Hinter verschlossenen Türen Sexualität im Orient - [di.wan] Berlin
Hinter verschlossenen Türen Sexualität im Orient - [di.wan] Berlin
Hinter verschlossenen Türen Sexualität im Orient - [di.wan] Berlin
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[dī.wān] 12.2007<br />
Vom Mittleren Osten bis <strong>Berlin</strong><br />
<strong>Hinter</strong> <strong>verschlossenen</strong> <strong>Türen</strong><br />
<strong>Sexualität</strong> <strong>im</strong> <strong>Orient</strong><br />
++ ZenTralraT der ex-MuSliMe +++ PrOSTiTuTiOn in Syrien +++ STadTrundgang HebrOn ++
Impressum<br />
CVD<br />
Julia Gebert, Jannis Hagmann<br />
REDAKTION<br />
Anna Antonakis, Nushin Atmaca, Philipp Dehne, May Elmah<strong>di</strong>, Dörthe Engels,<br />
Shelley Harten, Thomas Hilleshe<strong>im</strong>, Alexander Kalbarczyk, Karin Kutter,<br />
David Moock, Anna Esther Müller, Sebastian Sons, Nora Wothe<br />
GASTAUTOR_INNEN<br />
Sakina Abushi, Nora Derbal, Felix Koch, Sel<strong>im</strong> Mawad,<br />
Katharina Mühlbeyer, Jasna Zajcek<br />
LAYOUT<br />
Manuela Gaeth<br />
KONTAKT<br />
<strong>di</strong><strong>wan</strong>berlin@yahoo.de<br />
Ein Projekt der Fachschaftsinitiative IsTurArIr der Freien Universität <strong>Berlin</strong>.<br />
Verantwortliche <strong>im</strong> Sinne des Pressegesetzes sind <strong>di</strong>e jeweiligen Autoren.<br />
SPENDENKONTO<br />
[dī.wān]<br />
Kto-Nr. 200823995<br />
BLZ 72050101<br />
Kreissparkasse Augsburg<br />
Draußen vor der Tür:<br />
<strong>Sexualität</strong> <strong>im</strong> <strong>Orient</strong><br />
Nichts wird so verschwiegen und gleichzeitig zerredet, ist unsichtbar und doch allgegenwärtig wie das<br />
Thema <strong>Sexualität</strong>. Es ist schon problema- tisch darüber zu reden – von Casablanca bis<br />
Karatschi. Darüber zu schreiben, sich fest- legen zu lassen, schwarz auf weiß, ist ein<br />
Wagnis.<br />
Der [dī.wān] geht <strong>di</strong>eses Wagnis ein und versucht sich mit <strong>di</strong>eser Ausgabe einigen<br />
Aspekten und Fragen des Komplexes zu nähern.<br />
In <strong>di</strong>esem Geiste ist auch das Titelbild ent- standen, das sich dem Thema <strong>di</strong>eses Heftes<br />
mit ästhetischem Abstand und scharfem Blick nähert: Was verschließt jemand hinter<br />
seiner Tür? Und was will ein Mensch mit niemandem außer seinen engsten<br />
Vertrauten teilen, vielleicht mit nur einer Person oder gar mit niemandem?<br />
<strong>Sexualität</strong>, Int<strong>im</strong>ität, den eigenen Körper.<br />
Der Umgang mit <strong>Sexualität</strong> ist auch <strong>im</strong> me<strong>di</strong>atisierten Zeitalter noch kontextuell<br />
geprägt. Trotz globaler Vernetzung hat sich nicht etwa weltweite Tabuisierung<br />
oder ihr Gegenteil, ein Bruch mit allen Tabus, durchgesetzt. Die Sichtweisen auf<br />
Heirat, Transsexualität, Verhütung, Prostitution oder Polygamie gehen aber<br />
auch unter Umständen schon inner- halb eines engen Personenkreises weit<br />
auseinander – und das sowohl in Eur- opa als auch in der Region des Mittleren<br />
Osten.<br />
In <strong>di</strong>ese Region, in der eine ohrenbe- täubende Tabuisierung herrscht und<br />
Verbote, <strong>di</strong>e vielen Menschen den Zu- gang zu ihrer eigenen <strong>Sexualität</strong> versperren,<br />
will der vierte [dī.wān] ein paar Einblicke geben. Wissend, dass wir keinen exklusiven<br />
Schlüssel in der Hand halten, wollen wir dennoch versuchen, <strong>di</strong>ese Tür einen Spalt weit aufzustoßen.<br />
12.2007 [dī.wān] 3
4 [dī.wān] 12.2007 12.2007 [dī.wān] 5<br />
POLITIK<br />
6 Scharia, was‘n das?<br />
Die Albander verbindet vor<br />
allem eines: Säkularismus.<br />
von Julia Gebert<br />
8 Verbaler oder<br />
militärischer Krieg?<br />
Warum es unwahrscheinlich<br />
ist, dass <strong>di</strong>e USA den Iran<br />
angreifen werden.<br />
von Sel<strong>im</strong> Mawad<br />
10 Silence Please,<br />
Occupation in Progress<br />
Mit Stadtrundgängen durch<br />
Hebron versuchen ehemalige<br />
israelische Soldaten, das<br />
Schweigen über <strong>di</strong>e Siedlungspolitik<br />
zu brechen<br />
von Sakina Abushi<br />
10 24<br />
42 48<br />
GESELLSCHAFT<br />
12 Araber – Jude – Israeli<br />
Israels Schwarze Panther oder<br />
eine kurze Geschichte der<br />
Mizrah<strong>im</strong> in Israel<br />
von Anna Esther Müller<br />
14 „Wir haben abgeschworen“<br />
2007 wurde der Zentralrat der<br />
Ex-Musl<strong>im</strong>e gegründet.<br />
von Dörthe Engels<br />
17 Die Idylle über‘m Fernseher<br />
Die Lebensbe<strong>di</strong>ngungen von<br />
Beduinen <strong>im</strong> israelischen<br />
Negev<br />
von Shelley Harten<br />
19 Nicht dabei statt mittendrin<br />
Bisher kickte nur ein türkischstämmiger<br />
Spieler für <strong>di</strong>e<br />
DFB-Elf.<br />
von Sebastian Sons<br />
21 30. <strong>Orient</strong>alistentag 2007<br />
<strong>Orient</strong>alistik <strong>im</strong> 21. Jahrhundert<br />
– Welche Vergangenheit?<br />
Welche Zukunft?<br />
von Nora Derbal<br />
SPEZIAL<br />
24 Der Tanz der traurigen Gazellen<br />
Prostitution als Broterwerb<br />
minderjähriger irakischer<br />
Flüchtlingsmädchen<br />
von Jasna Zajcek<br />
28 Die Beschneidung der Weiblichkeit<br />
Vor einem Jahr sprachen sich<br />
namhafte Islamgelehrte gegen<br />
<strong>di</strong>e Mädchenbeschneidung aus.<br />
von Dörthe Engels<br />
31 Allah ist nicht männlich<br />
„Islamischer Feminismus – eine<br />
internationale Frauenbewegung<br />
kämpft mit Gottes Hilfe für <strong>di</strong>e<br />
Rechte musl<strong>im</strong>ischer Frauen“<br />
von Katharina Mühlbeyer<br />
33 Regeln für jede Lebenslage?<br />
<strong>Sexualität</strong> in Koran und Sunna,<br />
<strong>im</strong> Diesseits und Jenseits<br />
von Anna Antonakis<br />
35 Let‘s talk about sex<br />
Interview mit der Sexologin<br />
Heba Qutb<br />
von Alexander Kalbarczyk<br />
und Nora Wothe<br />
BERLIN<br />
38 Gegner der Islamisten?<br />
Die neue Mega-Moschee in<br />
Kreuzberg – Wo liegen <strong>di</strong>e<br />
Wurzeln des Trägervereins?<br />
von Julia Gebert<br />
40 Anlagebetrug in Gottes Namen<br />
Wie sogenannte Islam- Hol<strong>di</strong>ngs<br />
gläubige Musl<strong>im</strong>e um mehrere<br />
Milliarden Euro betrügen.<br />
von Karin Kutter<br />
42 Am Tag der Deutschen Einheit...<br />
Eine Fotostrecke aus <strong>Berlin</strong><br />
von Anna Antonakis<br />
und May Elmah<strong>di</strong><br />
INTERVIEW<br />
46 „Die Araber können es sich nicht<br />
leisten, blind zu sein“<br />
GLOSSE<br />
Interview mit Aktam Sul<strong>im</strong>an?<br />
von Julia Gebert<br />
51 Der Falafel-Klau<br />
Unentdeckte Tiefen israelischer<br />
He<strong>im</strong>atgefühle<br />
von Shelley Harten<br />
HÖRBAR<br />
48 Musik mit vielen <strong>Hinter</strong>gründen<br />
Dhafer Youssefs Album<br />
DIVINE SHADOWS<br />
von Felix Koch<br />
LESBAR<br />
49 Wie wär‘s mit einem<br />
neuen Schulbuch?<br />
Ilan Pappe: Die ethnische<br />
Säuberung Palästinas<br />
von Philipp Dehne
6 [dī.wān] 12.2007 12.2007 [dī.wān] 7<br />
Scharia, was is’n das?<br />
Post-kommunistischer Charme, Mittelmeerkl<strong>im</strong>a und Säkularismus – in<br />
Albanien ist Religion unwichtig geworden. Der Anteil von 90% Musl<strong>im</strong>en<br />
an der Bevölkerung existiert nur auf dem Papier<br />
von Julia Gebert<br />
Der Billigflieger Germanwings<br />
hat Albanien 2006 in sein Flugnetz<br />
aufgenommen. Seitdem fliegt <strong>di</strong>e Linie<br />
mit der gelb-violetten Werbung<br />
einmal in der Woche <strong>di</strong>e Hauptstadt<br />
Tirana an. So manch ein Passant, der<br />
an der flächendeckenden Werbung<br />
der Billigfluglinie vorbeigeht, mag<br />
sich fragen, ob da vor Germanwings<br />
überhaupt irgendein Flugzeug gelandet<br />
ist. Aber halt – was wissen<br />
wir eigentlich über Albanien?<br />
Wer den Kosovo-Krieg assoziiert<br />
ist ebenso auf dem Holzweg wie<br />
jemand, der sich ein Land vorstellt,<br />
dessen Straßen von Bärtigen oder<br />
von bewaffneten Milizen gesäumt<br />
POLITIK<br />
sind. Diese Erwartungen gehen an<br />
der Wirklichkeit vorbei, da sich<br />
ja Gott sei Dank „alle kr<strong>im</strong>inellen<br />
Albaner nach Westeuropa abgesetzt<br />
haben“, wie Enklid Milaj, ein<br />
albanisch-stämmiger Anwalt, der in<br />
Mailand arbeitet, erklärt. Das gibt<br />
zu denken.<br />
Minirock statt Kopftuch<br />
Wenn man Albanien besucht,<br />
findet man <strong>di</strong>esen Eindruck aller<strong>di</strong>ngs<br />
bestätigt – <strong>di</strong>e Atmosphäre<br />
ist entspannt, friedlich und erinnert<br />
eher an Italien als an ein mehrheitlich<br />
musl<strong>im</strong>isches Land an der<br />
Schwelle zum <strong>Orient</strong>. Das Land<br />
mit seinen 70-90% Musl<strong>im</strong>en lässt<br />
sich nicht einmal äußerlich als ein<br />
solches erkennen, hier und da stößt<br />
man auf eine Moschee, doch <strong>di</strong>e<br />
meisten sind verschlossen oder verlassen<br />
– <strong>im</strong> <strong>Orient</strong> nahezu ein Ding<br />
der Unmöglichkeit. Dazu kommt<br />
ein Straßenbild, in dem Mini-Röcke<br />
und Alkohol-Werbung dominieren<br />
und man nur einmal<br />
am Tag ein Kopftuch<br />
sieht.<br />
Äußerliche Klischees,<br />
aber an irgendetwas<br />
muss man sich ja orientieren,<br />
bis man eine Moschee findet,<br />
in der es mehr Informationen über<br />
<strong>di</strong>e religiösen Gefühle der Albaner<br />
gibt. Nach fünf vergeblichen Versuchen<br />
in zwei Tagen ist ein Mausole-<br />
um eines Sufi-Ordens <strong>di</strong>e erste islamische<br />
Stätte, <strong>di</strong>e geöffnet ist. Wer<br />
sich kleidungsmäßig um ein angemessenes<br />
Erscheinungsbild für den<br />
Besuch eines islamischen heiligen<br />
Ortes zurechtmachen will, wird zurückgehalten:<br />
„Lassen Sie doch, wir<br />
sind da nicht so“, erklärt eine Frau<br />
auf Englisch, <strong>di</strong>e, am<br />
Eingang sitzend, ein<br />
tief ausgeschnittenes<br />
T-Shirt trägt, mit ein paar Männern<br />
plaudert und türkischen Kaffee<br />
schlürft. Also gut, einfach rein, mit<br />
Schuhen und Tank-Top.<br />
Koran-Lektüre scheint in Albanien<br />
nicht auf der Tagesordnung<br />
zu stehen. Auch Boris hat sein<br />
albanisch-arabisches Exemplar selten<br />
aufgeschlagen. In der Moschee<br />
war er nur einmal in seinem Leben.<br />
„Was soll ich da auch?“ fragt er. Die<br />
nächste Erdbeben-Frage sofort:<br />
„Ach, was ich <strong>im</strong>mer schon mal<br />
wissen wollte, was ist das eigentlich,<br />
<strong>di</strong>ese Scharia?“<br />
Stell Dir vor, es baut einer eine<br />
Moschee, und keiner geht hin<br />
Willkommen in Albanien, dem<br />
säkularsten musl<strong>im</strong>ischen Land, in<br />
dem Sau<strong>di</strong>-Arabien und Iran vergeblich<br />
versuchen, mit dem Bau von<br />
Moscheen Meinungsbildung zu betreiben<br />
und Anhänger für ihre religi-<br />
ösen Doktrinen zu gewinnen. Auch<br />
religiös motiviertes Sponsoring verfängt<br />
nicht, denn <strong>di</strong>e Albaner haben<br />
<strong>im</strong> Laufe der letzten fünf Jahre ein<br />
fünfprozentiges Wirtschaftswachstum<br />
erreicht, zudem fließen Devisen<br />
von in Westeuropa lebenden<br />
Familienmitgliedern ins Land. Ja,<br />
von jenen, <strong>di</strong>e wahrscheinlich nicht<br />
<strong>im</strong>mer auf legale Weise an ihr Geld<br />
kommen, in dem sie zum Beispiel<br />
das Hamburger Rotlichtviertel kontrollieren<br />
und in Nor<strong>di</strong>talien der<br />
Mafia Konkurrenz machen.<br />
Aber eben in Westeuropa, nicht<br />
dahe<strong>im</strong>. Dort bezaubern weiße<br />
Strände und türkises Meer, noch<br />
fehlt sogar der Neckermann-Sonnenschirm.<br />
Der große Tourismus-<br />
Die Albaner verbindet vor allem<br />
eins: Säkularismus<br />
Boom wird erst erwartet, wenn<br />
Kroatien einmal überlaufen ist. Dies<br />
könnte <strong>im</strong>merhin willkommene Nebenwirkungen<br />
für <strong>di</strong>e Infrastruktur<br />
in Albanien haben, <strong>di</strong>e bislang noch<br />
wenig touristenfreundlich ist: Busse<br />
des öffentlichen Nahverkehrs sind<br />
niemals beschriftet und ihre Haltestellen<br />
unauffindbar, zudem brauchen<br />
sie aufgrund der mit Schlaglöchern<br />
übersäten Straße für zehn<br />
Kilometer eine halbe Stunde. Wäre<br />
Albanien EU-Kan<strong>di</strong>dat, ließe sich<br />
durch Zuschüsse aus Brüssel, das<br />
tra<strong>di</strong>tionell <strong>di</strong>e ersten Gelder für <strong>di</strong>e<br />
POLITIK<br />
gemeinsame, EU-weite Infrastruktur<br />
bewilligt, auf bal<strong>di</strong>ge Besserung<br />
hoffen. Doch Verhandlungen werden<br />
mit Zagreb geführt, nicht mit<br />
Tirana.<br />
Für <strong>di</strong>e Al baner steht vielmehr<br />
<strong>di</strong>e erhoffte Autonomie des Kosovo<br />
ganz oben auf der Prioritätenliste.<br />
Die religiösen Spannungen zwischen<br />
Kosovaren und Serben werden<br />
verstanden, aber nicht auf Albanien<br />
übertragen. „Das ist ja ganz<br />
anders hier, wir haben kein Problem<br />
als Christen“, sagt Enklid, selbst<br />
Katholik. Auch wenn er sich ein<br />
bisschen über <strong>di</strong>e neue Moschee in<br />
seinem He<strong>im</strong>atdorf ärgert, <strong>di</strong>e mit<br />
ihrem Minarett den Kirchturm um<br />
einen halben Meter überragt. Den-<br />
noch:Drangsalierung und<br />
Diskr<strong>im</strong>inierung<br />
religiöser<br />
Minderheiten lässt sich zumindest<br />
in der jüngeren Geschichte Albaniens<br />
nicht festmachen. Der Diktator<br />
Hoxa, der Albanien in eine internationale<br />
Isolation ähnlich der des<br />
Chinas von Mao Tse Tung geführt<br />
hatte, hat seinen Landsleuten Spiritualität<br />
und Religion nachhaltig<br />
ausgetrieben.<br />
So stehen dort heute Gotteshäuser<br />
beider Religionen nebeneinander<br />
– und sind beide leer.<br />
Wahrscheinlich, weil <strong>di</strong>e Albaner<br />
vor allem eines verbindet: Nämlich<br />
Säkularismus.<br />
(rechts)_ Im Stadtbild der Hauptstadt Tirana dominieren kommunistische<br />
Architektur und me<strong>di</strong>terranes Lebensgefühl<br />
(links)_ Skanderbeg: Albanischer Fürst, der sein Land <strong>im</strong> 15. Jahrhundert<br />
gegen <strong>di</strong>e Osmanen vertei<strong>di</strong>gte – erst nach seinem Tod fiel Albanien<br />
dem Osmanischen Reich zu
8 [dī.wān] 12.2007 POLITIK<br />
POLITIK<br />
12.2007 [dī.wān] 9<br />
Verbaler oder militärischer Krieg?<br />
Trotz aller Rhetorik: Es gibt viele Gründe, warum es unwahrscheinlich ist,<br />
dass <strong>di</strong>e USA dem Iran den Krieg erklären werden<br />
Schon seit Jahren werden ein<br />
möglicher amerikanischer Militärschlag<br />
gegen Iran und <strong>di</strong>e Konsequenzen<br />
für den Nahen Osten und<br />
<strong>di</strong>e amerikanische Außenpolitik in<br />
der Region <strong>di</strong>skutiert. Dabei werden<br />
viele Fragen aufgeworfen und<br />
ganz unterschiedlich beantwortet:<br />
Kann Amerika Iran angreifen und<br />
sich damit einmal mehr der Frage<br />
„Warum hassen sie uns?“ aussetzen?<br />
Sind <strong>di</strong>e USA in der Lage, ihre arabischen<br />
Alliierten zu halten, ohne<br />
<strong>di</strong>e Bevölkerungen gegen deren<br />
autokratische Reg<strong>im</strong>e aufzubringen?<br />
Kann Amerika<br />
sich noch ein militärisches<br />
Abenteuer <strong>im</strong><br />
Nahen Osten leisten,<br />
solange <strong>di</strong>e Missionen<br />
in Afghanistan und Irak unvollendet<br />
sind? Wollen <strong>di</strong>e USA das<br />
Risiko einer erhöhten Gefährdung<br />
Israels in Kauf nehmen? Haben <strong>di</strong>e<br />
amerikanische Regierung und ihre<br />
europäischen Partner <strong>di</strong>e Folgen<br />
einer solchen militärischen Aktion<br />
für ihre eigenen ökonomischen<br />
Interessen in der Region bedacht?<br />
Und könnte ein gespaltenes Europa<br />
es sich leisten, noch mehr aufgebrachte<br />
Musl<strong>im</strong>e in der Mitte ihrer<br />
Gesellschaften zu haben?<br />
Es spricht einiges dafür, dass es<br />
hier gar nicht mehr um einen Militärschlag<br />
geht. Obwohl sie offizielle<br />
Gegenspieler sind, ist <strong>di</strong>e Ähnlichkeit<br />
zwischen George W. Bush<br />
und dem iranischen Präsidenten<br />
Mahmud Ahma<strong>di</strong>nejad verblüffend.<br />
von Sel<strong>im</strong> Mawad<br />
Jeder für sich ist ein Repräsentant<br />
der konservativen Strömung seines<br />
Landes und führt einen verbalen<br />
Krieg gegen seinen Amtskollegen.<br />
Insofern ist es in gewisser Hinsicht<br />
nicht übertrieben zu sagen: Bush<br />
und Ahma<strong>di</strong>nejad brauchen einander,<br />
beide mobilisieren anhand des<br />
Feindbildes <strong>di</strong>e eigene Bevölkerung<br />
für außenpolitische Projekte und<br />
sichern sich damit innenpolitische<br />
Unterstützung. Dieser Rückhalt<br />
war jedoch keineswegs von Anfang<br />
an gegeben: Bush erlebte zwei sehr<br />
knappe Wahlsiege und auch Ahma-<br />
Bush und Ahma<strong>di</strong>nejad:<br />
Ein Diplomatie-Tandem<br />
<strong>di</strong>nejad verfügte nicht <strong>im</strong>mer über<br />
so großen Rückhalt in der eigenen<br />
Gesellschaft wie heute. Erst <strong>di</strong>e<br />
Androhung eines Militärschlags<br />
machte es ihm möglich, das iranische<br />
Atomprojekt als ein „musl<strong>im</strong>isches<br />
Projekt“ und als „nationale<br />
Vertei<strong>di</strong>gung“ darzustellen und so<br />
<strong>di</strong>e iranische Bevölkerung hinter<br />
sich zu bringen. Ein möglicher Angriff<br />
auf den Iran könnte <strong>di</strong>e Bevölkerung<br />
noch stärker mobilisieren<br />
und auch <strong>di</strong>e letzten liberalen und<br />
pro-westlichen St<strong>im</strong>men <strong>im</strong> Iran<br />
zum Schweigen bringen. Ohne <strong>di</strong>ese<br />
Basis würde es in Zukunft fast<br />
unmöglich, <strong>di</strong>e amerikanisch-iranischen<br />
Beziehungen zu reparieren.<br />
Konservative Kräfte <strong>im</strong> Iran sind<br />
von <strong>di</strong>eser US-Außenpolitik erst<br />
Recht gestärkt worden. Die Mullahs<br />
haben ohnehin auf eine iranische<br />
Führungsrolle unter den Schiiten<br />
der Region mit der Wahl Ahma<strong>di</strong>nejads<br />
hingearbeitet, was durch<br />
<strong>di</strong>e zunehmende Destabilisierung<br />
des Irak extrem befördert wurde.<br />
Und <strong>di</strong>e moralische Unterstützung<br />
für den Iran würde <strong>di</strong>e Grenzen der<br />
schiitischen Musl<strong>im</strong>e <strong>im</strong> Falle eines<br />
Militärschlags sicher überschreiten.<br />
Die Rolle der<br />
arabischen Nachbarn<br />
Selbst Sau<strong>di</strong>-Arabien als starke<br />
sunnitische Regionalmacht und<br />
politökonomischer Konkurrent des<br />
Iran würde einem Militärschlag<br />
wahrscheinlich nicht zust<strong>im</strong>men,<br />
da es <strong>di</strong>e möglichen Konsequenzen<br />
eines destabilisierten Irans sowie<br />
<strong>di</strong>e Zunahme von Angriffen bewaffneter<br />
Gruppen auf amerikanische<br />
Einrichtungen oder auf <strong>di</strong>e Ölindustrie<br />
in Sau<strong>di</strong>-Arabien befürchten<br />
müsste.<br />
Was das Dreieck Iran-Hizbollah-Syrien<br />
angeht, so ist es wahrscheinlich,<br />
dass <strong>im</strong> Zuge eines Angriffs<br />
auf Iran <strong>di</strong>e anti-Israel Front<br />
in Syrien und Libanon reaktiviert<br />
würde – ein fragwür<strong>di</strong>ges Risiko<br />
für den amerikanischen Alliierten.<br />
Dass speziell Syrien nicht aus <strong>di</strong>eser<br />
Dreier-Allianz gelöst wird, ist<br />
offensichtlich: Seit dem 11. September<br />
2001 ist in der amerikanischen<br />
Politik nichts Wohlwollendes<br />
gegenüber Syrien zu finden, was das<br />
Land zu pro-amerikanischer Politik<br />
bewegen könnte – und das trotz der<br />
deutlichen Kooperationsangebote<br />
des syrischen Präsidenten Al-Assad.<br />
Die USA haben <strong>di</strong>e von Syrien angebotene<br />
Kooperation <strong>im</strong> „Kampf gegen<br />
den Terror“ ausgeschlagen und<br />
dem Land weder <strong>im</strong> Irak noch <strong>im</strong><br />
Wer spricht für <strong>di</strong>e EU?<br />
Libanon eine geostrategische Rolle<br />
zugedacht.<br />
Ein anderer Akteur, der <strong>im</strong>mer<br />
wieder mit uneinheitlichem<br />
außenpolitischem Auftreten <strong>im</strong><br />
Nahen Osten besticht, ist <strong>di</strong>e Europäische<br />
Union. Es ist fraglich, ob<br />
der französische Premier Nicolas<br />
Sarkozy wirklich für <strong>di</strong>e gesamte<br />
EU steht, wenn er vor der UN-Generalversammlung<br />
von einer „Bedrohung<br />
für <strong>di</strong>e Welt“ spricht und<br />
damit das Nuklearprogramm des<br />
Iran meint. Schon zeigte sich <strong>di</strong>e<br />
Gespaltenheit der EU, als der italienische<br />
Ministerpräsident Romano<br />
Pro<strong>di</strong> auf <strong>di</strong>e Äußerungen Sarkozys<br />
schockiert reagierte und erklärte,<br />
dass <strong>di</strong>ese Position nicht von allen<br />
europäischen Staaten geteilt würde.<br />
Es wird abzuwarten sein, wie viele<br />
weitere Länder sich <strong>di</strong>eser Position<br />
anschließen, denn: Ein Kriegsgang<br />
mit einer uneinigen EU gegen den<br />
Iran ist noch weitaus heikler<br />
als Bushs „Koalition der<br />
Willigen“, <strong>di</strong>e in den Irak zog.<br />
Wenn man bedenkt, was bei<br />
einem Angriff auf den Iran auf dem<br />
Spiel steht, kann man nur hoffen,<br />
dass Bush es bei einem verbalen<br />
Krieg belässt und den Konflikt nicht<br />
auf militärischer Ebene fortführt.<br />
Aus dem Englischen<br />
von Julia Gebert<br />
Sel<strong>im</strong> Mawad ist Leiter der Nicht-Regierungsorganisation<br />
„Sustainable Democracy Center“ in Beirut. Er war er als<br />
außenpolitischer Berater des „Institute of World Affairs“<br />
in Washington D.C. tätig.<br />
http://sdclebanon.org/
10 [dī.wān] 12.2007 12.2007 [dī.wān] 11<br />
Der Bazar in der Altstadt Hebrons –<br />
Aus Sicherheitsgründen geschlossen<br />
Das Kaffeefahrtgefühl, das sich<br />
auf den ersten Kilometern unserer<br />
Reise eingestellt hat, verflüchtigt<br />
sich abrupt, als unser Bus in Hebron<br />
zum Stehen kommt. Eine bunt<br />
zusammengewürfelte Gruppe –<br />
hauptsächlich Israelis und internationale<br />
Besucher – steigt zögerlich<br />
aus dem Bus und beginnt unter der<br />
Führung von Yoav langsam ihren<br />
Rundgang. Von Straße zu Straße<br />
steigt <strong>di</strong>e Anspannung, <strong>di</strong>e Gruppe<br />
rückt näher zusammen. Yoav ermahnt<br />
uns, nicht zurückzubleiben.<br />
Wir besichtigen Hebron, <strong>di</strong>e<br />
zweitgrößte Stadt in der Westbank<br />
mit einer palästinensischen Bevölkerungszahl<br />
von 170.000 Menschen.<br />
Ungefähr dreiviertel der Fläche Hebrons,<br />
das sogenannte „H1“, befindet<br />
sich zumindest formal unter pa-<br />
POLITIK<br />
„Silence Please,<br />
Occupation in Progress“<br />
Die israelische Organisation Breaking the Silence möchte das Schweigen<br />
brechen und bietet ganz spezielle Stadtrundgänge durch Hebron an<br />
von Sakina Abushi<br />
lästinensischer Kontrolle. Man sagt,<br />
das Leben dort sei erträglich. Doch<br />
heute werden wir uns in „H2“ bewegen,<br />
dem israelisch kontrollierten<br />
Teil, wo unter 35.000 Palästinensern<br />
geschätzte 600 bis 800 israelische<br />
Siedler leben. Ebenfalls präsent sind<br />
etwa 1500 israelische Soldaten, <strong>di</strong>e<br />
<strong>di</strong>e Siedler vor Übergriffen schützen<br />
sollen. Hebron ist, bis auf das 1967<br />
von Israel annektierte Ostjerusalem,<br />
<strong>di</strong>e einzige palästinensische Stadt,<br />
in deren unmittelbarem Kern sich<br />
israelische Siedlungen befinden.<br />
Wie <strong>di</strong>e anderen Gründungsmitglieder<br />
von Breaking the Silence hat<br />
auch Yoav während der zweiten Intifada<br />
als Soldat in Hebron ge<strong>di</strong>ent.<br />
Um über <strong>di</strong>ese Zeit zu berichten,<br />
initiierte er mit anderen jungen Soldaten<br />
für ihre Familien und Freunde<br />
eine Fotoausstellung, <strong>di</strong>e den Alltag<br />
der Besatzer und Besetzten dokumentiert.<br />
Die Ausstellung war ein<br />
enormer Erfolg und <strong>di</strong>e Gruppe begann,<br />
hunderte ehemaliger Soldaten<br />
nach ihren Erfahrungen in den<br />
besetzten Gebieten zu befragen und<br />
<strong>di</strong>e Ergebnisse zu publizieren.<br />
Die Stadtführungen stellen ei-<br />
Kämpfer der Zweiten Intifada informieren über<br />
den Alltag in den besetzten Gebieten<br />
nen Teil der Arbeit der Organisation<br />
dar. Wir beginnen <strong>im</strong> Kern der<br />
Altstadt, an der Abraham-Moschee<br />
bzw. der Höhle von Machpela, einer<br />
der wichtigsten heiligen Stätten aller<br />
drei abrahamitischen Religionen<br />
– und somit für Juden als auch für<br />
Musl<strong>im</strong>e und Christen bedeutsam.<br />
Vom Handelszentrum<br />
zur Geisterstadt<br />
Wir bewegen uns weiter in<br />
Richtung des alten Marktviertels.<br />
Viele Teilnehmer der Führung sind<br />
irritiert von der Sterilität der Straßen.<br />
Wir befinden uns an einem<br />
der touristisch interessantesten<br />
Punkte Palästinas und inmitten des<br />
früheren Handelszentrums der gesamten<br />
südlichen Westbank. Doch<br />
abgesehen von den israelischen Soldaten<br />
sind nur selten Menschen auf<br />
den Straßen zu sehen. <strong>Türen</strong> und<br />
Fenster sind geschlossen; der Stadtkern<br />
gleicht einer Geisterstadt.<br />
Yoav erklärt: „Wir befinden uns in<br />
der Innenstadt von H2, dem seit<br />
1967 israelisch kontrollierten Teil<br />
Hebrons. In unmittelbarer Nähe<br />
der vier israelischen Siedlungen, <strong>di</strong>e<br />
zumeist nur aus einzelnen Häusern<br />
oder Häuserblocks bestehen, und<br />
in denen insgesamt einige hundert<br />
Siedler leben, verfolgt <strong>di</strong>e Armee<br />
ihre sogenannte ‚Trennungspolitik‘.<br />
Rund achtzig Prozent der Straßen<br />
dürfen von Palästinensern nicht<br />
befahren, ein Großteil auch von<br />
Fußgängern nicht genutzt werden.<br />
Rund 1700 Geschäfte wurden hier<br />
geschlossen. Daher seht ihr keine<br />
Menschen auf den Straßen.“<br />
Wir folgen Yoav eine der Geisterstraßen<br />
hoch. „Das ist der einzige<br />
Straßenteil, auf dem Siedler<br />
und Palästinenser gleichermaßen<br />
laufen dürfen. Er ist ungefähr hundert<br />
Meter lang.“ Plötzlich biegen<br />
wir um eine Ecke und befinden uns<br />
<strong>im</strong> Chaos: Zerstörte Gebäude, eingeschlagene<br />
Fenster. In der Mitte<br />
eines kleinen Platzes ein Haufen<br />
verkohlter Gegenstände, Möbel,<br />
Maschinen. „Ihr befindet euch auf<br />
dem Fleischmarkt von Hebron. Vor<br />
ein paar Jahren von der Armee ge-<br />
POLITIK<br />
schlossen, in der Folge langsam von<br />
den Siedlern zerstört.“<br />
Was bewegt jemanden dazu, in<br />
<strong>di</strong>esem Teil der Stadt wohnen zu<br />
bleiben? Wieso ziehen <strong>di</strong>e Menschen<br />
nicht fort, allein schon ihrer<br />
Kinder wegen? „Im anderen Teil der<br />
Stadt herrschen achtzig Prozent Arbeitslosigkeit.<br />
Die palästinensische<br />
Behörde zahlt den Menschen, <strong>di</strong>e<br />
hier bleiben, Miete, Strom, Gas,<br />
alles. Jede Woche liefert das Rote<br />
Kreuz hier Nahrungsmittelrationen.<br />
Die Anwohner hier haben<br />
keine Wahl, sonst wären sie schon<br />
lange weg.“<br />
Unsere letzte Station führt uns<br />
über einen steinigen Weg in das<br />
Haus von Imad. Seit einiger Zeit<br />
sind Yoav und Imad Freunde und<br />
regelmäßig führt Yoav fremde Menschen<br />
in Imads Wohnz<strong>im</strong>mer, um<br />
ihnen das Gespräch mit einem der<br />
palästinensischen Einwohner Hebrons<br />
zu ermöglichen. Ein großer<br />
Mann mit festem Händedruck empfängt<br />
uns und beginnt zu erzählen.<br />
Von den nächtlichen Einbrüchen<br />
der Siedler, bei denen sein Haus<br />
verwüstet und seine Frau verletzt<br />
wurde. Von Ausgangssperren, <strong>di</strong>e<br />
vom Militär exklusiv für Palästinenser<br />
verhängt werden, oftmals<br />
anlässlich jü<strong>di</strong>scher Feierlichkeiten<br />
in den Straßen Hebrons. Und dem<br />
monatelangen Ausharren in den eigenen<br />
vier Wänden während der Intifada.<br />
Von seinen drei Kindern, <strong>di</strong>e<br />
unter Schutz von internationalen<br />
Freiwilligen zur Schule gehen, weil<br />
sie regelmäßig von Siedlerkindern<br />
angegriffen werden. Ein Amateurvideo<br />
wird gezeigt, in dem Imads<br />
Töchter zu sehen sind, wie sie über<br />
den Friedhof von der Schule nach<br />
Hause gehen, denn <strong>di</strong>e Benutzung<br />
der nahe gelegenen Straße ist ihnen<br />
untersagt. Plötzlich kommen weitere<br />
Kinder, zehn oder zwölf Jahre<br />
alt, <strong>di</strong>e <strong>di</strong>e Mädchen besch<strong>im</strong>pfen<br />
und schubsen, treten und schlagen.<br />
Ein israelischer Soldat läuft mit,<br />
greift aber nicht ein. „Wo sind denn<br />
<strong>di</strong>e Eltern <strong>di</strong>eser Kinder?” fragt eine<br />
ältere Dame empört. „Schauen Sie<br />
genau hin. Die Eltern sind <strong>im</strong> Bild<br />
zu sehen. Sie stehen abseits und geben<br />
ihren Kindern Anweisungen“,<br />
antwortet Yoav. „In Israel kann ein<br />
Kind unter zwölf Jahren nicht strafrechtlich<br />
belangt werden.“<br />
In Imads Garten setze ich mich<br />
unter einen Weinbaum. Sein Stamm<br />
ist wie bei den anderen Bäumen des<br />
Gartens durchgeschnitten. Seine<br />
Krone hängt in einem Metallgestell,<br />
noch ranken sich seine Blätter grün<br />
und leben<strong>di</strong>g um das Haus. „Wer<br />
Auch Gewalt kommt in täglichen Rationen<br />
Ein von einem Siedler durchsägter Weinbaum<br />
hat das getan?” frage ich das kleine<br />
Mädchen, das in den Ranken herumklettert,<br />
und weiß doch schon<br />
<strong>di</strong>e Antwort. Die Kleine zuckt mit<br />
den Schultern: „Siedler.”<br />
Als ich zurück zu der Führung<br />
stoße, höre ich <strong>di</strong>e letzte Frage, <strong>di</strong>e<br />
an Imad gerichtet wird: „Warum<br />
kooperieren Sie mit den jungen Israelis?<br />
Warum beteiligen Sie sich an<br />
Yoavs Arbeit?” Einen Moment denkt<br />
der Mann nach, dann antwortet<br />
er bedächtig: „Irgend<strong>wan</strong>n haben<br />
meine Kinder mich gefragt: ‚Papa,<br />
warum schlagen uns <strong>di</strong>e jü<strong>di</strong>schen<br />
Kinder? Warum spucken sie uns ins<br />
Gesicht?’ Ich wollte ihnen erklären<br />
können, dass jede Gesellschaft zwei<br />
Seiten hat, eine gute und eine böse.<br />
Seit Yoav und seine Freunde uns<br />
hier besuchen kommen, kann ich<br />
ihnen das beweisen.“
12 [dī.wān] 12.2007 GESELLSCHAFT<br />
GESELLSCHAFT<br />
12.2007 [dī.wān] 13<br />
Araber – Jude – Israeli<br />
Israels Schwarze Panther oder eine kurze Geschichte der Mizrah<strong>im</strong> in Israel<br />
Ruven Abergjil, Gründer der Schwarzen Panther 2007 in Jerusalem<br />
Ruven Abergjil redet schnell,<br />
hastig und vor allem viel.<br />
Sein unbän<strong>di</strong>ger Geist spiegelt sich<br />
in seinem Gesicht wider. Ein kleiner,<br />
agiler Mann, dessen Streitbarkeit<br />
schon vielen Konflikten einen<br />
Rahmen bot: mit sich selbst, dem<br />
System, seinen Mitmenschen. Das<br />
Wort Rassismus, Hebräisch gazanut,<br />
ist ein konstanter Bestandteil<br />
seiner Sätze, wenn man mit ihm<br />
über Politik in Israel generell und<br />
<strong>di</strong>e Behandlung der Mizrah<strong>im</strong> speziell<br />
spricht.<br />
Ruven und seine Familie verließen<br />
1947 Marokko. Knapp drei Jahre<br />
verbrachte der damals Fünf- bis<br />
Siebenjährige in Transitionslagern<br />
in Südeuropa. Viele der Schwachen<br />
und Kranken seien zurückgelassen<br />
bzw. ausselektiert worden oder<br />
seien freiwillig nicht mitgekommen,<br />
erzählt er. An Probleme in Marokko<br />
können er oder seine Familie sich<br />
nicht erinnern, aber an Probleme in<br />
Israel dafür um so mehr.<br />
Kulturelle<br />
Unterdrückung<br />
Wenn er heute über <strong>di</strong>ese<br />
spricht, hat er <strong>im</strong>mer noch <strong>di</strong>esen<br />
kämpferischen Unterton, der einen<br />
ahnen lässt, was für ein wütender<br />
junger Mann Ruven gewesen sein<br />
muss, als er 1971 mit einer Handvoll<br />
anderer junger Männer aus<br />
Musrara, damals einem Jerusalemer<br />
Stadtteil für Mizrah<strong>im</strong>, <strong>di</strong>e Schwarzen<br />
Panther Israels gründete, Ha-<br />
Panter<strong>im</strong> HaShachor<strong>im</strong>. Sie und<br />
ihre bis zu 5000 Mitdemonstranten<br />
konnten sich mehr mit dem „Amerikanischen<br />
Alptraum“ von Malcom<br />
X identifizieren als mit dem Traum<br />
von der „Schweiz <strong>im</strong> Mittleren Osten“<br />
von Theodor Herzl.<br />
von Anna Esther Müller<br />
„...vielleicht sind das nicht <strong>di</strong>e Juden, von denen wir<br />
uns wünschen, dass sie herkommen, aber wir können<br />
ihnen kaum sagen nicht zu kommen...“<br />
Aus: The Zionist Executive, 5 June 1949. In: Tom Segev, “The First Israelis“<br />
Ganz spontan wurde damals<br />
sein Ein-Z<strong>im</strong>mer Haus mit seiner<br />
12-köpfigen Familie darin mit der<br />
charakterisierenden schwarzen<br />
Faust neben den Worten „HaPanter<strong>im</strong><br />
HaShachor<strong>im</strong>“ besprüht und<br />
zum Hauptquartier der jungen Bewegung<br />
gemacht. Eine der Haupterrungenschaften<br />
der Schwarzen<br />
Panther war, das Thema der Unterdrückung<br />
der Mizrah<strong>im</strong> in den<br />
formellen israelischen Diskurs gebracht<br />
und <strong>di</strong>e kulturelle Anerkennung<br />
der „orientalischen Juden“ erreicht<br />
zu haben.<br />
Der Vater des Zionismus, The-<br />
odor Herzl, hatte hingegen seinen<br />
Traum von Israel als einem „europäischen<br />
Bollwerk gegen Asien,<br />
einem Außenposten der Zivilisation<br />
<strong>im</strong> Gegensatz zum Barbarismus“<br />
beschrieben. Im Rahmen eurozentristischen<br />
Gedankenguts wurden<br />
nicht-europäische Kulturen und<br />
deren Menschen als barbarisch,<br />
unmenschlich, unzivilisiert, dumm<br />
und rückstän<strong>di</strong>g stigmatisiert. Die<br />
Mizrah<strong>im</strong> sollten durch „Umerziehung<br />
den <strong>Orient</strong>alen“ – und somit<br />
mehrheitlich den Araber – in sich<br />
verdrängen und okzidentale Israelis<br />
werden. So <strong>di</strong>e Vorstellung. Araber<br />
waren von nun an <strong>di</strong>e Feinde –<br />
und man kann ja nicht beides sein,<br />
Freund und Feind. Viele Mizrah<strong>im</strong><br />
der ersten Generation durchlebten<br />
einen Identitätskonflikt. Wie jemanden<br />
hassen, der man ja auch<br />
selbst ist?<br />
Mit dem Oktoberkrieg 1973<br />
wurde das Mizrahi Thema wieder<br />
von der politischen Agenda gestrichen<br />
und durch Sicherheit ersetzt.<br />
Die Ära der Schwarzen Panther<br />
hatte nach drei Jahren ein schnelles<br />
Ende gefunden. Ruven Abergjil hielt<br />
„Ein Staat, in dem <strong>di</strong>e Hälfte der Bevölkerung wie Könige leben und <strong>di</strong>e andere<br />
Hälfte wie ausgebeutete Sklaven – wir werden ihn niederbrennen!“<br />
Sa´a<strong>di</strong> Martziano, einer der Führer und Hauptredner der Schwarzen Panther auf einer Demonstration in Jerusalem, 1971<br />
sich danach hauptsächlich mit sozialen<br />
Jobs über Wasser, als letztes als<br />
Streetworker mit Mizrahi Jugendlichen.<br />
2003 wurde er gefeuert. Er<br />
hatte sich mit Ehud Olmert wegen<br />
einer öffentlichen Grünanlage in Jerusalem<br />
angelegt, auf <strong>di</strong>e <strong>di</strong>eser sein<br />
Haus bauen wollte. Ehud Olmert<br />
verlor den Gerichtsprozess und Ruven<br />
Abergjil seinen Job. Mit 65 ist<br />
er nun arbeitslos und ver<strong>di</strong>ent sich<br />
sein Taschengeld mit Vorträgen an<br />
Universitäten, bei privaten Institutionen,<br />
NGOs oder Kibbutz<strong>im</strong>.<br />
Ökonomische<br />
Unterdrückung<br />
Ungefähr sechzig Jahre zuvor<br />
hatten <strong>di</strong>e Väter Israels schnell<br />
nach der Staatsgründung realisiert,<br />
dass sich der Staat in seiner jetzigen<br />
Position nicht halten konnte.<br />
Man brauchte mehr Bevölkerung,<br />
Arbeiter und eine größere Armee.<br />
Ben Gurion, der Gründungsvater<br />
Israels, erklärte in einer Knessetsitzung<br />
1949 einmal, dass der Grund,<br />
warum der junge Staat arabische<br />
Juden hole, der gleiche sei, aus dem<br />
<strong>di</strong>e USA <strong>di</strong>e Schwarzen geholt hatte:<br />
Als Arbeiter. Was somit als kulturelle,<br />
ökonomische und soziale<br />
Diskr<strong>im</strong>inierung begann, hat sich<br />
heute in einer Klassenposition verfestigt,<br />
in der <strong>di</strong>e Mizrah<strong>im</strong> neben<br />
den Äthiopischen Juden und den<br />
Palästinensern <strong>di</strong>e unteren ökonomischen<br />
Ränge der Gesellschaft<br />
bekleiden.<br />
Für <strong>di</strong>e jungen Männer aus<br />
Musrara wie Ruven war es damals<br />
schwer ihre Situation zu begreifen.<br />
Die Eltern waren damit beschäftigt<br />
mit der Familie zu überleben. „Für<br />
politischen Aktivismus blieb da keine<br />
Zeit“, erklärt Ruven. Seine Gene-<br />
ration fand sich ohne Ausbildung<br />
schnell <strong>im</strong> Sumpf der Gelegenheitsjobs,<br />
Kleinkr<strong>im</strong>inalität und Drogen<br />
wieder. Golda Meir nannte <strong>di</strong>e<br />
Panther nach einem Treffen einmal<br />
„keine netten Menschen!“ Ruven<br />
zeigt stolz grinsend <strong>di</strong>e Transkription<br />
des Gespräches.<br />
Als erklärter Anti-Zionist<br />
hatte er es nicht leicht in seinem<br />
Land – <strong>di</strong>e Panther und Ruvens<br />
Dickkopf waren eine Gefahr für<br />
das Establishment. Manche seiner<br />
Mitstreiter sind in den 70ern gar<br />
verschwunden und bis heute nicht<br />
wieder aufgetaucht. Der Staat erklärte<br />
Ruven damals, er sei kein<br />
Staatsbürger. Bis 1996 besaß er le<strong>di</strong>glich<br />
ein „Laissez passer“-Papier,<br />
einen Pass für Flüchtlinge, wie ihn<br />
„75% der Todesfälle in der israelischen Armee während der<br />
zweiten Intifada kamen aus periphären sozialen Gruppen“<br />
Yagil Levy, in einem Artikel über <strong>di</strong>e Israeli Defense Force, 2006<br />
auch viele Palästinenser haben. Ein<br />
Jude in Israel, als Flüchtling <strong>im</strong> Ausland<br />
auf Reisen.<br />
Heute sieht Ruven seinen Ausweg<br />
in einem politischen Bündnis<br />
von Palästinensern und Mizrah<strong>im</strong><br />
„um das zionistische Ashkenazi<br />
Establishment zu Frieden und Gerechtigkeit<br />
zu zwingen.“ Aber gerade<br />
unter Mizrah<strong>im</strong> hat er es schwer<br />
mit seiner Einstellung. Viele von ihnen<br />
wählen heute <strong>di</strong>e rechte Volkspartei<br />
Likud und <strong>di</strong>e religiös-rechte<br />
Mizrahi Partei Shas. Manche nennen<br />
ihn daher naiv. Andere Mizrahi<br />
Aktivisten sehen in seinen Vorstellungen<br />
eher einen schönen Traum.<br />
Auch wenn sie ihn auf kultureller<br />
Ebene nachvollziehen können, so<br />
halten sie ihn politisch doch für unrealistisch.<br />
Dass irgend<strong>wan</strong>n <strong>di</strong>e Palästinenser<br />
den Kurs <strong>di</strong>eser beiden Länder<br />
best<strong>im</strong>men werden, glauben ja<br />
viele, von den Rechten bis zu den<br />
Linken, mit jeweils anderen Interpretationen<br />
und Lösungsvorschlägen.<br />
Ruven selbst geht es um seine<br />
teilweise verloren gegangenen Wurzeln,<br />
Idealismus und Gerechtigkeit.<br />
Aufgehört zu kämpfen hat er jedenfalls<br />
nicht. Besonders wenn es um<br />
Politik geht. Er drückt seine Zigarette<br />
aus und muss zum nächsten<br />
politischen Treffen. „Alles Anti-<br />
Zionisten!“ hebt er stolz hervor und<br />
grinst schon wieder. Shalom.<br />
Aschkenaz<strong>im</strong>: Juden aus Mittel- und Osteuropa<br />
Sephard<strong>im</strong>: Juden aus Spanien und Portugal, nach den Vertreibungen 1492 auch<br />
M arokko, Griechenland und Türkei<br />
Mizrah<strong>im</strong> (<strong>di</strong>e „Östlichen“ oder „<strong>Orient</strong>alen“): Juden aus der islamisch geprägten Welt<br />
Die Bezeichnung „Mizrah<strong>im</strong>“ für <strong>di</strong>e Juden aus der islamisch geprägten Welt wurde erst<br />
nach der Staatsgründung Israels eingeführt. Heute sind sie neben den Aschkenaz<strong>im</strong><br />
eine der Gruppen der jü<strong>di</strong>schen Gesellschaft <strong>im</strong> Land. Bis in <strong>di</strong>e Mitte der 80er Jahre<br />
hat das israelische Statistikbüro <strong>di</strong>e Juden bei ihrer Ein<strong>wan</strong>dung nach Erez Israel (hebr.<br />
Aliya) der Herkunft des Vaters entsprechend unterschiedlich behandelt. Wohlhabende<br />
Juden aus dem „entwickelten“ West-Europa waren eher willkommen als <strong>di</strong>e zumeist<br />
verarmten Juden Nord-Afrikas und des Nahen Ostens. Für <strong>di</strong>e europäischen Juden<br />
wurden spezielle Fördermittel bereit gestellt, während <strong>di</strong>e arabischen Juden schlechtere<br />
Wohnorte <strong>im</strong> Lande zugewiesen bekamen. Heute lebt allein eine halbe Million<br />
marokkanischer Juden in Israel, <strong>di</strong>e weiterhin eine starke Bindung an ihre He<strong>im</strong>at mit<br />
eigener Kultur pflegen.<br />
Für alle, <strong>di</strong>e nachschlagen wollen<br />
www.hila-equal-edu.org.il<br />
www.adva.org (u.a. „Israel: A Social Report, 2005“)<br />
The Alternative Information Center (www.alternativenews.org)<br />
• weitere Links und Infos ab 2008 auf der [<strong>di</strong>.<strong>wan</strong>]-Homepage
14 [dī.wān] 12.2007 GESELLSCHAFT<br />
GESELLSCHAFT<br />
12.2007 [dī.wān] 15<br />
„Wir haben abgeschworen“<br />
Seit der Gründung des Zentralrates der Ex-Musl<strong>im</strong>e steht <strong>di</strong>e Vorsitzende<br />
Mina Aha<strong>di</strong> unter Polizeischutz. Während ra<strong>di</strong>kale Musl<strong>im</strong>e sie als Verräterin<br />
besch<strong>im</strong>pfen, loben deutsche Politiker sie als positives Beispiel für <strong>di</strong>e<br />
erfolgreiche Integration des Islams in <strong>di</strong>e deutsche Gesellschaft – und sitzen<br />
dabei wieder einmal einem großen Irrtum auf von Dörthe Engels<br />
Plakat der Kampagne „Wir schwören ab“<br />
Gesicht zeigen – Sich zum Abfall vom<br />
Islam zu bekennen, fordert oftmals sehr<br />
viel Mut<br />
Zahlen sind für <strong>di</strong>e Politik stets<br />
brisantes Gut. Auch <strong>im</strong> Falle der<br />
Integrationsbemühungen „des“ Islams<br />
in „<strong>di</strong>e“ deutsche Gesellschaft<br />
werden sie von allen Seiten gerne<br />
herangezogen, um <strong>di</strong>e eine oder andere<br />
Sichtweise auf <strong>di</strong>e Dinge zu belegen.<br />
Eine der interessantesten Ziffern<br />
der vergangenen Monate war<br />
<strong>di</strong>e 4000. Als so stark gab <strong>im</strong> Januar<br />
<strong>di</strong>eses Jahres das Islam-Archiv in<br />
Soest <strong>di</strong>e Gruppe der vom Christentum<br />
zum Islam konvertierten Deutschen<br />
an. Nachdem <strong>di</strong>e Zahl bis auf<br />
das letzte zur Heraufbeschwörung<br />
der islamischen Gefahr in der Bundesrepublik<br />
ausge wrungen worden<br />
war, stand plötzlich weitaus dezenter<br />
<strong>di</strong>e Seriosität des genannten<br />
Instituts in der Kritik.<br />
Zur selben Zeit gründete sich<br />
ein Verein, der von der deutschen<br />
Öffentlichkeit um einiges wohlwollender<br />
aufgenommen wurde als <strong>di</strong>e<br />
4000 Konvertiten. Auf einer Pressekonferenz<br />
in <strong>Berlin</strong> stellte sich<br />
der „Zentralrat der Ex-Musl<strong>im</strong>e“<br />
als neugegründete Vereinigung religionsfreier<br />
Menschen, <strong>di</strong>e musl<strong>im</strong>ischen<br />
Glaubens waren oder aus<br />
einem musl<strong>im</strong>isch geprägten Land<br />
stammen, vor.<br />
Der Name des Vereins lehnt sich<br />
an den Zentralrat der Musl<strong>im</strong>e an,<br />
der ca. 15.000 bis 20.000 der offiziell<br />
drei Millionen in Deutschland lebenden<br />
Musl<strong>im</strong>e vertritt. Auch das<br />
Logo greift auf den Zentralrat zurück,<br />
wobei neben dem Halbmond<br />
ein großes „Ex“ prangt. Die Provokation<br />
sei von den Gründern bewusst<br />
gewollt, um neben den Vertretern<br />
verschiedener islamischer<br />
Organisationen eine andere St<strong>im</strong>me<br />
gegenüber dem deutschen Staat zu<br />
Gehör zu bringen, so <strong>di</strong>e Vereinsvorsitzende<br />
Mina Aha<strong>di</strong>.<br />
Wie viele Ex-Musl<strong>im</strong>e sie vertritt,<br />
ist ungewiss. Diejenigen, <strong>di</strong>e<br />
aus einem sehr religiösen Umfeld<br />
aussteigen, schweigen meist aus<br />
Angst vor Repressalien seitens ih-<br />
rer ehemaligen Glaubensbrüder<br />
und -schwestern. Andere vertreten<br />
eine kritische Sicht auf den Islam<br />
und werden <strong>im</strong> Gegensatz zu ihrem<br />
eigenen Empfinden von anderen<br />
als Ungläubige wahrgenommen.<br />
Und schließlich bezeichnet <strong>di</strong>e<br />
Mehrheitsgesellschaft selbst alle<br />
aus dem islamischen Kulturkreis<br />
nach Deutschland einge<strong>wan</strong>derten<br />
Menschen pauschal als Musl<strong>im</strong>e,<br />
ohne deren tatsächliche Gläubigkeit<br />
wahrzunehmen.<br />
Scheinbar bleiben genügend<br />
Personen übrig, <strong>di</strong>e den Einsatz der<br />
1956 <strong>im</strong> Iran geborenen Frau zu<br />
einem großen Risiko werden lassen.<br />
Seit der Gründung des Vereins<br />
steht Aha<strong>di</strong> unter Polizeischutz, da<br />
sie mehrfach mit dem Tode bedroht<br />
wurde. Trotzdem hält sie selbstbewusst<br />
fest: „Wenn man nichts sagt,<br />
wenn man nichts tut, und wenn<br />
man schweigt, dann wird es noch<br />
schl<strong>im</strong>mer!“ Ihre Kraft zieht Aha<strong>di</strong><br />
aus dem ihr <strong>im</strong> Namen des Islams<br />
zugefügten Unrecht. Ihr Mann wurde<br />
nach der islamischen Revolution<br />
unter Khomeini zusammen mit anderen<br />
Intellektuellen hingerichtet,<br />
sie selbst musste sich Jahre lang <strong>im</strong><br />
Untergrund verstecken, bis ihr <strong>di</strong>e<br />
Flucht<br />
n a c h<br />
Europa<br />
gelang.<br />
Seit 1996 lebt sie in Köln, wo sie bereits<br />
verschiedene Organisationen<br />
gegen <strong>di</strong>e Todesstrafe gründete.<br />
Provokation, um sich Gehör zu verschaffen<br />
Abfall vom Islam<br />
als Tabubruch<br />
Die Ex-Musl<strong>im</strong>e des Zentralrates<br />
sehen ihre Hauptaufgabe in<br />
der Durchführung der Kampagne<br />
„Wir haben abgeschworen“. Der<br />
Name lehnt sich an den Feldzug<br />
der Frauenbewegung „Wir haben<br />
abgetrieben“ an und beschreibt<br />
nach eigener Aussage des Zentralrates<br />
einen ganz ähnlichen Tabubruch.<br />
Ziel sei es, mit der offenen<br />
Kritik am Islam eine Aufklärung<br />
zu bewirken, an deren Ende sich<br />
<strong>di</strong>e Vernunft gegenüber der Leichtgläubigkeit<br />
durchsetzen solle. In der<br />
Konsequenz bedeute <strong>di</strong>es <strong>di</strong>e ra<strong>di</strong>kale<br />
Verdrängung der Religion aus<br />
dem öffentlichen Leben, d. h. eine<br />
strickte Trennung des Staates von<br />
religiösen Doktrinen und Bräuchen.<br />
Zu <strong>di</strong>esen zählt der Zentralrat laut<br />
der Kampagnen-Broschüre „Ehrenmorde,<br />
weibliche Genitalverstümmelung,<br />
Steinigungen, Hinrichtungen,<br />
Folterungen sowie andere<br />
unmenschliche Praktiken“. Mittel<br />
und Wege der Zurückdrängung der<br />
Religion seien das Kopftuchverbot<br />
an Schulen, <strong>di</strong>e Verpflichtung musl<strong>im</strong>ischer<br />
Jungen und Mädchen zum<br />
Sport- und Sexualkundeunterricht<br />
und <strong>di</strong>e Ersetzung des konfessionellen<br />
Religionsunterrichts durch<br />
ein Ethikfach.<br />
Die Verbindung ihrer Religion<br />
mit den genannten Menschenrechtsverletzungen<br />
ist für Musl<strong>im</strong>e<br />
starker Tobak und erklärt zum Teil<br />
<strong>di</strong>e gereizten Reaktionen auf Aha<strong>di</strong>s<br />
Kritiken. Der Hauptärger entzündet<br />
sich jedoch vor allem am Namen<br />
des Vereins. Der Abfall vom Islam<br />
ist vermutlich eines der sensibelsten<br />
Themen unter gläubigen Musl<strong>im</strong>en.<br />
In einigen Ländern wie Sau<strong>di</strong>-Arabien,<br />
Iran oder Afghanistan können<br />
Konvertiten sogar hingerichtet werden<br />
oder wie in Ägypten schwerwiegenden<br />
zivilrechtlichen Konsequenzen<br />
wie Z<strong>wan</strong>gsscheidung vom<br />
Ehepartner oder der Enterbung ausgesetzt<br />
sein. Amnesty International<br />
berichtet von nicht minder schwerwiegenden<br />
Ausgrenzungen durch<br />
Ver<strong>wan</strong>dte, Freunde und Nachbarn<br />
– auch in Deutschland.<br />
Nach der Auffassung von gläubigen<br />
Musl<strong>im</strong>en ist der Islam <strong>di</strong>e<br />
vollkommenste aller Religionen,<br />
da Muhammad als letzter Prophet<br />
Der Islam als <strong>di</strong>e wahre Religion<br />
das wahre Wort Gottes in Form des<br />
Korans den Menschen überbracht<br />
hat. Die islamische Erziehung ist<br />
ein großes Glück für den Menschen
16 [dī.wān] 12.2007 GESELLSCHAFT<br />
GESELLSCHAFT<br />
12.2007 [dī.wān] 17<br />
und <strong>di</strong>e Abkehr von der Religion ein<br />
Affront gegen <strong>di</strong>e Eltern und vor<br />
allem Gott.<br />
Während <strong>di</strong>e allgemeine Erklärung<br />
der Menschenrechte von<br />
1948 <strong>di</strong>e Religionsfreiheit ohne Einschränkung<br />
garantiert, ist <strong>di</strong>ese in<br />
islamischen Deklarationen mit dem<br />
Zusatz „nach den Best<strong>im</strong>mungen<br />
der Scharia“ versehen. Die Mehrheit<br />
der frühen Rechtsgelehrten<br />
best<strong>im</strong>mte als Strafe für den Abfall<br />
vom Islam den Tod, obwohl <strong>im</strong><br />
Koran allein von den Höllenqualen<br />
<strong>im</strong> Jenseits <strong>di</strong>e Rede ist. In der Prophetentra<strong>di</strong>tion<br />
(Sunna) kann man<br />
jedoch zahlreiche Aussagen wie<br />
<strong>di</strong>ese finden: „Wer seine Religion<br />
wechselt, den tötet.“ Derartige Befehle<br />
des Propheten werden heute<br />
unter musl<strong>im</strong>ischen Freidenkern als<br />
politisch motiviert interpretiert. Im<br />
Gegensatz zum heutigen Religionsverständnis<br />
in Europa war der Islam<br />
zu <strong>di</strong>eser Zeit nicht nur ein Glaubensbekenntnis,<br />
sondern <strong>di</strong>e Bindung<br />
an eine Gemeinschaft, deren<br />
vorsätzliche Leugnung oder Kritik<br />
als Verrat und Gefahr verstanden<br />
wurde.<br />
Ex-Musl<strong>im</strong>e unter Polizeischutz<br />
Dass es scheinbar viele Ex-Musl<strong>im</strong>e<br />
gibt, zeigt sich in der Gründung<br />
weiterer Zentralräte in Großbritannien,<br />
Skan<strong>di</strong>navien und den<br />
Niederlanden. Der hollän<strong>di</strong>sche<br />
Vereinsvorsitzende Ehsan Jami<br />
musste kürzlich wie Mina Aha<strong>di</strong><br />
unter Polizeischutz gestellt werden,<br />
nachdem er zum dritten Mal Opfer<br />
islamistischer Gewalt geworden<br />
war. Es bedarf also nicht unbe<strong>di</strong>ngt<br />
eines autoritären Staates, der Menschen<br />
Gewalt androht, um Angst bei<br />
Konvertiten auszulösen. Es scheint,<br />
als herrsche ein hoch ausgeprägter<br />
Selbstkontrollmechanismus in musl<strong>im</strong>ischen<br />
Gesellschaften bei der<br />
Frage des wahren Musl<strong>im</strong>seins vor,<br />
der derartige Übergriffe zur Folge<br />
haben kann.<br />
Dabei will <strong>di</strong>e Publizistin Arzu<br />
Toker, <strong>di</strong>e vor kurzem von ihrem<br />
Posten der zweiten Vorsitzenden<br />
des deutschen Zentralrates zurücktrat,<br />
den Islam gar nicht <strong>di</strong>ffamieren,<br />
sondern le<strong>di</strong>glich <strong>im</strong> Sinne<br />
des menschlichen Verstandes nach<br />
Kant kritisieren und damit Veränderungen<br />
herbeiführen. In ihrem<br />
Zehn-Punkte-Programm, warum<br />
man aus dem Islam austreten sollte,<br />
bezeichnet sie Musl<strong>im</strong>e als „Untertan<br />
eines totalitären, von Männern<br />
beherrschten gewalttätigen<br />
Rechtssystems“. Der Islam sei damit<br />
das Gegenstück von Demokratie<br />
und rechtsstaatlicher Verfassung.<br />
Muhammad sei kein Vorbild, da<br />
er Kriege führte, Andersgläubige<br />
und Kritiker tötete sowie mehrere<br />
Frauen und kleine Mädchen ehelichte.<br />
In ihrer Schlussbetrachtung<br />
fasst sie zusammen: „Anderthalb<br />
Jahrtausende schon haben <strong>di</strong>e<br />
Wahnideen <strong>di</strong>eses archaischen<br />
Gotteskriegers Mohammed <strong>di</strong>e<br />
Hirne der Menschen vernebelt und<br />
weltweit Unfrieden gestiftet. Es ist<br />
an der Zeit, <strong>di</strong>esem Wahnsinn ein<br />
Ende zu bereiten.“<br />
Zugegeben: Diese provokante<br />
Kritik ist für einen gläubigen Musl<strong>im</strong><br />
kaum zu ertragen. Dennoch<br />
liegt es nun an ihnen,<br />
auf <strong>di</strong>e scharfen Vorwürfe<br />
der Ex-Musl<strong>im</strong>e zu reagieren<br />
und sie in eine innerislamische<br />
Diskussion einzubetten. Damit<br />
würden <strong>di</strong>e islamischen Vertreter<br />
der Angst von Toker und vieler<br />
anderer Deutschen vor einer staatlichen<br />
Anerkennung des Islams positiv<br />
begegnen und allen Kritikern<br />
den Wind aus den Segeln nehmen.<br />
Mina Aha<strong>di</strong>,<br />
<strong>di</strong>e erste Vorsitzende des Zentralrates der Exmusl<strong>im</strong>e,<br />
steht seit der Gründung des Vereins unter Polizeischutz<br />
Die Idylle über‘m Fernseher<br />
Rahat, eine Stadt am Rande der<br />
israelischen Negev-Wüste. Hind Al-<br />
Turi wohnt mit ihrem Mann und<br />
ihren drei Söhnen in der oberen<br />
Etage eines zweistöckigen Hauses.<br />
Die Rollläden <strong>im</strong> Wohnz<strong>im</strong>mer sind<br />
zugezogen – gegen <strong>di</strong>e Mittagshitze,<br />
da <strong>di</strong>e Kl<strong>im</strong>aanlage schon seit<br />
langem kaputt ist. Im Wohnz<strong>im</strong>mer<br />
herrscht fast totale Finsternis.<br />
Auf den ersten Blick ist nur das<br />
Flackern des Fernsehers sichtbar.<br />
Es ist Samstag und <strong>di</strong>e Kinder zappen<br />
zwischen jordanischer Musik<br />
und amerikanischen Cartoons<br />
hin- und her. Über dem Fernseher<br />
hängt ein Bild mit einer Szene, <strong>di</strong>e<br />
aus den herrlichsten Fantasien romantischer<br />
<strong>Orient</strong>-Fans kommen<br />
könnte: In sanften Farben gemalt<br />
sitzen leicht verschleierte und mit<br />
Schmuck behängte Frauen mit<br />
großen schönen Augen nebst einem<br />
älteren, bärtigen, Turban tragenden<br />
Herrn mit Pluderhose und bereiten<br />
auf tra<strong>di</strong>tionell beduinische<br />
Art Kaffee zu. Währenddessen<br />
kocht Hind in Wirklichkeit in<br />
der Küche Huhn mit Gemüse und<br />
Reis und trägt <strong>di</strong>eses kleine essbare<br />
Para<strong>di</strong>es auf einem riesigen Blech-<br />
Mit der Staatsgründung Israels erlitten <strong>di</strong>e<br />
Beduinen <strong>im</strong> israelischen Negev Vertreibung,<br />
Gewalt und koloniale Ignoranz. Noch heute sind<br />
viele von ihnen hin- und hergerissen zwischen<br />
Karriere und herkömmlichem Brotbacken,<br />
zwischen Städteplanung und Stammesfehden,<br />
zwischen eigener Tra<strong>di</strong>tion und israelischer Politik<br />
von Shelley Harten<br />
teller ins Wohnz<strong>im</strong>mer. Die dünnen<br />
Brotfladen hat sie vorher in der<br />
Hütte gebacken, <strong>di</strong>e neben dem eigentlichen<br />
Haus liegt und genaugenommen<br />
nur aus einer überdachten<br />
Feuergrube besteht, über <strong>di</strong>e eine<br />
große, gewölbte Metallfläche gelegt<br />
wird.<br />
Neue Horizonte?<br />
Draußen ist es sehr heiß und<br />
<strong>di</strong>e Sonne strahlt grell auf <strong>di</strong>e hinter<br />
dem Haus liegenden einstöckigen<br />
Silos, <strong>di</strong>e sich kaum vom Sand abheben.<br />
Hinds Haus liegt am Rand<br />
von Rahat und von ihrem Balkon<br />
scheint es, als gehe <strong>di</strong>e Stadt mit den<br />
Silos sanft in <strong>di</strong>e weite Wüste über.<br />
Aber auf dem gegenüber liegenden<br />
Hügel sieht man schon <strong>di</strong>e Umrisse<br />
einer Stadt entstehen, <strong>di</strong>e von<br />
allen Rahat II genannt wird. Noch<br />
sind es nur Furchen <strong>im</strong> Sand, doch<br />
bald soll dort Hinds<br />
neues Haus entstehen.<br />
Sie stu<strong>di</strong>ert<br />
Erziehungswissenschaften<br />
und arbeitet<br />
in der Verwal-<br />
tung von Rahat, wo sie täglich mit<br />
den Unzulänglichkeiten der israelischen<br />
Regierung zu kämpfen hat.<br />
Obwohl Beduinen wie andere israelische<br />
Bürger Steuern zahlen und<br />
viele von ihnen sogar den dreijährigen<br />
Militär<strong>di</strong>enst ableisten, gibt<br />
es hier zu wenige Schulplätze, kaum<br />
genug Sozialarbeiter und nur eine<br />
bröckelnde Infrastruktur.<br />
Land-Nomaden<br />
Dabei hat es Hinds Familie<br />
vergleichsweise gut. Zur gleichen<br />
Zeit, zu der sie und ihr Mann <strong>di</strong>e<br />
Baupläne ihres neuen Eigenhe<strong>im</strong>s<br />
stu<strong>di</strong>eren, hausen etwa fünfzig Prozent<br />
der Beduinen Israels in kleinen<br />
Wellblechhütten ohne Strom<br />
und fließend Wasser. Diese „nicht<br />
anerkannten“ Siedlungen ziehen<br />
sich durch den ganzen Negev und<br />
haben nicht mehr viel mit den alten,
18 [dī.wān] 12.2007 GESELLSCHAFT<br />
GESELLSCHAFT<br />
12.2007 [dī.wān] 19<br />
tra<strong>di</strong>tionellen schwarzen Zelten gemein.<br />
Die Beduinen weigern sich,<br />
ihr Recht auf ihr eigenes, 1948 von<br />
Israel in Besitz genommenes, Land<br />
aufzugeben. Gleichzeitig würden<br />
sie be<strong>im</strong> Umzug in <strong>di</strong>e Stadt beduinisches<br />
Recht brechen, da sie<br />
nach tra<strong>di</strong>tioneller Lesart das Land<br />
fremder Stämme besiedeln würden.<br />
So sind sie aber einer fremden<br />
Auffassung von Recht unterworfen,<br />
nämlich der israelischen. Immer<br />
wieder kommt <strong>di</strong>e Polizei mit Bulldozern<br />
und stampft <strong>di</strong>e blechernen<br />
Wohnungen nieder – <strong>im</strong>mer wieder<br />
bauen <strong>di</strong>e Beduinen <strong>di</strong>e Hütten neben<br />
den Trümmern wieder auf. Es<br />
ist erstaunlich, wie <strong>di</strong>ese unaufhörliche<br />
Vertreibung <strong>im</strong> Schatten des<br />
palästinensisch-israelischen Konfliktes<br />
kaum Beachtung findet.<br />
Rahat gehört zu den von der israelischen<br />
Regierung für Beduinen<br />
geplanten Städten. Die erste in den<br />
sechziger Jahren erbaute Stadt, Tel<br />
Mein Viertel – mein Stamm<br />
Sheva, war ein totaler Reinfall, weshalb<br />
Rahat in den 70ern mit mehr<br />
Sinn für beduinische Raumkonzeptionen<br />
geplant werden sollte. Die beduinische<br />
Vorstellung von Raum ist<br />
vor allem von Geschlecht, Familie<br />
und Stamm geprägt – eine Frau bewegt<br />
sich am freiesten in dem Raum<br />
ihrer Familie und <strong>di</strong>e Familie am<br />
sichersten <strong>im</strong> Raum ihres Stammes.<br />
Und so wohnt auch Hind auf einem<br />
Grundstück, das ihrem Schwiegervater<br />
zugewiesen wurde. Die Straße<br />
gehört der erweiterten Hamula, der<br />
Familie. In ihrem Viertel wohnen<br />
nur Familien des gleichen Stammes.<br />
Nur eine einzige Straße führt aus<br />
dem Viertel heraus in weitere Nachbarschaften,<br />
<strong>di</strong>e genauso konzipiert<br />
sind. Tatsächlich ist es nicht ratsam,<br />
wenn <strong>di</strong>verse Familien- oder<br />
Stammesfehden noch nicht beigelegt<br />
sind, best<strong>im</strong>mte Straßen oder<br />
Viertel zu betreten wenn man den<br />
‚falschen‘ Namen trägt.<br />
Freiheit dritter Klasse<br />
Wegen der hohen Geburtenrate<br />
wird <strong>di</strong>e Stadt <strong>im</strong>mer enger. Der Bau<br />
von Rahat II, meint Hind, sei schon<br />
längst überfällig. Zwölf Jahre musste<br />
<strong>di</strong>e Familie auf eine Baugenehmigung<br />
warten. Derweilen muss sich<br />
Hind das Haus mit dem Schwiegervater<br />
und dessen zwei Frauen teilen,<br />
<strong>di</strong>e <strong>im</strong> Untergeschoss wohnen. Sie<br />
ist sich sicher, dass ihr Mann nicht<br />
wie sein Vater noch eine 25-Jährige<br />
mit ins Haus bringt. Sie sagt, sie<br />
vermisst <strong>di</strong>e Unabhängigkeit ihres<br />
vorehelichen Lebens. Gleich nach<br />
der arrangierten Hochzeit musste<br />
sie zur Familie ihres Mannes nach<br />
Rahat ziehen und ihre He<strong>im</strong>atstadt<br />
Lod verlassen. Früher fuhr sie<br />
mit kurzen Röcken, großer<br />
Frisur und Lippenstift nach<br />
Tel Aviv, um auszugehen.<br />
Heute kann sie sich als verheiratete<br />
Frau nur mit langem Shador und<br />
nach hinten gebundenem Kopftuch<br />
in Rahat sehen lassen. Der stän<strong>di</strong>gen<br />
familiären Beobachtung möchte sie<br />
mit dem Umzug nach Rahat II entgehen.<br />
Doch auch dort wird sie den<br />
mangelnden Leistungen des israelischen<br />
Staates, der Ignoranz gegenüber<br />
ihrer Kultur in den Schulen ihrer<br />
Kinder und der langen Fahrt bis<br />
zum nächsten Krankenhaus nicht<br />
entfliehen können, wenn das Problem<br />
der Integration der Beduinen<br />
in <strong>di</strong>e israelische Gesellschaft noch<br />
länger ein unbequemes Randthema<br />
bleibt.<br />
Nicht dabei statt mittendrin<br />
Türkischstämmige Fußballspieler sind <strong>im</strong> deutschen Nationalteam<br />
nicht vertreten. Viele von ihnen kicken lieber für <strong>di</strong>e Türkei – ein<br />
Phänomen, zu dem auch der Deutsche Fußball-Bund (DFB) seinen<br />
Teil beigetragen hat<br />
von Sebastian Sons<br />
Letztes Jahr waren sie unsere<br />
Helden: Der Traumsturm Lukas<br />
Podolski und Miroslav Klose be<strong>im</strong><br />
deutschen „Sommermärchen“ während<br />
der Fußball-WM. Oder Gerald<br />
Asamoah und David Odonkor. Sie<br />
sind Teil einer deutschen Nationalmannschaft,<br />
<strong>di</strong>e begeistert gefeiert<br />
wurde. Obwohl Odonkor und<br />
Asamoah ghanaische, Podolski und<br />
Klose polnische Wurzeln haben. Sie<br />
werden akzeptiert und anerkannt<br />
– auch wegen ihrer auslän<strong>di</strong>schen<br />
Herkunft. Multikulturelle Einflüsse<br />
in Länderteams sind längst nichts<br />
besonderes mehr. In Frankreich best<strong>im</strong>men<br />
Migrantensöhne wie Zine<strong>di</strong>ne<br />
Zidane <strong>di</strong>e Identität der Equipe<br />
tricolore. Im Schweizer WM-Kader<br />
von 2006 standen gar neun so genannte<br />
„Secundos“, Migrantensöhne<br />
von der Elfenbeinküste oder aus<br />
dem Kosovo.<br />
Wurde <strong>im</strong> Ruhrgebiet geboren:<br />
Der türkische Nationalspieler Hamit Altintop<br />
Chance und Dilemma<br />
vieler türkischer Migranten<br />
Da erscheint es erstaunlich, dass<br />
<strong>di</strong>e größte in Deutschland lebende<br />
Migrantengruppe mit keinem Spieler<br />
<strong>im</strong> Nationalteam vertreten ist:<br />
<strong>di</strong>e Türken. Über 2,5 Millionen leben<br />
hier, viele haben den deutschen<br />
Pass. Darunter etliche aktuelle türkische<br />
Nationalspieler, <strong>di</strong>e <strong>di</strong>e Möglichkeit<br />
gehabt hätten, für Deutschland<br />
zu spielen, da sie hier geboren<br />
sind. Hier aufgewachsen haben viele<br />
von ihnen noch nie in der Türkei gespielt.<br />
Sie leben in Deutschland und<br />
kennen sich hier oft besser aus als in<br />
der Türkei. Trotzdem entschieden<br />
sie sich für das Geburtsland ihrer<br />
Eltern. Ein Phänomen, das gleichzeitig<br />
Chance und Dilemma vieler<br />
türkischer Migranten beschreibt:
20 [dī.wān] 12.2007 GESELLSCHAFT<br />
GESELLSCHAFT<br />
12.2007 [dī.wān] 21<br />
Auf der einen Seite boten ihnen ihre<br />
Eltern <strong>di</strong>e Möglichkeit, in einem<br />
Verein Fuß zu fassen und auch so<br />
Teil der Gesellschaft zu werden. Auf<br />
der anderen Seite steht <strong>di</strong>e familiäre<br />
Tra<strong>di</strong>tion, in der <strong>di</strong>e türkischen<br />
Wurzeln gepflegt werden. So sagt<br />
Hamit Altintop, türkischer Nationalspieler<br />
vom FC Bayern München,<br />
aufgewachsen <strong>im</strong> Ruhrgebiet:<br />
„Ich bin zwar hier geboren, aber<br />
trotzdem bin und fühle ich mich<br />
als Türke. Sonst könnte ich auch<br />
nicht für <strong>di</strong>e türkische Nationalmannschaft<br />
spielen.“ Cem Özdemir,<br />
Mitglied des Europa-Parlaments,<br />
sagt dazu: „Die Familie spielt eine<br />
größere Rolle als <strong>di</strong>e eigentliche<br />
Bindung an <strong>di</strong>e He<strong>im</strong>at der Eltern,<br />
denn <strong>di</strong>ese Angehörigen der zweiten<br />
Generation kennen <strong>di</strong>e Türkei<br />
nur aus Urlaubsreisen.“ Das bestätigt<br />
auch der Zwillingsbruder von<br />
Hamit Altintop, Halil. Der Stürmer<br />
vom FC Schalke 04 entschied sich<br />
für sein Herkunftsland, „weil meine<br />
Eltern aus der Türkei stammen. Das<br />
ist Grund genug.“<br />
Untätiger DFB<br />
Fakt ist aber auch: Jahrelang<br />
kümmerte sich der Deutsche<br />
Fußball-Bund (DFB) zu wenig um<br />
Talente türkischer Herkunft. Dahingegen<br />
bauten <strong>di</strong>e Späher des<br />
türkischen Verbandes hier ein System<br />
zur Nachwuchssichtung auf<br />
und überzeugten <strong>di</strong>e Talente häufig,<br />
später einmal für <strong>di</strong>e Türkei<br />
aufzulaufen. Hier blieb der DFB<br />
untätig, offenbar geblendet von<br />
der Illusion, Nachwuchsförderung<br />
regele sich von allein und von der<br />
Fehleinschätzung, Deutschland sei<br />
kein Ein<strong>wan</strong>derungsland. Eine Haltung,<br />
<strong>di</strong>e erst in den letzten Jahren<br />
teilweise revi<strong>di</strong>ert wurde: Mittlerweile<br />
stehen in den verschiedenen<br />
Jugendmannschaften des DFB rund<br />
20 Talente mit auslän<strong>di</strong>schen Wurzeln.<br />
Darunter auch türkischstämmige<br />
Nachwuchskicker, wie der<br />
19-jährige Jungstar Mesut Özil von<br />
Schalke. Vielleicht spielt er bald in<br />
der ‚richtigen‘ Nationalmannschaft.<br />
„Es wäre vor dem Anpfiff etwas<br />
Außergewöhnliches, nach dem ersten<br />
Spiel jedoch ein Zeichen von<br />
Normalität“, so Özdemir. 1999 gab<br />
es das bereits: Der Türke Mustafa<br />
Doğan spielte unter Nationaltrainer<br />
Erich Ribbeck. Doch damals galt<br />
noch: Ausnahmen bestätigen <strong>di</strong>e<br />
Regel.<br />
„Hamit – der Deutsche des 21. Jahrhunderts“<br />
„Natürlich gehört auch eine<br />
deutsche Identität dazu, um in der<br />
deutschen Nationalmannschaft zu<br />
spielen. Aber könnte man <strong>di</strong>e Herausbildung<br />
einer solchen deutschen<br />
Identität nicht durch symbolische<br />
Handlungen und das ausdrückliche<br />
Werben um <strong>di</strong>eses Talent verstärken?“,<br />
fragt Özdemir. Er meint damit<br />
beispielsweise, <strong>di</strong>e Familie zu<br />
besuchen und <strong>di</strong>e Ansprache an<br />
<strong>di</strong>e Eltern, in der man <strong>di</strong>e Chancen<br />
ihres Sohnes betont. Doch <strong>di</strong>e Versäumnisse<br />
des DFB sind auch ein<br />
Sinnbild für <strong>di</strong>e generell rud<strong>im</strong>entäre<br />
Integrationspolitik in den letz-<br />
ten Jahren, <strong>di</strong>e oft nur den Auf<strong>wan</strong>d,<br />
selten jedoch den möglichen Ertrag<br />
sah. „Wir landen bei der Debatte<br />
um eine deutsche Leitkultur, <strong>di</strong>e auf<br />
Ein<strong>wan</strong>derer vielleicht irritierend<br />
wirkt und ihnen das Gefühl gibt,<br />
hier nicht willkommen zu sein“,<br />
beschreibt es Özdemir. Türkischstämmige<br />
Nationalspieler würden<br />
Rassismus und Intoleranz zwar<br />
nicht auslöschen, aber: Ein Türke in<br />
der Nationalmannschaft zwänge <strong>di</strong>e<br />
Öffentlichkeit dazu, Türken als produktive<br />
und bereichernde Realität<br />
zu akzeptieren – wie auch <strong>di</strong>e Türken<br />
in Deutschland. „Sie könnten<br />
sich nicht nur mit <strong>di</strong>esem Spieler,<br />
sondern dann auch leichter mit der<br />
deutschen Mannschaft identifizieren“,<br />
erläutert Özdemir. „Der moderne<br />
und erfolgreiche Deutsche<br />
des 21. Jahrhunderts kann Hamit<br />
oder Ahmet heißen.“ Oder Mesut<br />
Özil – vielleicht der Held der nächsten<br />
Europameisterschaft.<br />
„Der moderne und erfolgreiche Deutsche des 21. Jahrhunderts kann Hamit oder Ahmet heißen.“ (Cem Özdemir)<br />
30. <strong>Orient</strong>alistentag 2007 –<br />
Orchideenfächer <strong>im</strong> Aktualitätsschock<br />
Unter dem Motto „<strong>Orient</strong>alistik <strong>im</strong> 21. Jahrhundert – Welche Vergangenheit?<br />
Welche Zukunft?“ folgten mehr als 1000 Wissenschaftler und deren<br />
Nachwuchs dem Aufruf der Deutschen Morgenlän<strong>di</strong>schen Gesellschaft (DMG)<br />
nach Freiburg, wo sie mehr als 650 Vorträge, Workshops und Diskussionen<br />
erwarteten Nora Derbal<br />
Die Berichterstatter des 30. <strong>Orient</strong>alistentages<br />
scheinen sich einig<br />
zu sein, dass <strong>di</strong>e Stu<strong>di</strong>erenden und<br />
Lehrenden, <strong>di</strong>e sich vom 24. bis 29.<br />
September in Freiburg zu einem<br />
europäischen Gipfeltreffen ihres<br />
Fachbereichs eingefunden haben,<br />
zu den Nutznießern der politischen<br />
und gesellschaftlichen Folgen der<br />
Terroranschläge des 11. Septembers<br />
zählen. Doch wie geht <strong>di</strong>e Fachwelt<br />
selbst mit <strong>di</strong>eser Haltung der Öf-<br />
fentlichkeit gegenüber der Disziplin<br />
der <strong>Orient</strong>alistik um?<br />
Die Selbstbezeichnung „<strong>Orient</strong>alist“<br />
ist sowohl historisch, als<br />
auch politisch und symbolisch<br />
beladen und gilt in anderen Ländern<br />
wie etwa den USA schon fast<br />
als Belei<strong>di</strong>gung. Trotzdem hat <strong>di</strong>e<br />
DMG mit <strong>di</strong>eser Selbstbezeichnung<br />
ihres Fachkongresses in Freiburg<br />
<strong>di</strong>eses Risiko in Kauf genommen:<br />
„Wir sind uns als <strong>Orient</strong>alisten in<br />
Deutschland des Erbes des europäischen<br />
<strong>Orient</strong>alismus bewusst und<br />
wollen alle auf eine konstruktive<br />
Weise damit umgehen“, erklärt Professor<br />
Reinkowski, Mitorganisator<br />
des <strong>di</strong>esjährigen DOT. Stephan Leder,<br />
erster Vorsitzender der DMG,<br />
betont, dass man trotz allem in Europa<br />
auf eine „beeindruckende Gelehrtengeschichte<br />
mit großartigen<br />
Leistungen“ blickt, und unterstreicht<br />
<strong>di</strong>e Vorteile eines solch inter-
22 [dī.wān] 12.2007 12.2007 [dī.wān] 23<br />
<strong>di</strong>sziplinären Kongresses. Neben 18<br />
fachspezifischen Sektionen, von der<br />
Indogermanistik über Turkologie<br />
und Klassische Archäologie bietet<br />
das Programm des DOT inter<strong>di</strong>sziplinär<br />
ausgerichtete Foren und<br />
fachübergreifende Diskussionspanels.<br />
Jedoch ist <strong>di</strong>e Umsetzung <strong>di</strong>eses<br />
Mammutprojekts nicht <strong>im</strong>mer für<br />
alle zufriedenstellend. „Wo sind wir<br />
hier eigentlich? Das ist doch Theologie<br />
und kein Strafrecht!“, wirft<br />
der Jurist Hilmer Krüger etwa <strong>im</strong><br />
Forum „Recht“ ein, als Ibrah<strong>im</strong> Abu<br />
el-Naga <strong>di</strong>e Perspektiven des islamischen<br />
Strafrechts erläutert.<br />
Neben <strong>di</strong>esem begeisternden<br />
und zugleich in seiner Fülle erschlagenden<br />
Angebot an <strong>di</strong>e Fachwelt<br />
zeichnete sich der DOT 2007 durch<br />
ein Abendprogramm aus, das für<br />
jedermann offen war. „Der <strong>Orient</strong>alistentag<br />
sucht <strong>di</strong>e Öffentlichkeit<br />
wie nie zuvor“, unterstreicht Ludwig<br />
Amman, Pressesprecher des<br />
DOT, in der Ba<strong>di</strong>schen Zeitung.<br />
„Er (der DOT, d.R.) will dem gewachsenen<br />
Bedürfnis nach seriösen<br />
Informationen über <strong>di</strong>e Welt des<br />
Islam, aber auch über China und<br />
In<strong>di</strong>en Rechnung tragen.“ International<br />
renommierte Publikumsmagneten<br />
widmeten sich dafür in Festvorträgen<br />
einigen tagespolitischen<br />
Brennpunkten. Patricia Crone aus<br />
Princeton referierte über „Islam<br />
und religiöse Freiheit“, der iranische<br />
Reformtheologe Muhammed<br />
Schabestari aus Teheran nahm sich<br />
des komplexen Themas „Islam, Demokratie<br />
und Menschenrechte“ an.<br />
Nicht minder brisant waren abendliche<br />
Po<strong>di</strong>ums<strong>di</strong>skussionen. In prominenter<br />
Runde wurden „Konflikte<br />
in Asien und Afrika“ <strong>di</strong>skutiert. Die<br />
Frage des Abends „Was ist Politik,<br />
was ist Religion?“ musste am Ende<br />
jedoch offen bleiben.<br />
GESELLSCHAFT<br />
„Kriegsgewinner – Islamexperten – <strong>Orient</strong>alisten”<br />
– so beschreibt <strong>di</strong>e Ba<strong>di</strong>sche Zeitung<br />
den Deutschen <strong>Orient</strong>alistentag (DOT).<br />
Die Abende zeigten sich insgesamt<br />
gemäß dem Motto des DOT<br />
wie eine Kartographie bestehender<br />
Auffassungen in der Islamwissenschaft,<br />
<strong>di</strong>e der Öffentlichkeit präsentiert<br />
wurden. Ebenso <strong>di</strong>e Frage<br />
nach den Wurzeln der <strong>Orient</strong>alistik,<br />
<strong>di</strong>e in der abschließenden Po<strong>di</strong>ums<strong>di</strong>skussion<br />
zum Motto des DOT <strong>di</strong>e<br />
Gemüter besänftigte: Man berief<br />
sich auf <strong>di</strong>e Herkunft der <strong>Orient</strong>alistik<br />
aus der Philologie, schließlich<br />
hätten sich <strong>Orient</strong>alisten von Anfang<br />
an durch ihre Sprachkenntnisse<br />
ausgezeichnet.<br />
Dass Aktualität in der Wissenschaft<br />
nicht nur Segen, sondern<br />
zugleich auch Fluch sein kann, zeigt<br />
sich nicht nur an dem ungewöhnlich<br />
modernen und einseitig auf den<br />
Islam ausgerichteten Programm des<br />
DOT. Auch in Bezug auf <strong>di</strong>e Zukunft<br />
der <strong>Orient</strong>alistik wurde der gesellschaftlichen<br />
Verantwortung der<br />
Wissenschaft in Zeiten wachsender<br />
Islamophobie und Terrorangst ein<br />
hoher Stellenwert beigemessen.<br />
Günter Meyer, Vorsitzender des<br />
Zentrums für Forschung zur Arabischen<br />
Welt (ZFAW), forderte gar,<br />
„an den deutschen Universitäten<br />
mehr denn je <strong>di</strong>e Stu<strong>di</strong>erenden dahingehend<br />
auszubilden, dass sie für<br />
solche Diskussionen gerüstet sind<br />
und den einseitig verzerrenden Polemiken<br />
und Klischees erfolgreich<br />
entgegentreten können.“<br />
Dass für <strong>di</strong>e Analyse aktueller<br />
Prozesse grundlegende Kenntnisse<br />
über historische Entwicklungen,<br />
sowie geistes- und sozialwissenschaftliche<br />
Rahmenbe<strong>di</strong>ngungen<br />
unverzichtbar sind, bewiesen an<br />
anderer Stelle viele junge Wissenschaftler<br />
und Wissenschaftlerinnen,<br />
denen der Kongress <strong>di</strong>e<br />
Möglichkeit bot, ihre<br />
Forschung ein erstes Mal<br />
einem wissenschaftlichen<br />
Publikum vorzustellen.<br />
Auch bot das Werkstattgespräch<br />
der Deutschen Arbeitsgemeinschaft<br />
Vorderer <strong>Orient</strong><br />
(DAVO) eine von vielen Berufseinsteigern<br />
genutzte „Plattform für <strong>di</strong>e<br />
Präsentation von Stu<strong>di</strong>enabschlussarbeiten<br />
und Promotionsvorhaben,<br />
<strong>di</strong>e sich in der Konzeptions- oder<br />
Durchführungsphase befinden“, wie<br />
es in der viel versprechenden Programmauskunft<br />
beschrieben wurde.<br />
Darüber hinaus nutzten zahlreiche<br />
Nachwuchsforscher <strong>di</strong>e Gelegenheit,<br />
ein Forschungspanel zu leiten<br />
und so den <strong>Orient</strong>alistentag selbst<br />
mitzugestalten. Angesichts <strong>di</strong>e-<br />
Aktualität ist Segen und Fluch zugleich<br />
ser Fülle von Veranstaltungen, <strong>di</strong>e<br />
sich auf dem dreißigsten <strong>Orient</strong>alistentag<br />
in berauschender Weise<br />
gepaart fanden mit einer stetigen<br />
öffentlichen Erwartungshaltung,<br />
aktueller Brisanz und der Frage<br />
nach der Zukunft der <strong>Orient</strong>alistik<br />
resümiert Maurus Rainmkowski, es<br />
sei „eine gute Vorbereitung auf <strong>di</strong>e<br />
heutige Gesellschaft“, wenn den angehenden<br />
<strong>Orient</strong>alisten das Gefühl<br />
„permanenter Überforderung“ ihrer<br />
älteren Kollegen vermittelt würde.<br />
Trotz später Stunde: Po<strong>di</strong>ums<strong>di</strong>skussionen als Publikumsmagneten<br />
GESELLSCHAFT<br />
Der Deutsche <strong>Orient</strong>alistentag (DOT), ursprünglich als Mitgliederversammlung der Deutschen Morgenlän<strong>di</strong>schen<br />
Gesellschaft (DMG) 1921 ins Leben gerufen, trifft sich als Fachkongress alle drei Jahre an wechselnden<br />
Orten innerhalb Deutschlands. Bei steigender Teilnehmerzahl hat <strong>di</strong>eses Gipfeltreffen nach eigener Aussage<br />
dabei den Anspruch, „<strong>di</strong>e repräsentative Veranstaltung der deutschsprachigen <strong>Orient</strong>alistik“ zu sein. Der <strong>Orient</strong>,<br />
geographisch vom Senegal nach Japan reichend, erstreckt sich dabei in Fach<strong>di</strong>sziplinen von der Afrikanistik<br />
über Alttestamentarische Stu<strong>di</strong>en, Judaistik und Islamwissenschaft bis zur Iranistik und Sinologie. So sind theoretisch<br />
all jene Fächer auf einem DOT vertreten, <strong>di</strong>e sich auf eine „gemeinsame Herkunft aus der Philologie, <strong>di</strong>e<br />
kulturwissenschaftliche Beschäftigung mit der nicht-europäischen Welt berufen und <strong>di</strong>e oft ähnlichen Problemen<br />
bei der Vertei<strong>di</strong>gung <strong>di</strong>eser Fächer gegenüber der Wissenschaftspolitik und in der Universität“ ausgesetzt<br />
sind (Maurus Reinkowski, Mitorganisator).<br />
www.dot2007.de
24 [dī.wān] 12.2007 SPECIAL<br />
SPECIAL<br />
12.2007 [dī.wān] 25<br />
Der Tanz der traurigen Gazellen<br />
In einem Vorort von Damaskus beträgt der Preis, den ein<br />
minderjähriges Flüchtlingsmädchen aus dem kriegsgebeutelten Irak<br />
kostet, derzeit sieben Euro z<strong>wan</strong>zig.<br />
Bei zwei „Arbeiterinnen“ in der Familie lässt sich so <strong>im</strong>merhin <strong>di</strong>e<br />
Monatsmiete bezahlen<br />
von Jasna Zajcek<br />
Mit unbeholfenen Fingern zupft<br />
Raschida <strong>di</strong>e figurformende Miederhose<br />
unter dem langen, engen<br />
Kleid zurecht. Die 14-jährige Irakerin<br />
versucht, ihren Babyspeck<br />
an den Hüften zu kaschieren. Ihre<br />
kleine Schwester Nadya zupft sich<br />
neben ihr das ausgestopfte Dekolleté<br />
zurecht. Raschida und Nadya, <strong>di</strong>e<br />
bis vor kurzem noch Schülerinnen<br />
mit guten Noten und Kopftuch in<br />
Baghdad waren, stehen vor einem<br />
fast blinden Spiegel <strong>im</strong> verdreckten<br />
Vorraum der Damentoilette des<br />
Nachtclubs Gazelle. Aus dem Tanzraum<br />
tönt ohrenbetäubend <strong>di</strong>e Musik<br />
zum tra<strong>di</strong>tionellen arabischen<br />
Schreittanz, dem Dabka, herein.<br />
Rashida hebt ihr hochgeschlitztes<br />
Kleid, um <strong>di</strong>e hautfarbene Stretch-<br />
Hose über <strong>di</strong>e Taille bis unter den<br />
ausgestopften Push-Up-BH zu ziehen.<br />
Eine besonders schöne Frau<br />
wird <strong>im</strong> arabischen Raum als Gazelle<br />
bezeichnet, <strong>di</strong>ese haben lange<br />
Gliedmaßen. Zumindest auf den<br />
ersten Eindruck möchte Raschida<br />
als eine solche wirken, denn <strong>di</strong>e<br />
sau<strong>di</strong>schen Gäste bleiben nur den<br />
Sommer über in Syrien, was der nasse,<br />
kalte Winter bringen wird, weiß<br />
niemand. Der syrische Staat bietet<br />
Flüchtlingen keine weitere Unterstützung<br />
außer der lebensrettenden<br />
Aufenthaltserlaubnis. So versuchen<br />
viele Eltern, ihre Mädchen in Clubs<br />
wie Gazelle arbeiten zu lassen. Als<br />
Gazelle tanzt Raschida aus Baghdad<br />
vor zahlungskräftigen Kunden,<br />
solange, bis einer sie will. Vielleicht<br />
erhofft sie sich durch den anhand<br />
der figurformenden Hose um zwei<br />
Zent<strong>im</strong>eter reduzierten Hüftumfang<br />
etwas mehr als <strong>di</strong>e üblichen<br />
500 syrischen Pfund – sieben Euro<br />
z<strong>wan</strong>zig, <strong>di</strong>e eine Nacht mit einem<br />
minderjährigen Flüchtlingsmädchen<br />
aus dem kriegsgebeutelten<br />
Nachbarland derzeit in Damaskus<br />
kostet.<br />
Ihre Mutter, in schwarz gekleidet,<br />
mit Kopftuch über den tätowierten<br />
Augenbrauen, sitzt neben<br />
der Toilette, beobachtet ihre Töchter<br />
und bewacht den Schminkkasten<br />
der beiden. Sie erklärt energisch,<br />
dass sie stolze Leute – „Schiiten!“<br />
– in Baghdad gewesen seien, bevor<br />
der Krieg <strong>di</strong>e Familie ins Exil und<br />
ihre beiden ältesten Töchter in <strong>di</strong>e<br />
Prostitution trieb. Einen Vater gebe<br />
es nicht mehr. Zunächst half der<br />
Verkauf des Besitzes, Geld, das auf<br />
der Flucht und während der ersten<br />
Monate in Damaskus zerrann. Die<br />
Miete für <strong>di</strong>e Familienwohnung<br />
kostet rund 440 Euro monatlich,<br />
also müsste Raschida 60 Nächte<br />
arbeiten, wäre sie Alleinver<strong>di</strong>enerin.<br />
Doch zum Glück,<br />
sagt <strong>di</strong>e Mutter, arbeite auch<br />
ihre 13-jährige Schwester, <strong>di</strong>e<br />
ebenso aufwän<strong>di</strong>g geschminkt<br />
ist, so dass <strong>di</strong>e Körper der beiden<br />
Teenies, wenn sie denn jede Nacht<br />
einen Freier finden, zumindest für<br />
das Dach über dem Kopf der siebenköpfigen<br />
Familie sorgen können.<br />
Doch das Angebot an Sexarbeite-<br />
rinnen ist mittlerweile übergroß, es<br />
gibt Hunderte solcher Clubs, 30 bis<br />
50 Mädchen pro Etablissement.<br />
Nur ihre Plateauschuhe mit<br />
viel zu hohen Absätzen sorgen dafür,<br />
dass das hübsche, schüchterne<br />
Mädchen sich überhaupt <strong>im</strong> Spiegel<br />
der verdreckten Toilette betrachten<br />
kann. Sie überprüft das <strong>di</strong>cke Make-<br />
Up, dass ihre Mutter ihr aufgetragen<br />
hat, um ihre Pubertätspickel zu kaschieren.<br />
Ihr schwarzes Haar ziert<br />
ein goldfarbenes Plastikkrönchen,<br />
auch <strong>di</strong>e anderen Mädchen, <strong>di</strong>e<br />
sich in der Toilette zu verstecken<br />
suchen, sind wie Prinzessinnen aus<br />
einem orientalischen Märchen verkleidet.<br />
Alle tragen aufreizend eng<br />
und tief dekolletiert geschnittene<br />
Kleider mit Spaghettiträgern, und<br />
nicht wenige der Polyesterroben<br />
geben frische rote Dehnungsstrei-<br />
„Zum Glück arbeitet ihre Schwester auch“<br />
fen an den hochgeschnürten, noch<br />
<strong>im</strong> Wachstum befindlichen Brüsten<br />
frei. Manch eine misst trotz hoher<br />
Schuhe gerade mal einen Meter<br />
vierzig.<br />
„Jalla, jalla!“ ruft eine wütende<br />
Männerst<strong>im</strong>me in den Toilettenraum,<br />
in dem ein Loch <strong>im</strong> Boden als<br />
Abort <strong>di</strong>ent. Stockschläge knallen<br />
an <strong>di</strong>e Tür. Raschida und ihre Kolleginnen<br />
wissen, dass sie jetzt wieder<br />
tanzen müssen. Sie klammern<br />
sich in Zweier- oder Dreierpaaren<br />
aneinander, verknoten ihre Finger<br />
ineinander und verlassen ihr Refugium<br />
um sich auf der Bühne zu präsentieren.<br />
Die Mädchengruppe besteigt<br />
<strong>di</strong>e zirkusmanegenartige Bühne<br />
und reiht sich bei den bereits zirkelnden<br />
Kolleginnen ein. Auf Kommando<br />
der Männerst<strong>im</strong>me, des<br />
„Managers“, lösen sich <strong>di</strong>e Paare<br />
auf. Sie positionieren sich entlang<br />
des Bühnenrandes. Das grelle Licht<br />
gibt bei vielen Verletzungen preis:<br />
zerschnittene Arme, Zigarettenbrandwunden,<br />
blaue und Knutschflecken.<br />
Manche von ihnen tragen<br />
tätowierte und übertätowierte<br />
Schriftzüge, andere haben gezielt<br />
geschnittene, dreireihige Narben an<br />
den Oberarmen. Nach den Verletzungen<br />
befragt, geben sie an, dass<br />
sie sich <strong>di</strong>ese selbst zugefügt hätten<br />
oder aber es ein „Habibi“, ein „Liebling“,<br />
also ein Kunde gewesen sei,<br />
der sie mißhandelt habe. Sie kommentieren<br />
es mit Schulterzucken<br />
und tiefen Blicken aus den traurigen<br />
Kinderaugen unter <strong>di</strong>ck getuschten<br />
W<strong>im</strong>pern. Da es offiziell keine Prostitution<br />
in Syrien gibt, suchen <strong>di</strong>e<br />
Mädchen einen „Habibi“, und sei es<br />
nur für eine Nacht, für sieben Euro<br />
z<strong>wan</strong>zig.<br />
Die Frauenorganisation Al-<br />
Thara weiß mehr über <strong>di</strong>e Realität,<br />
auch, dass einige irakische Familien<br />
ihre Töchter in <strong>di</strong>e Golfstaaten verkauften,<br />
um das Geld für <strong>di</strong>e Flucht<br />
nach Syrien zusammen zu bekommen.<br />
Die Eltern sagen, dass sie nun<br />
als Hausangestellte arbeiten würden.<br />
Für Yahia Al-Anus, Gründer<br />
von Al-Thara sind es eher „Leibeigene“.<br />
Am Tisch des „Managers“ kann<br />
beobachtet werden, wie sich ein junges<br />
Mädchen, 14 vielleicht, sträubt,<br />
<strong>di</strong>e Tanzfläche zu besteigen. Sie ist<br />
zum ersten Mal hier. Ihr Vater wirkt<br />
früh ergraut, unglücklich und übernächtigt.<br />
Er verhandelt mit dem<br />
Manager zur einen und mit seiner<br />
Tochter zur anderen Seite. Sie ist<br />
geschminkt, trägt aber Turnschuhe<br />
Offiziell gibt es keine Prostitution in Syrien<br />
und Jeans. Immer wieder rennt das<br />
Mädchen weinend hinaus, <strong>im</strong>mer<br />
wieder holt der Vater sie herein, und<br />
man sieht, dass es ihm nicht leicht<br />
fällt, sein Mädchen zu nötigen.
26 [dī.wān] 12.2007 SPECIAL<br />
SPECIAL<br />
12.2007 [dī.wān] 27<br />
Der laute Dabka geht zu Ende,<br />
ein romantisches Lied ertönt. Nun<br />
wiegen sich <strong>di</strong>e Teenager <strong>im</strong> Takt der<br />
Musik, schauen von Tisch zu Tisch<br />
und versuchen, durch Blickkontakt<br />
zu flirten. Manche Mädchen ziehen<br />
dabei beide Augenbrauen gleichzeitig<br />
<strong>im</strong> Takt der Musik hoch, so dass<br />
<strong>di</strong>e geschminkten Kinder eher wie<br />
kleine Clowns denn wie Freudenmädchen<br />
aussehen. Einige starren<br />
ins Leere, manche weinen plötzlich<br />
und laufen zu ihren Müttern.<br />
Drei ältere<br />
Sau<strong>di</strong>s sind an Raschida<br />
und ihrer<br />
Schwester interessiert.<br />
Die Ärmel ihrer Dschalabiyas<br />
zieren aufwän<strong>di</strong>ge goldene Manschettenknöpfe.<br />
Diamantbesetzte<br />
Uhren blitzen hervor, als sie <strong>di</strong>e<br />
Arme heben, um eine großmännische,<br />
heranholende Bewegung in<br />
Richtung der schreitenden Mädchen<br />
zu machen. Nach einem weiteren<br />
Blickkontakt begeben sich <strong>di</strong>e<br />
Auserwählten zu den Interessenten<br />
und leisten den Herren Gesellschaft.<br />
Gesprochen wird kaum, <strong>di</strong>e Musik<br />
ist zu laut, und wahrscheinlich<br />
möchte auch keiner wissen, warum<br />
sich seine Glaubensschwestern hier<br />
verkaufen müssen. Die Mädchen<br />
werden ausführlich begutachtet,<br />
in ihre Oberarme gekniffen. Alkohol<br />
ist den Mädchen verboten zu<br />
trinken, so dürfen sie ein wenig an<br />
der Wasserpfeife saugen, bevor der<br />
Freier sie nach ihrer Telefonnummer<br />
fragt und wieder<br />
Ausführliche<br />
Begutachtung<br />
auf <strong>di</strong>e Tanzfläche<br />
schickt.<br />
Das System der „Touristischen<br />
Clubs und Restaurants“ sieht keinen<br />
Sex in der ersten Nacht vor.<br />
Der Schein, ein Land ohne <strong>di</strong>e<br />
Probleme des Westens – wie dem<br />
Verfall der Sitten – zu sein, muss<br />
in Baschar Al-Assads syrischer Republik<br />
gewahrt werden. Seit der<br />
Libanon aufgrund der unsicheren<br />
Lage als Sex-Para<strong>di</strong>es des Nahen<br />
Ostens ausgefallen ist, zieht es<br />
Scharen von reichen Golfstaatlern<br />
nach Damaskus. Doch Diskretion<br />
muss hier gewahrt werden. Nach<br />
dem Austausch der Nummern gibt<br />
der Kunde dem Mädchen, das sich<br />
wieder auf <strong>di</strong>e Tanzfläche verabschiedet,<br />
einen „Missed Call“, sie<br />
speichert <strong>di</strong>e Nummer und meldet<br />
sich zu Feierabend wieder bei ihm.<br />
Der Vater, der Bruder oder ein Taxifahrer<br />
fährt <strong>di</strong>e Mädchen dann zum<br />
Treffpunkt, in ein Hotel oder in ein<br />
Apartment. Oft warten <strong>di</strong>e Fahrer<br />
<strong>im</strong> Empfangsz<strong>im</strong>mer oder <strong>im</strong> Taxi,<br />
bis <strong>di</strong>e Arbeit verrichtet ist.<br />
Der Nachtclub Gazelle liegt wie<br />
unzählige andere Etablissements<br />
<strong>di</strong>eser Art nördlich von Damaskus.<br />
Die Eingangstür ziert ein Foto des<br />
Präsidenten. Jeder Damaszener Taxifahrer<br />
kennt Ma´araba, <strong>di</strong>e Vorstadt<br />
der Nachtclubs, <strong>di</strong>e sich seit<br />
Beginn des Irakkriegs entwickelte.<br />
Bis zum Horizont erstrecken sich<br />
<strong>di</strong>e grellen bunten Reklamelichter<br />
der Vergnügungsclubs. Und jede<br />
Nacht von Mitternacht bis zum er-<br />
sten Gebetsruf kurz vor Sonnenaufgang<br />
herrscht Hochbetrieb, warten<br />
Taxifahrer auf Gäste, kurven wüstensandverschmierteLuxuskarossen<br />
heran, verkaufen Imbissbuden<br />
gegrillte Hähnchen an <strong>di</strong>e Freier,<br />
bieten Süßwarenstände vor den<br />
Etablissements Kaugummi, Schokoriegel<br />
und L<strong>im</strong>onade für <strong>di</strong>e unfreiwilligen<br />
Sexarbeiterinnen feil.<br />
Polizei oder gar <strong>di</strong>e Sittenpolizei<br />
lässt sich hier nicht blicken. „Und<br />
wenn, dann nur in zivil – um sich<br />
zu amüsieren und um abzukassie-<br />
„Die Polizei lässt sich hier nur zum Amüsieren blicken“<br />
ren“, wie der Frauenrechtler Yahia<br />
Al-Anus berichtet. „Diese Mädchen<br />
haben niemanden, an den sie sich<br />
wenden können. Sie haben weder<br />
Hoffnung auf staatliche Unterstützung,<br />
noch eine Ausbildung oder<br />
einen Ehemann, der sie versorgen<br />
könnte. Können Sie sich vorstellen,<br />
was solch ein Lebens<strong>wan</strong>del in einer<br />
Kultur, in der schon bei Verdacht<br />
auf unsittliches Treiben für <strong>di</strong>e Ehre<br />
gemordet wird, für <strong>di</strong>e Psyche der<br />
Bildmaterial von Falko Siewert<br />
Mädchen bedeutet?“ Die Mittel<br />
für ein dringend benötigtes Frauenhaus,<br />
eine <strong>di</strong>skrete Anlaufstelle<br />
zumindest, fehlen Al-Thara. Die syrische<br />
NGO, deren Website von der<br />
syrischen Zensur regelmäßig vom<br />
Netz genommen wird, hat nicht<br />
einmal das Geld für einen sicheren<br />
auslän<strong>di</strong>schen Server.<br />
Während ganze Stadtteile von<br />
Damaskus täglich unter Strom- und<br />
Wasserausfall aufgrund des durch<br />
1,4 Millionen irakische Flüchtlinge<br />
gesteigerten Bedarfs leiden,<br />
scheint in Ma´araba<br />
von Not keine Spur. Jeder<br />
Parkplatz ist voll belegt.<br />
Die parkenden Luxuswagen<br />
kommen aus Sau<strong>di</strong>-<br />
Arabien und aus Kuwait,<br />
am Seitenausgang, sind<br />
ältere Kleinwagen<br />
mit syrischen<br />
oder irakischen<br />
Kennzeichen zu<br />
sehen. In ihnen schlafen<br />
<strong>di</strong>e kleinen Brüder der<br />
Tänzerinnen, bewacht<br />
vom Vater oder den älteren<br />
Brüdern. Die kleinen<br />
Schwestern sind bei<br />
den Müttern <strong>im</strong> Club.<br />
Sie laufen von Tisch zu<br />
Tisch und betteln um<br />
Geld. Schon Sechsjährige<br />
sind so hübsch und<br />
sexy zurechtgemacht,<br />
dass man sich Weiteres<br />
nicht vorstellen möchte.<br />
Manchen der sau<strong>di</strong>schen Wagen<br />
sieht man <strong>di</strong>e Fahrt durch <strong>di</strong>e<br />
Wüste noch an. Viele Gruppen<br />
kommen den Sommer über, um<br />
sich allnächtlich an dem in ihrem<br />
Land verbotenen Alkohol und den<br />
Mädchen zu erfreuen. Mischal,<br />
21-jähriger Angestellter bei der<br />
kuwaitischen Armee, hat sich mit<br />
acht Freunden eine Villa in Damaskus<br />
gemietet. „Den ganzen August<br />
lang können wir uns vergnügen!“<br />
erzählt er lachend und scheinbar<br />
auch stolz, „wirklich jede Nacht“<br />
käme er hierher, und aufgrund der<br />
billigen Preise könnten er und seine<br />
Freunde allnächtlich zwei oder drei<br />
Mädchen – „pro Mann, natürlich!“<br />
mitnehmen. Zwar versuche er, ein<br />
guter Musl<strong>im</strong> zu sein – so trinke<br />
seine Clique keinen Alkohol – zwar<br />
habe er ein Mädchen in Kuwait, das<br />
er lieben würde, aber da er noch<br />
nicht genug Geld für <strong>di</strong>e Hochzeit<br />
gespart habe, wolle er <strong>di</strong>e Freuden<br />
des jugendlichen Lebens jetzt und<br />
hier genießen. „Bei uns ist doch<br />
alles verboten, unsere Mädchen<br />
sind anstän<strong>di</strong>g, aber hier haben wir<br />
eine Party-Villa, nicht mal MTV<br />
würde senden, was jede Nacht bei<br />
uns abgeht!“ Der aktuelle Hit der<br />
Nachtclubszene ertönt und seine<br />
Begleiter zwischen 17 und 24 Jahren<br />
ziehen ihn auf <strong>di</strong>e Tanzfläche.<br />
Die jungen Männer in den tra<strong>di</strong>tionellen<br />
langen weißen Dschalabi-<br />
Mischals Clique trinkt keinen Alkohol<br />
yas fassen sich an den Händen und<br />
tanzen zunächst gemeinsam, bis sie<br />
scheinbar beliebig Mädchen aus der<br />
zirkelnden Menge an den Händen<br />
greifen, eng an sich pressen und mit<br />
ihnen tanzen. Ein Außenstehender<br />
würde be<strong>im</strong> Blick durch <strong>di</strong>e schmierigen<br />
Scheiben wohl eher den Eindruck<br />
bekommen, es handele sich<br />
um einen Schulabschlussball.
28 [dī.wān] 12.2007 SPECIAL<br />
SPECIAL<br />
12.2007 [dī.wān] 29<br />
Fatwa-Unterzeichnung auf der Azhar-Konferenz<br />
Die Beschneidung der Weiblichkeit<br />
Vor einem Jahr trafen namhafte Islamgelehrte an der<br />
Azhar-Universität in Kairo zusammen und berieten über<br />
<strong>di</strong>e islamische Position zur Mädchenbeschneidung.<br />
Ihre gemeinsame Verurteilung wurde in deutschen<br />
Me<strong>di</strong>en als Revolution gefeiert. Doch <strong>di</strong>e Frage, was sich<br />
seitdem an der Situation afrikanischer Frauen geändert<br />
hat, lässt sich leicht beantworten: (noch) nichts<br />
von Dörthe Engels<br />
An zwei Tagen <strong>im</strong> November<br />
2006 berieten sich verschiedene<br />
Islamgelehrte mit Me<strong>di</strong>zinern und<br />
Menschenrechtsaktivisten aus<br />
Afrika und Europa an der Kairoer<br />
Azhar-Universität über <strong>di</strong>e Mädchenbeschneidung.<br />
Initiator der<br />
Konferenz war Rü<strong>di</strong>ger Nehberg,<br />
Leiter der deutschen Menschenrechtsorganisation<br />
Target e.V.. Seit<br />
2000 kämpft er gegen <strong>di</strong>e „genitale<br />
Verstümmelung“, von der nach Angaben<br />
der Weltgesundheitsorganisation<br />
(WHO) weltweit 100 bis 140<br />
Millionen Mädchen und Frauen betroffen<br />
sind und jährlich etwa drei<br />
Millionen bzw. täglich 8000 hinzukommen.<br />
Ausgehend von der Tatsache,<br />
dass <strong>di</strong>e meisten der <strong>di</strong>e Beschneidung<br />
von Mädchen praktizierenden<br />
Ethnien in Afrika islamisch geprägt<br />
sind, sieht Nehberg „in der Kraft<br />
des Islam <strong>di</strong>e stärkste Waffe, um<br />
den blutigen Brauch zu beenden“.<br />
Gemeinsam mit Islamvertretern<br />
möchte Target e.V. das Dogma<br />
durchsetzen: „Frauenverstümmelung<br />
ist unvereinbar mit dem Koran<br />
und der Ethik des Islams!“ Somit war<br />
<strong>di</strong>e Strategie Nehbergs bisher nicht<br />
nur <strong>di</strong>e konkrete Aufklärungsarbeit<br />
vor Ort, sondern vor allem auch<br />
<strong>di</strong>e Einbindung der politischen wie<br />
religiösen Autoritäten. 2001 rief er<br />
hierfür <strong>di</strong>e Pro-Islamische Allianz<br />
(PIA) ins Leben, der bis heute der<br />
Zentralrat der Musl<strong>im</strong>e in Deutschland<br />
wie afrikanische Muftis und<br />
Imame beigetreten sind. Das Volk<br />
der Afar in Äthiopien und Dschibuti<br />
schaffte schließlich auf Bestreben<br />
ihres religiösen Oberhauptes Ali<br />
Mira Hanfari <strong>di</strong>e Beschneidung ab<br />
und ernannte Nehberg und dessen<br />
Lebensgefährtin Anette Weber zu<br />
ihren Ehrenbürgern.<br />
„Stoppt den Film! Er ist eine Lüge, vom Westen gedreht, um uns zu<br />
<strong>di</strong>skr<strong>im</strong>inieren. So ein Verbrechen gibt es bei uns <strong>im</strong> Islam nicht.“<br />
Ein Mann <strong>im</strong> Zuschauerraum der Azhar-Konferenz <strong>im</strong> November 2006 be<strong>im</strong> Zeigen einer Beschneidungsszene<br />
Die Erfahrung, dass <strong>di</strong>e Einbindung<br />
religiöser Autoritäten in den<br />
Kampf gegen <strong>di</strong>e Beschneidung sehr<br />
hilfreich ist, veranlasste Nehberg,<br />
sich an <strong>di</strong>e älteste und einflussreichste<br />
Lehrstätte des sunnitischen<br />
Islams zu wenden. Nachdem bereits<br />
der Großscheich der Azhar-Universität<br />
Muhammad Sayyid Tantawi<br />
eine Fatwa gegen <strong>di</strong>e Mädchenbeschneidung<br />
ausgestellt hatte, konnte<br />
Nehberg den ägyptischen Großmufti<br />
Ali Guma’a als Schirmherr für <strong>di</strong>e<br />
November-Konferenz gewinnen.<br />
Deren Titel entsprach Nehbergs<br />
Ziel: „Verbot der Verstümmelung<br />
des weiblichen Körpers durch Beschneidung“.<br />
Von dem tatsächlichen<br />
Ergebnis waren sowohl Nehberg<br />
als auch internationale Beobachter<br />
dennoch überwältigt: Erstmals<br />
formulierte eine Gruppe hochrangiger<br />
Islamgelehrter gemeinsam ein<br />
Rechtsgutachten, dass <strong>di</strong>e Beschneidung<br />
von Frauen ohne Ausnahme<br />
verbietet. Als „kleine Revolution“,<br />
„großen Erfolg“ und „ein Fanal der<br />
Hoffnung für Millionen islamischer<br />
Frauen“ feierten dementsprechend<br />
deutsche Zeitungen<br />
<strong>di</strong>ese<br />
Wendung <strong>im</strong><br />
jahrzehntelangen<br />
Kampf<br />
gegen <strong>di</strong>e Beschneidung.<br />
Der WHO zufolge ist <strong>di</strong>e Mädchenbeschneidung<br />
in vier Kategorien<br />
einteilbar. Die ersten beiden<br />
Beschneidungsformen, <strong>di</strong>e von der<br />
teilweisen Entfernung der Klitoris<br />
bis zum Herausschneiden der kleinen<br />
Schamlippen reichen, treten<br />
großflächig in Zentralafrika auf und<br />
stellen nach Angaben der WHO<br />
etwa 80 Prozent der Fälle. Die<br />
drastischsten Formen finden sich<br />
„Die weibliche Genitalverstümmelung ist <strong>di</strong>e teilweise oder völlige Entfernung der<br />
äußeren weiblichen Genitalien oder anderer Verletzungen der weiblichen Organe<br />
aus kulturellen oder anderen nicht-therapeutischen Gründen“<br />
gemeinsame Erklärung der Weltgesundheitsorganisation (WHO), des Kinderhilfswerks der Vereinten Nationen (UNICEF) und des<br />
Bevölkerungsfonds (UNFPA) <strong>im</strong> April 1997<br />
Sexualkundeunterricht<br />
vorwiegend am Horn von Afrika<br />
(Somalia, Dschibuti, Eritrea), <strong>im</strong><br />
Sudan, Äthiopien sowie <strong>im</strong> subsaharischen<br />
Westafrika (vor allem<br />
Mali). Bei der so genannten „pharaonischen“<br />
oder „sudanesischen“<br />
Beschneidung werden sämtliche innere<br />
Genitalien weggeschnitten, <strong>di</strong>e<br />
äußeren Schamlippen ausgeschabt<br />
und bis auf eine kleine Öffnung für<br />
den Austritt von Urin und Menstruationsblut<br />
vernäht. Laut WHO sind<br />
etwa 15 Prozent aller betroffenen<br />
Frauen auf <strong>di</strong>ese Weise beschnitten.<br />
In <strong>di</strong>e vierte Kategorie der Beschneidungsformen<br />
ordnet sie schließlich<br />
sämtliche Eingriffe in Aussehen und<br />
Funktion der Genitalien wie Durchstechen<br />
der Klitoris, Dehnen der<br />
Vaginaöffnung, Verbrennungen und<br />
Verätzungen bis hin zum Herausschneiden<br />
der gesamten Vulva ein.<br />
Derartige Formen sind auch unter<br />
einigen Ethnien in Südamerika<br />
oder Australien anzutreffen. Ferner<br />
werden auf der arabischen Halbinsel,<br />
<strong>im</strong> Irak, In<strong>di</strong>en, Malaysia und<br />
Indonesien Mädchen und Frauen<br />
auf verschiedene Art beschnitten.<br />
Aufgrund der Präsenz afrikanischer<br />
Ein<strong>wan</strong>derer existiert <strong>di</strong>e Beschneidung<br />
heute auch in Europa.<br />
Oftmals wird das Mädchen unter<br />
unzureichenden hygienischen<br />
Verhältnissen – etwa in einer Hütte<br />
auf dem Fußboden – beschnitten.<br />
Dabei werden unsterile Geräte wie<br />
Glasscherben oder Rasierklingen<br />
benutzt, keinerlei Betäubungsmittel<br />
ver<strong>wan</strong>dt und <strong>di</strong>e Wunde le<strong>di</strong>glich<br />
mit Hausmittelchen behandelt. In<br />
den Großstädten werden <strong>di</strong>e Mädchen<br />
– trotz teilweise empfindlicher<br />
Strafandrohungen durch den Staat<br />
– auch he<strong>im</strong>lich in Arztpraxen beschnitten.<br />
Die gesundheitlichen und<br />
psychologischen Folgen können<br />
eklatant sein. Zu den sofortigen<br />
Komplikationen zählen vor allem<br />
Schockzustände, starke Blutungen<br />
oder <strong>di</strong>e Verletzung anderer Organe.<br />
Wie viele Mädchen bei der Beschneidung<br />
sterben, ist nicht bekannt.<br />
Später können Geschwüre an der<br />
Narbe, Inkontinenz, Unfruchtbarkeit<br />
und Risikosch<strong>wan</strong>gerschaften<br />
hinzukommen. Meist leiden <strong>di</strong>e<br />
Frauen unter einem schmerzvollen
30 [dī.wān] 12.2007 SPECIAL<br />
SPECIAL<br />
12.2007 [dī.wān] 31<br />
und unbefrie<strong>di</strong>genden Geschlechtsverkehr.<br />
Die panische Angst, der<br />
große Schmerz, das erniedrigende<br />
Gefühl der absoluten Wehrlosigkeit<br />
und Ohnmacht sowie <strong>di</strong>e Empfi n-<br />
dung, betrogen worden zu sein,<br />
können ein psychisches Trauma zurücklassen.<br />
Die <strong>di</strong>e Beschneidung ausübenden<br />
Ethnien verstehen<br />
<strong>di</strong>ese <strong>im</strong> Gegensatz<br />
zu der durch<br />
internationale Menschenrechtsorganisationen<br />
angebrachten<br />
Kritik keineswegs als<br />
Verstümmelung. Die<br />
Landessprachen belegen<br />
<strong>di</strong>e Beschneidung<br />
der Frau zumeist mit<br />
positiven Termini<br />
wie Reinigung oder<br />
Verschönerung.Die<br />
Beschneidung gilt in<br />
Zentralafrika als jahrhundertealter<br />
Brauch,<br />
der unverzichtbar für<br />
das Fortbestehen gesellschaftlicher<br />
Werte und Normen<br />
ist. Eine unbeschnittene Frau wird<br />
meist als schmutzig, krank und unmoralisch<br />
stigmatisiert und ausgeschlossen.<br />
Die Beschneidung wird in Afri-<br />
„Wäre Genitalverstümmelung ein Männerproblem,<br />
wäre alles längst erle<strong>di</strong>gt.“<br />
ka von Anhängern aller Religionen<br />
praktiziert, wobei <strong>di</strong>e Musl<strong>im</strong>e mit<br />
etwa 80 Prozent <strong>di</strong>e größte Gruppe<br />
stellen. Sie bezeichnen <strong>di</strong>e Beschneidung<br />
überwiegend als Sunna,<br />
ein von Gott gewolltes Gebot. Dabei<br />
findet sich <strong>im</strong> Koran weder für Männer<br />
noch für Frauen ein Hinweis<br />
auf <strong>di</strong>e Beschneidung. Auch in der<br />
zweiten Quelle der Rechtsfindung,<br />
der Sunna, lassen sich kaum eindeutige<br />
Aussagen des Propheten zur<br />
Verbindlichkeit der Beschneidung<br />
ausmachen. Dies erstaunt, wird<br />
doch heute in der Forschung angenommen,<br />
dass <strong>di</strong>e Beschneidung zu<br />
Zeiten des Propheten Muhammads<br />
auf der arabischen Halbinsel in<br />
einem nicht abzuschätzenden Ausmaß<br />
praktiziert wurde. Der Ursprung<br />
der Beschneidung wird <strong>im</strong><br />
pharaonischen Afrika gesucht. Im<br />
Zuge der islamischen Eroberung<br />
von Teilen Afrikas vermischten sich<br />
<strong>di</strong>e lokalen mit islamischen Tra<strong>di</strong>tionen<br />
und erfuhren nachträglich eine<br />
rechtliche Legit<strong>im</strong>ierung, um <strong>di</strong>e<br />
Bevölkerung<br />
der neuen Gebieteunproblematischer<br />
in das neue<br />
Gesellschafts-<br />
und Glaubenssystem zu integrieren.<br />
Die islamische Rechtswissenschaft<br />
hat in der Vergang enheit <strong>di</strong>e Beschneidung<br />
von Frauen daher sehr<br />
unter schied lich bewertet. Während<br />
beispielsweise <strong>di</strong>e Rechtsschule der<br />
Hanbaliten <strong>di</strong>e Beschneidung als<br />
„ehrenvolle Tat“ ohne Verpflichtung<br />
bezeichnete, sprachen <strong>di</strong>e Schafiiten<br />
von ritueller Pflicht.<br />
In den vergangenen Jahren beschäftigten<br />
sich Islamgelehrte aufgrund<br />
der internationalen Kritik<br />
wieder vermehrt mit der Frage der<br />
Beschneidung. Im November hatten<br />
sie eine schwierige Grad<strong>wan</strong>de-<br />
Waris Dirie, somalische Autorin<br />
„Sie versprachen mir ein herrliches Fest.<br />
Über den ungeheuren Schmerz hat mir niemand<br />
etwas gesagt.“ Binta Si<strong>di</strong>be<br />
rung zwischen kultureller Identität<br />
bzw. Abgrenzung gegen den Westen<br />
und Akzeptanz wissenschaftlicher<br />
Erkenntnisse und Frauenrechten<br />
zu meistern. Für das Thema der<br />
Mädchenbes<br />
chneidung<br />
bedeutet <strong>di</strong>es<br />
ein hochexplosivesGemisch<br />
aus<br />
Sexualmoral,<br />
Religion und<br />
Me<strong>di</strong>zin, das<br />
wie so oft allein<br />
Männer<br />
zu maßregeln<br />
versuchen.<br />
Die gem<br />
e i n s a m e<br />
Deklaration<br />
der Mädchenbeschneidung<br />
als unislamisch<br />
und für <strong>di</strong>e Frau schädlich ist<br />
zweifelsohne ein Erfolg. Die St<strong>im</strong>men<br />
von so populären Gelehrten<br />
wie Ali Guma’a, Muhammad Sayyid<br />
Tantawi oder Yusuf al-Qaradawi<br />
werden in der islamischen Welt<br />
gehört. Die Tatsache, dass der Initiator<br />
der Konferenz eine deutsche<br />
Organisation war, werden konservative<br />
Kreise durch <strong>di</strong>e Beschul<strong>di</strong>gung<br />
des Kultur<strong>im</strong>perialismus zur<br />
Mobilmachung gegen Frauenrechte<br />
zu nutzen wissen. In Zentralafrika<br />
werden vermutlich nur wenige<br />
Frauen von der Aufregung zu hören<br />
bekommen. Die Zahl der Beschneidungen<br />
ist nach Angabe der WHO<br />
weiterhin steigend.<br />
Nähere Informationen bei:<br />
TARGET e.V.<br />
Rü<strong>di</strong>ger Nehberg und Annette Weber<br />
Großenseer Straße 1a<br />
22929 Rausdorf<br />
Telefon: 0 41 54.99 99 40<br />
E-Mail: contact@target-human-rights.com<br />
www.tagert-human-rights.de<br />
Allah ist nicht männlich<br />
Mit dem Islam sei das Patriarchat nicht zu rechtfertigen,<br />
sagen musl<strong>im</strong>ische Feministinnen.<br />
von Katharina Mühlbeyer<br />
Wer bei musl<strong>im</strong>ischen Feministinnen<br />
an verschleierte Frauen<br />
denkt, <strong>di</strong>e in lila Latzhosen auf<br />
Kairos Straßen protestieren, liegt<br />
falsch. Auch geben sie kein frauenbewegtes<br />
Kampfblatt heraus oder<br />
halten durch spektakuläre Aktionen<br />
<strong>di</strong>e Mullahs auf Trab. Die islamische<br />
Frauenbewegung kritisiert <strong>di</strong>e ungerechten<br />
Geschlechterverhältnisse<br />
in der islamischen Welt, ohne dabei<br />
dem Islam <strong>di</strong>e Schuld an der rechtlichen<br />
und sozialen Diskr<strong>im</strong>inierung<br />
der Frauen zu geben.<br />
Die Macht des Koran<br />
So treten <strong>di</strong>e Sisters of Islam<br />
<strong>im</strong>mer dann auf den Plan, wenn in<br />
Malaysia auf Basis der Scharia frauenfeindliche<br />
Urteile gefällt oder Gesetze<br />
zum Nachteil von Frauen verabschiedet<br />
werden. Die malaiische<br />
Frauen-Lobby für <strong>di</strong>e Gleichstellung<br />
der Geschlechter wurde von der Soziologieprofessorin<br />
Norani Othman<br />
gegründet. Ihre Öffentlichkeitsarbeit<br />
für Frauenrechte stützt sie auf<br />
ihre Interpretation des Korans und<br />
<strong>di</strong>e besagt, dass <strong>di</strong>e Offenbarung<br />
Männer und Frauen gleich behandelt.<br />
In der islamischen Welt jedoch<br />
wird <strong>di</strong>e Unterdrückung der Frau<br />
bis heute mit Rückgriff auf den<br />
Koran und <strong>di</strong>e islamische Überlieferung<br />
gerechtfertigt. So sind <strong>di</strong>e<br />
ungerechten Geschlechterverhält-<br />
nisse für viele Musl<strong>im</strong>e gottgewollte<br />
Ordnung – und damit unantastbar.<br />
Der Kampf für <strong>di</strong>e Rechte der musl<strong>im</strong>ischen<br />
Frau könne daher nur mit<br />
dem Koran geführt werden, sagt <strong>di</strong>e<br />
Rechtsexpertin Ziba Mir-Hosseini.<br />
Die Iranerin übt fundamentale Kritik<br />
an der historischen Entwicklung<br />
des islamischen Rechts, von der<br />
Frauen bis heute ausgeschlossen<br />
sind - und provoziert so <strong>di</strong>e konservativen<br />
Gottesmänner. Der Islam,<br />
sagt sie, sei in vielen islamischen<br />
Gesellschaften ein so starker Faktor,<br />
dass säkulare Positionen oder Prinzipien<br />
wie universelle Menschenrechte<br />
kein Gehör mehr fänden.<br />
Auch, weil <strong>di</strong>e Idee der Menschenrechte<br />
unter der Politik des Westens<br />
<strong>im</strong> Nahen Osten gelitten habe.<br />
Provokant ist auch <strong>di</strong>e US-Amerikanerin<br />
Amina Wadud. Die Konvertitin<br />
brach <strong>im</strong> Jahr 2005 mehrere<br />
islamische Tabus auf einmal,<br />
als sie ein Freitagsgebet vor einer<br />
gemischten Gruppe von Männern<br />
und Frauen leitete. Mit ihrer Pre<strong>di</strong>gt<br />
forderte sie symbolisch, dass Frauen<br />
Zugang zu religiösen Ämtern in der<br />
Gemeinde erhalten. Der Skandal<br />
bestand für <strong>di</strong>e Mehrheit der musl<strong>im</strong>ischen<br />
Kommentatoren des Geschehens<br />
darin, dass eine Frau Männern<br />
in einer religiösen Funktion<br />
vorsteht und manche Teilnehmerin<br />
ihr Haar nicht verhüllte. Denn tra<strong>di</strong>tionell<br />
beginnt <strong>di</strong>e Trennung der<br />
Geschlechter am Moscheeeingang,<br />
Frauen müssen ihr Haar bedecken<br />
und <strong>di</strong>e Leitung gemischter Gottes<strong>di</strong>enste<br />
ist ihnen verboten.<br />
Den Tra<strong>di</strong>tionsbruch wagen<br />
Musl<strong>im</strong>innen überall auf der Welt,<br />
weil sie sich in <strong>di</strong>e Tiefen der Koranauslegung<br />
und der islamischen<br />
Rechtsfindung begeben haben<br />
– und zu anderen Ergebnissen<br />
kamen, als <strong>di</strong>e männlichen religiösen<br />
Autoritäten. So rechtfertige<br />
der Islam keinen Männerbund mit<br />
einem männlichen Gott. Denn der<br />
arabische Artikel al erlaube keine<br />
Vermännlichung des Wortes Allah,<br />
Eine weltweite Frauenbewegung <strong>im</strong> Namen Gottes<br />
das geschlechtslos sei. Auf einen<br />
Gottvater, wie ihn das Christentum<br />
kennt, könne sich das musl<strong>im</strong>ische<br />
Patriarchat daher nicht stützen.<br />
Ein islamisches Frauenzentrum<br />
aus Köln legte <strong>im</strong> Jahr 2006 eine<br />
Neuinterpretation der umstrittenen<br />
Sure 4,Vers 34 vor. Ihre mehrheitlich<br />
anerkannte Auslegung sieht<br />
Männer als privilegiert und rechtfertigt<br />
es als gottgewollt, wenn<br />
Männer Frauen schlagen. Das Frauenzentrum<br />
hingegen erläutert <strong>di</strong>e<br />
provokante Koranstelle so: Männer
32 [dī.wān] 12.2007 SPECIAL<br />
SPECIAL<br />
12.2007 [dī.wān] 33<br />
sollten für Frauen einstehen, nicht<br />
über ihnen stehen. Das problematische<br />
arabische Wort<br />
der Sure lautet daraba. Es<br />
bedeutet nach Meinung<br />
der Interpretinnen sich<br />
trennen, keinesfalls schlagen – der<br />
Mann sollte sich also lieber scheiden<br />
lassen, anstatt loszuprügeln.<br />
Für musl<strong>im</strong>ische Frauen steht<br />
bei der Diskussion um <strong>di</strong>e richtige<br />
Koraninterpretation viel auf dem<br />
Spiel, denn sie hat Macht über ihren<br />
Alltag. In vielen musl<strong>im</strong>ischen<br />
Ländern fließt <strong>di</strong>e Auslegung des<br />
Korans in das Familien- und Personenstandsrecht<br />
ein und entscheidet<br />
damit zum Beispiel, ob Frauen verreisen,<br />
Auto fahren oder eben geschlagen<br />
werden dürfen.<br />
Die Ägypterin Ouma<strong>im</strong>a Abou<br />
Bakr spürt in ihrem Buch Al-mar’a<br />
wa-l-gender (etwa: Die Frau und <strong>di</strong>e<br />
Geschlechterfrage) der Rolle der<br />
Frau in der islamischen Geschichte<br />
Der Islam ist Frauensache<br />
nach. Sie möchte damit aufzeigen,<br />
dass nicht der Koran oder der Prophet<br />
Muhammad, sondern <strong>di</strong>e Männergesellschaft<br />
<strong>di</strong>e St<strong>im</strong>me der Frau<br />
seit Jahrhunderten unterdrückt. Die<br />
islamische Frauenbewegung sieht<br />
<strong>im</strong> islamischen Glauben ihre Stärke<br />
und vertei<strong>di</strong>gt den Islam gegen Angriffe<br />
von westlichen Frauenrechtlerinnen,<br />
<strong>di</strong>e <strong>im</strong> Koran <strong>di</strong>e Wurzel<br />
allen Übels sehen.<br />
Doch <strong>di</strong>e islamische Kritik an<br />
der bestehenden islamischen Geschlechterordnung<br />
ist nicht darauf<br />
beschränkt, den Koran zur Frauensache<br />
zu machen. Es geht darum,<br />
<strong>di</strong>e islamische Welt insgesamt zu<br />
Ouma<strong>im</strong>a Abou Bakr<br />
Professorin für Englisch und Literaturwissenschaft<br />
verändern. Musl<strong>im</strong>ische Feministinnen<br />
mischen sich in <strong>di</strong>e große<br />
Debatte darüber ein, wie <strong>di</strong>e islamische<br />
Gemeinschaft des 21. Jahrhunderts<br />
aussehen soll. Wie kann<br />
<strong>di</strong>e politische, rechtliche und soziale<br />
Gleichstellung der Frau gelingen?<br />
Und was bedeutet Geschlechtergerechtigkeit<br />
auf islamisch? Für musl<strong>im</strong>ische<br />
Aktivistinnen steht eines<br />
dabei fest: Diese Diskussion dürfen<br />
nicht nur einige Männer mit Worten<br />
und manchmal auch Waffen<br />
führen, während <strong>di</strong>e weibliche Hälfte<br />
der Gesellschaft ausgeschlossen<br />
bleibt.<br />
In Deutschland ist zum Thema erschienen:<br />
Ein einziges Wort und seine große Wirkung. Eine<br />
hermeneutische Betrachtungsweise zum Qur’an<br />
, Sure 4, Vers 34 mit Blick auf das Geschlechterverhältnis<br />
<strong>im</strong> Islam. Bestellbar be<strong>im</strong> Zentrum für<br />
Islamische Frauenforschung und Frauenförderung<br />
(ZIF) über www.zif-koeln.de.<br />
<strong>Sexualität</strong> <strong>im</strong> Islam:<br />
Genaue Regeln für jede Lebenslage?<br />
von Anna Antonakis<br />
Die Art und Weise, wie in Religionen<br />
und Sekten mit <strong>Sexualität</strong> umgegangen<br />
wird, ist vielfältig und reicht<br />
von strikter Ignoranz bis zur absoluten<br />
Glorifizierung des Themas.<br />
Im Islam werden teilweise sehr<br />
genaue Regeln für <strong>di</strong>e Sexualpraktiken<br />
der Gläubigen aufgestellt. Diese<br />
finden sich zum einen – in symbolische<br />
Sprache verpackt – <strong>im</strong> Koran<br />
und den verschriftlichten Aussagen<br />
des Propheten, den Ha<strong>di</strong>then, zum<br />
andern verfassen islamische Gelehrte<br />
stetig neue Rechtsgutachten,<br />
sogenannte Fatwas, bezüglich<br />
der „wahren“ Zusammenkunft von<br />
Mann und Frau. Grundsätzlich<br />
<strong>di</strong>ent Sex nach islamischer Vorstellung<br />
nicht nur der reinen Fortpflanzung;<br />
der Islam ist tra<strong>di</strong>tionell keine<br />
lustunempfindliche Religion. Der<br />
sexuelle Bereich wird daher durchaus<br />
als wichtiger Bestandteil der<br />
privaten Zufriedenheit anerkannt.<br />
Dennoch gibt es Restriktionen, wie<br />
sich <strong>di</strong>ese Genussfindung in den<br />
Schlafz<strong>im</strong>mern nun genau abzuspielen<br />
habe. Als „unrein“ gelten<br />
beispielsweise Analsex sowie Sex<br />
während der Menstruation. Ob <strong>di</strong>ese<br />
Regelwerke tatsächlich klar aus<br />
den Worten des Korans abzuleiten<br />
sind oder vielmehr von der Interpretationsgabe<br />
zeitgenössischer Religionsoberhäupter<br />
abhängt, wird in<br />
der islamischen Welt <strong>im</strong>mer wieder<br />
<strong>di</strong>skutiert.<br />
Verwirrung in den<br />
Gelehrtenkreisen<br />
In Ägypten entbrannte 2006<br />
ein Streit unter Religionsgelehrten<br />
bezüglich „unislamischer“ Sexualpraktiken,<br />
als Scheich Raschad Has-<br />
san Khalil, ein ehemaliger Dekan<br />
der renommierten Fakultät für islamisches<br />
Recht an der Kairoer Azhar-Universität,<br />
eine Fatwa erließ,<br />
<strong>di</strong>e das vollstän<strong>di</strong>ge Ausziehen des<br />
Geschlechtspartners verbot. Dabei<br />
berief er sich auf einen Ha<strong>di</strong>th.<br />
Dagegen vertrat <strong>di</strong>e Dekanin der<br />
Fakultät für Islamstu<strong>di</strong>en derselben<br />
Universität <strong>di</strong>e Meinung, dass den<br />
Ehepartnern außer Analsex alles erlaubt<br />
sei. Dreh- und Angelpunkt bei<br />
der Analyse <strong>di</strong>eses Themas war der<br />
folgende Koranvers: „Eure Frauen<br />
sind euch ein Saatfeld. Bestellt eurer<br />
Saatfeld, wie es euch gefällt!“<br />
(2:223). Unumstritten bleibt bei<br />
der Interpretation <strong>di</strong>eses Verses das<br />
Verbot des Analsex, da <strong>di</strong>eser in<br />
den Lehren Muhammads deutlich<br />
präzisiert wird: „Fluch über denjenigen,<br />
der sich der Frau von hinten<br />
nähert.“ Dieser Zusatz wurde in Ge-<br />
Keine lustunempfindliche Religion.<br />
Persien / 20. Jahrhundert
34 [dī.wān] 12.2007 SPECIAL<br />
SPECIAL<br />
12.2007 [dī.wān] 35<br />
lehrtenkreisen mehrmals geprüft<br />
und für authentisch befunden.<br />
Oralsex<br />
– eine Grauzone <strong>im</strong><br />
islamischen Recht<br />
Ob Oralsex von Gläubigen guten<br />
Gewissens genossen werden<br />
darf, gibt ebenfalls Anlass zur Diskussion.<br />
Dieser wird weder <strong>im</strong> Koran<br />
noch in der Sunna erwähnt, was<br />
den Schluss zulässt, dass Oralsex<br />
damals keine bekannte oder gar<br />
gängige Sexualpraktik war. Wegen<br />
fehlender schriftlicher Überlieferungen<br />
wird sie heutzutage daher<br />
als legit<strong>im</strong> angesehen, wobei <strong>di</strong>e<br />
dabei ausgetauschten Körperflüssigkeiten<br />
jedoch als „unrein“ gelten<br />
und überall dort nicht aufgenommen<br />
werden dürfen, wo sie keinen<br />
biologischen Nutzen haben. Besonderes<br />
Augenmerk wird auf <strong>di</strong>e Hygiene<br />
nach dem Sex gelegt; erst wenn<br />
Körper und Gewänder vollstän<strong>di</strong>g<br />
gereinigt sind, darf wieder zum Gebet<br />
übergegangen werden.<br />
Selbstbefrie<strong>di</strong>gung<br />
Gibt es bezüglich Beischlaf und<br />
seinen legit<strong>im</strong>en Praktiken große<br />
Verwirrung, scheint zumindest<br />
<strong>di</strong>e Selbstbefrie<strong>di</strong>gung nach koranischer<br />
Auffassung eindeutig untersagt:<br />
„Und <strong>di</strong>ejenigen, <strong>di</strong>e keine<br />
Gelegenheit zur Ehe finden, sollen<br />
sich keusch halten bis Allah sie aus<br />
seiner Fülle reich macht.“ (24:33).<br />
Aus der Sunna wird zum Beweis<br />
des Verbotes der Selbstbefrie<strong>di</strong>gung<br />
zusätzlich oft folgender Satz<br />
zitiert: „Oh ihr jungen Männer, wer<br />
von euch heiraten kann, der soll<br />
heiraten, denn es hilft den Blick zurückzuhalten<br />
und <strong>di</strong>e Keuschheit zu<br />
wahren, und wer dazu nicht in der<br />
Lage ist, der soll fasten, denn das Fasten<br />
ist für ihn ein Schutz.“ (Bukhari,<br />
Ha<strong>di</strong>th Nr. 5066) Aller<strong>di</strong>ngs wird<br />
<strong>di</strong>eses Verbot von Seiten einiger<br />
Scheichs aufgeweicht. Zum Schutz<br />
Selbstbefrie<strong>di</strong>gung unter Zuhilfenahme pornografischer Bilder. Persien / 18. Jahrhundert<br />
vor unehelichen sexuellen Übergriffen<br />
auf Frauen bei allzu großer Lust<br />
soll Masturbation erlaubt sein. Diese<br />
Ausnahmeregelung wurde hauptsächlich<br />
unter Berücksichtigung der<br />
in einigen Ländern der arabischen<br />
Welt sehr teuren Hochzeiten aufgestellt.<br />
Dieses Beispiel zeigt, dass<br />
Gelehrte der heutigen Zeit durchaus<br />
auch <strong>di</strong>e sozialen <strong>Hinter</strong>gründe<br />
der Gläubigen berücksichtigen und<br />
populäre Urteile fällen.<br />
<strong>Sexualität</strong> als<br />
para<strong>di</strong>esische<br />
Belohnung<br />
Während der Mensch <strong>im</strong> Christentum<br />
nach seinem Tode als „Engel<br />
<strong>im</strong> H<strong>im</strong>mel“ (Matthäus 22,30)<br />
ohne eheliche Bindung und somit<br />
ohne sexuelle Gelüste gedacht wird,<br />
verspricht der Islam den sexuellen<br />
Genuss ohne Fortpflanzung. Dieser<br />
wird als para<strong>di</strong>esische Belohnung<br />
für ir<strong>di</strong>sche gute Taten verstanden.<br />
Den Männern wird <strong>di</strong>e Polygamie<br />
auch <strong>im</strong> Jenseits gewährt. Überir<strong>di</strong>sche<br />
Jungfrauen, sogenannte Huris,<br />
„schön wie Perlen“, stehen ihnen<br />
dort zur Verfügung. Sowohl <strong>im</strong> Koran<br />
als auch in der Sunna werden<br />
<strong>di</strong>ese ausführlich in ihrem Liebreiz<br />
beschrieben.<br />
Der Frau wird anstelle eines<br />
männlichen Harems eine andere Be-<br />
lohnung versprochen: Da <strong>di</strong>e weibliche<br />
sexuelle Wollust nicht so stark<br />
ausgeprägt sei, erwarten sie nach<br />
islamischer Vorstellung materielle<br />
Geschenke <strong>im</strong> Para<strong>di</strong>es. Zudem<br />
wird sie <strong>im</strong> Jenseits mit ihrem Ehemann<br />
– sofern er durch Missetaten<br />
nicht in <strong>di</strong>e Hölle verbannt worden<br />
ist – wieder vereint. Die Ha<strong>di</strong>the,<br />
<strong>di</strong>e der <strong>Sexualität</strong> <strong>im</strong> Para<strong>di</strong>es einen<br />
derart hohen Stellenwert be<strong>im</strong>essen,<br />
bleiben aller<strong>di</strong>ngs umstritten –<br />
nicht zuletzt wegen der durch <strong>di</strong>ese<br />
Ha<strong>di</strong>the motivierten Selbstmordattentate.<br />
Einziges Ziel sollte es nach<br />
Meinung der Kritiker sein, das Angesicht<br />
Gottes zu erblicken.<br />
Am Ende steht<br />
<strong>di</strong>e in<strong>di</strong>viduelle<br />
Interpretation<br />
Trotz der Fülle und Vielfältigkeit<br />
an Informationen und Regeln,<br />
<strong>di</strong>e der Islam für beinahe jede Situation<br />
des <strong>di</strong>esseitigen und jenseitigen<br />
Lebens bereithält, kann er keinesfalls<br />
als „<strong>di</strong>e Lösung“ gelten. Gerade<br />
bei den verwirrenden Regeln<br />
und Fatwas, welche <strong>di</strong>e erlaubten<br />
Sexualpraktiken auf Erden behandeln,<br />
sollte auf den Ausspruch Muhammads<br />
zurückgegangen werden,<br />
der besagt, dass am Ende das Herz<br />
jedes Einzelnen zu entscheiden hat.<br />
Let's talk about sex...<br />
Die ägyptische Ärztin und Wissenschaftlerin Heba Qutb ist als<br />
Sexologin, Therapeutin für sexuelle Angelegenheiten, tätig. In ihrer<br />
Kairoer Praxis berät sie Ehepartner, gibt Sexualunterricht für Familien<br />
und 'heilt' Homosexuelle. In ihrer eigenen TV-Show klärt sie <strong>di</strong>e<br />
ägyptische Gesellschaft auf und versucht dabei, ihre Thesen und<br />
Erklärungen islamisch zu begründen und zu legit<strong>im</strong>ieren.<br />
[dī.wān] Wie sieht der Alltag in Ihrer Praxis aus? Was<br />
für Menschen kommen und mit welchen Anliegen?<br />
HEBA QUTB Als ich meine Praxis vor etwa sieben Jahren<br />
eröffnete, kamen nur Menschen aus der Oberschicht.<br />
Mittlerweile kommen meine Patienten jedoch aus fast<br />
allen Bereichen der Gesellschaft und von überall her<br />
aus Ägypten, sogar aus anderen Ländern, auch aus Europa,<br />
Australien und den USA. Am Anfang war es ein<br />
Ereignis, wenn Männer in <strong>di</strong>e Praxis kamen. Mittlerweile<br />
kommen jedoch mehr Männer als Frauen. Natürlich<br />
kommen auch viele Ehepaare.<br />
[dī.wān] Sind unter ihren Patienten auch Kopten oder<br />
nur Musl<strong>im</strong>e?<br />
HEBA QUTB Es kommen viele Kopten, fast jeden Tag.<br />
[dī.wān] Wie oft haben Sie in Ihrer Praxis mit Fällen<br />
von Frauenbeschneidung zu tun? Wie wirkt sich Frauenbeschneidung<br />
auf <strong>di</strong>e <strong>Sexualität</strong> aus?<br />
HEBA QUTB In meiner Praxis werde ich damit nicht oft<br />
konfrontiert. Ich denke, dass sich Frauenbeschneidung<br />
auch nicht auf <strong>di</strong>e <strong>Sexualität</strong> auswirkt.<br />
[dī.wān] Sie denken, dass es Frauen nicht daran hindert,<br />
Spaß am Sex zu haben?<br />
HEBA QUTB Ja, und ich habe wissenschaftliche Belege dafür.<br />
Das bedeutet nicht, dass ich nicht gegen <strong>di</strong>e Frauenbeschneidung<br />
wäre! Ich bin absolut dagegen, zumal <strong>di</strong>ese<br />
Praktik weder eine religiöse noch eine me<strong>di</strong>zinische<br />
Grundlage hat. Auf der anderen Seite wirkt es sich tatsächlich<br />
wenig auf <strong>di</strong>e <strong>Sexualität</strong> der Frau aus. Die Nervenenden<br />
existieren auch nach dem Entfernen der Kli-
36 [dī.wān] 12.2007 12.2007 [dī.wān] 37<br />
SPECIAL<br />
toris noch. Durch das Massieren <strong>di</strong>eser Nervenenden<br />
kann also noch das gleiche Gefühl erzeugt werden.<br />
[dī.wān] Sie reden jetzt über <strong>di</strong>e ‚harmlosere‘ Form der<br />
Beschneidung?<br />
HEBA QUTB Das gilt für alle Formen der Mädchenbeschneidung<br />
außer für <strong>di</strong>e extremste Form, <strong>di</strong>e in einigen ländlichen<br />
Gebieten Afrikas ange<strong>wan</strong>dt wird; in Ägypten ist<br />
sie nicht verbreitet.<br />
[dī.wān] Wie gehen ägyptische Paare mit Familienplanung,<br />
sei es durch Verhütungsmittel oder Abtreibung,<br />
um?<br />
HEBA QUTB Das lässt sich nicht verallgemeinern. In der<br />
Oberschicht, in der das Bildungsniveau hoch ist, wird<br />
damit anders umgegangen als auf allen anderen gesellschaftlichen<br />
Ebenen. Gerade in ländlichen Gebieten ist<br />
es oft sehr wichtig, viele Kinder zu haben, da sie schon<br />
<strong>im</strong> Alter von sechs Jahren eine zusätzliche Arbeitskraft<br />
darstellen. Was Abtreibung betrifft, so ist sie absolut<br />
haram (verboten, d.R.). Doch praktiziert wird sie hier<br />
tagtäglich, da brauchen wir uns nichts vorzumachen.<br />
[dī.wān] Haben Sie mit Frauen und Männern aus polygamen<br />
Ehen zu tun – und was können Sie uns von deren<br />
Sexualleben berichten?<br />
HEBA QUTB In Ägypten? Nein, das gibt es hier eigentlich<br />
nicht. In unserer Kultur, in <strong>di</strong>esem liberalen Land, wäre<br />
das unvorstellbar! Im Gegensatz zu den Golfstaaten<br />
können wir auf eine längere Zivilisationsgeschichte<br />
zurückblicken. So wie <strong>di</strong>e Polygamie in vielen Gesellschaften<br />
praktiziert wird, läuft etwas falsch. Das ist<br />
nicht der Weg der Scharia. Die Leute denken sich nur:<br />
Ah, es ist schön, so viele Frauen zu haben. Ich würde<br />
meinen Mann umbringen, würde er eine weitere Frau<br />
heiraten wollen (lacht).<br />
[dī.wān] Als Ärztin betrachten sie Homosexualität als<br />
‚heilbare Krankheit‘. Könnten Sie <strong>di</strong>ese Position – jenseits<br />
der Religion – wissenschaftlich begründen? Und welche<br />
Heilmittel bieten Sie an?<br />
HEBA QUTB Mein Ausgangspunkt war der Koran, aber in<br />
ihm wird Homosexualität nicht als Krankheit, sondern<br />
als Sünde bezeichnet. Ich als Gläubige kann da nicht<br />
religiös argumentieren. Es ist kein Aspekt, über den<br />
man <strong>di</strong>skutieren kann, Gott hat das Thema beendet.<br />
Das heißt, wir müssen das Thema aus einer anderen<br />
Perspektive betrachten. In der Wissenschaft hat es <strong>di</strong>esbezüglich<br />
mehrere Entwicklungen gegeben. Mittlerweile<br />
wird viel darüber gestritten, ob es sich um eine<br />
Krankheit oder le<strong>di</strong>glich um eine sexuelle <strong>Orient</strong>ierung<br />
handelt, <strong>di</strong>e keinerlei Therapie bedarf. Letztlich gibt es<br />
keine endgültigen Beweise.<br />
Ich jedoch denke, dass alle Menschen durch irgendetwas<br />
in ihrer Entwicklung beeinflusst werden, was<br />
auch <strong>di</strong>e <strong>Sexualität</strong> betrifft, und dass das Problem, das<br />
für <strong>di</strong>e Entstehung von Homosexualität verantwortlich<br />
ist, hier gesucht werden muss. Es handelt sich hierbei<br />
gewissermaßen um <strong>di</strong>e Bestandteile der <strong>Sexualität</strong>:<br />
Gen der, also <strong>di</strong>e Tatsache, ob ein Junge in der Familie als<br />
Junge und ein Mädchen als Mädchen behandelt wird,<br />
<strong>di</strong>e sexuellen Erfahrungen durch das, was sie hören, lesen<br />
und was sie erleben – vor allem in der Pubertät. Die<br />
Be<strong>di</strong>ngungen verbinden sich miteinander.<br />
Ich heile viele der Leute, <strong>di</strong>e mit <strong>di</strong>esem Problem<br />
zu mir kommen. Die Heilung beansprucht viel Zeit. Ich<br />
muss zuerst den Zugang zu ihrer Persönlichkeit finden<br />
und wissen, was <strong>di</strong>e Ursachen für ihre Homosexualität<br />
sind – in vielen Fällen ist es sexueller Missbrauch.<br />
Viele meiner homosexuellen Patienten sind verheiratet,<br />
haben Kinder und begehren ihre Frauen. Nach meiner<br />
Behandlung ist selbst auf der Ebene der homosexuellen<br />
Tagträume und der feuchten Träume alles okay.<br />
[dī.wān] Themen wie Masturbation, Oralverkehr, Doggy-Stellung,<br />
Vorspiel und weiblicher Orgasmus sind bei<br />
islamischen Gelehrten nicht gerade weit verbreitet und<br />
genossen auch in der Interpretation von Koran und Sunna<br />
keine große Aufmerksamkeit. Wer hat vor Ihnen über<br />
<strong>di</strong>ese Themen in einem religiösen Kontext gesprochen?<br />
HEBA QUTB Gerade über das Thema Masturbation haben<br />
viele Religionsgelehrte gesprochen. Viele sind der Meinung,<br />
sie sei erlaubt, um Ehebruch oder vorehelichen<br />
Sex zu vermeiden. Was <strong>di</strong>e anderen Dinge betrifft, so<br />
habe ich gesucht und gesucht und schließlich in einem<br />
Buch über <strong>di</strong>e Scharia – ich glaube, es war von Ibn<br />
Hazm – etwas gefunden. Er wurde darin – nicht ausdrücklich<br />
– über den Doggy-Style befragt. Ob man auf<br />
<strong>di</strong>ese Weise mit seiner Frau schlafen dürfe? Ibn Hazm<br />
bejahte <strong>di</strong>e Frage.<br />
[dī.wān] Wie begründen Sie mit Koran und Sunna <strong>di</strong>e<br />
Wichtigkeit des weiblichen Orgasmus‘?<br />
Das steht <strong>im</strong> Koran.<br />
[dī.wān] Wir haben in den Artikeln von Ihnen und über<br />
Sie während der Vorbereitungen auf <strong>di</strong>eses Interview gelesen,<br />
dass Sie <strong>di</strong>e Sure Al-Baqara in <strong>di</strong>esem Sinne interpretieren.<br />
Inwiefern bezieht sich der Ausdruck „qadd<strong>im</strong>u<br />
li-anfusikum“ auf das Vorspiel und <strong>di</strong>e weibliche Lust?<br />
HEBA QUTB Das Vorspiel ist sehr wichtig für <strong>di</strong>e Lust und<br />
<strong>di</strong>e Freude am Sex. Darauf beziehen sich <strong>di</strong>ese Worte:<br />
„Stellt Euch selbst etwas voraus“. Es ist <strong>di</strong>e Rede von<br />
der Notwen<strong>di</strong>gkeit des Mannes, den Sex einzuleiten<br />
und vorzubereiten. Gott selbst befiehlt es dem Mann.<br />
Je besser der Mann das macht, um so mehr gefällt es<br />
der Frau, sie bekommt einen oder mehrere Orgasmen<br />
und das wiederum wirkt sich be<strong>im</strong> Geschlechtsverkehr<br />
positiv auf ihn aus.<br />
[dī.wān] In der ägyptischen Gesellschaft gilt Sex <strong>im</strong>mer<br />
noch als Tabuthema. Wer sollte in welcher Form dazu<br />
beitragen, dass <strong>di</strong>e Ägypter mehr über Sex wissen und<br />
offener damit umgehen können?<br />
HEBA QUTB Ich denke nicht, dass es sich hierbei noch um<br />
ein tabuisiertes Thema handelt. In meiner Praxis habe<br />
ich gewissermaßen den Sensor dafür. Anfangs kamen<br />
nur zwei Patienten pro Woche, mittlerweile bin ich<br />
über Monate <strong>im</strong> Voraus ausgebucht. Ich denke, dass<br />
gerade <strong>di</strong>e Me<strong>di</strong>en ein wichtiger Faktor dafür gewesen<br />
sind. Ein Problem jedoch stellt <strong>di</strong>e <strong>im</strong>mer noch fehlende<br />
Kommunikation über <strong>Sexualität</strong> in den Familien dar.<br />
Zwar kommen manchmal Eltern zu mir, um zu erfahren,<br />
wie sie mit ihren Kindern darüber sprechen sollen,<br />
aber das stellt eher <strong>di</strong>e Ausnahme dar.<br />
[dī.wān] Was sagen Sie zur Trennung der Geschlechter?<br />
HEBA QUTB Ich halte Geschlechtertrennung für absolut<br />
falsch! Nebenbei wird <strong>di</strong>e Trennung nicht in den religiösen<br />
Texten erwähnt. Sie ist etwas Kulturelles. Meiner<br />
Meinung nach begann das mit dem Einfluss der katholischen<br />
Kirche in Äygpten. Man kann es <strong>im</strong>mer noch<br />
daran sehen, dass alle Unisex-Schulen christlich sind<br />
(lacht und zählt all <strong>di</strong>ese Schulen auf).<br />
[dī.wān] Wie verhält es sich mit Ländern wie z.B. Jemen<br />
oder Sau<strong>di</strong>-Arabien, in denen es keinen katholischen<br />
Einfluss, aber eine strenge Geschlechtertrennung gibt?<br />
HEBA QUTB Ich sprach über mein Land. Auf der arabischen<br />
Halbinsel herrscht eine ganz andere Kultur vor, wirklich<br />
eine ganz andere, nämlich <strong>di</strong>e beduinische Kultur,<br />
in der <strong>di</strong>e Frauen voll verschleiert sein müssen. Aber<br />
mein Land ist seit langem offen und liberal <strong>im</strong> Gegensatz<br />
zu den gerade erwähnten Ländern. Die Idee der<br />
Geschlechtertrennung wurde bei uns erst durch <strong>di</strong>e Katholiken<br />
eingeführt.<br />
[dī.wān] Islamische Grundlagen können nicht angeführt<br />
werden?<br />
HEBA QUTB Es gibt <strong>di</strong>ese Trennung nur in der Moschee.<br />
Aber daneben gibt es keine Bereiche, in denen sie islamisch<br />
legit<strong>im</strong>iert wäre.<br />
[dī.wān] Viele junge arabische Männer haben in Bezug<br />
auf vorehelichen Sex <strong>di</strong>e Einstellung: Ich darf, was<br />
meine Schwester niemals dürfte. Wie bewerten Sie <strong>di</strong>ese<br />
Doppelmoral?<br />
HEBA QUTB Doppelmoral ist <strong>im</strong>mer schlecht! Sex außerhalb<br />
bzw. vor der Ehe ist absolut haram! Doch er wird<br />
praktiziert – von jungen Männern und leider <strong>im</strong>mer<br />
mehr auch von jungen Frauen.<br />
[dī.wān] Sie waren <strong>di</strong>e erste ägyptische Ärztin, <strong>di</strong>e eine<br />
Praxis für Sexualberatung eröffnet hat. Wie bewerten<br />
Sie Ihren Einfluss und was erhoffen Sie sich für sich selbst<br />
und <strong>di</strong>e Gesellschaft?<br />
HEBA QUTB Ich behaupte, dass mein Einfluss bisher sehr<br />
groß gewesen ist, vor allem nach meiner TV-Show. Momentan<br />
arbeite ich an drei neuen Büchern, vier habe ich<br />
bisher veröffentlicht. Eines der neuen Bücher ist eine<br />
Art Enzyklopä<strong>di</strong>e für Eheleute, in der alles steht, was sie<br />
über <strong>Sexualität</strong> wissen sollten. Das zweite widmet sich<br />
der Sexualerziehung von Kindern und das dritte dem<br />
Unterschied zwischen männlicher und weiblicher <strong>Sexualität</strong>.<br />
Bücher darüber werden dringend benötigt.<br />
[dī.wān] Was könnten <strong>di</strong>e Ägypter bezüglich <strong>Sexualität</strong><br />
von den Europäern, was <strong>di</strong>e Europäer von den Ägyptern<br />
lernen?<br />
HEBA QUTB Jeder weiß alles (lacht). Interessanterweise<br />
sind <strong>di</strong>e Erfahrungen und Probleme mit <strong>Sexualität</strong><br />
überall auf der Welt ähnlich. Wir sind eben alle Menschen.<br />
Was Ägypten betrifft, so denke ich, dass sich <strong>im</strong><br />
Umgang damit sehr viel verbessert hat, es jedoch noch<br />
<strong>im</strong>mer an der Kommunikation über Sex zwischen den<br />
Partnern mangelt. Sie reden nicht darüber, was ihnen<br />
gefällt und auch nicht darüber, was sie stört. Sicherlich<br />
funktioniert das zwischen westlichen Partnern besser.<br />
Vielleicht ist es da aber auch schon zu viel. Für <strong>di</strong>ese<br />
wünschte ich mir natürlich, dass auf Sex außerhalb<br />
bzw. vor der Ehe verzichtet würde, dessen negativer<br />
Einfluss <strong>im</strong> Übrigen ja auch bewiesen ist: Denn wenn<br />
jemand schon mit z<strong>wan</strong>zig oder dreißig Partnern vor<br />
seiner Heirat geschlafen hat, so hat er viele Erfahrungen<br />
gemacht und zu hohe Ansprüche. In seiner Ehe wird<br />
er sich stän<strong>di</strong>g beschweren und mit seiner Frau unzufrieden<br />
sein, weil sie seine Wünsche vielleicht nicht so<br />
erfüllt, wie er es gewohnt gewesen ist, und umgekehrt<br />
gilt das natürlich auch für <strong>di</strong>e Frau..<br />
Wir danken Ihnen für <strong>di</strong>eses interessante Gespräch.<br />
Die Fragen stellten<br />
Nora Wothe und Alexander Kalbarczyk.<br />
Kaufberatungen, Kairo<br />
SPECIAL
38 [dī.wān] 12.2007 12.2007 [dī.wān] 39<br />
Die meisten Moscheen in <strong>Berlin</strong><br />
sind in <strong>Hinter</strong>höfen und Wohnhäusern<br />
untergebracht, manchmal ist<br />
draußen nur ein Hinweisschild auf<br />
arabisch oder türkisch angebracht.<br />
Nicht so be<strong>im</strong> Bauvorhaben in der<br />
Wiener Straße 1-6, wo <strong>di</strong>e größte<br />
Moschee <strong>Berlin</strong>s entsteht – ein<br />
riesiger, hellgelber Bau mit Halbmonden<br />
auf dem Dach, der nicht<br />
zu übersehen ist. Seit Beginn der<br />
Arbeiten 2004 weist ein Schild an<br />
der Baustelle auf arabisch, deutsch<br />
und türkisch auf den Träger hin,<br />
Islamischer Verein für Wohltätige<br />
Projekte. Daneben <strong>di</strong>e Flaggen von<br />
<strong>Berlin</strong> und Kreuzberg, denn so sieht<br />
man sich selbst: Kiezbezogen, multilingual,<br />
offen.<br />
„Die Hizbollah, Hizb<br />
al-Tahrir und andere ra<strong>di</strong>kale<br />
Vereinigungen<br />
haben hier in <strong>di</strong>esem<br />
Bezirk ihre Moscheen und rekrutieren<br />
Anhänger. Vor ra<strong>di</strong>kalen Vereinigungen<br />
und deren Zielen kann<br />
man nur dringend warnen“, sagt der<br />
türkischstämmige Birol Ucan. Er ist<br />
Pressesprecher des 1996 gegründeten<br />
Vereins, dessen Gemeinde<br />
sich noch bis zur Fertigstellung der<br />
neuen Moschee in den kleinen Räumen<br />
der alten Omar-Moschee in<br />
BERLIN<br />
Gegner der Islamisten?<br />
Die neue Mega-Moschee in Kreuzberg wird getragen von einem Wohltätigkeitsverein,<br />
der sich religiös und politisch als moderat darstellt von Julia Gebert<br />
der Skalitzer Strasse 33 trifft. Hier<br />
werde moderater Islam gelehrt und<br />
in Freitagspre<strong>di</strong>gten vor den Gefahren<br />
des Islamismus gewarnt, so<br />
Ucan. Er stellt <strong>di</strong>e Ziele des Vereins<br />
transparent dar, erzählt von Besuchergruppen<br />
der Bundeswehr, von<br />
Schülern und Rentnern <strong>di</strong>e in den<br />
Räumen herumgeführt werden. Um<br />
sich noch mehr Besuchern öffnen<br />
zu können soll <strong>di</strong>e neue Moschee<br />
großzügiger sein und noch ein Café<br />
und <strong>di</strong>verse Läden in ihrem Innern<br />
beherbergen. „Dort soll dann <strong>im</strong>mer<br />
Tag der offenen Tür sein, unten<br />
<strong>im</strong> Café kann man einen Tee trinken<br />
und <strong>di</strong>e Moschee und <strong>di</strong>e Läden<br />
<strong>im</strong> Inneren besuchen“, so Ucan.<br />
Wurzeln in sufischer Missionsbewegung <strong>im</strong> Libanon<br />
Wer <strong>di</strong>e Wohltätigen googelt<br />
oder mit Beobachtern der islamischen<br />
Szene in <strong>Berlin</strong> spricht,<br />
merkt vor allem eins: Es besteht<br />
Uneinigkeit in der Einstufung <strong>di</strong>eser<br />
Glaubensgemeinschaft, sowohl<br />
in politischer als auch in religiöser<br />
Hinsicht.<br />
Ein Vergleich verschiedener Artikel<br />
und Aussagen zur religiösen<br />
Einordnung legt nahe, dass der Verein<br />
seine Wurzeln in der sufischen<br />
Ahbasch-Bewegung <strong>im</strong> Libanon<br />
hat. Diese wurde von Scheikh al-<br />
Habaschi in den fünfziger Jahren<br />
in Beirut als Wohltätigkeitsorganisation<br />
gegründet. Während des<br />
libanesischen Bürgerkriegs gelang<br />
es den Ahbasch zahlreiche sunnitische<br />
Mitglieder zu rekrutieren,<br />
auf Grund der Flüchtlingswellen<br />
verteilten sich <strong>di</strong>e Anhänger rasch<br />
über den Globus. Trotz ihrer tiefen<br />
sufischen Wurzeln unterschieden<br />
sich <strong>di</strong>e Ahbasch von tra<strong>di</strong>tionellen<br />
Sufi-Orden durch ihre „aggressive<br />
Missionsarbeit und den politischen<br />
Aktivismus, der sich gegen islamistische<br />
Gegner richtet“, so Nizar<br />
Hamzeh und Hrair Dekmejian in<br />
ihrem Artikel „Die sufische Antwort<br />
auf politischen Islamismus“, 1996<br />
<strong>im</strong> International Journal of Middle<br />
East Stu<strong>di</strong>es erschienen.<br />
Zur politischen <strong>Orient</strong>ierung<br />
ist bekannt, dass <strong>di</strong>e Ahbasch <strong>im</strong><br />
Libanon in gewaltvolle Auseinandersetzungen<br />
mit gegnerischen<br />
islamistischen Bewegungen in den<br />
sunnitischen Städten Beirut, Tripolis<br />
und Sidon verwickelt gewesen<br />
sind. Zudem „unterhalten <strong>di</strong>e<br />
Ahbasch exzellente Beziehungen<br />
zu arabischen Regierungen, speziell<br />
zu den syrischen Autoritäten.<br />
Sie sehen Syrien als einen Beschützer<br />
Libanons gegenüber Israel und<br />
den Vertei<strong>di</strong>ger der libanesischen<br />
Einheit“, ist bei Hamzeh und Dekmejian<br />
zu lesen. Ein hochrangiges<br />
Mitglied der Ahbasch <strong>im</strong> Libanon,<br />
Ahmad Abdul Aal, wird <strong>im</strong> Mehlis-<br />
Report erwähnt, welcher Teil der<br />
Aufklärung des Mordfalls an dem<br />
ehemaligen libanesischen Ministerpräsidenten<br />
Hariri war. Angeblich<br />
ist er mittlerweile verhaftet worden.<br />
Was lässt sich davon auf den<br />
Kreuzberger Verein übertragen?<br />
Hier beginnt das Dickicht der widersprüchlichen<br />
Aussagen und<br />
fehlenden Informationen. Clau<strong>di</strong>a<br />
Danschke vom Zentrum Demokratische<br />
Kultur hat <strong>im</strong> Jahr 2002 eine<br />
Stu<strong>di</strong>e zu demokratiefeindlichen<br />
Organisationen in Kreuzberg erstellt<br />
und sagt noch heute: „Wir wissen<br />
über <strong>di</strong>ese Vereinigung <strong>im</strong>mer<br />
noch wenig, man kennt ihre Gemeinde<br />
nicht, das macht eine Einschätzung<br />
schwierig. Wir wissen,<br />
dass es eine mystische, sunnitische<br />
Glaubensrichtung ist, <strong>di</strong>e ihre Wurzeln<br />
<strong>im</strong> Libanon hat. Die dortige<br />
Gruppierung ist in politische Akti-<br />
„Dem Kreuzberger Verein ist nichts nachzuweisen“<br />
BERLIN<br />
vitäten verwickelt und hat eine gewisse<br />
Nähe zur syrischen Regierung<br />
und eine taktische Allianz mit der<br />
Hizbollah.“ Ein arabisches Manifest<br />
der Organisation hat sie aller<strong>di</strong>ngs<br />
nie gelesen.<br />
Auf Fragen nach Frauenbild und<br />
Spendern wurde ausgewichen<br />
Die ideologischen An<strong>im</strong>ositäten<br />
zwischen der Ahbasch und islamistischen<br />
Organisationen lassen sich<br />
auch <strong>im</strong> Internet nachvollziehen,<br />
wo ein regelrechter Informationskrieg<br />
auf deutschen Webpages tobt.<br />
Und auch in Kreuzberg selbst lässt<br />
sich der Konflikt ablesen. Der Sprecher<br />
der Islamischen Föderation<br />
sagt ganz offen: „Wir selbst stehen<br />
der Mili Görüş nahe, mit dem Islamischen<br />
Verein für Wohltätige Projekte<br />
haben wir nichts zu tun.“ In<br />
Diskussionsveranstaltungen schlügen<br />
sich <strong>di</strong>e verschiedenen musl<strong>im</strong>ischen<br />
Vereine verbal regelrecht<br />
<strong>di</strong>e Köpfe ein: „Das war für <strong>di</strong>e deutschen<br />
Anwohner hier sehr instruktiv,<br />
dass neben allgemeinen Fragen<br />
zum Verein plötzlich ein Streit<br />
zwischen den Musl<strong>im</strong>en darüber<br />
entflammte, wie man richtig zu beten<br />
hat“, sagt Frank Schulz, Bürgermeister<br />
von Kreuzberg. Schulz hat<br />
ohnehin einen tech nischeren Blick<br />
auf <strong>di</strong>e Auseinandersetzung um den<br />
Wohltätig keitsverein, der erst mit<br />
seinem Bauvorhaben ins Rampenlicht<br />
der öffentlichen Diskussion<br />
geriet. „Erstmal sind das nicht meine<br />
Kriterien, ich halte mich strikt<br />
ans Baurecht, wenn ich hier einem<br />
Verein eine Baugenehmigung erteile“,<br />
sagt Schulz. Und zweitens<br />
habe es laut dem Bericht von Clau<strong>di</strong>a<br />
Danschke und dem des Verfassungsschutzes<br />
nichts zu beanstanden<br />
gegeben. Dennoch wurden bis<br />
zur Erteilung der Baugenehmigung<br />
2004 etliche offene Debatten <strong>im</strong><br />
Kiez veranstaltet. „Die Menschen<br />
wollen natürlich wissen, wer <strong>di</strong>eser<br />
neue Nachbar ist“, so Schulz. Die<br />
Debatten seien gut besucht gewesen<br />
und hätten erstaunlicher Weise vor<br />
allem den innerreligiösen Streit wider<br />
gespiegelt. Ansonsten hätte der<br />
Verein aber allen Fragen der Bürger<br />
Rede und Antwort gestanden.<br />
Die Diskussionen werden wohl<br />
noch weiter gehen, denn erst <strong>im</strong><br />
S e p t e m b e r<br />
gab es wieder<br />
eine<br />
öffentliche<br />
Diskus sion,<br />
bei der auch Pressesprecher Ucan<br />
anwesend war. „Ich habe nach dem<br />
Frauenbild des Vereins gefragt und<br />
nach der Herkunft der Spenden<br />
<strong>di</strong>eses Sechs-Millionen-Euro Projekts,<br />
aber da ist Herr Ucan ausgewichen“,<br />
sagt Danschke. „Aber <strong>im</strong>merhin<br />
ist jetzt bestätigt worden,<br />
dass derselbe Imam zwischen der<br />
Ahbasch-Gemeinde <strong>im</strong> Libanon<br />
und der <strong>Berlin</strong>er Gemeinde hin-<br />
und herpendelt.“<br />
Die neue Moschee wird auf dem Eckgrundstück<br />
Skalitzer/ Wiener Straße in <strong>Berlin</strong>-Kreuzberg<br />
stehen. Auf der Website der Organisation finden<br />
sich Hinweise zu den Verantwortlichen, den<br />
Zielen der Bewegung und der Entstehungsgeschichte<br />
sowie Photos der Moschee.<br />
http://www.ivwp.de/
40 [dī.wān] 12.2007 BERLIN<br />
BERLIN<br />
12.2007 [dī.wān] 41<br />
Anlagebetrug in Gottes Namen<br />
Wie sogenannte Islam-Hol<strong>di</strong>ngs gläubige Musl<strong>im</strong>e um mehrere<br />
Milliarden Euro betrügen von Karin Kutter<br />
„Dieser Mann hier hat eine halbe<br />
Million Euro verloren“ sagt Herr<br />
Demirci und deutet auf ein Foto, das<br />
einen kleinen türkischstämmigen<br />
Mann mit Schnurrbart auf einer<br />
Demonstration zeigt. Die Menschen<br />
auf dem Foto demonstrieren gegen<br />
<strong>di</strong>e sogenannten Islam-Hol<strong>di</strong>ngs,<br />
<strong>di</strong>e über 200.000 gläubige Musl<strong>im</strong>e<br />
deutschlandweit um mehr als fünf<br />
Milliarden Euro betrogen haben. Sie<br />
demonstrieren auch für Gerechtigkeit,<br />
denn bis jetzt haben sie keinen<br />
einzigen Euro ihres in <strong>di</strong>e Hol<strong>di</strong>ngs<br />
investierten Geldes wieder gesehen<br />
und viele der Verantwortlichen laufen<br />
noch frei herum.<br />
Die Masche der Betrüger<br />
Angeworben wurden <strong>di</strong>e Anleger<br />
meist durch Imame, vor allem<br />
von der Bewegung Milli Görüş. In<br />
Deutschland steht <strong>di</strong>e Organisation<br />
unter Beobachtung des Verfassungsschutzes,<br />
der sie als „islamisch-extremistisch“<br />
einstuft. Gründe konnten<br />
<strong>di</strong>ese Imame genug nennen, warum<br />
das Geld in Hol<strong>di</strong>ngs wie Y<strong>im</strong>paş<br />
oder Kombassan gut aufgehoben<br />
sei. Sie seien eine sichere Anlage<br />
mit hohen Gewinnen, zudem könne<br />
man das Geld jederzeit zurück<br />
bekommen. Darüber hinaus würde<br />
man in den Wirtschaftsstandort<br />
Türkei investieren und damit seine<br />
Landsleute oder Familienangehörige<br />
unterstützen. Die in der Türkei<br />
lebenden Ver<strong>wan</strong>dten würden auch<br />
bei Stellenangeboten der Hol<strong>di</strong>ngs<br />
bevorzugt. Zudem verfügten <strong>di</strong>ese<br />
Hol<strong>di</strong>ngs über Sozialfonds, <strong>di</strong>e<br />
Arme unterstützten. Nicht zuletzt<br />
würde das islamische Zinsverbot<br />
umgangen werden, da in der Geldanlage<br />
sowohl Gewinnchancen als<br />
auch Verlustrisiko enthalten seien.<br />
Das islamische Zinsverbot, das für<br />
viele gläubige Musl<strong>im</strong>e eine große<br />
Rolle spielt, ist <strong>im</strong> Koran fest verankert<br />
und hat soziale Gründe:<br />
Mit dem Verbot Zinsen zu nehmen,<br />
wollte Prophet Muhammad<br />
erreichen, dass Geldverleiher ihre<br />
Schuldner ausnehmen.<br />
Neben all <strong>di</strong>esen Argumenten<br />
gab aber wohl der Einsatz der<br />
Imame selbst den Ausschlag, da sie<br />
als hohe Vertrauensinstanz unter<br />
den Musl<strong>im</strong>en gelten.<br />
Ihr Geld sahen <strong>di</strong>e Anleger nie<br />
wieder. Unter dem Deckmantel des<br />
Islam konnten <strong>di</strong>e Hol<strong>di</strong>ngs über<br />
fünf Milliarden Euro scheffeln und<br />
deutschlandweit zwischen 200.000<br />
und 300.000 Menschen betrügen,<br />
schätzt Herr Yil<strong>di</strong>r<strong>im</strong> vom Zentrum<br />
für Türkeistu<strong>di</strong>en. „Die Dunkelziffer<br />
ist hier sehr hoch, da viele der<br />
Betroffenen auch Angst haben und<br />
den Betrug deshalb gar nicht anzeigen.“<br />
Angst hat Herr Demirci, wie er<br />
ausdrücklich betont, keine. Herr<br />
Demirci ist Vorsitzender des „Solidaritätsvereins<br />
der Türken in Europa<br />
e.V.“, der sich für <strong>di</strong>e Betrugsopfer<br />
einsetzt. Auch er hat viel Geld<br />
durch <strong>di</strong>e Hol<strong>di</strong>ng-Geschäfte verloren.<br />
„Sie müssen sich vorstellen, <strong>di</strong>e<br />
Opfer haben oftmals ihre gesamten<br />
Ersparnisse in <strong>di</strong>e Hol<strong>di</strong>ngs inve-<br />
stiert“ – Geld, das sie jahrelang für<br />
eine bessere Zukunft ihrer Kinder<br />
gespart hatten. Er schätzt <strong>di</strong>e Zahl<br />
der Betrugsopfer sogar auf über<br />
800.000 und <strong>di</strong>e Betrugshöhe auf<br />
mehr als 30 Milliarden Euro.<br />
Verbindungen zur<br />
Regierungspartei AKP?<br />
Dursun Uyar, Chef der Y<strong>im</strong>paş-<br />
Hol<strong>di</strong>ng, wird inzwischen wegen<br />
Betrugs in Millionenhöhe mit internationalem<br />
Haftbefehl gesucht.<br />
In der Türkei jedoch läuft er frei<br />
herum. Denn scheinbar unterhält<br />
Uyar beste Verbindungen zur Regierungspartei<br />
AKP. Dies bestätigte<br />
auch Davut Buca, früherer Funktionär<br />
der AKP, gegenüber der Zeitung<br />
„Die Welt“. In einem Fax an <strong>di</strong>e<br />
Zeitung schreibt er, dass Y<strong>im</strong>paş<br />
<strong>im</strong> letzten Wahlkampf ganze Koffer<br />
voller Bargeld aus Deutschland<br />
an <strong>di</strong>e AKP überreicht haben soll.<br />
Aber auch sonst scheint Uyar beste<br />
Beziehungen zur türkischen Regierung<br />
zu haben. Zahlreiche Fotos belegen<br />
<strong>di</strong>esen Kontakt: Denn selbst<br />
als <strong>di</strong>e Betrugsfälle schon bekannt<br />
waren, nahm der türkische Justizminister<br />
Cemil Çiçek noch an einer<br />
Feier der Y<strong>im</strong>paş-Hol<strong>di</strong>ng teil.<br />
Derweil kämpft Demirici weiter<br />
für Gerechtigkeit, doch das ist nicht<br />
leicht. Auf einer Gesprächsrunde<br />
mit dem türkischen Ministerpräsidenten<br />
Erdoğan in <strong>Berlin</strong> <strong>im</strong> Jahr<br />
Quelle: http://www.hol<strong>di</strong>ng-zedeler.de/htm/hol<strong>di</strong>ng-zedeler.htm<br />
2006 wurde er von Erdoğan als Betrüger<br />
bezeichnet. Der Ministerpräsident<br />
glaubte, <strong>di</strong>e Mikrofone und<br />
Der Kampf um Gerechtigkeit<br />
Kameras seien bereits aus, als er sich<br />
an den türkischen Staatsminister<br />
mit <strong>di</strong>esen Worten <strong>wan</strong>dte. Doch<br />
der Sender ATV schnitt <strong>di</strong>esen Vorfall<br />
mit und strahlte ihn landesweit<br />
<strong>im</strong> türkischen Fernsehen aus.<br />
Auch über <strong>di</strong>e deutsche Bundesregierung<br />
will Demirci Druck auf<br />
<strong>di</strong>e Türkei ausüben. Doch <strong>di</strong>e Anfrage<br />
der Bundestagsabgeordneten<br />
Sev<strong>im</strong> Dağdelen von der Fraktion<br />
„Die Linke“ brachte nur spärliche<br />
Ergebnisse. „Der mehrfache Verweis<br />
der Bundesregierung auf <strong>di</strong>e<br />
fehlenden Kenntnisse<br />
oder Zustän<strong>di</strong>gkeiten<br />
zeugt von einer kompletten<br />
Ignoranz gegenüber den Betroffenen<br />
oder von einem mangelnden<br />
Interesse an der Aufklärung des<br />
Parlaments bzw. der Öffentlichkeit“,<br />
sagt Dağdelen. Eine Nachfrage an<br />
<strong>di</strong>e Bundesregierung ist inzwischen<br />
in Vorbereitung.<br />
Als sich Demirici <strong>im</strong> April 2007<br />
auf einer Veranstaltung mit Erdoğan<br />
und Merkel in Hannover <strong>di</strong>rekt an<br />
<strong>di</strong>e Bundeskanzlerin <strong>wan</strong>dte, wurde<br />
er von den Leibwächtern des türkischen<br />
Ministerpräsidenten kurzerhand<br />
aus dem Saal befördert. Die<br />
anwesenden deutschen Sicherheitskräfte<br />
sahen dabei tatenlos zu.<br />
Doch Herr Demirci gibt nicht<br />
auf. Demnächst wird er zusammen<br />
mit deutschen Bundestagsabgeordneten<br />
ins türkische Parlament nach<br />
Ankara fahren und weiter für <strong>di</strong>e<br />
Betrugsopfer der Hol<strong>di</strong>ngs kämpfen.<br />
Die Zeit drängt, denn schon<br />
Ende 2008 ist der Betrug verjährt.<br />
Spätestens dann könnten <strong>di</strong>e Täter<br />
straffrei ausgehen.
42 [dī.wān] 12.2007 BERLIN<br />
BERLIN<br />
12.2007 [dī.wān] 43<br />
Am Tag der<br />
Deutschen Einheit...<br />
Fotos von Anna Antonakis und May Elmah<strong>di</strong><br />
„Tagespolitik“<br />
„Dresscode“<br />
„<strong>Hinter</strong>grundmusik“
44 [dī.wān] 12.2007 „Gelassenheit“<br />
12.2007 [dī.wān] 45<br />
„Schrittweise“<br />
„Schicklich“<br />
„Haltung“
46 [dī.wān] 12.2007 12.2007 [dī.wān] 47<br />
Al-Jazeera-Korrespondent<br />
Aktam Sul<strong>im</strong>an in <strong>Berlin</strong><br />
„Die Araber können es<br />
sich nicht leisten, blind zu sein!“<br />
Das Al Jazeera Büro in <strong>Berlin</strong>, Friedrichsstraße<br />
Der Korrespondent des <strong>Berlin</strong>er Al-Jazeera-Büros Aktam<br />
Sul<strong>im</strong>an über deutsche und arabische Fehlwahrnehmung des<br />
Holocausts, das Bild vom „Mercedes-Land“ in der arabischen<br />
Welt und seinen Traumberuf.<br />
Der arabische Sender Al Jazeera war 1996 <strong>im</strong> Emirat Qatar als<br />
Spross des arabischen BBC-Ressorts gegründet worden und<br />
eroberte seitdem in Windeseile <strong>di</strong>e arabische Me<strong>di</strong>enwelt.<br />
[dī.wān] Herr Sul<strong>im</strong>an, wie arbeiten Sie in Ihrer Korrespondenz<br />
hier in <strong>Berlin</strong> für Al Jazeera?<br />
SULIMAN Das ist eine ganz normale Fernsehkorrespondenz,<br />
<strong>di</strong>e sich vor allem in hektischen Zeiten wie jetzt<br />
zum G8 Gipfel nicht von anderen Fernsehkorrespondenzen<br />
unterscheidet.<br />
[dī.wān] Wer wählt <strong>di</strong>e Themen aus, über <strong>di</strong>e Sie aus<br />
Deutschland berichten?<br />
SULIMAN Sehen Sie, jeder Journalist hat ja so eine Schnittmenge<br />
von Themen <strong>im</strong> Kopf. Er beobachtet <strong>di</strong>e Szene<br />
und dann spielt es natürlich noch eine Rolle, was das<br />
Haus sagt. Aber meistens geht <strong>di</strong>e Absprache mit der<br />
Zentrale in Qatar glatt, also der Ausgleich zwischen<br />
Ansagen von dort und Vorschlägen von uns. Wir haben<br />
zum Beispiel einen Beitrag über den Karneval der Kulturen<br />
erwirkt. Das ist natürlich ein sehr deutsches Phänomen,<br />
aber es waren ja auch Araber beteiligt und über<br />
<strong>di</strong>ese Perspektive haben wir den Beitrag aufgezogen.<br />
[dī.wān] Gibt es Themen, <strong>di</strong>e Sie nicht durchbekommen?<br />
SULIMAN Wir wollten einmal eine Sendung zu Homosexualität<br />
machen, und zwar eine, bei der man <strong>di</strong>e Thematik<br />
nicht reißerisch darstellt, sondern ihr 20 Minuten einräumt,<br />
so dass sie nicht le<strong>di</strong>glich <strong>di</strong>e bestehenden Vorurteile<br />
bestätigt. Wir wollten richtig informieren und zeigen,<br />
dass Homosexualität überall ein Phänomen ist und wie<br />
damit speziell in Deutschland umgegangen wird. Aber<br />
das hat Qatar nicht angenommen – es war zu heikel.<br />
[dī.wān] Wie läuft <strong>di</strong>e Zusammenarbeit zwischen Korrespondenz<br />
und Zentrale?<br />
SULIMAN Von Qatar kommen eigentlich nur sehr selten<br />
Vorschläge. Und Al Jazeera ist zwar ein großer Sender,<br />
aber arbeitet nicht so systematisch, wie man das bei<br />
vergleichbaren Häusern wie CNN oder BBC kennt. Die<br />
Zentrale hält es manchmal für Planung, wenn sie uns<br />
sagen, „da ist eine Konferenz in Tunis, geht mal hin“.<br />
Aber alles, was nach der reinen Terminansage kommt,<br />
müssen wir selbst machen. Man verlässt sich schon stark<br />
auf <strong>di</strong>e Korrespondenzen. Was übrigens auch einzigartig<br />
bei Al Jazeera ist, ist <strong>di</strong>e Wahl der Korrespondenten:<br />
Sie werden ausschließlich vor Ort rekrutiert, niemals<br />
aus Qatar entsandt. Unser Russland-Korrespondent ist<br />
Russe, der in Paris selbstverständlich Franzose und ich<br />
bin Deutscher.<br />
[dī.wān] Welches Bild von Deutschland möchten Sie in<br />
der arabischen Welt vermitteln?<br />
SULIMAN Ich will gar kein Bild vermitteln. Das ist nicht<br />
unsere Aufgabe. Aber ich hoffe, dass ein Bild entsteht,<br />
das nah an dem ist, was ich „Realität“ nennen würde.<br />
Das ergibt sich durch politische Ereignisse. Zum Beispiel<br />
gab es zur Zeit des „Neins“ von Schröder zum<br />
Irak-Krieg um 2002/03 ein sehr positives Deutschland-<br />
Bild in der arabischen Welt. Es ist natürlich klar, dass<br />
auch Deutschland all <strong>di</strong>ese Sicherheitspakete geschnürt<br />
hat und es auch in Deutschland für Araber unbequem<br />
INTERVIEW<br />
wurde, aber Schröder hat <strong>di</strong>e außenpolitische Haltung<br />
Deutschlands sehr gut verkauft. Er ist eben ein charmanter<br />
Typ und sehr beliebt in der arabischen Welt.<br />
[dī.wān] Und wie sehen Sie persönlich <strong>di</strong>e Wahrnehmung<br />
Deutschlands in der arabischen Welt, <strong>di</strong>e Wahrnehmung<br />
deutscher Geschichte?<br />
SULIMAN Deutschland wird <strong>im</strong>mer noch vor allem als<br />
Wirtschaftsmacht wahrgenommen. Was Arbeitslosigkeit<br />
hier für <strong>di</strong>e Deutschen bedeutet, wird nicht verstanden<br />
– man bekommt dann oft zu hören „ist doch<br />
gut, ihr bekommt ja wenigstens Arbeitslosengeld, bei<br />
uns sterben <strong>di</strong>e Leute“ und das st<strong>im</strong>mt natürlich. Jedes<br />
Land hat seine eigenen Probleme. Aber Deutschland<br />
bleibt in den Augen der Araber das „Mercedes-Land“.<br />
[dī.wān] Wie beeinflusst der Holocaust als Teil deutscher<br />
Geschichte das Gesamtbild von Deutschland?<br />
SULIMAN Es gibt natürlich Missverständnisse in der Wahrnehmung<br />
und einen Mangel an Informationen.<br />
[dī.wān] Einen Mangel an Informationen sieht man ja<br />
auch auf der Seite Europas und der USA.<br />
SULIMAN Ja, aber der Westen kann sich das auch leisten.<br />
Amerika ist Weltmacht, Europa ist geistig und wirtschaftlich<br />
sehr aktiv. Die Araber hingegen existieren<br />
nicht wirklich – weder politisch, ökonomisch noch kulturell.<br />
Sehen Sie, <strong>di</strong>e arabische Welt übersetzt jährlich so<br />
viele Bücher wie <strong>di</strong>e Türkei. Die arabische Welt ist in der<br />
Krise und da kann man es sich nicht leisten, blind zu sein.<br />
Da ist für <strong>di</strong>ese Fehlwahrnehmungen einfach kein Platz.<br />
[dī.wān] Was ist mit Fehlwahrnehmungen und Klischees<br />
auf unserer Seite?<br />
SULIMAN Bezogen auf das Beispiel Holocaust: Da haben<br />
<strong>di</strong>e Araber das Problem, dass sie den Holocaust gar<br />
nicht wahrnehmen können, ohne auf <strong>di</strong>e Gegenwart zu<br />
gucken und auf das israelisch-palästinensische Verhältnis.<br />
Die Deutschen wiederum können Nahost-Konflikte<br />
nicht wahrnehmen, ohne in <strong>di</strong>e Vergangenheit zu gucken.<br />
Beides ist verhängnisvoll.<br />
[dī.wān] Wie ist denn <strong>di</strong>e Reaktion aus der deutschen<br />
Bevölkerung gegenüber Al Jazeera?<br />
SULIMAN Nach dem 11. September erlebten wir eine regelrechte<br />
Hysterie. Al Jazeera wurde zunächst nur als<br />
Sender von Terror-Botschaften wahrgenommen. Das<br />
hat sich ein bisschen gelegt. Aber es gibt <strong>im</strong>mer noch<br />
<strong>di</strong>e Sichtweise, dass Al Jazeera Sensationsjournalismus<br />
betreibt. Ich denke eher, dass manche mit Al Jazeera<br />
Sensationsjournalismus betreiben.<br />
[dī.wān] Was bedeutet <strong>di</strong>e Arbeit bei Al Jazeera für Sie?<br />
SULIMAN Dieser Job ist für jeden ein Traum. Das ist <strong>di</strong>e<br />
höchste Ebene, <strong>di</strong>e man erreichen kann, hohes journalistisches<br />
Niveau und viel Freiheit bei der Arbeit. Ideal vor<br />
allem, wenn man <strong>im</strong> Ausland lebt und <strong>di</strong>e Verbindung zur<br />
arabisch-islamischen Welt nicht ganz abreißen lassen will.<br />
Die Fragen stellte Julia Gebert <strong>im</strong> Juni 2007
48 [dī.wān] 12.2007 12.2007 [dī.wān] 49<br />
HÖRBAR<br />
Eine Musik<br />
mit vielen <strong>Hinter</strong>gründen<br />
Dhafer Youssefs Album<br />
DIVINE SHADOWS<br />
Versuch einer Empfehlung für Ohren,<br />
<strong>di</strong>e etwas hören wollen<br />
von Felix Koch<br />
Der Sänger und Oud-Spieler Dhafer Youssef hat<br />
mit dem Trio um den Gitarristen Eivind Aarset ein<br />
Album aufgenommen, das allein schon aufgrund der<br />
Anspielungen, <strong>di</strong>e sich in den Informationen auf der<br />
CD-Hülle offenbaren, neugierige Ohren aufhören<br />
lassen müsste. Zuerst einmal wäre da Aarset selbst zu<br />
nennen, der zu den herausragenden Köpfen gehört,<br />
<strong>di</strong>e in Oslo eine wahnsinnige Welt von Elektronik und<br />
Jazz geschaffen haben. Zudem zeichnet für <strong>di</strong>e Veröffentlichung<br />
ein Label verantwortlich, das von Bugge<br />
Wesseltoft gegründet worden ist und der Osloer Szene<br />
als leben<strong>di</strong>ges Exper<strong>im</strong>entierfeld <strong>di</strong>ent: Jazzland<br />
Records.<br />
Die Aufnahme selbst wirkt – vor allem für<br />
<strong>di</strong>ejenigen, <strong>di</strong>e einmal ein Konzert in <strong>di</strong>eser Besetzung<br />
erleben durften – schlicht, geradezu verhalten.<br />
Und obwohl <strong>di</strong>e CD mit langsam dahinfließenden<br />
Harmonien eines Streicherquartetts und arabischem<br />
Gesang, versehen mit einem dezenten Echo, regelrecht<br />
typisch beginnt, macht Youssef mit dem bal<strong>di</strong>gen<br />
Aufblitzen von elektronischen Samples schnell<br />
klar, dass ihm nicht der Sinn nach einer verklärenden,<br />
exotischen Darstellung seiner Musik steht. Nicht<br />
ohne Grund scheint er so auf seinem Weg von Tunesien<br />
über Wien und New York nach Paris auf <strong>di</strong>ese<br />
eigenwillige Szene aus Norwegen gestoßen zu sein,<br />
<strong>di</strong>e sich nicht erst seit dem legendärem Album „New<br />
Conception of Jazz“ von Wesseltoft <strong>di</strong>verse Verungl<strong>im</strong>pfungen<br />
aus der etwas verstockten neokonservativen<br />
Ecke des Jazz anhören muss.<br />
Das Zusammenfließen von arabischen, elektronischen,<br />
Jazz- und Rockelementen wirkt unter solchen<br />
Vorraussetzungen erfrischend und offen, vor allem,<br />
da sich <strong>di</strong>e Musik nicht anhört wie ein Kompromiss,<br />
auf den sich alle geeinigt hätten, sondern vielmehr<br />
wie eine natürliche Ergänzung und Verschmelzung<br />
der unterschiedlichen musikalischen Ideen, <strong>di</strong>e sich<br />
in dem Prinzip treffen, dass es letztendlich be<strong>im</strong> Musikmachen<br />
um nichts weiter als das Verhandeln und<br />
Austarieren der Energie geht, <strong>di</strong>e eine eigene Spannung<br />
zu erzeugen sucht.<br />
Wie wär‘s mit einem neuen<br />
Schulbuch?<br />
Ilan Pappe: Die ethnische Säuberung Palästinas<br />
von Philipp Dehne<br />
Ende Juli <strong>di</strong>eses Jahres erregte<br />
ein neues Schulbuch <strong>di</strong>e Gemüter<br />
vieler Israelis. Das Erziehungsministerium<br />
plante den Einsatz eines<br />
Buches für <strong>di</strong>e dritte Klasse, in dem<br />
<strong>di</strong>e Ereignisse von 1948-49 bei zwei<br />
Namen genannt werden. Neben der<br />
bisherigen offiziellen israelischen<br />
Bezeichnung Unabhängigkeitskrieg<br />
heißt es in dem Werk, dass <strong>di</strong>e Palästinenser<br />
das gleiche Ereignis als<br />
nakba, als Katastrophe, bezeichnen.<br />
Arabische und linke Parlamentarier<br />
zeigten Zust<strong>im</strong>mung, rechte Parlamentarier<br />
sprachen von einem<br />
Skandal und forderten den Rücktritt<br />
der Erziehungsministerin. Interessant:<br />
das neue Schulbuch ist<br />
auf arabisch verfasst und nur für<br />
arabisch-israelische Schulen vorgesehen.<br />
Kritische Details zu den<br />
Geschehnissen von 1948-49 enthält<br />
es kaum.<br />
Ein Jahr zuvor veröffentlichte<br />
der israelische Historiker Ilan Pappe<br />
sein neuestes Buch „Die ethnische<br />
Säuberung<br />
Palästinas”, das sich<br />
mit genau <strong>di</strong>esem<br />
Zeitraum auseinandersetzt.<br />
Darin beschreibt<br />
er <strong>di</strong>e Ereignisse und Entscheidungen,<br />
<strong>di</strong>e zur Vertreibung<br />
großer Teile der ansässigen palästinensischen<br />
Bevölkerung und zur<br />
Zerstörung mehrerer hundert Dörfer<br />
und Siedlungen führten. Neben<br />
der Ansicht, <strong>di</strong>e <strong>di</strong>ese Tatsache <strong>im</strong>mer<br />
noch gänzlich leugnet, existiert<br />
das weit verbreitete Bild, dass es <strong>im</strong><br />
Rahmen des Krieges zwar zu Vertreibungen<br />
gekommen sei, <strong>di</strong>ese je-<br />
LESBAR<br />
doch best<strong>im</strong>mten Umständen oder<br />
Personen zuzuschreiben seien. Pappe<br />
widerlegt <strong>di</strong>es. Die Vertreibung<br />
sei gewollt, systematisch organisiert<br />
und oft durch unmenschliche<br />
Handlungen erzwungen gewesen.<br />
Was zur Zeit der nakba in Palästina/Israel<br />
geschah, sei nicht als<br />
willkürlich und auch nicht als <strong>di</strong>e<br />
Handlung Einzelner zu verstehen;<br />
was geschah, sei <strong>di</strong>e ethnische Säuberung<br />
Palästinas von mehr als der<br />
Hälfte seiner ansässigen Bevölkerung<br />
gewesen.<br />
Seine Darstellung beginnt Pappe<br />
<strong>im</strong> damaligen Hauptquartier der<br />
Hagana, der zentralen zionistischen<br />
Miliz in Palästina. Hier treffen sich<br />
am 10. März 1948 führende zionistische<br />
Politiker mit jungen Offizieren<br />
unter dem Vorsitz des späteren<br />
ersten Ministerpräsidenten David<br />
Ben Gurion und beschließen <strong>di</strong>e<br />
systematische Vertreibung von Palästinensern<br />
aus großen Teilen des<br />
Landes. Das Produkt ihrer Zusam-<br />
menkunft, Plan Dalet, gibt den Einheiten<br />
<strong>di</strong>e Methoden vor, <strong>di</strong>e sie anwenden<br />
sollten, um <strong>di</strong>e erfolgreiche<br />
Vertreibung zu gewährleisten.<br />
„Diese Operationen können in<br />
folgender Weise ausgeführt werden:<br />
entweder durch <strong>di</strong>e Zerstör ung von<br />
Dörfern (indem man sie in Brand<br />
steckt, sie in <strong>di</strong>e Luft jagt und ihre<br />
Ruinen vermint) und insbesondere<br />
jener Bevölkerungszentren, <strong>di</strong>e<br />
schwierig auf Dauer zu kontrollieren<br />
sind; oder durch Einfassen, Durchkämmen<br />
und Kontrolloperationen<br />
nach den folgenden Leitlinien: Umzingeln<br />
der Dörfer und Durchführen<br />
einer Suchaktion in ihrem Innern.<br />
Im Falle von Widerstand müssen<br />
bewaffnete Kräfte vernichtet und<br />
<strong>di</strong>e Bevölkerung nach außerhalb der<br />
Staatsgrenzen vertrieben werden.”<br />
Im Fortlauf des Buches beschreibt<br />
Pappe anhand von Beispielen<br />
den Verlauf von Plan Dalet<br />
und der ethnischen Säuberung, <strong>di</strong>e<br />
verschiedene Einheiten bis zum<br />
Sommer 1949 und dem dann unterzeichnetenWaffenstillstandsabkommen<br />
mit Syrien und Libanon<br />
durchführten.<br />
In seinem Werk stützt sich Pappe<br />
auf vier Hauptquellen. Er verwendete<br />
israelisches Archivmaterial,<br />
das erst in den späten neunziger<br />
Jahren zugänglich gemacht wurde.<br />
Daneben wertete er älteres Archivmaterial<br />
unter der Frage nach einer<br />
„Ich bin für Z<strong>wan</strong>gsumsiedlung; darin sehe ich nichts Unmoralisches.“<br />
David Ben Gurion an <strong>di</strong>e Exekutive der Jewish Agency, Juni 1938<br />
ethnischen Säuberung aus. Die zwei<br />
anderen Pfeiler seiner Beweisführung<br />
sind <strong>di</strong>e Tagebücher David<br />
Ben Gurions und <strong>di</strong>e ‚oral history’<br />
palästinensischer und israelischer<br />
Beteiligter.<br />
Historisches Wissen ist oftmals<br />
auch eine Frage der politischen Verhältnisse.<br />
Ilan Pappe ist nicht der<br />
erste, der sich einer neuen israelischen<br />
Geschichtsschreibung an-
50 [dī.wān] 12.2007 12.2007 [dī.wān] 51<br />
LESBAR GLOSSE<br />
n<strong>im</strong>mt. Diese begann in den achtziger<br />
Jahren. Laut Pappe hat es <strong>di</strong>ese<br />
‚neue Geschichtsschreibung’ Israels<br />
aber bisher nicht geschafft, den<br />
Weg ins moralische Bewusstsein zu<br />
finden und in daraus folgende Taten<br />
zu münden; <strong>di</strong>es gelte sowohl<br />
für <strong>di</strong>e israelische wie auch für <strong>di</strong>e<br />
Weltöffentlichkeit. Die Ereignisse<br />
von 1948 würden <strong>im</strong>mer noch aus<br />
dem Blickwinkel des Krieges betrachtet.<br />
Es gelte zu verstehen, dass<br />
das, was damals geschah, kein Krieg<br />
war, „der tragischerweise aber unausweichlich<br />
zur Vertreibung eines<br />
Teils der in<strong>di</strong>genen Bevölkerung<br />
führte. Das Hauptziel des Krieges<br />
war <strong>di</strong>e ethnische Säuberung ganz<br />
Palästinas”, um Platz für den neuen<br />
Staat zu schaffen.<br />
Ethnische Säuberung ist als Verbrechen<br />
gegen <strong>di</strong>e Menschlichkeit<br />
anerkannt, <strong>di</strong>e ethnische Säuberung<br />
Palästinas ist es noch nicht. Pappe<br />
nennt in seinem Buch zwei Gründe<br />
für <strong>di</strong>e Unausweichlichkeit des<br />
Themas. Zum einen gebe es „einen<br />
moralischen Imperativ, gegen <strong>di</strong>e<br />
Leugnung <strong>di</strong>eses Verbrechens zu<br />
kämpfen”. Zum anderen ist er sich<br />
sicher: <strong>di</strong>e historischen Tatsachen<br />
ins Bewusstsein der Menschen zu<br />
bringen ist eine unerlässliche Voraussetzung,<br />
um einem Frieden in<br />
Israel/Palästina eine Chance zu geben.<br />
Nach der Veröffentlichung von<br />
Pappes Buch ließ Kritik nicht lange<br />
auf sich warten. Doch beschränkte<br />
sich <strong>di</strong>ese auf persönliche Diffamierungen<br />
und pauschale, nicht zuzuordnende<br />
Kritik an seiner Quellenanalyse.<br />
Konstruktiv wurde einzig<br />
angemerkt, dass an einigen Stellen<br />
des Buches ein genaueres Bild von<br />
der aktiven Rolle der Palästinenser<br />
wünschenswert gewesen wäre. An<br />
der Erkenntnis von Pappes Arbeit<br />
ändert <strong>di</strong>es jedoch nichts. Zionistische<br />
Einheiten säuberten Palästina<br />
ethnisch. Es ist erschreckend,<br />
dass <strong>di</strong>ese Tatsache <strong>im</strong> öffentlichen<br />
Rahmen so lange geleugnet oder<br />
verschwiegen wurde und weiterhin<br />
wird.<br />
Ilan Pappes Buch zu lesen ist<br />
eine – <strong>im</strong> wahrsten Sinne des Wortes<br />
– ungeheure Bereicherung. Schade,<br />
dass <strong>di</strong>e Bevölkerung, für <strong>di</strong>e <strong>di</strong>eses<br />
Buch den wohl größten Wert hat, es<br />
zumindest vorerst nicht lesen wird.<br />
Erschienen auf Englisch, wurde das<br />
Buch bisher in sechs Sprachen übersetzt.<br />
Hebräisch ist nicht darunter.<br />
So wünschenswert es ist, dass <strong>di</strong>e<br />
ethnische Säuberung Palästinas bis<br />
zum 60. Jahrestag der Staatsgründung<br />
Israels <strong>im</strong> kommenden Jahr<br />
in Israels Schulcurricula aufgenommen<br />
wird, so unwahrscheinlich ist<br />
es auch.<br />
Ilan Pappe<br />
Die ethnische Säuberung Palästinas<br />
Verlag: Zweitausendeins, Frankfurt 2007<br />
Fester Einband, 416 Seiten, 19 Fotos<br />
Sprache: deutsch<br />
Original: englisch<br />
(The ethnic cleansing of Palastine 2006)<br />
Preis: 22,- €<br />
Zur Person<br />
Ilan Pappe wurde 1954 in Haifa als Sohn deutscher Juden geboren, <strong>di</strong>e in den dreißiger Jahren aus Deutschland<br />
geflohen waren. Er stu<strong>di</strong>erte an der Universität von Haifa und promovierte in Oxford.<br />
Er zählt zu den ‚Neuen Historikern‘ Israels (neben Benny Morris, Avi Shla<strong>im</strong> und Tom Segev), <strong>di</strong>e sich<br />
kritisch mit der offiziellen israelischen Geschichtsschreibung auseinander setzen. Neben zahlreichen<br />
Veröffentlichungen ist Pappe, der der linken Partei Hadash nahe steht, auch politisch sehr aktiv.<br />
2005 unterstützte er den Aufruf zum akademischen Boykott Israels, da er in äußerem Druck auf Israel den<br />
besten Weg sieht, <strong>di</strong>e Besatzung zu beenden. Aufgrund <strong>di</strong>eser Unterstützung und vorheriger Meinungsverschiedenheiten<br />
legte ihm der Präsident der Universität Haifa, an der er am Institut für Politikwissenschaft<br />
arbeitete, den Rücktritt nahe. 2007 verließ Pappe Israel. Es werde für ihn „<strong>im</strong>mer schwieriger, mit seinen<br />
unwillkommenen Ansichten und Überzeugungen in Israel zu leben“.<br />
Seit kurzem lehrt er an der britischen Universität von Exeter Geschichte.<br />
Der Falafel-Klau –<br />
Unentdeckte Tiefen sraelischer He<strong>im</strong>atgefühle<br />
von Shelley Harten<br />
Wiener Schnitzel, <strong>Berlin</strong>er<br />
Bockwurst oder Omas Apfelkuchen<br />
– Essen verbindet mit der He<strong>im</strong>at.<br />
Auch in Israel. Und weil <strong>di</strong>e russische<br />
Kohlsuppe „Borscht“ bei<br />
dreißig Grad <strong>im</strong> Schatten flau <strong>im</strong><br />
Magen liegt und sonst alles jü<strong>di</strong>schessbare<br />
zwar oft schmackhaft, aber<br />
dennoch pampig-grau oder glitschig-braun<br />
daherkommt, wurde<br />
<strong>di</strong>e arabische Küche <strong>im</strong> Verlauf der<br />
nationalen Selbsterfindung Israels<br />
schlichtweg „adoptiert“.<br />
Mancher findet darin den Beweis<br />
für <strong>di</strong>e Aufnahme der lang unterdrückten<br />
arabisch-jü<strong>di</strong>schen Kultur<br />
ins Mainstream Israel, welches<br />
ansonsten von ost- und mitteleuropäischen<br />
Einflüssen geprägt ist. Andere<br />
erinnern sich an <strong>di</strong>e legendäre<br />
Falafel ihrer kanaaitischen Ur-urur-….ur-Großmutter<br />
aus biblischen<br />
Zeiten. Nur <strong>di</strong>e politisch ganz Korrekten<br />
geben zu: Israel hat den Palästinensern<br />
nicht nur das Land und<br />
<strong>di</strong>e besten Sch<strong>im</strong>pfworte, sondern<br />
auch <strong>di</strong>e Falafel geklaut.<br />
Das Gewissen belastet <strong>di</strong>ese Einsicht<br />
jedoch nicht <strong>im</strong> Geringsten,<br />
schon gar nicht bei fortschreitendem<br />
He<strong>im</strong>weh, das bei einem guten<br />
Israeli schon <strong>im</strong> Abflugterminal des<br />
Ben-Gurion Flughafen einsetzt. Die<br />
Tel Aviver Lieblings-Falafel-Bude<br />
schwindet in mythische Fernen der<br />
kulinarischen Sehnsucht und gemeinsam<br />
mit anderen von He<strong>im</strong>at-<br />
Hunger Getriebenen wird dann<br />
<strong>di</strong>e Jagd nach dem authentischsten<br />
Falafel gestartet, <strong>di</strong>e meist mit dem<br />
Satz endet: Ba-Aretz Yoter Tov! –<br />
Zu Hause schmeckt‘s besser!
[dī.wān]