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82 Heinz-Lother Barth lerdings ist dies ein zweischneidiges Schwert. Denn auch Theologen wie Geiselmann haben nicht bestritten, daß die Bibel, obgleich sie nach ihrer Meinung materialiter das gesamte Offenbarungsgut enthält und man keine konstitutive apostolische Tradition mündlicher Prägung mehr hinzunehmen muß, doch nicht ohne das Lehramt richtig ausgelegt werden kann; das beginnt ja schon bei der Fixierung des Kanons der inspirierten Schriften. Und zu einem verbindlichen Magisterium wollen sich ja die Protestanten, oder jedenfalls die Mehrheit unter ihnen, nun gar nicht verstehen! Hier führt also der Geiselmannsche Ansatz überhaupt nicht weiter. Auf dieses Problem hat Charles Boyer zu Recht aufmerksam gemacht. 148 In welch unausweichlichem Dilemma sich der Protestantismus nun einmal befindet, aus dem er trotz aller gutgemeinten ökumenischen Diskussionen und modernen Konsenspapiere nicht herausfindet, wenn er nicht sein falsches Grundprinzip aufgibt, hat der katholische Exeget Marius Reiser ohne Polemik, aber zugleich unumwunden vor kurzem so formuliert: »Luther glaubte, die Schrift zur alleinigen obersten Norm der Kirche machen zu können, da sie, von Gott gegeben, sich selbst auslege und in allen wesentlichen Aussagen klar und eindeutig sei. Die Geschichte hat jedoch erwiesen, daß dies ein Irrtum war, da sich die Schrift nun einmal sowenig selbst auslegt wie ein anderes Buch. Das war auch Luther klar, und er versah seine Bibelübersetzung darum mit Einführungen und Randglossen, die der Leserlenkung dienen sollten. Dazu kommt ein zweites: Aus der Schrift allein läßt sich keine konfessionelle Dogmatik ableiten. So führte Luthers Schriftprinzip den Protestantismus in ein Dilemma. Denn es hatte einen dogmatischen Pluralismus zur Folge, der nicht in Luthers Sinn war. Um dieser Konsequenz jedoch zu entgehen, ›müßte man sich in irgend einer Form zu einem unfehlbaren Lehramt bekennen, das es nach reformatorischer Anschauung nicht gibt‹.« 149 In der Praxis maßten sich allerdings Vertreter der lutherischen »Orthodoxie« letztlich doch beinahe Rechte wie die des katholischen Magisteriums an. Der protestantische tung der Trientinterpretation unterstützte auch Joseph Ratzinger. Aber er setzte doch ein Fragezeichen hinter die weithin akzeptierte These Geiselmanns.« 148 Z. B. in: Doctor communis 15/1962, 16. 149 Marius Reiser, Bibelkritik und Auslegung der Heiligen Schrift – Beiträge zur Geschichte der biblischen Exegese und Hermeneutik, WUNT 217, Tübingen 2007, 42. In den von uns ausgelassenen Anmerkungen belegt Reiser seine Behauptungen bzw. verweist auf einschlägige Literatur; das wörtliche Zitat stammt von dem Protestanten W. von Loewenich. Reisers Buch ist eine der wichtigsten Veröffentlichungen, die in den letzten Jahren zu Fragen einer wahrhaft katholischen Exegese vorgelegt worden sind, und zwar allein schon deshalb, weil der Autor mit Vehemenz und Überzeugungskraft für die Wiederentdeckung auch der spirituellen Methode nach Art der Kirchenväter plädiert, ohne damit die Bedeutung des historischen Sinns bzw. des Literalsinns zu mindern.
Die katholische Lehre von den zwei Quellen der Offenbarung Mystiker Gerhard Tersteegen, einem breiteren Publikum noch heute bekannt durch den Choral des Großen Zapfenstreichs der Bundeswehr »Ich bete an die Macht der Liebe, die sich in Jesu offenbart«, dessen Text von ihm stammt, zögerte nicht, diese Inkonsequenz von Vertretern des »sola scriptura«- Prinzips zu tadeln: »Ich verdenke es deswegen manchen protestantischen Theologen, welche doch so große Verfechter der Autorität der Heiligen Schrift sein wollen, daß sie ihren Libris Symbolicis (die ich sonst ihren gebührenden Wert behalten lasse) fast oder gar eine göttliche Eingebung und Unfehlbarkeit zuschreiben…« 150 Die Kirchenväter und die Suffizienz der Schrift Noch ein letzter Aspekt soll uns kurz beschäftigen. Geiselmann beruft sich für seine Position der materialen Suffizienz der Heiligen Schrift auch ohne Hinzunahme einer mündlichen Tradition auf die Kirchenväter, die sie angeblich so verfochten hätten. 151 Dann hätte also das Trienter Konzil gegen die patristische Tradition entschieden, es sei denn, Geiselmann hätte mit seiner Interpretation des Austauschs von »partim – partim« durch »et« recht. Das alles ist schon aus einem einfachen Grund so, wie es Geiselmann darstellt, ausgeschlossen: Denn zwischen Trient und den Kirchenvätern liegt die mittelalterliche und die frühneuzeitliche Epoche, in denen bedeutende Theologen nachweislich sehr wohl eine mündliche apostolische Tradition kennen, die materialiter mit der Heiligen Schrift nicht völlig identisch ist. 152 Ja, man darf nicht übersehen, daß dieselbe Lehre auch schon von antiken und frühmittelalterlichen Konzilien verbindlich vorgelegt worden war. So hielt das VII. Ökumenische Konzil, d. h. das II. Nizänum (787), im Streit um die Bilderverehrung ausdrücklich mit Berufung auf zwei einschlägige Bibelstellen fest: »Alle kirchlichen Überlieferungen, die uns in geschriebener oder ungeschriebener Form (vgl. 1 Kor 11,2; 2 Thess 2,15) verkündet worden sind, bewahren wir ohne Neuerung.« 153 Bereits das II. Konzil von 150 Gerhard Tersteegen, Weg der Wahrheit, 425, zitiert nach: Walter Nigg, Heimliche Weisheit – Mystiker des 16.-19. Jahrhunderts, Olten/Schweiz 1975, 363. 151 Geiselmann 1957, 161. 152 Siehe Lennerz, Gregorianum 40/1959, 40-43 mit Anm. 2. Eine Reihe derartiger mittelalterlicher Theologen wie Abaelard, Bonaventura, Duns Scotus, Thomas v. Aquin u. a. führt auch Schmaus auf (Divinitas 8/1964, 134-137). 153 Zitat nach: Johannes Bernhard Uphus, Der Horos des Zweiten Konzils von Nizäa 787. Interpretation und Kommentar auf der Grundlage der Konzilsakten mit besonderer Berücksichtigung der Bilderfrage, Paderborn 2004, 7. Im Griechischen lautet dieser entscheidende Satz: »hapasas tas ekklesiastikas engraphos e agraphos tethespismenas hemin paradoseis akainotometous phylattomen.« Die lateinische Version hat folgenden Wortlaut: »Omnes ec- 83
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lerdings ist dies ein zweischneidiges Schwert. Denn auch Theologen wie Geiselmann<br />
haben nicht bestritten, daß die Bibel, obgleich sie nach ihrer Meinung materialiter das<br />
gesamte Offenbarungsgut enthält und man keine konstitutive apostolische Tradition<br />
mündlicher Prägung mehr hinzunehmen muß, doch nicht ohne das Lehramt richtig<br />
ausgelegt werden kann; das beginnt ja schon bei der Fixierung des Kanons der inspirierten<br />
Schriften. Und zu einem verbindlichen Magisterium wollen sich ja die Protestanten,<br />
oder jedenfalls die Mehrheit unter ihnen, nun gar nicht verstehen! Hier führt<br />
also der Geiselmannsche Ansatz überhaupt nicht weiter. Auf dieses Problem hat Charles<br />
Boyer zu Recht aufmerksam gemacht. 148<br />
In welch unausweichlichem Dilemma sich der Protestantismus nun einmal befindet,<br />
aus dem er trotz aller gutgemeinten ökumenischen Diskussionen und modernen Konsenspapiere<br />
nicht herausfindet, wenn er nicht sein falsches Grundprinzip aufgibt, hat<br />
der katholische Exeget Marius Reiser ohne Polemik, aber zugleich unumwunden vor<br />
kurzem so formuliert: »Luther glaubte, die Schrift zur alleinigen obersten Norm der<br />
Kirche machen zu können, da sie, von Gott gegeben, sich selbst auslege und in allen<br />
wesentlichen Aussagen klar und eindeutig sei. Die Geschichte hat jedoch erwiesen,<br />
daß dies ein Irrtum war, da sich die Schrift nun einmal sowenig selbst auslegt wie ein<br />
anderes Buch. Das war auch Luther klar, und er versah seine Bibelübersetzung darum<br />
mit Einführungen und Randglossen, die der Leserlenkung dienen sollten. Dazu kommt<br />
ein zweites: Aus der Schrift allein läßt sich keine konfessionelle Dogmatik ableiten. So<br />
führte Luthers Schriftprinzip den Protestantismus in ein Dilemma. Denn es hatte einen<br />
dogmatischen Pluralismus zur Folge, der nicht in Luthers Sinn war. Um dieser Konsequenz<br />
jedoch zu entgehen, ›müßte man sich in irgend einer Form zu einem unfehlbaren<br />
Lehramt bekennen, das es nach reformatorischer Anschauung nicht gibt‹.« 149<br />
In der Praxis maßten sich allerdings Vertreter der lutherischen »Orthodoxie« letztlich<br />
doch beinahe Rechte wie die des katholischen Magisteriums an. Der protestantische<br />
tung der Trientinterpretation unterstützte auch Joseph Ratzinger. Aber er setzte doch ein<br />
Fragezeichen hinter die weithin akzeptierte These Geiselmanns.«<br />
148 Z. B. in: Doctor communis 15/1962, 16.<br />
149 Marius Reiser, Bibelkritik und Auslegung der Heiligen Schrift – Beiträge zur Geschichte der<br />
biblischen Exegese und Hermeneutik, WUNT 217, Tübingen 2007, 4<strong>2.</strong> In den von uns ausgelassenen<br />
Anmerkungen belegt Reiser seine Behauptungen bzw. verweist auf einschlägige<br />
Literatur; das wörtliche Zitat stammt von dem Protestanten W. von Loewenich. Reisers<br />
Buch ist eine der wichtigsten Veröffentlichungen, die in den letzten Jahren zu Fragen einer<br />
wahrhaft katholischen Exegese vorgelegt worden sind, und zwar allein schon deshalb, weil<br />
der Autor mit Vehemenz und Überzeugungskraft für die Wiederentdeckung auch der spirituellen<br />
Methode nach Art der Kirchenväter plädiert, ohne damit die Bedeutung des historischen<br />
Sinns bzw. des Literalsinns zu mindern.