

gehört. Die Tatsache, dass der Initiator<br />

der Konferenz eine deutsche<br />

Organisation war, werden konservative<br />

Kreise durch <strong>di</strong>e Beschul<strong>di</strong>gung<br />

des Kultur<strong>im</strong>perialismus zur<br />

Mobilmachung gegen Frauenrechte<br />

zu nutzen wissen. In Zentralafrika<br />

werden vermutlich nur wenige<br />

Frauen von der Aufregung zu hören<br />

bekommen. Die Zahl der Beschneidungen<br />

ist nach Angabe der WHO<br />

weiterhin steigend.<br />

Nähere Informationen bei:<br />

TARGET e.V.<br />

Rü<strong>di</strong>ger Nehberg und Annette Weber<br />

Großenseer Straße 1a<br />

22929 Rausdorf<br />

Telefon: 0 41 54.99 99 40<br />

E-Mail: contact@target-human-rights.com<br />

www.tagert-human-rights.de<br />

Allah ist nicht männlich<br />

Mit dem Islam sei das Patriarchat nicht zu rechtfertigen,<br />

sagen musl<strong>im</strong>ische Feministinnen.<br />

von Katharina Mühlbeyer<br />

Wer bei musl<strong>im</strong>ischen Feministinnen<br />

an verschleierte Frauen<br />

denkt, <strong>di</strong>e in lila Latzhosen auf<br />

Kairos Straßen protestieren, liegt<br />

falsch. Auch geben sie kein frauenbewegtes<br />

Kampfblatt heraus oder<br />

halten durch spektakuläre Aktionen<br />

<strong>di</strong>e Mullahs auf Trab. Die islamische<br />

Frauenbewegung kritisiert <strong>di</strong>e ungerechten<br />

Geschlechterverhältnisse<br />

in der islamischen Welt, ohne dabei<br />

dem Islam <strong>di</strong>e Schuld an der rechtlichen<br />

und sozialen Diskr<strong>im</strong>inierung<br />

der Frauen zu geben.<br />

Die Macht des Koran<br />

So treten <strong>di</strong>e Sisters of Islam<br />

<strong>im</strong>mer dann auf den Plan, wenn in<br />

Malaysia auf Basis der Scharia frauenfeindliche<br />

Urteile gefällt oder Gesetze<br />

zum Nachteil von Frauen verabschiedet<br />

werden. Die malaiische<br />

Frauen-Lobby für <strong>di</strong>e Gleichstellung<br />

der Geschlechter wurde von der Soziologieprofessorin<br />

Norani Othman<br />

gegründet. Ihre Öffentlichkeitsarbeit<br />

für Frauenrechte stützt sie auf<br />

ihre Interpretation des Korans und<br />

<strong>di</strong>e besagt, dass <strong>di</strong>e Offenbarung<br />

Männer und Frauen gleich behandelt.<br />

In der islamischen Welt jedoch<br />

wird <strong>di</strong>e Unterdrückung der Frau<br />

bis heute mit Rückgriff auf den<br />

Koran und <strong>di</strong>e islamische Überlieferung<br />

gerechtfertigt. So sind <strong>di</strong>e<br />

ungerechten Geschlechterverhält-<br />

nisse für viele Musl<strong>im</strong>e gottgewollte<br />

Ordnung – und damit unantastbar.<br />

Der Kampf für <strong>di</strong>e Rechte der musl<strong>im</strong>ischen<br />

Frau könne daher nur mit<br />

dem Koran geführt werden, sagt <strong>di</strong>e<br />

Rechtsexpertin Ziba Mir-Hosseini.<br />

Die Iranerin übt fundamentale Kritik<br />

an der historischen Entwicklung<br />

des islamischen Rechts, von der<br />

Frauen bis heute ausgeschlossen<br />

sind - und provoziert so <strong>di</strong>e konservativen<br />

Gottesmänner. Der Islam,<br />

sagt sie, sei in vielen islamischen<br />

Gesellschaften ein so starker Faktor,<br />

dass säkulare Positionen oder Prinzipien<br />

wie universelle Menschenrechte<br />

kein Gehör mehr fänden.<br />

Auch, weil <strong>di</strong>e Idee der Menschenrechte<br />

unter der Politik des Westens<br />

<strong>im</strong> Nahen Osten gelitten habe.<br />

Provokant ist auch <strong>di</strong>e US-Amerikanerin<br />

Amina Wadud. Die Konvertitin<br />

brach <strong>im</strong> Jahr 2005 mehrere<br />

islamische Tabus auf einmal,<br />

als sie ein Freitagsgebet vor einer<br />

gemischten Gruppe von Männern<br />

und Frauen leitete. Mit ihrer Pre<strong>di</strong>gt<br />

forderte sie symbolisch, dass Frauen<br />

Zugang zu religiösen Ämtern in der<br />

Gemeinde erhalten. Der Skandal<br />

bestand für <strong>di</strong>e Mehrheit der musl<strong>im</strong>ischen<br />

Kommentatoren des Geschehens<br />

darin, dass eine Frau Männern<br />

in einer religiösen Funktion<br />

vorsteht und manche Teilnehmerin<br />

ihr Haar nicht verhüllte. Denn tra<strong>di</strong>tionell<br />

beginnt <strong>di</strong>e Trennung der<br />

Geschlechter am Moscheeeingang,<br />

Frauen müssen ihr Haar bedecken<br />

und <strong>di</strong>e Leitung gemischter Gottes<strong>di</strong>enste<br />

ist ihnen verboten.<br />

Den Tra<strong>di</strong>tionsbruch wagen<br />

Musl<strong>im</strong>innen überall auf der Welt,<br />

weil sie sich in <strong>di</strong>e Tiefen der Koranauslegung<br />

und der islamischen<br />

Rechtsfindung begeben haben<br />

– und zu anderen Ergebnissen<br />

kamen, als <strong>di</strong>e männlichen religiösen<br />

Autoritäten. So rechtfertige<br />

der Islam keinen Männerbund mit<br />

einem männlichen Gott. Denn der<br />

arabische Artikel al erlaube keine<br />

Vermännlichung des Wortes Allah,<br />

Eine weltweite Frauenbewegung <strong>im</strong> Namen Gottes<br />

das geschlechtslos sei. Auf einen<br />

Gottvater, wie ihn das Christentum<br />

kennt, könne sich das musl<strong>im</strong>ische<br />

Patriarchat daher nicht stützen.<br />

Ein islamisches Frauenzentrum<br />

aus Köln legte <strong>im</strong> Jahr 2006 eine<br />

Neuinterpretation der umstrittenen<br />

Sure 4,Vers 34 vor. Ihre mehrheitlich<br />

anerkannte Auslegung sieht<br />

Männer als privilegiert und rechtfertigt<br />

es als gottgewollt, wenn<br />

Männer Frauen schlagen. Das Frauenzentrum<br />

hingegen erläutert <strong>di</strong>e<br />

provokante Koranstelle so: Männer


32 [dī.wān] 12.2007 SPECIAL<br />

SPECIAL<br />

12.2007 [dī.wān] 33<br />

sollten für Frauen einstehen, nicht<br />

über ihnen stehen. Das problematische<br />

arabische Wort<br />

der Sure lautet daraba. Es<br />

bedeutet nach Meinung<br />

der Interpretinnen sich<br />

trennen, keinesfalls schlagen – der<br />

Mann sollte sich also lieber scheiden<br />

lassen, anstatt loszuprügeln.<br />

Für musl<strong>im</strong>ische Frauen steht<br />

bei der Diskussion um <strong>di</strong>e richtige<br />

Koraninterpretation viel auf dem<br />

Spiel, denn sie hat Macht über ihren<br />

Alltag. In vielen musl<strong>im</strong>ischen<br />

Ländern fließt <strong>di</strong>e Auslegung des<br />

Korans in das Familien- und Personenstandsrecht<br />

ein und entscheidet<br />

damit zum Beispiel, ob Frauen verreisen,<br />

Auto fahren oder eben geschlagen<br />

werden dürfen.<br />

Die Ägypterin Ouma<strong>im</strong>a Abou<br />

Bakr spürt in ihrem Buch Al-mar’a<br />

wa-l-gender (etwa: Die Frau und <strong>di</strong>e<br />

Geschlechterfrage) der Rolle der<br />

Frau in der islamischen Geschichte<br />

Der Islam ist Frauensache<br />

nach. Sie möchte damit aufzeigen,<br />

dass nicht der Koran oder der Prophet<br />

Muhammad, sondern <strong>di</strong>e Männergesellschaft<br />

<strong>di</strong>e St<strong>im</strong>me der Frau<br />

seit Jahrhunderten unterdrückt. Die<br />

islamische Frauenbewegung sieht<br />

<strong>im</strong> islamischen Glauben ihre Stärke<br />

und vertei<strong>di</strong>gt den Islam gegen Angriffe<br />

von westlichen Frauenrechtlerinnen,<br />

<strong>di</strong>e <strong>im</strong> Koran <strong>di</strong>e Wurzel<br />

allen Übels sehen.<br />

Doch <strong>di</strong>e islamische Kritik an<br />

der bestehenden islamischen Geschlechterordnung<br />

ist nicht darauf<br />

beschränkt, den Koran zur Frauensache<br />

zu machen. Es geht darum,<br />

<strong>di</strong>e islamische Welt insgesamt zu<br />

Ouma<strong>im</strong>a Abou Bakr<br />

Professorin für Englisch und Literaturwissenschaft<br />

verändern. Musl<strong>im</strong>ische Feministinnen<br />

mischen sich in <strong>di</strong>e große<br />

Debatte darüber ein, wie <strong>di</strong>e islamische<br />

Gemeinschaft des 21. Jahrhunderts<br />

aussehen soll. Wie kann<br />

<strong>di</strong>e politische, rechtliche und soziale<br />

Gleichstellung der Frau gelingen?<br />

Und was bedeutet Geschlechtergerechtigkeit<br />

auf islamisch? Für musl<strong>im</strong>ische<br />

Aktivistinnen steht eines<br />

dabei fest: Diese Diskussion dürfen<br />

nicht nur einige Männer mit Worten<br />

und manchmal auch Waffen<br />

führen, während <strong>di</strong>e weibliche Hälfte<br />

der Gesellschaft ausgeschlossen<br />

bleibt.<br />

In Deutschland ist zum Thema erschienen:<br />

Ein einziges Wort und seine große Wirkung. Eine<br />

hermeneutische Betrachtungsweise zum Qur’an<br />

, Sure 4, Vers 34 mit Blick auf das Geschlechterverhältnis<br />

<strong>im</strong> Islam. Bestellbar be<strong>im</strong> Zentrum für<br />

Islamische Frauenforschung und Frauenförderung<br />

(ZIF) über www.zif-koeln.de.<br />

<strong>Sexualität</strong> <strong>im</strong> Islam:<br />

Genaue Regeln für jede Lebenslage?<br />

von Anna Antonakis<br />

Die Art und Weise, wie in Religionen<br />

und Sekten mit <strong>Sexualität</strong> umgegangen<br />

wird, ist vielfältig und reicht<br />

von strikter Ignoranz bis zur absoluten<br />

Glorifizierung des Themas.<br />

Im Islam werden teilweise sehr<br />

genaue Regeln für <strong>di</strong>e Sexualpraktiken<br />

der Gläubigen aufgestellt. Diese<br />

finden sich zum einen – in symbolische<br />

Sprache verpackt – <strong>im</strong> Koran<br />

und den verschriftlichten Aussagen<br />

des Propheten, den Ha<strong>di</strong>then, zum<br />

andern verfassen islamische Gelehrte<br />

stetig neue Rechtsgutachten,<br />

sogenannte Fatwas, bezüglich<br />

der „wahren“ Zusammenkunft von<br />

Mann und Frau. Grundsätzlich<br />

<strong>di</strong>ent Sex nach islamischer Vorstellung<br />

nicht nur der reinen Fortpflanzung;<br />

der Islam ist tra<strong>di</strong>tionell keine<br />

lustunempfindliche Religion. Der<br />

sexuelle Bereich wird daher durchaus<br />

als wichtiger Bestandteil der<br />

privaten Zufriedenheit anerkannt.<br />

Dennoch gibt es Restriktionen, wie<br />

sich <strong>di</strong>ese Genussfindung in den<br />

Schlafz<strong>im</strong>mern nun genau abzuspielen<br />

habe. Als „unrein“ gelten<br />

beispielsweise Analsex sowie Sex<br />

während der Menstruation. Ob <strong>di</strong>ese<br />

Regelwerke tatsächlich klar aus<br />

den Worten des Korans abzuleiten<br />

sind oder vielmehr von der Interpretationsgabe<br />

zeitgenössischer Religionsoberhäupter<br />

abhängt, wird in<br />

der islamischen Welt <strong>im</strong>mer wieder<br />

<strong>di</strong>skutiert.<br />

Verwirrung in den<br />

Gelehrtenkreisen<br />

In Ägypten entbrannte 2006<br />

ein Streit unter Religionsgelehrten<br />

bezüglich „unislamischer“ Sexualpraktiken,<br />

als Scheich Raschad Has-<br />

san Khalil, ein ehemaliger Dekan<br />

der renommierten Fakultät für islamisches<br />

Recht an der Kairoer Azhar-Universität,<br />

eine Fatwa erließ,<br />

<strong>di</strong>e das vollstän<strong>di</strong>ge Ausziehen des<br />

Geschlechtspartners verbot. Dabei<br />

berief er sich auf einen Ha<strong>di</strong>th.<br />

Dagegen vertrat <strong>di</strong>e Dekanin der<br />

Fakultät für Islamstu<strong>di</strong>en derselben<br />

Universität <strong>di</strong>e Meinung, dass den<br />

Ehepartnern außer Analsex alles erlaubt<br />

sei. Dreh- und Angelpunkt bei<br />

der Analyse <strong>di</strong>eses Themas war der<br />

folgende Koranvers: „Eure Frauen<br />

sind euch ein Saatfeld. Bestellt eurer<br />

Saatfeld, wie es euch gefällt!“<br />

(2:223). Unumstritten bleibt bei<br />

der Interpretation <strong>di</strong>eses Verses das<br />

Verbot des Analsex, da <strong>di</strong>eser in<br />

den Lehren Muhammads deutlich<br />

präzisiert wird: „Fluch über denjenigen,<br />

der sich der Frau von hinten<br />

nähert.“ Dieser Zusatz wurde in Ge-<br />

Keine lustunempfindliche Religion.<br />

Persien / 20. Jahrhundert


34 [dī.wān] 12.2007 SPECIAL<br />

SPECIAL<br />

12.2007 [dī.wān] 35<br />

lehrtenkreisen mehrmals geprüft<br />

und für authentisch befunden.<br />

Oralsex<br />

– eine Grauzone <strong>im</strong><br />

islamischen Recht<br />

Ob Oralsex von Gläubigen guten<br />

Gewissens genossen werden<br />

darf, gibt ebenfalls Anlass zur Diskussion.<br />

Dieser wird weder <strong>im</strong> Koran<br />

noch in der Sunna erwähnt, was<br />

den Schluss zulässt, dass Oralsex<br />

damals keine bekannte oder gar<br />

gängige Sexualpraktik war. Wegen<br />

fehlender schriftlicher Überlieferungen<br />

wird sie heutzutage daher<br />

als legit<strong>im</strong> angesehen, wobei <strong>di</strong>e<br />

dabei ausgetauschten Körperflüssigkeiten<br />

jedoch als „unrein“ gelten<br />

und überall dort nicht aufgenommen<br />

werden dürfen, wo sie keinen<br />

biologischen Nutzen haben. Besonderes<br />

Augenmerk wird auf <strong>di</strong>e Hygiene<br />

nach dem Sex gelegt; erst wenn<br />

Körper und Gewänder vollstän<strong>di</strong>g<br />

gereinigt sind, darf wieder zum Gebet<br />

übergegangen werden.<br />

Selbstbefrie<strong>di</strong>gung<br />

Gibt es bezüglich Beischlaf und<br />

seinen legit<strong>im</strong>en Praktiken große<br />

Verwirrung, scheint zumindest<br />

<strong>di</strong>e Selbstbefrie<strong>di</strong>gung nach koranischer<br />

Auffassung eindeutig untersagt:<br />

„Und <strong>di</strong>ejenigen, <strong>di</strong>e keine<br />

Gelegenheit zur Ehe finden, sollen<br />

sich keusch halten bis Allah sie aus<br />

seiner Fülle reich macht.“ (24:33).<br />

Aus der Sunna wird zum Beweis<br />

des Verbotes der Selbstbefrie<strong>di</strong>gung<br />

zusätzlich oft folgender Satz<br />

zitiert: „Oh ihr jungen Männer, wer<br />

von euch heiraten kann, der soll<br />

heiraten, denn es hilft den Blick zurückzuhalten<br />

und <strong>di</strong>e Keuschheit zu<br />

wahren, und wer dazu nicht in der<br />

Lage ist, der soll fasten, denn das Fasten<br />

ist für ihn ein Schutz.“ (Bukhari,<br />

Ha<strong>di</strong>th Nr. 5066) Aller<strong>di</strong>ngs wird<br />

<strong>di</strong>eses Verbot von Seiten einiger<br />

Scheichs aufgeweicht. Zum Schutz<br />

Selbstbefrie<strong>di</strong>gung unter Zuhilfenahme pornografischer Bilder. Persien / 18. Jahrhundert<br />

vor unehelichen sexuellen Übergriffen<br />

auf Frauen bei allzu großer Lust<br />

soll Masturbation erlaubt sein. Diese<br />

Ausnahmeregelung wurde hauptsächlich<br />

unter Berücksichtigung der<br />

in einigen Ländern der arabischen<br />

Welt sehr teuren Hochzeiten aufgestellt.<br />

Dieses Beispiel zeigt, dass<br />

Gelehrte der heutigen Zeit durchaus<br />

auch <strong>di</strong>e sozialen <strong>Hinter</strong>gründe<br />

der Gläubigen berücksichtigen und<br />

populäre Urteile fällen.<br />

<strong>Sexualität</strong> als<br />

para<strong>di</strong>esische<br />

Belohnung<br />

Während der Mensch <strong>im</strong> Christentum<br />

nach seinem Tode als „Engel<br />

<strong>im</strong> H<strong>im</strong>mel“ (Matthäus 22,30)<br />

ohne eheliche Bindung und somit<br />

ohne sexuelle Gelüste gedacht wird,<br />

verspricht der Islam den sexuellen<br />

Genuss ohne Fortpflanzung. Dieser<br />

wird als para<strong>di</strong>esische Belohnung<br />

für ir<strong>di</strong>sche gute Taten verstanden.<br />

Den Männern wird <strong>di</strong>e Polygamie<br />

auch <strong>im</strong> Jenseits gewährt. Überir<strong>di</strong>sche<br />

Jungfrauen, sogenannte Huris,<br />

„schön wie Perlen“, stehen ihnen<br />

dort zur Verfügung. Sowohl <strong>im</strong> Koran<br />

als auch in der Sunna werden<br />

<strong>di</strong>ese ausführlich in ihrem Liebreiz<br />

beschrieben.<br />

Der Frau wird anstelle eines<br />

männlichen Harems eine andere Be-<br />

lohnung versprochen: Da <strong>di</strong>e weibliche<br />

sexuelle Wollust nicht so stark<br />

ausgeprägt sei, erwarten sie nach<br />

islamischer Vorstellung materielle<br />

Geschenke <strong>im</strong> Para<strong>di</strong>es. Zudem<br />

wird sie <strong>im</strong> Jenseits mit ihrem Ehemann<br />

– sofern er durch Missetaten<br />

nicht in <strong>di</strong>e Hölle verbannt worden<br />

ist – wieder vereint. Die Ha<strong>di</strong>the,<br />

<strong>di</strong>e der <strong>Sexualität</strong> <strong>im</strong> Para<strong>di</strong>es einen<br />

derart hohen Stellenwert be<strong>im</strong>essen,<br />

bleiben aller<strong>di</strong>ngs umstritten –<br />

nicht zuletzt wegen der durch <strong>di</strong>ese<br />

Ha<strong>di</strong>the motivierten Selbstmordattentate.<br />

Einziges Ziel sollte es nach<br />

Meinung der Kritiker sein, das Angesicht<br />

Gottes zu erblicken.<br />

Am Ende steht<br />

<strong>di</strong>e in<strong>di</strong>viduelle<br />

Interpretation<br />

Trotz der Fülle und Vielfältigkeit<br />

an Informationen und Regeln,<br />

<strong>di</strong>e der Islam für beinahe jede Situation<br />

des <strong>di</strong>esseitigen und jenseitigen<br />

Lebens bereithält, kann er keinesfalls<br />

als „<strong>di</strong>e Lösung“ gelten. Gerade<br />

bei den verwirrenden Regeln<br />

und Fatwas, welche <strong>di</strong>e erlaubten<br />

Sexualpraktiken auf Erden behandeln,<br />

sollte auf den Ausspruch Muhammads<br />

zurückgegangen werden,<br />

der besagt, dass am Ende das Herz<br />

jedes Einzelnen zu entscheiden hat.<br />

Let's talk about sex...<br />

Die ägyptische Ärztin und Wissenschaftlerin Heba Qutb ist als<br />

Sexologin, Therapeutin für sexuelle Angelegenheiten, tätig. In ihrer<br />

Kairoer Praxis berät sie Ehepartner, gibt Sexualunterricht für Familien<br />

und 'heilt' Homosexuelle. In ihrer eigenen TV-Show klärt sie <strong>di</strong>e<br />

ägyptische Gesellschaft auf und versucht dabei, ihre Thesen und<br />

Erklärungen islamisch zu begründen und zu legit<strong>im</strong>ieren.<br />

[dī.wān] Wie sieht der Alltag in Ihrer Praxis aus? Was<br />

für Menschen kommen und mit welchen Anliegen?<br />

HEBA QUTB Als ich meine Praxis vor etwa sieben Jahren<br />

eröffnete, kamen nur Menschen aus der Oberschicht.<br />

Mittlerweile kommen meine Patienten jedoch aus fast<br />

allen Bereichen der Gesellschaft und von überall her<br />

aus Ägypten, sogar aus anderen Ländern, auch aus Europa,<br />

Australien und den USA. Am Anfang war es ein<br />

Ereignis, wenn Männer in <strong>di</strong>e Praxis kamen. Mittlerweile<br />

kommen jedoch mehr Männer als Frauen. Natürlich<br />

kommen auch viele Ehepaare.<br />

[dī.wān] Sind unter ihren Patienten auch Kopten oder<br />

nur Musl<strong>im</strong>e?<br />

HEBA QUTB Es kommen viele Kopten, fast jeden Tag.<br />

[dī.wān] Wie oft haben Sie in Ihrer Praxis mit Fällen<br />

von Frauenbeschneidung zu tun? Wie wirkt sich Frauenbeschneidung<br />

auf <strong>di</strong>e <strong>Sexualität</strong> aus?<br />

HEBA QUTB In meiner Praxis werde ich damit nicht oft<br />

konfrontiert. Ich denke, dass sich Frauenbeschneidung<br />

auch nicht auf <strong>di</strong>e <strong>Sexualität</strong> auswirkt.<br />

[dī.wān] Sie denken, dass es Frauen nicht daran hindert,<br />

Spaß am Sex zu haben?<br />

HEBA QUTB Ja, und ich habe wissenschaftliche Belege dafür.<br />

Das bedeutet nicht, dass ich nicht gegen <strong>di</strong>e Frauenbeschneidung<br />

wäre! Ich bin absolut dagegen, zumal <strong>di</strong>ese<br />

Praktik weder eine religiöse noch eine me<strong>di</strong>zinische<br />

Grundlage hat. Auf der anderen Seite wirkt es sich tatsächlich<br />

wenig auf <strong>di</strong>e <strong>Sexualität</strong> der Frau aus. Die Nervenenden<br />

existieren auch nach dem Entfernen der Kli-


36 [dī.wān] 12.2007 12.2007 [dī.wān] 37<br />

SPECIAL<br />

toris noch. Durch das Massieren <strong>di</strong>eser Nervenenden<br />

kann also noch das gleiche Gefühl erzeugt werden.<br />

[dī.wān] Sie reden jetzt über <strong>di</strong>e ‚harmlosere‘ Form der<br />

Beschneidung?<br />

HEBA QUTB Das gilt für alle Formen der Mädchenbeschneidung<br />

außer für <strong>di</strong>e extremste Form, <strong>di</strong>e in einigen ländlichen<br />

Gebieten Afrikas ange<strong>wan</strong>dt wird; in Ägypten ist<br />

sie nicht verbreitet.<br />

[dī.wān] Wie gehen ägyptische Paare mit Familienplanung,<br />

sei es durch Verhütungsmittel oder Abtreibung,<br />

um?<br />

HEBA QUTB Das lässt sich nicht verallgemeinern. In der<br />

Oberschicht, in der das Bildungsniveau hoch ist, wird<br />

damit anders umgegangen als auf allen anderen gesellschaftlichen<br />

Ebenen. Gerade in ländlichen Gebieten ist<br />

es oft sehr wichtig, viele Kinder zu haben, da sie schon<br />

<strong>im</strong> Alter von sechs Jahren eine zusätzliche Arbeitskraft<br />

darstellen. Was Abtreibung betrifft, so ist sie absolut<br />

haram (verboten, d.R.). Doch praktiziert wird sie hier<br />

tagtäglich, da brauchen wir uns nichts vorzumachen.<br />

[dī.wān] Haben Sie mit Frauen und Männern aus polygamen<br />

Ehen zu tun – und was können Sie uns von deren<br />

Sexualleben berichten?<br />

HEBA QUTB In Ägypten? Nein, das gibt es hier eigentlich<br />

nicht. In unserer Kultur, in <strong>di</strong>esem liberalen Land, wäre<br />

das unvorstellbar! Im Gegensatz zu den Golfstaaten<br />

können wir auf eine längere Zivilisationsgeschichte<br />

zurückblicken. So wie <strong>di</strong>e Polygamie in vielen Gesellschaften<br />

praktiziert wird, läuft etwas falsch. Das ist<br />

nicht der Weg der Scharia. Die Leute denken sich nur:<br />

Ah, es ist schön, so viele Frauen zu haben. Ich würde<br />

meinen Mann umbringen, würde er eine weitere Frau<br />

heiraten wollen (lacht).<br />

[dī.wān] Als Ärztin betrachten sie Homosexualität als<br />

‚heilbare Krankheit‘. Könnten Sie <strong>di</strong>ese Position – jenseits<br />

der Religion – wissenschaftlich begründen? Und welche<br />

Heilmittel bieten Sie an?<br />

HEBA QUTB Mein Ausgangspunkt war der Koran, aber in<br />

ihm wird Homosexualität nicht als Krankheit, sondern<br />

als Sünde bezeichnet. Ich als Gläubige kann da nicht<br />

religiös argumentieren. Es ist kein Aspekt, über den<br />

man <strong>di</strong>skutieren kann, Gott hat das Thema beendet.<br />

Das heißt, wir müssen das Thema aus einer anderen<br />

Perspektive betrachten. In der Wissenschaft hat es <strong>di</strong>esbezüglich<br />

mehrere Entwicklungen gegeben. Mittlerweile<br />

wird viel darüber gestritten, ob es sich um eine<br />

Krankheit oder le<strong>di</strong>glich um eine sexuelle <strong>Orient</strong>ierung<br />

handelt, <strong>di</strong>e keinerlei Therapie bedarf. Letztlich gibt es<br />

keine endgültigen Beweise.<br />

Ich jedoch denke, dass alle Menschen durch irgendetwas<br />

in ihrer Entwicklung beeinflusst werden, was<br />

auch <strong>di</strong>e <strong>Sexualität</strong> betrifft, und dass das Problem, das<br />

für <strong>di</strong>e Entstehung von Homosexualität verantwortlich<br />

ist, hier gesucht werden muss. Es handelt sich hierbei<br />

gewissermaßen um <strong>di</strong>e Bestandteile der <strong>Sexualität</strong>:<br />

Gen der, also <strong>di</strong>e Tatsache, ob ein Junge in der Familie als<br />

Junge und ein Mädchen als Mädchen behandelt wird,<br />

<strong>di</strong>e sexuellen Erfahrungen durch das, was sie hören, lesen<br />

und was sie erleben – vor allem in der Pubertät. Die<br />

Be<strong>di</strong>ngungen verbinden sich miteinander.<br />

Ich heile viele der Leute, <strong>di</strong>e mit <strong>di</strong>esem Problem<br />

zu mir kommen. Die Heilung beansprucht viel Zeit. Ich<br />

muss zuerst den Zugang zu ihrer Persönlichkeit finden<br />

und wissen, was <strong>di</strong>e Ursachen für ihre Homosexualität<br />

sind – in vielen Fällen ist es sexueller Missbrauch.<br />

Viele meiner homosexuellen Patienten sind verheiratet,<br />

haben Kinder und begehren ihre Frauen. Nach meiner<br />

Behandlung ist selbst auf der Ebene der homosexuellen<br />

Tagträume und der feuchten Träume alles okay.<br />

[dī.wān] Themen wie Masturbation, Oralverkehr, Doggy-Stellung,<br />

Vorspiel und weiblicher Orgasmus sind bei<br />

islamischen Gelehrten nicht gerade weit verbreitet und<br />

genossen auch in der Interpretation von Koran und Sunna<br />

keine große Aufmerksamkeit. Wer hat vor Ihnen über<br />

<strong>di</strong>ese Themen in einem religiösen Kontext gesprochen?<br />

HEBA QUTB Gerade über das Thema Masturbation haben<br />

viele Religionsgelehrte gesprochen. Viele sind der Meinung,<br />

sie sei erlaubt, um Ehebruch oder vorehelichen<br />

Sex zu vermeiden. Was <strong>di</strong>e anderen Dinge betrifft, so<br />

habe ich gesucht und gesucht und schließlich in einem<br />

Buch über <strong>di</strong>e Scharia – ich glaube, es war von Ibn<br />

Hazm – etwas gefunden. Er wurde darin – nicht ausdrücklich<br />

– über den Doggy-Style befragt. Ob man auf<br />

<strong>di</strong>ese Weise mit seiner Frau schlafen dürfe? Ibn Hazm<br />

bejahte <strong>di</strong>e Frage.<br />

[dī.wān] Wie begründen Sie mit Koran und Sunna <strong>di</strong>e<br />

Wichtigkeit des weiblichen Orgasmus‘?<br />

Das steht <strong>im</strong> Koran.<br />

[dī.wān] Wir haben in den Artikeln von Ihnen und über<br />

Sie während der Vorbereitungen auf <strong>di</strong>eses Interview gelesen,<br />

dass Sie <strong>di</strong>e Sure Al-Baqara in <strong>di</strong>esem Sinne interpretieren.<br />

Inwiefern bezieht sich der Ausdruck „qadd<strong>im</strong>u<br />

li-anfusikum“ auf das Vorspiel und <strong>di</strong>e weibliche Lust?<br />

HEBA QUTB Das Vorspiel ist sehr wichtig für <strong>di</strong>e Lust und<br />

<strong>di</strong>e Freude am Sex. Darauf beziehen sich <strong>di</strong>ese Worte:<br />

„Stellt Euch selbst etwas voraus“. Es ist <strong>di</strong>e Rede von<br />

der Notwen<strong>di</strong>gkeit des Mannes, den Sex einzuleiten<br />

und vorzubereiten. Gott selbst befiehlt es dem Mann.<br />

Je besser der Mann das macht, um so mehr gefällt es<br />

der Frau, sie bekommt einen oder mehrere Orgasmen<br />

und das wiederum wirkt sich be<strong>im</strong> Geschlechtsverkehr<br />

positiv auf ihn aus.<br />

[dī.wān] In der ägyptischen Gesellschaft gilt Sex <strong>im</strong>mer<br />

noch als Tabuthema. Wer sollte in welcher Form dazu<br />

beitragen, dass <strong>di</strong>e Ägypter mehr über Sex wissen und<br />

offener damit umgehen können?<br />

HEBA QUTB Ich denke nicht, dass es sich hierbei noch um<br />

ein tabuisiertes Thema handelt. In meiner Praxis habe<br />

ich gewissermaßen den Sensor dafür. Anfangs kamen<br />

nur zwei Patienten pro Woche, mittlerweile bin ich<br />

über Monate <strong>im</strong> Voraus ausgebucht. Ich denke, dass<br />

gerade <strong>di</strong>e Me<strong>di</strong>en ein wichtiger Faktor dafür gewesen<br />

sind. Ein Problem jedoch stellt <strong>di</strong>e <strong>im</strong>mer noch fehlende<br />

Kommunikation über <strong>Sexualität</strong> in den Familien dar.<br />

Zwar kommen manchmal Eltern zu mir, um zu erfahren,<br />

wie sie mit ihren Kindern darüber sprechen sollen,<br />

aber das stellt eher <strong>di</strong>e Ausnahme dar.<br />

[dī.wān] Was sagen Sie zur Trennung der Geschlechter?<br />

HEBA QUTB Ich halte Geschlechtertrennung für absolut<br />

falsch! Nebenbei wird <strong>di</strong>e Trennung nicht in den religiösen<br />

Texten erwähnt. Sie ist etwas Kulturelles. Meiner<br />

Meinung nach begann das mit dem Einfluss der katholischen<br />

Kirche in Äygpten. Man kann es <strong>im</strong>mer noch<br />

daran sehen, dass alle Unisex-Schulen christlich sind<br />

(lacht und zählt all <strong>di</strong>ese Schulen auf).<br />

[dī.wān] Wie verhält es sich mit Ländern wie z.B. Jemen<br />

oder Sau<strong>di</strong>-Arabien, in denen es keinen katholischen<br />

Einfluss, aber eine strenge Geschlechtertrennung gibt?<br />

HEBA QUTB Ich sprach über mein Land. Auf der arabischen<br />

Halbinsel herrscht eine ganz andere Kultur vor, wirklich<br />

eine ganz andere, nämlich <strong>di</strong>e beduinische Kultur,<br />

in der <strong>di</strong>e Frauen voll verschleiert sein müssen. Aber<br />

mein Land ist seit langem offen und liberal <strong>im</strong> Gegensatz<br />

zu den gerade erwähnten Ländern. Die Idee der<br />

Geschlechtertrennung wurde bei uns erst durch <strong>di</strong>e Katholiken<br />

eingeführt.<br />

[dī.wān] Islamische Grundlagen können nicht angeführt<br />

werden?<br />

HEBA QUTB Es gibt <strong>di</strong>ese Trennung nur in der Moschee.<br />

Aber daneben gibt es keine Bereiche, in denen sie islamisch<br />

legit<strong>im</strong>iert wäre.<br />

[dī.wān] Viele junge arabische Männer haben in Bezug<br />

auf vorehelichen Sex <strong>di</strong>e Einstellung: Ich darf, was<br />

meine Schwester niemals dürfte. Wie bewerten Sie <strong>di</strong>ese<br />

Doppelmoral?<br />

HEBA QUTB Doppelmoral ist <strong>im</strong>mer schlecht! Sex außerhalb<br />

bzw. vor der Ehe ist absolut haram! Doch er wird<br />

praktiziert – von jungen Männern und leider <strong>im</strong>mer<br />

mehr auch von jungen Frauen.<br />

[dī.wān] Sie waren <strong>di</strong>e erste ägyptische Ärztin, <strong>di</strong>e eine<br />

Praxis für Sexualberatung eröffnet hat. Wie bewerten<br />

Sie Ihren Einfluss und was erhoffen Sie sich für sich selbst<br />

und <strong>di</strong>e Gesellschaft?<br />

HEBA QUTB Ich behaupte, dass mein Einfluss bisher sehr<br />

groß gewesen ist, vor allem nach meiner TV-Show. Momentan<br />

arbeite ich an drei neuen Büchern, vier habe ich<br />

bisher veröffentlicht. Eines der neuen Bücher ist eine<br />

Art Enzyklopä<strong>di</strong>e für Eheleute, in der alles steht, was sie<br />

über <strong>Sexualität</strong> wissen sollten. Das zweite widmet sich<br />

der Sexualerziehung von Kindern und das dritte dem<br />

Unterschied zwischen männlicher und weiblicher <strong>Sexualität</strong>.<br />

Bücher darüber werden dringend benötigt.<br />

[dī.wān] Was könnten <strong>di</strong>e Ägypter bezüglich <strong>Sexualität</strong><br />

von den Europäern, was <strong>di</strong>e Europäer von den Ägyptern<br />

lernen?<br />

HEBA QUTB Jeder weiß alles (lacht). Interessanterweise<br />

sind <strong>di</strong>e Erfahrungen und Probleme mit <strong>Sexualität</strong><br />

überall auf der Welt ähnlich. Wir sind eben alle Menschen.<br />

Was Ägypten betrifft, so denke ich, dass sich <strong>im</strong><br />

Umgang damit sehr viel verbessert hat, es jedoch noch<br />

<strong>im</strong>mer an der Kommunikation über Sex zwischen den<br />

Partnern mangelt. Sie reden nicht darüber, was ihnen<br />

gefällt und auch nicht darüber, was sie stört. Sicherlich<br />

funktioniert das zwischen westlichen Partnern besser.<br />

Vielleicht ist es da aber auch schon zu viel. Für <strong>di</strong>ese<br />

wünschte ich mir natürlich, dass auf Sex außerhalb<br />

bzw. vor der Ehe verzichtet würde, dessen negativer<br />

Einfluss <strong>im</strong> Übrigen ja auch bewiesen ist: Denn wenn<br />

jemand schon mit z<strong>wan</strong>zig oder dreißig Partnern vor<br />

seiner Heirat geschlafen hat, so hat er viele Erfahrungen<br />

gemacht und zu hohe Ansprüche. In seiner Ehe wird<br />

er sich stän<strong>di</strong>g beschweren und mit seiner Frau unzufrieden<br />

sein, weil sie seine Wünsche vielleicht nicht so<br />

erfüllt, wie er es gewohnt gewesen ist, und umgekehrt<br />

gilt das natürlich auch für <strong>di</strong>e Frau..<br />

Wir danken Ihnen für <strong>di</strong>eses interessante Gespräch.<br />

Die Fragen stellten<br />

Nora Wothe und Alexander Kalbarczyk.<br />

Kaufberatungen, Kairo<br />

SPECIAL


38 [dī.wān] 12.2007 12.2007 [dī.wān] 39<br />

Die meisten Moscheen in <strong>Berlin</strong><br />

sind in <strong>Hinter</strong>höfen und Wohnhäusern<br />

untergebracht, manchmal ist<br />

draußen nur ein Hinweisschild auf<br />

arabisch oder türkisch angebracht.<br />

Nicht so be<strong>im</strong> Bauvorhaben in der<br />

Wiener Straße 1-6, wo <strong>di</strong>e größte<br />

Moschee <strong>Berlin</strong>s entsteht – ein<br />

riesiger, hellgelber Bau mit Halbmonden<br />

auf dem Dach, der nicht<br />

zu übersehen ist. Seit Beginn der<br />

Arbeiten 2004 weist ein Schild an<br />

der Baustelle auf arabisch, deutsch<br />

und türkisch auf den Träger hin,<br />

Islamischer Verein für Wohltätige<br />

Projekte. Daneben <strong>di</strong>e Flaggen von<br />

<strong>Berlin</strong> und Kreuzberg, denn so sieht<br />

man sich selbst: Kiezbezogen, multilingual,<br />

offen.<br />

„Die Hizbollah, Hizb<br />

al-Tahrir und andere ra<strong>di</strong>kale<br />

Vereinigungen<br />

haben hier in <strong>di</strong>esem<br />

Bezirk ihre Moscheen und rekrutieren<br />

Anhänger. Vor ra<strong>di</strong>kalen Vereinigungen<br />

und deren Zielen kann<br />

man nur dringend warnen“, sagt der<br />

türkischstämmige Birol Ucan. Er ist<br />

Pressesprecher des 1996 gegründeten<br />

Vereins, dessen Gemeinde<br />

sich noch bis zur Fertigstellung der<br />

neuen Moschee in den kleinen Räumen<br />

der alten Omar-Moschee in<br />

BERLIN<br />

Gegner der Islamisten?<br />

Die neue Mega-Moschee in Kreuzberg wird getragen von einem Wohltätigkeitsverein,<br />

der sich religiös und politisch als moderat darstellt von Julia Gebert<br />

der Skalitzer Strasse 33 trifft. Hier<br />

werde moderater Islam gelehrt und<br />

in Freitagspre<strong>di</strong>gten vor den Gefahren<br />

des Islamismus gewarnt, so<br />

Ucan. Er stellt <strong>di</strong>e Ziele des Vereins<br />

transparent dar, erzählt von Besuchergruppen<br />

der Bundeswehr, von<br />

Schülern und Rentnern <strong>di</strong>e in den<br />

Räumen herumgeführt werden. Um<br />

sich noch mehr Besuchern öffnen<br />

zu können soll <strong>di</strong>e neue Moschee<br />

großzügiger sein und noch ein Café<br />

und <strong>di</strong>verse Läden in ihrem Innern<br />

beherbergen. „Dort soll dann <strong>im</strong>mer<br />

Tag der offenen Tür sein, unten<br />

<strong>im</strong> Café kann man einen Tee trinken<br />

und <strong>di</strong>e Moschee und <strong>di</strong>e Läden<br />

<strong>im</strong> Inneren besuchen“, so Ucan.<br />

Wurzeln in sufischer Missionsbewegung <strong>im</strong> Libanon<br />

Wer <strong>di</strong>e Wohltätigen googelt<br />

oder mit Beobachtern der islamischen<br />

Szene in <strong>Berlin</strong> spricht,<br />

merkt vor allem eins: Es besteht<br />

Uneinigkeit in der Einstufung <strong>di</strong>eser<br />

Glaubensgemeinschaft, sowohl<br />

in politischer als auch in religiöser<br />

Hinsicht.<br />

Ein Vergleich verschiedener Artikel<br />

und Aussagen zur religiösen<br />

Einordnung legt nahe, dass der Verein<br />

seine Wurzeln in der sufischen<br />

Ahbasch-Bewegung <strong>im</strong> Libanon<br />

hat. Diese wurde von Scheikh al-<br />

Habaschi in den fünfziger Jahren<br />

in Beirut als Wohltätigkeitsorganisation<br />

gegründet. Während des<br />

libanesischen Bürgerkriegs gelang<br />

es den Ahbasch zahlreiche sunnitische<br />

Mitglieder zu rekrutieren,<br />

auf Grund der Flüchtlingswellen<br />

verteilten sich <strong>di</strong>e Anhänger rasch<br />

über den Globus. Trotz ihrer tiefen<br />

sufischen Wurzeln unterschieden<br />

sich <strong>di</strong>e Ahbasch von tra<strong>di</strong>tionellen<br />

Sufi-Orden durch ihre „aggressive<br />

Missionsarbeit und den politischen<br />

Aktivismus, der sich gegen islamistische<br />

Gegner richtet“, so Nizar<br />

Hamzeh und Hrair Dekmejian in<br />

ihrem Artikel „Die sufische Antwort<br />

auf politischen Islamismus“, 1996<br />

<strong>im</strong> International Journal of Middle<br />

East Stu<strong>di</strong>es erschienen.<br />

Zur politischen <strong>Orient</strong>ierung<br />

ist bekannt, dass <strong>di</strong>e Ahbasch <strong>im</strong><br />

Libanon in gewaltvolle Auseinandersetzungen<br />

mit gegnerischen<br />

islamistischen Bewegungen in den<br />

sunnitischen Städten Beirut, Tripolis<br />

und Sidon verwickelt gewesen<br />

sind. Zudem „unterhalten <strong>di</strong>e<br />

Ahbasch exzellente Beziehungen<br />

zu arabischen Regierungen, speziell<br />

zu den syrischen Autoritäten.<br />

Sie sehen Syrien als einen Beschützer<br />

Libanons gegenüber Israel und<br />

den Vertei<strong>di</strong>ger der libanesischen<br />

Einheit“, ist bei Hamzeh und Dekmejian<br />

zu lesen. Ein hochrangiges<br />

Mitglied der Ahbasch <strong>im</strong> Libanon,<br />

Ahmad Abdul Aal, wird <strong>im</strong> Mehlis-<br />

Report erwähnt, welcher Teil der<br />

Aufklärung des Mordfalls an dem<br />

ehemaligen libanesischen Ministerpräsidenten<br />

Hariri war. Angeblich<br />

ist er mittlerweile verhaftet worden.<br />

Was lässt sich davon auf den<br />

Kreuzberger Verein übertragen?<br />

Hier beginnt das Dickicht der widersprüchlichen<br />

Aussagen und<br />

fehlenden Informationen. Clau<strong>di</strong>a<br />

Danschke vom Zentrum Demokratische<br />

Kultur hat <strong>im</strong> Jahr 2002 eine<br />

Stu<strong>di</strong>e zu demokratiefeindlichen<br />

Organisationen in Kreuzberg erstellt<br />

und sagt noch heute: „Wir wissen<br />

über <strong>di</strong>ese Vereinigung <strong>im</strong>mer<br />

noch wenig, man kennt ihre Gemeinde<br />

nicht, das macht eine Einschätzung<br />

schwierig. Wir wissen,<br />

dass es eine mystische, sunnitische<br />

Glaubensrichtung ist, <strong>di</strong>e ihre Wurzeln<br />

<strong>im</strong> Libanon hat. Die dortige<br />

Gruppierung ist in politische Akti-<br />

„Dem Kreuzberger Verein ist nichts nachzuweisen“<br />

BERLIN<br />

vitäten verwickelt und hat eine gewisse<br />

Nähe zur syrischen Regierung<br />

und eine taktische Allianz mit der<br />

Hizbollah.“ Ein arabisches Manifest<br />

der Organisation hat sie aller<strong>di</strong>ngs<br />

nie gelesen.<br />

Auf Fragen nach Frauenbild und<br />

Spendern wurde ausgewichen<br />

Die ideologischen An<strong>im</strong>ositäten<br />

zwischen der Ahbasch und islamistischen<br />

Organisationen lassen sich<br />

auch <strong>im</strong> Internet nachvollziehen,<br />

wo ein regelrechter Informationskrieg<br />

auf deutschen Webpages tobt.<br />

Und auch in Kreuzberg selbst lässt<br />

sich der Konflikt ablesen. Der Sprecher<br />

der Islamischen Föderation<br />

sagt ganz offen: „Wir selbst stehen<br />

der Mili Görüş nahe, mit dem Islamischen<br />

Verein für Wohltätige Projekte<br />

haben wir nichts zu tun.“ In<br />

Diskussionsveranstaltungen schlügen<br />

sich <strong>di</strong>e verschiedenen musl<strong>im</strong>ischen<br />

Vereine verbal regelrecht<br />

<strong>di</strong>e Köpfe ein: „Das war für <strong>di</strong>e deutschen<br />

Anwohner hier sehr instruktiv,<br />

dass neben allgemeinen Fragen<br />

zum Verein plötzlich ein Streit<br />

zwischen den Musl<strong>im</strong>en darüber<br />

entflammte, wie man richtig zu beten<br />

hat“, sagt Frank Schulz, Bürgermeister<br />

von Kreuzberg. Schulz hat<br />

ohnehin einen tech nischeren Blick<br />

auf <strong>di</strong>e Auseinandersetzung um den<br />

Wohltätig keitsverein, der erst mit<br />

seinem Bauvorhaben ins Rampenlicht<br />

der öffentlichen Diskussion<br />

geriet. „Erstmal sind das nicht meine<br />

Kriterien, ich halte mich strikt<br />

ans Baurecht, wenn ich hier einem<br />

Verein eine Baugenehmigung erteile“,<br />

sagt Schulz. Und zweitens<br />

habe es laut dem Bericht von Clau<strong>di</strong>a<br />

Danschke und dem des Verfassungsschutzes<br />

nichts zu beanstanden<br />

gegeben. Dennoch wurden bis<br />

zur Erteilung der Baugenehmigung<br />

2004 etliche offene Debatten <strong>im</strong><br />

Kiez veranstaltet. „Die Menschen<br />

wollen natürlich wissen, wer <strong>di</strong>eser<br />

neue Nachbar ist“, so Schulz. Die<br />

Debatten seien gut besucht gewesen<br />

und hätten erstaunlicher Weise vor<br />

allem den innerreligiösen Streit wider<br />

gespiegelt. Ansonsten hätte der<br />

Verein aber allen Fragen der Bürger<br />

Rede und Antwort gestanden.<br />

Die Diskussionen werden wohl<br />

noch weiter gehen, denn erst <strong>im</strong><br />

S e p t e m b e r<br />

gab es wieder<br />

eine<br />

öffentliche<br />

Diskus sion,<br />

bei der auch Pressesprecher Ucan<br />

anwesend war. „Ich habe nach dem<br />

Frauenbild des Vereins gefragt und<br />

nach der Herkunft der Spenden<br />

<strong>di</strong>eses Sechs-Millionen-Euro Projekts,<br />

aber da ist Herr Ucan ausgewichen“,<br />

sagt Danschke. „Aber <strong>im</strong>merhin<br />

ist jetzt bestätigt worden,<br />

dass derselbe Imam zwischen der<br />

Ahbasch-Gemeinde <strong>im</strong> Libanon<br />

und der <strong>Berlin</strong>er Gemeinde hin-<br />

und herpendelt.“<br />

Die neue Moschee wird auf dem Eckgrundstück<br />

Skalitzer/ Wiener Straße in <strong>Berlin</strong>-Kreuzberg<br />

stehen. Auf der Website der Organisation finden<br />

sich Hinweise zu den Verantwortlichen, den<br />

Zielen der Bewegung und der Entstehungsgeschichte<br />

sowie Photos der Moschee.<br />

http://www.ivwp.de/


40 [dī.wān] 12.2007 BERLIN<br />

BERLIN<br />

12.2007 [dī.wān] 41<br />

Anlagebetrug in Gottes Namen<br />

Wie sogenannte Islam-Hol<strong>di</strong>ngs gläubige Musl<strong>im</strong>e um mehrere<br />

Milliarden Euro betrügen von Karin Kutter<br />

„Dieser Mann hier hat eine halbe<br />

Million Euro verloren“ sagt Herr<br />

Demirci und deutet auf ein Foto, das<br />

einen kleinen türkischstämmigen<br />

Mann mit Schnurrbart auf einer<br />

Demonstration zeigt. Die Menschen<br />

auf dem Foto demonstrieren gegen<br />

<strong>di</strong>e sogenannten Islam-Hol<strong>di</strong>ngs,<br />

<strong>di</strong>e über 200.000 gläubige Musl<strong>im</strong>e<br />

deutschlandweit um mehr als fünf<br />

Milliarden Euro betrogen haben. Sie<br />

demonstrieren auch für Gerechtigkeit,<br />

denn bis jetzt haben sie keinen<br />

einzigen Euro ihres in <strong>di</strong>e Hol<strong>di</strong>ngs<br />

investierten Geldes wieder gesehen<br />

und viele der Verantwortlichen laufen<br />

noch frei herum.<br />

Die Masche der Betrüger<br />

Angeworben wurden <strong>di</strong>e Anleger<br />

meist durch Imame, vor allem<br />

von der Bewegung Milli Görüş. In<br />

Deutschland steht <strong>di</strong>e Organisation<br />

unter Beobachtung des Verfassungsschutzes,<br />

der sie als „islamisch-extremistisch“<br />

einstuft. Gründe konnten<br />

<strong>di</strong>ese Imame genug nennen, warum<br />

das Geld in Hol<strong>di</strong>ngs wie Y<strong>im</strong>paş<br />

oder Kombassan gut aufgehoben<br />

sei. Sie seien eine sichere Anlage<br />

mit hohen Gewinnen, zudem könne<br />

man das Geld jederzeit zurück<br />

bekommen. Darüber hinaus würde<br />

man in den Wirtschaftsstandort<br />

Türkei investieren und damit seine<br />

Landsleute oder Familienangehörige<br />

unterstützen. Die in der Türkei<br />

lebenden Ver<strong>wan</strong>dten würden auch<br />

bei Stellenangeboten der Hol<strong>di</strong>ngs<br />

bevorzugt. Zudem verfügten <strong>di</strong>ese<br />

Hol<strong>di</strong>ngs über Sozialfonds, <strong>di</strong>e<br />

Arme unterstützten. Nicht zuletzt<br />

würde das islamische Zinsverbot<br />

umgangen werden, da in der Geldanlage<br />

sowohl Gewinnchancen als<br />

auch Verlustrisiko enthalten seien.<br />

Das islamische Zinsverbot, das für<br />

viele gläubige Musl<strong>im</strong>e eine große<br />

Rolle spielt, ist <strong>im</strong> Koran fest verankert<br />

und hat soziale Gründe:<br />

Mit dem Verbot Zinsen zu nehmen,<br />

wollte Prophet Muhammad<br />

erreichen, dass Geldverleiher ihre<br />

Schuldner ausnehmen.<br />

Neben all <strong>di</strong>esen Argumenten<br />

gab aber wohl der Einsatz der<br />

Imame selbst den Ausschlag, da sie<br />

als hohe Vertrauensinstanz unter<br />

den Musl<strong>im</strong>en gelten.<br />

Ihr Geld sahen <strong>di</strong>e Anleger nie<br />

wieder. Unter dem Deckmantel des<br />

Islam konnten <strong>di</strong>e Hol<strong>di</strong>ngs über<br />

fünf Milliarden Euro scheffeln und<br />

deutschlandweit zwischen 200.000<br />

und 300.000 Menschen betrügen,<br />

schätzt Herr Yil<strong>di</strong>r<strong>im</strong> vom Zentrum<br />

für Türkeistu<strong>di</strong>en. „Die Dunkelziffer<br />

ist hier sehr hoch, da viele der<br />

Betroffenen auch Angst haben und<br />

den Betrug deshalb gar nicht anzeigen.“<br />

Angst hat Herr Demirci, wie er<br />

ausdrücklich betont, keine. Herr<br />

Demirci ist Vorsitzender des „Solidaritätsvereins<br />

der Türken in Europa<br />

e.V.“, der sich für <strong>di</strong>e Betrugsopfer<br />

einsetzt. Auch er hat viel Geld<br />

durch <strong>di</strong>e Hol<strong>di</strong>ng-Geschäfte verloren.<br />

„Sie müssen sich vorstellen, <strong>di</strong>e<br />

Opfer haben oftmals ihre gesamten<br />

Ersparnisse in <strong>di</strong>e Hol<strong>di</strong>ngs inve-<br />

stiert“ – Geld, das sie jahrelang für<br />

eine bessere Zukunft ihrer Kinder<br />

gespart hatten. Er schätzt <strong>di</strong>e Zahl<br />

der Betrugsopfer sogar auf über<br />

800.000 und <strong>di</strong>e Betrugshöhe auf<br />

mehr als 30 Milliarden Euro.<br />

Verbindungen zur<br />

Regierungspartei AKP?<br />

Dursun Uyar, Chef der Y<strong>im</strong>paş-<br />

Hol<strong>di</strong>ng, wird inzwischen wegen<br />

Betrugs in Millionenhöhe mit internationalem<br />

Haftbefehl gesucht.<br />

In der Türkei jedoch läuft er frei<br />

herum. Denn scheinbar unterhält<br />

Uyar beste Verbindungen zur Regierungspartei<br />

AKP. Dies bestätigte<br />

auch Davut Buca, früherer Funktionär<br />

der AKP, gegenüber der Zeitung<br />

„Die Welt“. In einem Fax an <strong>di</strong>e<br />

Zeitung schreibt er, dass Y<strong>im</strong>paş<br />

<strong>im</strong> letzten Wahlkampf ganze Koffer<br />

voller Bargeld aus Deutschland<br />

an <strong>di</strong>e AKP überreicht haben soll.<br />

Aber auch sonst scheint Uyar beste<br />

Beziehungen zur türkischen Regierung<br />

zu haben. Zahlreiche Fotos belegen<br />

<strong>di</strong>esen Kontakt: Denn selbst<br />

als <strong>di</strong>e Betrugsfälle schon bekannt<br />

waren, nahm der türkische Justizminister<br />

Cemil Çiçek noch an einer<br />

Feier der Y<strong>im</strong>paş-Hol<strong>di</strong>ng teil.<br />

Derweil kämpft Demirici weiter<br />

für Gerechtigkeit, doch das ist nicht<br />

leicht. Auf einer Gesprächsrunde<br />

mit dem türkischen Ministerpräsidenten<br />

Erdoğan in <strong>Berlin</strong> <strong>im</strong> Jahr<br />

Quelle: http://www.hol<strong>di</strong>ng-zedeler.de/htm/hol<strong>di</strong>ng-zedeler.htm<br />

2006 wurde er von Erdoğan als Betrüger<br />

bezeichnet. Der Ministerpräsident<br />

glaubte, <strong>di</strong>e Mikrofone und<br />

Der Kampf um Gerechtigkeit<br />

Kameras seien bereits aus, als er sich<br />

an den türkischen Staatsminister<br />

mit <strong>di</strong>esen Worten <strong>wan</strong>dte. Doch<br />

der Sender ATV schnitt <strong>di</strong>esen Vorfall<br />

mit und strahlte ihn landesweit<br />

<strong>im</strong> türkischen Fernsehen aus.<br />

Auch über <strong>di</strong>e deutsche Bundesregierung<br />

will Demirci Druck auf<br />

<strong>di</strong>e Türkei ausüben. Doch <strong>di</strong>e Anfrage<br />

der Bundestagsabgeordneten<br />

Sev<strong>im</strong> Dağdelen von der Fraktion<br />

„Die Linke“ brachte nur spärliche<br />

Ergebnisse. „Der mehrfache Verweis<br />

der Bundesregierung auf <strong>di</strong>e<br />

fehlenden Kenntnisse<br />

oder Zustän<strong>di</strong>gkeiten<br />

zeugt von einer kompletten<br />

Ignoranz gegenüber den Betroffenen<br />

oder von einem mangelnden<br />

Interesse an der Aufklärung des<br />

Parlaments bzw. der Öffentlichkeit“,<br />

sagt Dağdelen. Eine Nachfrage an<br />

<strong>di</strong>e Bundesregierung ist inzwischen<br />

in Vorbereitung.<br />

Als sich Demirici <strong>im</strong> April 2007<br />

auf einer Veranstaltung mit Erdoğan<br />

und Merkel in Hannover <strong>di</strong>rekt an<br />

<strong>di</strong>e Bundeskanzlerin <strong>wan</strong>dte, wurde<br />

er von den Leibwächtern des türkischen<br />

Ministerpräsidenten kurzerhand<br />

aus dem Saal befördert. Die<br />

anwesenden deutschen Sicherheitskräfte<br />

sahen dabei tatenlos zu.<br />

Doch Herr Demirci gibt nicht<br />

auf. Demnächst wird er zusammen<br />

mit deutschen Bundestagsabgeordneten<br />

ins türkische Parlament nach<br />

Ankara fahren und weiter für <strong>di</strong>e<br />

Betrugsopfer der Hol<strong>di</strong>ngs kämpfen.<br />

Die Zeit drängt, denn schon<br />

Ende 2008 ist der Betrug verjährt.<br />

Spätestens dann könnten <strong>di</strong>e Täter<br />

straffrei ausgehen.


42 [dī.wān] 12.2007 BERLIN<br />

BERLIN<br />

12.2007 [dī.wān] 43<br />

Am Tag der<br />

Deutschen Einheit...<br />

Fotos von Anna Antonakis und May Elmah<strong>di</strong><br />

„Tagespolitik“<br />

„Dresscode“<br />

„<strong>Hinter</strong>grundmusik“


44 [dī.wān] 12.2007 „Gelassenheit“<br />

12.2007 [dī.wān] 45<br />

„Schrittweise“<br />

„Schicklich“<br />

„Haltung“


46 [dī.wān] 12.2007 12.2007 [dī.wān] 47<br />

Al-Jazeera-Korrespondent<br />

Aktam Sul<strong>im</strong>an in <strong>Berlin</strong><br />

„Die Araber können es<br />

sich nicht leisten, blind zu sein!“<br />

Das Al Jazeera Büro in <strong>Berlin</strong>, Friedrichsstraße<br />

Der Korrespondent des <strong>Berlin</strong>er Al-Jazeera-Büros Aktam<br />

Sul<strong>im</strong>an über deutsche und arabische Fehlwahrnehmung des<br />

Holocausts, das Bild vom „Mercedes-Land“ in der arabischen<br />

Welt und seinen Traumberuf.<br />

Der arabische Sender Al Jazeera war 1996 <strong>im</strong> Emirat Qatar als<br />

Spross des arabischen BBC-Ressorts gegründet worden und<br />

eroberte seitdem in Windeseile <strong>di</strong>e arabische Me<strong>di</strong>enwelt.<br />

[dī.wān] Herr Sul<strong>im</strong>an, wie arbeiten Sie in Ihrer Korrespondenz<br />

hier in <strong>Berlin</strong> für Al Jazeera?<br />

SULIMAN Das ist eine ganz normale Fernsehkorrespondenz,<br />

<strong>di</strong>e sich vor allem in hektischen Zeiten wie jetzt<br />

zum G8 Gipfel nicht von anderen Fernsehkorrespondenzen<br />

unterscheidet.<br />

[dī.wān] Wer wählt <strong>di</strong>e Themen aus, über <strong>di</strong>e Sie aus<br />

Deutschland berichten?<br />

SULIMAN Sehen Sie, jeder Journalist hat ja so eine Schnittmenge<br />

von Themen <strong>im</strong> Kopf. Er beobachtet <strong>di</strong>e Szene<br />

und dann spielt es natürlich noch eine Rolle, was das<br />

Haus sagt. Aber meistens geht <strong>di</strong>e Absprache mit der<br />

Zentrale in Qatar glatt, also der Ausgleich zwischen<br />

Ansagen von dort und Vorschlägen von uns. Wir haben<br />

zum Beispiel einen Beitrag über den Karneval der Kulturen<br />

erwirkt. Das ist natürlich ein sehr deutsches Phänomen,<br />

aber es waren ja auch Araber beteiligt und über<br />

<strong>di</strong>ese Perspektive haben wir den Beitrag aufgezogen.<br />

[dī.wān] Gibt es Themen, <strong>di</strong>e Sie nicht durchbekommen?<br />

SULIMAN Wir wollten einmal eine Sendung zu Homosexualität<br />

machen, und zwar eine, bei der man <strong>di</strong>e Thematik<br />

nicht reißerisch darstellt, sondern ihr 20 Minuten einräumt,<br />

so dass sie nicht le<strong>di</strong>glich <strong>di</strong>e bestehenden Vorurteile<br />

bestätigt. Wir wollten richtig informieren und zeigen,<br />

dass Homosexualität überall ein Phänomen ist und wie<br />

damit speziell in Deutschland umgegangen wird. Aber<br />

das hat Qatar nicht angenommen – es war zu heikel.<br />

[dī.wān] Wie läuft <strong>di</strong>e Zusammenarbeit zwischen Korrespondenz<br />

und Zentrale?<br />

SULIMAN Von Qatar kommen eigentlich nur sehr selten<br />

Vorschläge. Und Al Jazeera ist zwar ein großer Sender,<br />

aber arbeitet nicht so systematisch, wie man das bei<br />

vergleichbaren Häusern wie CNN oder BBC kennt. Die<br />

Zentrale hält es manchmal für Planung, wenn sie uns<br />

sagen, „da ist eine Konferenz in Tunis, geht mal hin“.<br />

Aber alles, was nach der reinen Terminansage kommt,<br />

müssen wir selbst machen. Man verlässt sich schon stark<br />

auf <strong>di</strong>e Korrespondenzen. Was übrigens auch einzigartig<br />

bei Al Jazeera ist, ist <strong>di</strong>e Wahl der Korrespondenten:<br />

Sie werden ausschließlich vor Ort rekrutiert, niemals<br />

aus Qatar entsandt. Unser Russland-Korrespondent ist<br />

Russe, der in Paris selbstverständlich Franzose und ich<br />

bin Deutscher.<br />

[dī.wān] Welches Bild von Deutschland möchten Sie in<br />

der arabischen Welt vermitteln?<br />

SULIMAN Ich will gar kein Bild vermitteln. Das ist nicht<br />

unsere Aufgabe. Aber ich hoffe, dass ein Bild entsteht,<br />

das nah an dem ist, was ich „Realität“ nennen würde.<br />

Das ergibt sich durch politische Ereignisse. Zum Beispiel<br />

gab es zur Zeit des „Neins“ von Schröder zum<br />

Irak-Krieg um 2002/03 ein sehr positives Deutschland-<br />

Bild in der arabischen Welt. Es ist natürlich klar, dass<br />

auch Deutschland all <strong>di</strong>ese Sicherheitspakete geschnürt<br />

hat und es auch in Deutschland für Araber unbequem<br />

INTERVIEW<br />

wurde, aber Schröder hat <strong>di</strong>e außenpolitische Haltung<br />

Deutschlands sehr gut verkauft. Er ist eben ein charmanter<br />

Typ und sehr beliebt in der arabischen Welt.<br />

[dī.wān] Und wie sehen Sie persönlich <strong>di</strong>e Wahrnehmung<br />

Deutschlands in der arabischen Welt, <strong>di</strong>e Wahrnehmung<br />

deutscher Geschichte?<br />

SULIMAN Deutschland wird <strong>im</strong>mer noch vor allem als<br />

Wirtschaftsmacht wahrgenommen. Was Arbeitslosigkeit<br />

hier für <strong>di</strong>e Deutschen bedeutet, wird nicht verstanden<br />

– man bekommt dann oft zu hören „ist doch<br />

gut, ihr bekommt ja wenigstens Arbeitslosengeld, bei<br />

uns sterben <strong>di</strong>e Leute“ und das st<strong>im</strong>mt natürlich. Jedes<br />

Land hat seine eigenen Probleme. Aber Deutschland<br />

bleibt in den Augen der Araber das „Mercedes-Land“.<br />

[dī.wān] Wie beeinflusst der Holocaust als Teil deutscher<br />

Geschichte das Gesamtbild von Deutschland?<br />

SULIMAN Es gibt natürlich Missverständnisse in der Wahrnehmung<br />

und einen Mangel an Informationen.<br />

[dī.wān] Einen Mangel an Informationen sieht man ja<br />

auch auf der Seite Europas und der USA.<br />

SULIMAN Ja, aber der Westen kann sich das auch leisten.<br />

Amerika ist Weltmacht, Europa ist geistig und wirtschaftlich<br />

sehr aktiv. Die Araber hingegen existieren<br />

nicht wirklich – weder politisch, ökonomisch noch kulturell.<br />

Sehen Sie, <strong>di</strong>e arabische Welt übersetzt jährlich so<br />

viele Bücher wie <strong>di</strong>e Türkei. Die arabische Welt ist in der<br />

Krise und da kann man es sich nicht leisten, blind zu sein.<br />

Da ist für <strong>di</strong>ese Fehlwahrnehmungen einfach kein Platz.<br />

[dī.wān] Was ist mit Fehlwahrnehmungen und Klischees<br />

auf unserer Seite?<br />

SULIMAN Bezogen auf das Beispiel Holocaust: Da haben<br />

<strong>di</strong>e Araber das Problem, dass sie den Holocaust gar<br />

nicht wahrnehmen können, ohne auf <strong>di</strong>e Gegenwart zu<br />

gucken und auf das israelisch-palästinensische Verhältnis.<br />

Die Deutschen wiederum können Nahost-Konflikte<br />

nicht wahrnehmen, ohne in <strong>di</strong>e Vergangenheit zu gucken.<br />

Beides ist verhängnisvoll.<br />

[dī.wān] Wie ist denn <strong>di</strong>e Reaktion aus der deutschen<br />

Bevölkerung gegenüber Al Jazeera?<br />

SULIMAN Nach dem 11. September erlebten wir eine regelrechte<br />

Hysterie. Al Jazeera wurde zunächst nur als<br />

Sender von Terror-Botschaften wahrgenommen. Das<br />

hat sich ein bisschen gelegt. Aber es gibt <strong>im</strong>mer noch<br />

<strong>di</strong>e Sichtweise, dass Al Jazeera Sensationsjournalismus<br />

betreibt. Ich denke eher, dass manche mit Al Jazeera<br />

Sensationsjournalismus betreiben.<br />

[dī.wān] Was bedeutet <strong>di</strong>e Arbeit bei Al Jazeera für Sie?<br />

SULIMAN Dieser Job ist für jeden ein Traum. Das ist <strong>di</strong>e<br />

höchste Ebene, <strong>di</strong>e man erreichen kann, hohes journalistisches<br />

Niveau und viel Freiheit bei der Arbeit. Ideal vor<br />

allem, wenn man <strong>im</strong> Ausland lebt und <strong>di</strong>e Verbindung zur<br />

arabisch-islamischen Welt nicht ganz abreißen lassen will.<br />

Die Fragen stellte Julia Gebert <strong>im</strong> Juni 2007


48 [dī.wān] 12.2007 12.2007 [dī.wān] 49<br />

HÖRBAR<br />

Eine Musik<br />

mit vielen <strong>Hinter</strong>gründen<br />

Dhafer Youssefs Album<br />

DIVINE SHADOWS<br />

Versuch einer Empfehlung für Ohren,<br />

<strong>di</strong>e etwas hören wollen<br />

von Felix Koch<br />

Der Sänger und Oud-Spieler Dhafer Youssef hat<br />

mit dem Trio um den Gitarristen Eivind Aarset ein<br />

Album aufgenommen, das allein schon aufgrund der<br />

Anspielungen, <strong>di</strong>e sich in den Informationen auf der<br />

CD-Hülle offenbaren, neugierige Ohren aufhören<br />

lassen müsste. Zuerst einmal wäre da Aarset selbst zu<br />

nennen, der zu den herausragenden Köpfen gehört,<br />

<strong>di</strong>e in Oslo eine wahnsinnige Welt von Elektronik und<br />

Jazz geschaffen haben. Zudem zeichnet für <strong>di</strong>e Veröffentlichung<br />

ein Label verantwortlich, das von Bugge<br />

Wesseltoft gegründet worden ist und der Osloer Szene<br />

als leben<strong>di</strong>ges Exper<strong>im</strong>entierfeld <strong>di</strong>ent: Jazzland<br />

Records.<br />

Die Aufnahme selbst wirkt – vor allem für<br />

<strong>di</strong>ejenigen, <strong>di</strong>e einmal ein Konzert in <strong>di</strong>eser Besetzung<br />

erleben durften – schlicht, geradezu verhalten.<br />

Und obwohl <strong>di</strong>e CD mit langsam dahinfließenden<br />

Harmonien eines Streicherquartetts und arabischem<br />

Gesang, versehen mit einem dezenten Echo, regelrecht<br />

typisch beginnt, macht Youssef mit dem bal<strong>di</strong>gen<br />

Aufblitzen von elektronischen Samples schnell<br />

klar, dass ihm nicht der Sinn nach einer verklärenden,<br />

exotischen Darstellung seiner Musik steht. Nicht<br />

ohne Grund scheint er so auf seinem Weg von Tunesien<br />

über Wien und New York nach Paris auf <strong>di</strong>ese<br />

eigenwillige Szene aus Norwegen gestoßen zu sein,<br />

<strong>di</strong>e sich nicht erst seit dem legendärem Album „New<br />

Conception of Jazz“ von Wesseltoft <strong>di</strong>verse Verungl<strong>im</strong>pfungen<br />

aus der etwas verstockten neokonservativen<br />

Ecke des Jazz anhören muss.<br />

Das Zusammenfließen von arabischen, elektronischen,<br />

Jazz- und Rockelementen wirkt unter solchen<br />

Vorraussetzungen erfrischend und offen, vor allem,<br />

da sich <strong>di</strong>e Musik nicht anhört wie ein Kompromiss,<br />

auf den sich alle geeinigt hätten, sondern vielmehr<br />

wie eine natürliche Ergänzung und Verschmelzung<br />

der unterschiedlichen musikalischen Ideen, <strong>di</strong>e sich<br />

in dem Prinzip treffen, dass es letztendlich be<strong>im</strong> Musikmachen<br />

um nichts weiter als das Verhandeln und<br />

Austarieren der Energie geht, <strong>di</strong>e eine eigene Spannung<br />

zu erzeugen sucht.<br />

Wie wär‘s mit einem neuen<br />

Schulbuch?<br />

Ilan Pappe: Die ethnische Säuberung Palästinas<br />

von Philipp Dehne<br />

Ende Juli <strong>di</strong>eses Jahres erregte<br />

ein neues Schulbuch <strong>di</strong>e Gemüter<br />

vieler Israelis. Das Erziehungsministerium<br />

plante den Einsatz eines<br />

Buches für <strong>di</strong>e dritte Klasse, in dem<br />

<strong>di</strong>e Ereignisse von 1948-49 bei zwei<br />

Namen genannt werden. Neben der<br />

bisherigen offiziellen israelischen<br />

Bezeichnung Unabhängigkeitskrieg<br />

heißt es in dem Werk, dass <strong>di</strong>e Palästinenser<br />

das gleiche Ereignis als<br />

nakba, als Katastrophe, bezeichnen.<br />

Arabische und linke Parlamentarier<br />

zeigten Zust<strong>im</strong>mung, rechte Parlamentarier<br />

sprachen von einem<br />

Skandal und forderten den Rücktritt<br />

der Erziehungsministerin. Interessant:<br />

das neue Schulbuch ist<br />

auf arabisch verfasst und nur für<br />

arabisch-israelische Schulen vorgesehen.<br />

Kritische Details zu den<br />

Geschehnissen von 1948-49 enthält<br />

es kaum.<br />

Ein Jahr zuvor veröffentlichte<br />

der israelische Historiker Ilan Pappe<br />

sein neuestes Buch „Die ethnische<br />

Säuberung<br />

Palästinas”, das sich<br />

mit genau <strong>di</strong>esem<br />

Zeitraum auseinandersetzt.<br />

Darin beschreibt<br />

er <strong>di</strong>e Ereignisse und Entscheidungen,<br />

<strong>di</strong>e zur Vertreibung<br />

großer Teile der ansässigen palästinensischen<br />

Bevölkerung und zur<br />

Zerstörung mehrerer hundert Dörfer<br />

und Siedlungen führten. Neben<br />

der Ansicht, <strong>di</strong>e <strong>di</strong>ese Tatsache <strong>im</strong>mer<br />

noch gänzlich leugnet, existiert<br />

das weit verbreitete Bild, dass es <strong>im</strong><br />

Rahmen des Krieges zwar zu Vertreibungen<br />

gekommen sei, <strong>di</strong>ese je-<br />

LESBAR<br />

doch best<strong>im</strong>mten Umständen oder<br />

Personen zuzuschreiben seien. Pappe<br />

widerlegt <strong>di</strong>es. Die Vertreibung<br />

sei gewollt, systematisch organisiert<br />

und oft durch unmenschliche<br />

Handlungen erzwungen gewesen.<br />

Was zur Zeit der nakba in Palästina/Israel<br />

geschah, sei nicht als<br />

willkürlich und auch nicht als <strong>di</strong>e<br />

Handlung Einzelner zu verstehen;<br />

was geschah, sei <strong>di</strong>e ethnische Säuberung<br />

Palästinas von mehr als der<br />

Hälfte seiner ansässigen Bevölkerung<br />

gewesen.<br />

Seine Darstellung beginnt Pappe<br />

<strong>im</strong> damaligen Hauptquartier der<br />

Hagana, der zentralen zionistischen<br />

Miliz in Palästina. Hier treffen sich<br />

am 10. März 1948 führende zionistische<br />

Politiker mit jungen Offizieren<br />

unter dem Vorsitz des späteren<br />

ersten Ministerpräsidenten David<br />

Ben Gurion und beschließen <strong>di</strong>e<br />

systematische Vertreibung von Palästinensern<br />

aus großen Teilen des<br />

Landes. Das Produkt ihrer Zusam-<br />

menkunft, Plan Dalet, gibt den Einheiten<br />

<strong>di</strong>e Methoden vor, <strong>di</strong>e sie anwenden<br />

sollten, um <strong>di</strong>e erfolgreiche<br />

Vertreibung zu gewährleisten.<br />

„Diese Operationen können in<br />

folgender Weise ausgeführt werden:<br />

entweder durch <strong>di</strong>e Zerstör ung von<br />

Dörfern (indem man sie in Brand<br />

steckt, sie in <strong>di</strong>e Luft jagt und ihre<br />

Ruinen vermint) und insbesondere<br />

jener Bevölkerungszentren, <strong>di</strong>e<br />

schwierig auf Dauer zu kontrollieren<br />

sind; oder durch Einfassen, Durchkämmen<br />

und Kontrolloperationen<br />

nach den folgenden Leitlinien: Umzingeln<br />

der Dörfer und Durchführen<br />

einer Suchaktion in ihrem Innern.<br />

Im Falle von Widerstand müssen<br />

bewaffnete Kräfte vernichtet und<br />

<strong>di</strong>e Bevölkerung nach außerhalb der<br />

Staatsgrenzen vertrieben werden.”<br />

Im Fortlauf des Buches beschreibt<br />

Pappe anhand von Beispielen<br />

den Verlauf von Plan Dalet<br />

und der ethnischen Säuberung, <strong>di</strong>e<br />

verschiedene Einheiten bis zum<br />

Sommer 1949 und dem dann unterzeichnetenWaffenstillstandsabkommen<br />

mit Syrien und Libanon<br />

durchführten.<br />

In seinem Werk stützt sich Pappe<br />

auf vier Hauptquellen. Er verwendete<br />

israelisches Archivmaterial,<br />

das erst in den späten neunziger<br />

Jahren zugänglich gemacht wurde.<br />

Daneben wertete er älteres Archivmaterial<br />

unter der Frage nach einer<br />

„Ich bin für Z<strong>wan</strong>gsumsiedlung; darin sehe ich nichts Unmoralisches.“<br />

David Ben Gurion an <strong>di</strong>e Exekutive der Jewish Agency, Juni 1938<br />

ethnischen Säuberung aus. Die zwei<br />

anderen Pfeiler seiner Beweisführung<br />

sind <strong>di</strong>e Tagebücher David<br />

Ben Gurions und <strong>di</strong>e ‚oral history’<br />

palästinensischer und israelischer<br />

Beteiligter.<br />

Historisches Wissen ist oftmals<br />

auch eine Frage der politischen Verhältnisse.<br />

Ilan Pappe ist nicht der<br />

erste, der sich einer neuen israelischen<br />

Geschichtsschreibung an-


50 [dī.wān] 12.2007 12.2007 [dī.wān] 51<br />

LESBAR GLOSSE<br />

n<strong>im</strong>mt. Diese begann in den achtziger<br />

Jahren. Laut Pappe hat es <strong>di</strong>ese<br />

‚neue Geschichtsschreibung’ Israels<br />

aber bisher nicht geschafft, den<br />

Weg ins moralische Bewusstsein zu<br />

finden und in daraus folgende Taten<br />

zu münden; <strong>di</strong>es gelte sowohl<br />

für <strong>di</strong>e israelische wie auch für <strong>di</strong>e<br />

Weltöffentlichkeit. Die Ereignisse<br />

von 1948 würden <strong>im</strong>mer noch aus<br />

dem Blickwinkel des Krieges betrachtet.<br />

Es gelte zu verstehen, dass<br />

das, was damals geschah, kein Krieg<br />

war, „der tragischerweise aber unausweichlich<br />

zur Vertreibung eines<br />

Teils der in<strong>di</strong>genen Bevölkerung<br />

führte. Das Hauptziel des Krieges<br />

war <strong>di</strong>e ethnische Säuberung ganz<br />

Palästinas”, um Platz für den neuen<br />

Staat zu schaffen.<br />

Ethnische Säuberung ist als Verbrechen<br />

gegen <strong>di</strong>e Menschlichkeit<br />

anerkannt, <strong>di</strong>e ethnische Säuberung<br />

Palästinas ist es noch nicht. Pappe<br />

nennt in seinem Buch zwei Gründe<br />

für <strong>di</strong>e Unausweichlichkeit des<br />

Themas. Zum einen gebe es „einen<br />

moralischen Imperativ, gegen <strong>di</strong>e<br />

Leugnung <strong>di</strong>eses Verbrechens zu<br />

kämpfen”. Zum anderen ist er sich<br />

sicher: <strong>di</strong>e historischen Tatsachen<br />

ins Bewusstsein der Menschen zu<br />

bringen ist eine unerlässliche Voraussetzung,<br />

um einem Frieden in<br />

Israel/Palästina eine Chance zu geben.<br />

Nach der Veröffentlichung von<br />

Pappes Buch ließ Kritik nicht lange<br />

auf sich warten. Doch beschränkte<br />

sich <strong>di</strong>ese auf persönliche Diffamierungen<br />

und pauschale, nicht zuzuordnende<br />

Kritik an seiner Quellenanalyse.<br />

Konstruktiv wurde einzig<br />

angemerkt, dass an einigen Stellen<br />

des Buches ein genaueres Bild von<br />

der aktiven Rolle der Palästinenser<br />

wünschenswert gewesen wäre. An<br />

der Erkenntnis von Pappes Arbeit<br />

ändert <strong>di</strong>es jedoch nichts. Zionistische<br />

Einheiten säuberten Palästina<br />

ethnisch. Es ist erschreckend,<br />

dass <strong>di</strong>ese Tatsache <strong>im</strong> öffentlichen<br />

Rahmen so lange geleugnet oder<br />

verschwiegen wurde und weiterhin<br />

wird.<br />

Ilan Pappes Buch zu lesen ist<br />

eine – <strong>im</strong> wahrsten Sinne des Wortes<br />

– ungeheure Bereicherung. Schade,<br />

dass <strong>di</strong>e Bevölkerung, für <strong>di</strong>e <strong>di</strong>eses<br />

Buch den wohl größten Wert hat, es<br />

zumindest vorerst nicht lesen wird.<br />

Erschienen auf Englisch, wurde das<br />

Buch bisher in sechs Sprachen übersetzt.<br />

Hebräisch ist nicht darunter.<br />

So wünschenswert es ist, dass <strong>di</strong>e<br />

ethnische Säuberung Palästinas bis<br />

zum 60. Jahrestag der Staatsgründung<br />

Israels <strong>im</strong> kommenden Jahr<br />

in Israels Schulcurricula aufgenommen<br />

wird, so unwahrscheinlich ist<br />

es auch.<br />

Ilan Pappe<br />

Die ethnische Säuberung Palästinas<br />

Verlag: Zweitausendeins, Frankfurt 2007<br />

Fester Einband, 416 Seiten, 19 Fotos<br />

Sprache: deutsch<br />

Original: englisch<br />

(The ethnic cleansing of Palastine 2006)<br />

Preis: 22,- €<br />

Zur Person<br />

Ilan Pappe wurde 1954 in Haifa als Sohn deutscher Juden geboren, <strong>di</strong>e in den dreißiger Jahren aus Deutschland<br />

geflohen waren. Er stu<strong>di</strong>erte an der Universität von Haifa und promovierte in Oxford.<br />

Er zählt zu den ‚Neuen Historikern‘ Israels (neben Benny Morris, Avi Shla<strong>im</strong> und Tom Segev), <strong>di</strong>e sich<br />

kritisch mit der offiziellen israelischen Geschichtsschreibung auseinander setzen. Neben zahlreichen<br />

Veröffentlichungen ist Pappe, der der linken Partei Hadash nahe steht, auch politisch sehr aktiv.<br />

2005 unterstützte er den Aufruf zum akademischen Boykott Israels, da er in äußerem Druck auf Israel den<br />

besten Weg sieht, <strong>di</strong>e Besatzung zu beenden. Aufgrund <strong>di</strong>eser Unterstützung und vorheriger Meinungsverschiedenheiten<br />

legte ihm der Präsident der Universität Haifa, an der er am Institut für Politikwissenschaft<br />

arbeitete, den Rücktritt nahe. 2007 verließ Pappe Israel. Es werde für ihn „<strong>im</strong>mer schwieriger, mit seinen<br />

unwillkommenen Ansichten und Überzeugungen in Israel zu leben“.<br />

Seit kurzem lehrt er an der britischen Universität von Exeter Geschichte.<br />

Der Falafel-Klau –<br />

Unentdeckte Tiefen sraelischer He<strong>im</strong>atgefühle<br />

von Shelley Harten<br />

Wiener Schnitzel, <strong>Berlin</strong>er<br />

Bockwurst oder Omas Apfelkuchen<br />

– Essen verbindet mit der He<strong>im</strong>at.<br />

Auch in Israel. Und weil <strong>di</strong>e russische<br />

Kohlsuppe „Borscht“ bei<br />

dreißig Grad <strong>im</strong> Schatten flau <strong>im</strong><br />

Magen liegt und sonst alles jü<strong>di</strong>schessbare<br />

zwar oft schmackhaft, aber<br />

dennoch pampig-grau oder glitschig-braun<br />

daherkommt, wurde<br />

<strong>di</strong>e arabische Küche <strong>im</strong> Verlauf der<br />

nationalen Selbsterfindung Israels<br />

schlichtweg „adoptiert“.<br />

Mancher findet darin den Beweis<br />

für <strong>di</strong>e Aufnahme der lang unterdrückten<br />

arabisch-jü<strong>di</strong>schen Kultur<br />

ins Mainstream Israel, welches<br />

ansonsten von ost- und mitteleuropäischen<br />

Einflüssen geprägt ist. Andere<br />

erinnern sich an <strong>di</strong>e legendäre<br />

Falafel ihrer kanaaitischen Ur-urur-….ur-Großmutter<br />

aus biblischen<br />

Zeiten. Nur <strong>di</strong>e politisch ganz Korrekten<br />

geben zu: Israel hat den Palästinensern<br />

nicht nur das Land und<br />

<strong>di</strong>e besten Sch<strong>im</strong>pfworte, sondern<br />

auch <strong>di</strong>e Falafel geklaut.<br />

Das Gewissen belastet <strong>di</strong>ese Einsicht<br />

jedoch nicht <strong>im</strong> Geringsten,<br />

schon gar nicht bei fortschreitendem<br />

He<strong>im</strong>weh, das bei einem guten<br />

Israeli schon <strong>im</strong> Abflugterminal des<br />

Ben-Gurion Flughafen einsetzt. Die<br />

Tel Aviver Lieblings-Falafel-Bude<br />

schwindet in mythische Fernen der<br />

kulinarischen Sehnsucht und gemeinsam<br />

mit anderen von He<strong>im</strong>at-<br />

Hunger Getriebenen wird dann<br />

<strong>di</strong>e Jagd nach dem authentischsten<br />

Falafel gestartet, <strong>di</strong>e meist mit dem<br />

Satz endet: Ba-Aretz Yoter Tov! –<br />

Zu Hause schmeckt‘s besser!


[dī.wān]

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