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Broschüre "20 Jahre Deutsche Einheit" - Presse- und ...

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<strong>20</strong> <strong>Jahre</strong><br />

<strong>Deutsche</strong><br />

Einheit


<strong>20</strong> <strong>Jahre</strong><br />

<strong>Deutsche</strong> Einheit


Inhalt<br />

Grußwort der B<strong>und</strong>eskanzlerin 06<br />

Grußwort des B<strong>und</strong>esinnenministers 07<br />

„Wir sind das Volk!“ 08<br />

1990 – das Jahr der Entscheidungen 21<br />

Neue Strukturen für das wiedervereinigte Land 29<br />

Geschichte lässt sich nicht wegschließen 40<br />

Aufbau Ost – viel zu tun 50<br />

Auferstanden aus Ruinen ... 70<br />

Von der Dreckschleuder zum „Solar Valley“ 88<br />

Eine gute Versorgung für alle 98<br />

Eine Zwischenbilanz 104


Grußwort der B<strong>und</strong>eskanzlerin<br />

<strong>20</strong> <strong>Jahre</strong> ist es bereits her, als für uns <strong>Deutsche</strong> ein Traum wahr<br />

wurde. Es waren wohl nur noch die Wenigsten, die in Zeiten des<br />

K alten Krieges die Wiedervereinigung unseres Landes in Frieden<br />

<strong>und</strong> Freiheit für möglich gehalten haben. Selbst als Michail Gorbatschow<br />

in der Sowjetunion tief greifende Staatsreformen auf den<br />

Weg brachte, wollte oder konnte die DDR­Führung die Zeichen der<br />

Zeit nicht erkennen.<br />

Und dennoch: Fehlende Meinungs­ <strong>und</strong> Reisefreiheit, politische<br />

Verfolgung, Misswirtschaft <strong>und</strong> zunehmende Versorgungsengpässe<br />

forderten ihren mehr als gerechtfertigten Tribut. Stück für<br />

Stück entglitt der Staatsmacht die Kontrolle über das öffentliche<br />

Leben. Immer mehr Bürgerinnen <strong>und</strong> Bürger zeigten Zivilcourage<br />

<strong>und</strong> nahmen ihr Schicksal in die eigene Hand. Ihnen <strong>und</strong> ihrer<br />

f riedlichen Revolution haben wir es zu verdanken, dass schließlich<br />

die SED­Diktatur zusammenbrach <strong>und</strong> die Mauer fiel.<br />

Das Ergebnis der ersten freien Volkskammerwahl am 18. März 1990<br />

war ein klares Votum für die <strong>Deutsche</strong> Einheit. Dieser Wunsch ging<br />

in Erfüllung, weil B<strong>und</strong>eskanzler Helmut Kohl <strong>und</strong> Außenminister<br />

Hans­Dietrich Genscher mit großem Geschick den Weg bahnten,<br />

Michail Gorbatschow das Selbstbestimmungsrecht des deutschen<br />

Volkes achtete <strong>und</strong> sich insbesondere der amerikanische Präsident<br />

George Bush sen. für die Einheit aussprach.<br />

Wir verschließen nicht die Augen vor den Herausforderungen,<br />

vor denen wir heute, nach <strong>20</strong> <strong>Jahre</strong>n, stehen. Dies aber schmälert<br />

nicht das historische Glück der <strong>Deutsche</strong>n Einheit. Wer sich die<br />

Geschichte unseres Landes vor Augen hält, weiß auch: Wir haben<br />

allen Anlass zur Freude darüber, in einem freien, demokratischen<br />

Deutschland mit einem festen Wertef<strong>und</strong>ament leben zu können,<br />

das in fre<strong>und</strong>schaftlichen Beziehungen zu allen Nachbarn steht.<br />

Dr. Angela Merkel<br />

B<strong>und</strong>eskanzlerin<br />

6


Grußwort des Innenministers<br />

<strong>20</strong> <strong>Jahre</strong> sind seit der Wiedervereinigung vergangen – <strong>Jahre</strong> des Aufbruchs<br />

<strong>und</strong> des Aufbaus, <strong>Jahre</strong> großer Herausforderungen.<br />

In diesen <strong>Jahre</strong>n gehen die 1990­Geborenen ins Berufsleben. Sie sind<br />

die Ersten, die keine eigenen Erinnerungen an das haben, was damals<br />

passiert ist. Diese Generation ist erwachsen geworden <strong>und</strong> mit ihr<br />

auch die <strong>Deutsche</strong> Einheit.<br />

Wir haben gelernt, dass manches länger dauerte als anfangs erhofft.<br />

Wir wissen, dass man 40 <strong>Jahre</strong> Diktatur nicht rückabwickeln kann.<br />

Wir sehen, dass die Errichtung einer selbsttragenden Wirtschaftsstruktur<br />

<strong>und</strong> die Bewältigung noch bestehender Probleme, wie das<br />

der hohen Arbeitslosigkeit in weiten Teilen Ostdeutschlands, weitere<br />

Anstrengungen erfordern. Vergleichen wir aber die Bilder der maroden<br />

DDR von 1989/90 mit denen von heute: sanierte Innenstädte, ein<br />

modernes Verkehrs­ <strong>und</strong> Kommunikationsnetz, ein Ges<strong>und</strong>heitssystem<br />

auf hohem Niveau, eine geschützte Umwelt, eine wachsende<br />

<strong>und</strong> zukunftsorientierte Wirtschaft <strong>und</strong> vieles Weitere mehr. Dann<br />

können wir sagen, wir <strong>Deutsche</strong>n haben gemeinsam viel erreicht.<br />

Darauf können<br />

wir ruhig auch einmal stolz sein.<br />

Was brauchen wir für die Zukunft? Wir brauchen kein Streben nach<br />

einer „Vollendung“ der inneren Einheit. Die gibt es nicht. Gesellschaftlicher<br />

Zusammenhalt ist ein ständiger Prozess <strong>und</strong> nie vollendet. Und<br />

Einheit war <strong>und</strong> ist in Deutschland immer Einheit in der regionalen<br />

Vielfalt. Woran wir weiterhin arbeiten müssen, das sind gleichwertige<br />

Lebensverhältnisse.<br />

Es gilt: Die innere Einheit Deutschlands beginnt im Innersten eines<br />

jeden von uns, in unseren Herzen. Was wir deshalb vor allem brauchen,<br />

sind Aufgeschlossenheit füreinander, Neugier <strong>und</strong> Verständnis für die<br />

Erfahrungen des anderen, ein Miteinander in Partnerschaft. Dann<br />

werden wir auch die vor uns liegenden Herausforderungen meistern.<br />

Dr. Thomas de Maizière<br />

B<strong>und</strong>esminister des Innern<br />

Der Beauftragte der B<strong>und</strong>esregierung für die neuen B<strong>und</strong>esländer<br />

7


„Wir sind das Volk!“<br />

8


— „Wir sind das Volk!“


Volksaufstand am 17. Juni 1953<br />

Am 13. August 1961 beginnt das<br />

DDR-Regime mit dem Bau der<br />

Mauer<br />

7. Mai 1989: Kommunalwahlen in der DDR. Als die staatlich<br />

gesteuerten Medien am Abend die Ergebnisse präsentieren,<br />

ahnt niemand, dass dieser Tag ein entscheidender<br />

Meilenstein ist – ein Meilenstein auf dem Weg zur deutschen<br />

Einheit. Denn zum ersten Mal gelingt es Bürgerrechtlern<br />

nachzuweisen, dass die SED Wahlen fälschen<br />

lässt. In der DDR beginnt eine Welle des Protests.<br />

Nur ein Jahr später finden in der DDR freie Kommunalwahlen<br />

statt. Und bereits am 18. März 1990 ist mit der<br />

ersten freien Volkskammerwahl die Herrschaft der SED<br />

endgültig zu Ende.<br />

Das geteilte Deutschland<br />

Es lässt sich darüber streiten, wann das Ende der DDR<br />

begann. Mancher hat dem „Arbeiter­<strong>und</strong>­Bauernstaat“<br />

schon bei der Gründung 1949 kaum Überlebenschancen<br />

eingeräumt. Beim Volksaufstand am 17. Juni 1953 sahen<br />

sich die Skeptiker bestätigt, <strong>und</strong> spätestens der Mauerbau<br />

am 13. August 1961 kam einer Bankrotterklärung des<br />

SED­Staates gleich. Denn wer hat es nötig, seine eigene<br />

Bevölkerung einzumauern? Und beim Versuch, aus<br />

dem Land zu fliehen, zu erschießen?<br />

Dass ein gutes Vierteljahrh<strong>und</strong>ert später die Mauer <strong>und</strong><br />

die DDR verschwinden würden, war nicht vorhersehbar.<br />

Die SED­Herrschaft, gestützt auf die Existenzgarantie<br />

durch die Sowjetunion, schien zementiert.<br />

Nach <strong>Jahre</strong>n der Konfrontation öffnete die „neue Ostpolitik“<br />

Bonns ab Anfang der 1970er <strong>Jahre</strong> die Tür für ein<br />

Nebeneinander der beiden deutschen Staaten – ohne die<br />

DDR damit völkerrechtlich anzuerkennen. Binnen eines<br />

knappen Jahrzehnts nahm die DDR mit r<strong>und</strong> <strong>20</strong>0 Staaten<br />

diplomatische Beziehungen auf.<br />

10


1 Ergebnis eines Forschungsprojekts<br />

der Gedenkstätte<br />

Berliner Mauer <strong>und</strong> des<br />

Zentrums für Zeithistorische<br />

Forschung Potsdam<br />

2 Offizielle Zahlen liegen nicht<br />

vor; die Angaben reichen<br />

bis zu 1.065 (Museum Haus am<br />

Checkpoint Charlie, Berlin,<br />

13. August <strong>20</strong>04)<br />

Die Mauer <strong>und</strong> die innerdeutsche Grenze in Zahlen<br />

Todesopfer an der Berliner Mauer: mind.136 1<br />

Todesopfer an der innerdeutschen Grenze insgesamt: rd. 1.000 2<br />

Gesamtlänge der innerdeutschen Grenze: 1.376 km<br />

Gesamtlänge der Mauer zw. Ost- <strong>und</strong> West-Berlin: 43,1 km<br />

Gesamtlänge der Grenzanlagen um West-Berlin: 155 km<br />

Anzahl der Wachtürme: 302<br />

Selbstschussanlagen (zwischen 1971 <strong>und</strong> 1984): 55.000<br />

Verlegte Minen an der Grenze: rd.1,3– 1,4 Mio.<br />

Auf Menschen abgerichtete H<strong>und</strong>e<br />

(bis in die 80er <strong>Jahre</strong>):<br />

— „Wir sind das Volk!“<br />

rd. 3.000<br />

Die DDR schien ökonomisch zu erstarken. Selbst im<br />

Westen nahmen viele die gefälschten Wirtschaftsstatistiken<br />

für bare Münze, wonach die DDR eine der zehn<br />

wirtschaftsstärksten Industrienationen der Welt sei.<br />

Die böse Überraschung sollte erst nach dem Ende der<br />

SED­Diktatur kommen. Denn die tatsächliche Situation<br />

der DDR­Wirtschaft war für die Mehrheit in Ost <strong>und</strong> West<br />

genauso unvorstellbar wie eine Vereinigung der so lange<br />

getrennten deutschen Staaten.<br />

Auch wenn die b<strong>und</strong>esdeutschen Parteien immer wieder<br />

über das Ziel der deutschen Wiedervereinigung stritten:<br />

Auf der Tagesordnung stand die deutsche Einheit praktisch<br />

nicht mehr. Im innerdeutschen Verhältnis ging es<br />

seit Anfang der 1970er <strong>Jahre</strong> vorrangig um menschliche<br />

Erleichterungen, also um mehr Begegnungs­ <strong>und</strong> Reisemöglichkeiten.<br />

Die DDR zeigte Entgegenkommen, weil<br />

sie Devisen brauchte. Die Zunahme im Reise­ <strong>und</strong> Besucherverkehr<br />

hatte für die Machthaber in Ost­Berlin einen<br />

unwillkommenen, von der B<strong>und</strong>esregierung beabsichtigten<br />

Effekt: Sie förderte das Zusammengehörigkeitsgefühl<br />

der <strong>Deutsche</strong>n. Das Interesse an der B<strong>und</strong>esrepublik<br />

nahm in der DDR nicht ab, sondern zu. West­Fernsehen<br />

<strong>und</strong> ­R<strong>und</strong>funk waren für die meisten DDR­Einwohner


B<strong>und</strong>eskanzler Helmut Kohl<br />

bei seiner Tischrede am<br />

7. September 1987 in der<br />

Bad Godesberger Redoute<br />

Wolf Biermann bei seinem<br />

Konzert in der Kölner Sporthalle<br />

am 13. November 1976. Drei Tage<br />

später hört er im Radio, dass die<br />

DDR ihn ausgebürgert hat.<br />

die Hauptinformationsquelle. Die Zahl der Ausreiseanträge<br />

stieg seit Mitte der 1970er <strong>Jahre</strong> permanent an.<br />

Dem Ziel, die Folgen der Teilung erträglicher zu machen,<br />

dienten alle innerdeutschen Verträge <strong>und</strong> letztlich auch<br />

die Gegeneinladung Erich Honeckers nach Bonn – nach<br />

Helmut Schmidts Besuch am Werbellinsee <strong>und</strong> in Güstrow<br />

1981. Für den DDR­Staats­ <strong>und</strong> Parteichef ging mit<br />

seinem Besuch ein Lebenstraum in Erfüllung, allerdings<br />

musste er sich von B<strong>und</strong>eskanzler Helmut Kohl beim<br />

offiziellen Abendessen sagen lassen, dass die B<strong>und</strong>esrepublik<br />

am Ziel der deutschen Einheit festhalte, „weil sie<br />

dem Wunsch <strong>und</strong> Willen, ja der Sehnsucht der Menschen<br />

in Deutschland entspricht“.<br />

Wachsende Unzufriedenheit<br />

In den 1980er <strong>Jahre</strong>n nahm die Unzufriedenheit in der<br />

DDR­Bevölkerung dramatisch zu, vor allem unter den<br />

Jüngeren. Selbst bei offiziellen Demonstrationen wie der<br />

alljährlichen Kranzniederlegung am Grab von Rosa<br />

Luxemburg <strong>und</strong> Karl Liebknecht in Berlin­Friedrichsfelde,<br />

wurden plötzlich Plakate <strong>und</strong> Spruchbänder mit<br />

dem Luxemburg­Zitat „Freiheit ist immer die Freiheit<br />

der Andersdenkenden“ hochgehalten. Mit brutaler<br />

Gewalt wurden sie von Volkspolizei <strong>und</strong> Angehörigen<br />

des Ministeriums für Staatssicherheit in Zivil wieder<br />

eingerollt. Für jeden DDR­Bürger war das im West­Fernsehen<br />

zu sehen.<br />

Seit der Ausbürgerung des Liedermachers Wolf Biermann<br />

<strong>und</strong> mehrerer namhafter Schriftsteller war langsam,<br />

aber stetig eine Oppositionsbewegung gewachsen,<br />

wie H<strong>und</strong>erttausende von Stasi­Berichten zeigen. In<br />

vielen Städten bildeten sich – zum großen Teil unter<br />

dem schützenden Dach der Kirchen – Jugendgruppen,<br />

die sich gegen die SED­Diktatur auflehnten.<br />

12


Zuerst stand das Thema „Militarisierung der Gesellschaft“<br />

<strong>und</strong> Feindbildpropaganda im Vordergr<strong>und</strong>; 1978 war an<br />

den Schulen „Wehrk<strong>und</strong>eunterricht“ eingeführt worden.<br />

Zunehmend wurde auch die allgegenwärtige Verschmutzung<br />

der Umwelt ein Anstoßpunkt des Protestes. Mit<br />

Verboten <strong>und</strong> Verhaftungen versuchte das Regime, diese<br />

Entwicklung einzudämmen. Letztlich erfolglos.<br />

Neben der freien Meinungsäußerung ging es den Menschen<br />

in der DDR vor allem um mehr Reisefreiheit. Doch<br />

auch die hartnäckige Weigerung der SED­Führung, in der<br />

DDR einen ähnlichen Reformprozess zu vollziehen, wie<br />

ihn Partei­ <strong>und</strong> Staatschef Michail Gorbatschow in der<br />

Sowjetunion eingeleitet hatte, führte zu immer größerem<br />

Missmut – selbst in den SED­Parteiorganisationen, denen<br />

2,3 Millionen Mitglieder angehörten. Vielen wurde klar:<br />

Ohne Perestroika <strong>und</strong> Glasnost ist der Niedergang des<br />

„real existierenden Sozialismus“ nicht mehr aufzuhalten.<br />

Abstimmung mit den Füßen<br />

Im Sommer 1989 begann der Ansturm auf die Ständige<br />

Vertretung der B<strong>und</strong>esrepublik Deutschland in Ost­Berlin<br />

<strong>und</strong> die b<strong>und</strong>esdeutschen Botschaften in den Nachbarländern<br />

Tschechoslowakei, Polen <strong>und</strong> Ungarn. Auslöser<br />

war, dass Ungarn am 2. Mai begonnen hatte, den Eisernen<br />

V orhang zu öffnen. Allein auf das Prager Botschaftsgelände<br />

flüchteten sich r<strong>und</strong> 6.000 Menschen aus der DDR.<br />

— „Wir sind das Volk!“


DDR-Flüchtlinge klettern über<br />

den Zaun der b<strong>und</strong>esdeutschen<br />

Botschaft in Prag (Oktober 1989)<br />

Michail Gorbatschow am<br />

7. Oktober 1989, dem 40. <strong>Jahre</strong>stag<br />

der DDR-Gründung, in<br />

Ost-Berlin<br />

Am 30. September 1989 gelang es B<strong>und</strong>esaußenminister<br />

Hans­Dietrich Genscher <strong>und</strong> Kanzleramtsminister Ru dolf<br />

Seiters, für sie die freie Ausreise in den Westen auszuhandeln.<br />

Die Bilder von Genschers umjubelter Ankündigung<br />

auf dem Botschaftsbalkon sind unvergesslich.<br />

Schon am 10. September hatte die ungarische Regierung<br />

die Grenze nach Österreich für DDR­Bürger geöffnet.<br />

Innerhalb von 72 St<strong>und</strong>en nutzten dort 15.000 Ostdeutsche<br />

die Chance zur Flucht in den Westen. Die DDR<br />

schien auszubluten <strong>und</strong> erlebte mit dem Massenexodus<br />

einen Aderlass wie schon einmal kurz vor dem Mauerbau.<br />

Erich Honeckers herablassende Bemerkung, den Flüchtlingen<br />

solle man keine Träne nachweinen, heizte die<br />

Stimmung zusätzlich an.<br />

Im Herbst überschlugen sich die Ereignisse. Die Feierlichkeiten<br />

zum 40. <strong>Jahre</strong>stag der DDR am 7. Oktober 1989<br />

endeten mit Protestaktionen. In Ost­Berlin gab es die ersten<br />

Verletzten, weil Volkspolizei <strong>und</strong> Stasi die Demonstranten<br />

mit Gewalt zurückdrängten. Zuvor hatten die<br />

Ost­Berliner den sowjetischen Präsidenten Gorbatschow<br />

begeistert gefeiert <strong>und</strong> mit „Gorbi, hilf uns!“­Rufen empfangen.<br />

Seine mahnenden Worte an die reformunwillige<br />

DDR­Führung – „Wer zu spät kommt, den bestraft das<br />

Leben“ – sind in die Geschichte eingegangen.<br />

Montagsdemonstrationen<br />

In Leipzig hatten bereits am 4. September 1989 die montäglichen<br />

Demonstrationen begonnen. Bald gingen auch<br />

in anderen Städten die Menschen auf die Straßen <strong>und</strong><br />

riefen: „Wir sind das Volk!“ Am 9. Oktober versammelten<br />

sich in der Messestadt über 70.000 Teilnehmer zur<br />

größten Protestaktion seit dem 17. Juni 1953. Sie verlief<br />

friedlich, obwohl die Staatsmacht ein Großaufgebot an<br />

„Sicherheitsorganen“ organisiert hatte. Vor der Masse<br />

14


Die Montagsdemonstration am<br />

9. Oktober 1989 in Leipzig<br />

der friedlichen Demonstranten musste sie jedoch kapitulieren.<br />

Für die Bürgerrechtler war das ein Signal – <strong>und</strong><br />

der entscheidende Wendepunkt. Dass die sowjetischen<br />

Panzer, anders als 1953, in den Kasernen blieben, zeigte,<br />

dass Moskau der SED­Führung nicht mehr zu Hilfe kommen<br />

wollte.<br />

Schon eine Woche später, am 18. Oktober, trat Erich Honecker<br />

als SED­Generalsekretär <strong>und</strong> von seinen weiteren<br />

Funktionen als Staatsratsvorsitzender <strong>und</strong> Chef des Verteidigungsrates<br />

zurück. Sein Nachfolger wurde Egon<br />

Krenz. Er nahm gleich telefonischen Kontakt zu B<strong>und</strong>eskanzler<br />

Helmut Kohl auf <strong>und</strong> suchte wenig später Michail<br />

Gorbatschow im Kreml auf, um Unterstützung für seinen<br />

halbherzigen Reformprozess zu erhalten. Krenz wollte<br />

die SED weiterhin als führende Kraft in der DDR erhalten.<br />

Er versuchte sogar, sich mit der SED an die Spitze der<br />

Reformbewegung zu setzen, um den DDR­Sozialismus<br />

zu retten. Doch eine freiheitliche Demokratie nach westlichem<br />

Vorbild gehörte nicht zu seinen Zielen, die deutsche<br />

Einheit schon gar nicht.<br />

— „Wir sind das Volk!“


Berlin, Grenzübergang Bornholmer<br />

Straße, in der Nacht vom 9. auf den<br />

10. November 1989<br />

Am 6. November fragte die neue DDR­Führung in Bonn<br />

nach der Möglichkeit, Kredite in ganz neuer Dimension<br />

zu bekommen. B<strong>und</strong>eskanzler Helmut Kohl antwortete<br />

mit der Forderung nach durchgreifenden Reformen:<br />

Verzicht auf das Machtmonopol der SED, Zulassung<br />

demokratischer Parteien, freie Wahlen. Es waren dieselben<br />

Forderungen, die auch die Demonstranten erhoben.<br />

Die DDR­Führung geriet unter Zangendruck.<br />

Die Mauer fällt<br />

Wie sehr der Partei­ <strong>und</strong> Staatsführung das Heft bereits<br />

entglitten war, zeigte die gewaltige Massendemonstration<br />

am 4. November 1989 auf dem Berliner Alexanderplatz,<br />

bei der H<strong>und</strong>erttausende mehr Demokratie <strong>und</strong><br />

Reformen einforderten <strong>und</strong> ihre Unzufriedenheit mit der<br />

neuen Führungsriege der SED zum Ausdruck brachten.<br />

Unter dem Druck der Bevölkerung beschloss das Politbüro<br />

ein Reisegesetz, das SED­Politbüromitglied Günter<br />

Schabowski auf einer <strong>Presse</strong>konferenz am Spätnachmittag<br />

des 9. November 1989 mit einem Nebensatz in Kraft<br />

16


Die Menschen feiern die Grenzöffnung<br />

auf der Mauer vor dem<br />

Brandenburger Tor<br />

setzte. Er löste damit noch am Abend einen wahren<br />

Ansturm auf die Berliner Grenzübergangsstellen aus,<br />

sodass den Grenzsoldaten nichts anderes übrig blieb,<br />

als den Schlagbaum zu öffnen. Nach r<strong>und</strong> 28 <strong>Jahre</strong>n war<br />

die unnatürliche Teilung Deutschlands durch Mauer<br />

<strong>und</strong> Todesstreifen mit einem Schlag beendet.<br />

„Wahnsinn!“ riefen die Ersten, die in dieser Nacht über<br />

den Grenzübergang an der Bornholmer Straße von Ost­<br />

nach West­Berlin kamen. Wie ein Lauffeuer verbreitete<br />

sich die Nachricht vom Mauerfall r<strong>und</strong> um den Globus.<br />

Eine Weltsensation – ausgelöst durch friedliche Proteste<br />

gegen die ständige Bevorm<strong>und</strong>ung durch das SED­<br />

Regime, gegen Unfreiheit <strong>und</strong> die Verletzung elementarer<br />

Menschenrechte. Diese Art einer Revolution hatte<br />

es in der Geschichte noch nicht gegeben.<br />

— „Wir sind das Volk!“


Der Zentrale „R<strong>und</strong>e Tisch“<br />

im Ost-Berliner „Dietrich-<br />

Bonhoeffer-Haus“<br />

Das rasante Tempo, in dem die DDR zerfiel, überraschte<br />

nicht nur die SED­Führung, sondern auch die B<strong>und</strong>esregierung<br />

<strong>und</strong> die Opposition in Bonn. Helmut Kohl<br />

befand sich am Tag der Maueröffnung auf einem Staatsbesuch<br />

in Polen <strong>und</strong> erfuhr telefonisch von dem historischen<br />

Ereignis. Er versuchte, so schnell wie möglich<br />

wieder nach Deutschland zurückzukehren, ohne die<br />

polnischen Gastgeber vor den Kopf zu stoßen. In Bonn<br />

unterbrach der B<strong>und</strong>estag seine Haushaltsberatungen,<br />

in der Parlamentslobby verfolgten die Abgeordneten die<br />

Berliner Ereignisse am Fernsehschirm. Als B<strong>und</strong>estagspräsidentin<br />

Rita Süssmuth die Maueröffnung verkündete,<br />

stimmten die Abgeordneten spontan die Nationalhymne<br />

an.<br />

Versuche, den DDR-Sozialismus zu retten<br />

In der DDR trat am 7. November 1989 Willi Stoph als<br />

Ministerpräsident zurück. Nachfolger wurde der Dresdner<br />

SED­Chef Hans Modrow, den zu dieser Zeit auch im<br />

Westen einige als Hoffnungsträger ansahen. Auch er<br />

lehnte eine Wiedervereinigung strikt ab. Stattdessen<br />

wollte er mit Reformen die DDR als sozialistischen Staat<br />

erneuern.<br />

18


B<strong>und</strong>eskanzler Kohl trägt im<br />

<strong>Deutsche</strong>n B<strong>und</strong>estag sein<br />

„Zehn-Punkte-Programm“ vor<br />

(28. November 1989)<br />

Modrow sah sich gezwungen, Macht abzugeben: Im<br />

Dezember formierte sich der Zentrale „R<strong>und</strong>e Tisch“ mit<br />

Mitgliedern aller politischen Gruppen <strong>und</strong> Parteien. Den<br />

Vertretern der Parteien, die in der „Nationalen Front“<br />

zusammengeschlossen waren, jetzt aber nach <strong>und</strong> nach<br />

aus dem Parteienblock ausbrachen, saßen die Abgesandten<br />

der Neugründungen gegenüber – des Demokratischen<br />

Aufbruchs, der Sozialdemokratischen Partei, von<br />

Demokratie Jetzt, vom Neuen Forum <strong>und</strong> der Grünen<br />

Liga. Die Moderation der Treffen lag in den Händen von<br />

drei Kirchenvertretern.<br />

Kohls Zehn-Punkte-Programm<br />

Ende November 1989 ging Helmut Kohl mit seinem<br />

Zehn­Punkte­Programm zur Überwindung der Teilung<br />

Deutschlands in die Offensive. Darin mahnte der B<strong>und</strong>eskanzler,<br />

wie er es schon am 7. <strong>und</strong> 8. November getan<br />

hatte, die Aufhebung des Machtmonopols der SED an.<br />

Im Zentrum von Kohls Deutschlandplan stand der Vorschlag,<br />

in einem stufenweisen Vorgehen die Wiedervereinigung<br />

Deutschlands anzustreben – mit der Zwischenetappe<br />

„konföderativer Strukturen“ <strong>und</strong> eingebettet in<br />

die gesamteuropäische Entwicklung. „Wie ein wiedervereinigtes<br />

Deutschland schließlich aussehen wird, das<br />

weiß heute niemand“, sagte Kohl vor dem B<strong>und</strong>estag.<br />

„Dass aber die Einheit kommen wird, wenn die Menschen<br />

in Deutschland sie wollen, dessen bin ich sicher.“<br />

Damals war Helmut Kohl noch davon überzeugt, dass<br />

die Einheit erst in drei oder vier <strong>Jahre</strong>n kommen werde,<br />

„auf jeden Fall erst nach Vollendung des europäischen<br />

Binnenmarktes“, wie er später in seinen Memoiren<br />

schrieb. Die Dynamik des Vereinigungsprozesses sollte<br />

diese Erwartung schnell überholen. Entscheidend aber<br />

war: Das Ziel der deutschen Einheit stand nun auf der<br />

internationalen Tagesordnung.<br />

— „Wir sind das Volk!“


„Wir sind ein Volk!“<br />

In den Städten der DDR demonstrierten die Menschen<br />

indes weiter für demokratische Veränderungen. Aus dem<br />

Ruf, „Wir sind das Volk!“ wurde immer lauter „Wir sind<br />

ein Volk!“. Die Umfragen unter der DDR­Bevölkerung<br />

widersprachen sich. Während die Befragungen der<br />

Westmedien ergaben, dass die übergroße Mehrheit der<br />

Ostdeutschen die Wiedervereinigung wolle, war das<br />

Ergebnis bei den DDR­Demoskopen genau entgegengesetzt.<br />

Nach ihren Umfragen wollte die Mehrzahl der<br />

ostdeutschen Bevölkerung vor allem eine bessere DDR.<br />

Die Bilder sprachen allerdings eine deutliche Sprache:<br />

Drei Wochen nach dem Zehn­Punkte­Programm<br />

begrüßten H<strong>und</strong>erttausende Helmut Kohl begeistert vor<br />

der Dresdner Frauenkirche – mit Deutschlandfahnen<br />

<strong>und</strong> sogar mit Transparenten wie „B<strong>und</strong>esland Sachsen<br />

grüßt den B<strong>und</strong>eskanzler“. Endgültige Klarheit brachte<br />

dann die Volkskammerwahl vom 18. März 1990.<br />

<strong>20</strong>


Silvesterparty 1989 am<br />

Brandenburger Tor<br />

1990 – das Jahr<br />

der Entscheidungen<br />

— 1990 – Das Jahr der Entscheidungen


Das neue Jahr begann genauso turbulent, wie sich das<br />

alte verabschiedet hatte. H<strong>und</strong>erttausende aus Ost <strong>und</strong><br />

West versammelten sich bei eisiger Kälte am Brandenburger<br />

Tor zu einer riesigen Silvesterparty – Bilder, die<br />

noch wenige Wochen zuvor unvorstellbar waren. Es ließ<br />

sich bereits ahnen, dass die Böllerschüsse der bevorstehenden<br />

Einheit galten. 1990 sollte für Deutschland<br />

tatsächlich zum geschichtsträchtigsten Jahr seit Ende<br />

des Zweiten Weltkriegs werden.<br />

Nein zu Geldforderungen<br />

Die Modrow­Regierung wollte vor allem den anhaltenden<br />

Massenexodus stoppen. „Kommt die D­Mark, bleiben wir.<br />

Kommt sie nicht, geh’n wir zu ihr“, war insbesondere für<br />

die junge ostdeutsche Generation zum geflügelten Wort<br />

geworden. Hans Modrow wollte die wirtschaftliche Lage<br />

mit Hilfen der B<strong>und</strong>esrepublik stabilisieren, stieß aber<br />

mit seinen Finanzforderungen bei Helmut Kohl auf taube<br />

Ohren. Einen „Lastenausgleich“ von r<strong>und</strong> 15 Milliarden<br />

D­Mark lehnte die B<strong>und</strong>esregierung strikt ab – auch beim<br />

Februar­Treffen in Bonn, als Modrow mit Vertretern aller<br />

13 Parteien <strong>und</strong> Gruppierungen an den Rhein kam.<br />

Für Helmut Kohl machte es keinen Sinn mehr, mit einem<br />

zweistelligen Milliardenbetrag die Lebenszeit der bankrotten<br />

DDR weiter zu verlängern. Stattdessen bot die<br />

B<strong>und</strong>esregierung eine deutsche Wirtschafts­ <strong>und</strong> Währungsunion<br />

an.<br />

Der B<strong>und</strong>eskanzler drängte darauf, möglichst bald über<br />

die Schritte zur Verwirklichung der Einheit zu sprechen.<br />

Dafür waren inzwischen auch in der DDR alle politischen<br />

Parteien <strong>und</strong> Gruppen mit Ausnahme der Grünen <strong>und</strong><br />

der SED/PDS. Einen Beitritt nach Artikel 23 des Gr<strong>und</strong>gesetzes<br />

lehnte die DDR­Seite zu diesem Zeitpunkt aber<br />

noch ab.<br />

22


B<strong>und</strong>eskanzler Helmut Kohl <strong>und</strong><br />

Frankreichs Staatspräsident<br />

François Mitterand (28. April<br />

1990)<br />

Kohl informierte unmittelbar nach dem Zusammentreffen<br />

mit Modrow den amerikanischen Präsidenten George<br />

Bush über den Verlauf des Gesprächs. In dem Telefonat<br />

bezeichnete er die Lage in der DDR als „unvermindert<br />

dramatisch“. In den ersten Wochen des neuen <strong>Jahre</strong>s hätten<br />

bereits 80.000 Bürger die DDR in Richtung Westen<br />

verlassen, bis Ende Februar dürften es über 100.000 sein,<br />

so Kohl.<br />

Vorbehalte im Ausland zerstreuen<br />

Der B<strong>und</strong>eskanzler war insbesondere damit beschäftigt,<br />

den westlichen Verbündeten, aber auch dem Kreml,<br />

Vorbehalte gegen ein vereintes Deutschland zu nehmen.<br />

Unterstützung erhielt er dabei vor allem von der Bush­<br />

Administration.<br />

Die Würfel waren längst gefallen, auch wenn die Modrow­Regierung<br />

das Tempo aus dem Wiedervereinigungsprozess<br />

herauszunehmen versuchte. Modrow verwies<br />

bei jeder Gelegenheit auf den europäischen Rahmen, der<br />

nicht gesprengt werden dürfe. Es gebe inzwischen auch<br />

in Ostdeutschland eine schweigende Mehrheit, die vor<br />

beschleunigten Schritten bei der Wiedervereinigung<br />

Furcht empfinde. Das betraf vor allem Eigentumsfragen<br />

<strong>und</strong> die künftige soziale Absicherung.<br />

Noch im Februar traf sich, einer Forderung des R<strong>und</strong>en<br />

Tisches folgend, eine innerdeutsche Expertenkommission<br />

zu ihrer ersten Sitzung.<br />

Die erste freie Volkskammerwahl<br />

Zu dieser Zeit hatte der Wahlkampf längst begonnen.<br />

24 Parteien wetteiferten um die Stimmen von 12,2 Millionen<br />

Wählern. Im Einvernehmen mit dem R<strong>und</strong>en Tisch<br />

hatte die DDR­Regierung den Wahltermin vom Mai auf<br />

— 1990 – Das Jahr der Entscheidungen


Der ehemalige B<strong>und</strong>eskanzler<br />

Willy Brandt am 4. März 1990<br />

in Erfurt<br />

den 18. März 1990 vorverlegt. Vertreter der Opposition<br />

wandten sich vergeblich gegen eine Beteiligung der<br />

Parteien aus dem Westen. Helmut Kohl sprach in Erfurt<br />

<strong>und</strong> auf K<strong>und</strong>gebungen in fünf weiteren DDR­Städten.<br />

Auch Willy Brandt, Hans­Dietrich Genscher <strong>und</strong> andere<br />

b<strong>und</strong>esdeutsche Spitzenpolitiker absolvierten zahlreiche<br />

Wahlkampfauftritte. Willy Brandt kam zum Beispiel<br />

ebenfalls nach Erfurt <strong>und</strong> besuchte das Hotel „Erfurter<br />

Hof“, wo er sich 1970 mit DDR­Ministerpräsident Willi<br />

Stoph getroffen hatte. Die Erfurter hatten den damaligen<br />

B<strong>und</strong>eskanzler mit ihren Rufen „Willy Brandt ans Fenster!“<br />

begeistert empfangen.<br />

Die Wahl am 18. März mit einer Beteiligung von 93,38<br />

Prozent endete anders, als es die Demoskopen vorausgesagt<br />

hatten. Wahlsiegerin war die „Allianz für Deutschland“,<br />

ein Wahlbündnis von CDU, DSU <strong>und</strong> DA. Es erhielt<br />

48,1 Prozent aller Stimmen. Die SPD wurde mit einem<br />

Stimmenanteil von 21,9 Prozent zweitstärkste Partei. Die<br />

PDS belegte mit 16,4 Prozent den dritten Rang.<br />

Volkskammerwahl am 18. März<br />

1990: Wahllokal im Berliner<br />

Stadtbezirk Prenzlauer Berg Ergebnisse der DDR-Volkskammerwahl<br />

vom 18. März 1990<br />

Quelle:<br />

<strong>Deutsche</strong>r B<strong>und</strong>estag<br />

24<br />

Partei (bzw. Liste) Prozent Mandate<br />

Allianz für Deutschland<br />

Christlich-Demokratische Union Deutschlands (CDU)<br />

<strong>Deutsche</strong> Soziale Union (DSU)<br />

Demokratischer Aufbruch (DA)<br />

40,8<br />

6,3<br />

0,9<br />

Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) 21,9 88<br />

Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS) 16,4 66<br />

B<strong>und</strong> Freier Demokraten 5,3 21<br />

Bündnis 90 2,9 12<br />

Demokratische Bauernpartei Deutschlands (DBD) 2,2 9<br />

Grüne Partei + Unabhängiger Frauenverband 2,0 8<br />

Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NDPD) 0,4 2<br />

Demokratischer Frauenb<strong>und</strong> Deutschlands (DFD) 0,3 1<br />

Aktionsbündnis Vereinigte Linke 0,2 1<br />

Sonstige 0,3 0<br />

163<br />

25<br />

4


Wilhelm Ebeling, Rainer Ortleb,<br />

Lothar de Maizière, Markus<br />

Meckel <strong>und</strong> Rainer Eppelmann<br />

am 11. April 1990, einen Tag vor<br />

ihrer Vereidigung<br />

Unterzeichnung des Vertrags<br />

über die Wirtschafts-, Währungs-<br />

<strong>und</strong> Sozialunion am 18. Mai 1990:<br />

DDR-Finanzminister Walter<br />

Romberg, Ministerpräsident<br />

de Maizière, B<strong>und</strong>eskanzler<br />

Helmut Kohl <strong>und</strong> B<strong>und</strong>esfinanzminister<br />

Theo Waigel<br />

Die D-Mark ist da. Warten auf<br />

den Geldumtausch in Görlitz.<br />

Votum für die Wiedervereinigung<br />

Das Wahlergebnis bedeutete ein klares Votum für die<br />

deutsche Einheit. Jetzt ging es in Bonn <strong>und</strong> Ost­Berlin<br />

um den Fahrplan dorthin. Lothar de Maizière, Chef der<br />

Ost­CDU <strong>und</strong> damit der stärksten Partei in der Allianz,<br />

übernahm die Regierungsbildung. Er wollte angesichts<br />

der bevorstehenden Aufgaben eine möglichst breite<br />

Mehrheit in der Volkskammer. Deshalb bildete er eine<br />

Große Koalition mit der SPD <strong>und</strong> dem „B<strong>und</strong> Freier<br />

Demokraten“.<br />

Die Regierungen in Ost <strong>und</strong> West einigten sich schnell<br />

auf den 1. Juli als Starttermin für die Wirtschafts­ <strong>und</strong><br />

Währungsunion, damit die Ostdeutschen rechtzeitig<br />

zu Urlaubsbeginn im Besitz der D­Mark waren. Mit der<br />

Ankündigung sollte gleichzeitig der Strom der Übersiedler<br />

eingedämmt werden. Streitpunkt blieb jedoch lange<br />

der Umtauschkurs. Die von der B<strong>und</strong>esbank vertretene<br />

Absicht, einen Umtauschkurs von 2 : 1 festzulegen, sorgte<br />

nicht nur bei der ostdeutschen Bevölkerung für eine<br />

Welle des Protestes. Auch der neue Regierungschef<br />

Lothar de Maizière wehrte sich entschieden dagegen.<br />

Am Ende kamen beide Seiten überein, dass alle laufenden<br />

Zahlungen – Löhne <strong>und</strong> Gehälter, Renten, Mieten<br />

etc. – im Verhältnis 1 : 1 in D­Mark umgewandelt werden<br />

sollten. Jeder DDR­Bürger sollte von seinen Ersparnissen<br />

4.000 Mark, Rentner 6.000 <strong>und</strong> Kinder 2.000 Ostmark 1 : 1<br />

umtauschen können. Die darüber hinausgehenden<br />

Beträge wurden im Verhältnis 2 : 1 getauscht. Im Gesamtdurchschnitt<br />

ergab sich ein Verhältnis von 1,8 : 1. Am<br />

18. Mai 1990 wurde im Bonner Palais Schaumburg der<br />

Staatsvertrag zur Währungs­, Wirtschafts­ <strong>und</strong> Sozialunion<br />

unterzeichnet.<br />

— 1990 – Das Jahr der Entscheidungen


Sabine Bergmann-Pohl,<br />

Präsidentin der ersten <strong>und</strong><br />

einzigen frei gewählten<br />

Volkskammer der DDR<br />

„Die Volkskammer, auch wenn sie nur wenige Monate existierte,<br />

war ein wichtiger Bestandteil des Demokratisierungsprozesses<br />

in der DDR. Die Bürger konnten nicht nur erstmals frei wählen,<br />

sondern auch über den Weg entscheiden, den ihr Land künftig gehen<br />

soll. Mit ihrer Stimme für die Allianz für Deutschland wählten sie<br />

die Wiedervereinigung.“<br />

Beseitigung internationaler Hindernisse<br />

Während zwischen den beiden deutschen Staaten die<br />

Verhandlungen zur Wiedervereinigung auf Hochtouren<br />

liefen – immer mehr befürworteten einen Beitritt nach<br />

Artikel 23 des Gr<strong>und</strong>gesetzes –, mussten auch international<br />

die Hindernisse im Einheitsprozess aus dem Weg<br />

geräumt werden. Nach wie vor gab es bei Verbündeten –<br />

insbesondere der britischen Premierministerin Margaret<br />

Thatcher – Vorbehalte <strong>und</strong> Zurückhaltung gegenüber<br />

der deutschen Einheit.<br />

Dass es letztlich gelang, sie zu überwinden, lag vor allem<br />

an der Unterstützung durch den amerikanischen Präsidenten<br />

George Bush sowie an der Änderung der Haltung<br />

Moskaus. Lange bestand der Kreml auf einem Austritt des<br />

vereinigten Deutschlands aus der Nato. Sonst gerate das<br />

Kräfteverhältnis in Europa aus dem Gleichgewicht, lautete<br />

die Begründung. Gorbatschow brachte sogar eine<br />

doppelte Mitgliedschaft im Warschauer Pakt <strong>und</strong> in der<br />

Nato ins Gespräch. Die geringe Neigung des Kremls zu<br />

einem Kompromiss überschattete die erste R<strong>und</strong>e der<br />

Zwei­plus­Vier­Gespräche im Mai in Bonn. Diese Verhandlungen<br />

zwischen den beiden deutschen Staaten <strong>und</strong><br />

den vier ehemaligen Alliierten des Zweiten Weltkriegs<br />

sollten den außenpolitischen Rahmen für die Einheit<br />

schaffen.<br />

Der Durchbruch gelang der deutschen Seite Mitte Juli<br />

bei einem Treffen Kohls mit Gorbatschow im Kaukasus.<br />

Dabei sicherte der sowjetische Präsident dem vereinigten<br />

26


Helmut Kohl, Michail Gorbatschow<br />

<strong>und</strong> Hans-Dietrich<br />

Genscher am 16. Juli 1990<br />

im Kaukasus<br />

Der Einigungsvertrag<br />

Deutschland nicht nur die sofortige volle Souveränität<br />

zu, sondern gab überraschend auch seine Einwände<br />

gegen eine Nato­Mitgliedschaft auf. Allerdings dürften<br />

die Bündnisstrukturen nicht auf die ehemalige DDR<br />

ausgedehnt werden, solange dort sowjetische Truppen<br />

stationiert seien.<br />

Für den Abzug der sowjetischen Truppen aus Ostdeutschland<br />

versprach die B<strong>und</strong>esregierung Unter stützung beim<br />

Wohnungsbau <strong>und</strong> bei Umschulungs programmen für<br />

Soldaten. Am Ende machte das einen zwei stelligen Milliardenbetrag<br />

aus.<br />

Der Einigungsvertrag<br />

Nach dem erfolgreichen deutsch­sowjetischen Gipfel im<br />

Kaukasus nahm der Vereinigungsprozess weiter an Fahrt<br />

auf. „So schnell wie möglich <strong>und</strong> so gut wie nötig“, war die<br />

Maxime von de Maizière. Unmittelbar nach Beginn der<br />

Wirtschafts­, Währungs­ <strong>und</strong> Sozialunion starteten die<br />

Verhandlungen über den Einigungsvertrag. Ostdeutscher<br />

Partner von B<strong>und</strong>esinnenminister Wolfgang Schäuble<br />

war der spätere B<strong>und</strong>esverkehrsminister Günther Krause.<br />

Nach nur vier Sitzungen stand das zweite große Vertragswerk<br />

der deutschen Einheit. Die DDR sollte gemäß Artikel<br />

23 dem Geltungsbereich des Gr<strong>und</strong>gesetzes beitreten.<br />

Beide Seiten waren sich einig, dass dies der unkomplizierteste<br />

<strong>und</strong> zügigste Weg zur Einheit war – <strong>und</strong> dass man<br />

ihn beschreiten musste, solange die internationale Situation,<br />

vor allem in Moskau, günstig war.<br />

— 1990 – Das Jahr der Entscheidungen


23. August 1990, 3 Uhr morgens:<br />

Die DDR-Volkskammer hat den<br />

Einigungsvertrag angenommen.<br />

Unterzeichnung des Zwei-plus-<br />

Vier-Vertrages am 12. September<br />

1990 in Moskau<br />

Die Volkskammer machte in der Nacht zum 23. August<br />

nach einer turbulenten Sitzung mit der nötigen Zweidrittelmehrheit<br />

den Weg frei. Von den 363 anwesenden<br />

Abgeordneten stimmten 294 für den Beitritt der DDR<br />

zur B<strong>und</strong>esrepublik Deutschland, 62 votierten dagegen,<br />

sieben enthielten sich. So konnte der Einigungsvertrag<br />

am 31. August unterzeichnet werden. Am <strong>20</strong>. September<br />

haben der <strong>Deutsche</strong> B<strong>und</strong>estag <strong>und</strong> die Volkskammer<br />

ihn ratifiziert.<br />

R<strong>und</strong> drei Wochen vor dem Tag der Wiedervereinigung<br />

am 3. Oktober wurden in Moskau die Zwei­plus­Vier­<br />

Gespräche abgeschlossen. Der Zwei­plus­Vier­Vertrag<br />

machte den Weg frei für die deutsche Einheit <strong>und</strong> die<br />

volle Souveränität des wiedervereinigten Deutschlands.<br />

Noch ein Jahr zuvor hätte so gut wie niemand davon zu<br />

träumen gewagt.<br />

Am 3. Oktober 1990 war der Kalte Krieg endgültig vorbei.<br />

Für Deutschland bedeutet das: Zum ersten Mal kann<br />

es zugleich in Freiheit, Einheit <strong>und</strong> in Frieden mit allen<br />

seinen Nachbarstaaten leben.<br />

28


Neue Strukturen<br />

für das<br />

wiedervereinigte Land<br />

Schon sehr bald nach der Wiedervereinigung wurde klar,<br />

welche Herkulesaufgabe Deutschland zu bewältigen<br />

hatte. Zwar sollte der Einigungsvertrag alle weiteren<br />

Schritte regeln. Doch die Probleme zeigten sich bei der<br />

Umsetzung der 1.000 Seiten.<br />

Jetzt galt es, nach der staatlichen Einheit das Zusammenwachsen<br />

der <strong>Deutsche</strong>n in Ost <strong>und</strong> West zu fördern.<br />

Deutschland sei nun zwar eins, aber noch nicht einig,<br />

wurde zum Lieblingssatz vieler Politiker. Auf westdeutscher<br />

Seite wurde die Frage des Parlaments­ <strong>und</strong> Regierungssitzes<br />

zum Gradmesser, wie ernst den alten Ländern<br />

die Wiedervereinigung war: Sollten B<strong>und</strong>estag <strong>und</strong><br />

B<strong>und</strong>esregierung nach Berlin umziehen oder in Bonn<br />

bleiben? Am <strong>20</strong>. Juni 1991 entschied sich die Mehrheit der<br />

B<strong>und</strong>estagsabgeordneten für Berlin.<br />

Auch andere Institutionen mussten umziehen. Die Kommission<br />

von B<strong>und</strong> <strong>und</strong> Ländern handelte eine faire Verteilung<br />

von B<strong>und</strong>eseinrichtungen aus. Beispielsweise<br />

wurde der Sitz des Umweltb<strong>und</strong>esamtes von Berlin nach<br />

Dessau verlegt. Leipzig erhielt das B<strong>und</strong>esverwaltungsgericht<br />

<strong>und</strong> einen Teil des B<strong>und</strong>esgerichtshofes, Erfurt<br />

das B<strong>und</strong>esarbeitsgericht.<br />

— Neue Strukturen für das wiedervereinigte Land


Die weitaus größeren Herausforderungen kamen auf die<br />

Menschen in den neuen Ländern zu. Nichts blieb, wie es<br />

gewesen war. Wie schnell <strong>und</strong> zukunftsorientiert die<br />

Menschen mit den vielen Veränderungen ihres Alltags<br />

zurechtkamen, wenn auch mit westdeutscher Unterstützung,<br />

das brachte ihnen eine Menge Respekt in den alten<br />

Ländern ein. B<strong>und</strong>espräsident Horst Köhler, der während<br />

seiner Amtszeit wie seine Vorgänger schon oft die neuen<br />

Länder besucht hat, berichtet von Begegnungen mit<br />

Menschen, die „unglaublich viel Tatendrang <strong>und</strong> Schaffenskraft“<br />

hätten, „vor denen man nur den Hut ziehen<br />

kann“. Die Menschen hätten sich nicht unterkriegen lassen<br />

<strong>und</strong> den mit der Friedlichen Revolution verb<strong>und</strong>enen<br />

Umbruch gut gemeistert. Davon werde zu wenig im Westen<br />

erzählt, so Köhler.<br />

Kommunale Selbstverwaltung<br />

Manches Gr<strong>und</strong>legende wurde schon vor der Vereinigung<br />

in Angriff genommen. So hatte bereits die erste<br />

demokratisch gewählte DDR­Volkskammer im Mai 1990<br />

mit Zweidrittelmehrheit eine Kommunalverfassung<br />

erlassen, mit der die Kreise <strong>und</strong> Gemeinden ihren Status<br />

der Selbstverwaltung zurückerhielten. Damit war die<br />

Dezentralisierung der Macht eingeleitet, <strong>und</strong> die gerade<br />

gewählten kommunalen Parlamente bekamen die nötigen<br />

Rechte <strong>und</strong> Befugnisse, um das gesellschaftliche<br />

Leben in den Städten <strong>und</strong> Gemeinden zu gestalten. Auch<br />

die Bürgerbeteiligung erhielt erst durch die kommunale<br />

Selbstverwaltung einen neuen Stellenwert.<br />

Unterstützung erhielten die ostdeutschen Städte <strong>und</strong><br />

Gemeinden beim Aufbau ihrer neuen Verwaltungsorganisation<br />

vor allem von westdeutschen Partnerkommunen<br />

<strong>und</strong> Ländern. Schon bald bestand ein flächendeckendes<br />

Netz von Beziehungen, das sich auch beim Aufbau<br />

der neuen Länderstruktur bewährte.<br />

30


Verlagerung von B<strong>und</strong>esinstitutionen in die neuen Länder<br />

Brandenburg<br />

Mecklenburg-<br />

Vorpommern<br />

Sachsen Sachsen-Anhalt Thüringen<br />

• B<strong>und</strong>esversiche - • B<strong>und</strong>esversiche - • B<strong>und</strong>esverwal - • Umweltb<strong>und</strong>es - • B<strong>und</strong>esarbeits -<br />

rungsanstalt rungsanstalt tungsgericht; amt (Berlin, 837 gericht (Kassel,<br />

(BfA) (1.500 der (BfA) (2.000 der Oberb<strong>und</strong>esan- Stellen) 140 Stellen)<br />

neuen Stellen) neuen Stellen) walt; 5. (Berliner)<br />

Strafsenat des • Wasser- <strong>und</strong> • B<strong>und</strong>esversiche -<br />

• Biologische<br />

• Landwirtschaft - BGH <strong>und</strong> neue Schifffahrts- rungsanstalt<br />

B<strong>und</strong>esanstalt liche Berufs- BGH-Senate (Ber- direktion Ost (BfA) Abteilung<br />

für Land- <strong>und</strong> genossenschaft lin, 250 Stellen), (Berlin, 243 Stel- Rehabilitation<br />

Forstwirtschaft (Berlin, 326 Stel- neue Zivilsenate len) (Berlin, ca. 1.000<br />

(Außenstelle<br />

len) gehen nach Stellen)<br />

Berlin, 114 Stel-<br />

Karlsruhe, dafür<br />

len) • B<strong>und</strong>esamt für kommt jeweils • B<strong>und</strong>esanstalt<br />

Seeschifffahrt ein bestehender für Wasserbau<br />

• B<strong>und</strong>esrech - <strong>und</strong> Hydrogra- Strafsenat von (Berlin, 168 Stelnungshof<br />

(Au- phie (Hamburg, Karlsruhe nach len)<br />

ßenstelle Berlin, ca. 150 Stellen Leipzig<br />

ca. 100 Stellen) <strong>und</strong> Präsident)<br />

• Zentrum für Tele-<br />

kommunikation<br />

(Berlin, ca. 1.087<br />

Stellen)<br />

In Klammern jeweils die<br />

früheren Orte <strong>und</strong> die<br />

Zahl der Beschäftigten<br />

Quelle: BT-Drucksache<br />

12/2853 (neu)<br />

• Eine Berufsge -<br />

nossenschaft (bis<br />

zu 500 Stellen)<br />

• Archiv für die<br />

<strong>Deutsche</strong> Einheit<br />

(Außenstelle des<br />

B<strong>und</strong>esarchivs)<br />

Fünf neue Länder<br />

1952 hatte die DDR die Länder abgeschafft <strong>und</strong> in 14<br />

Bezirke umgewandelt. Während der Debatte über die<br />

Länderneugliederung lagen der de Maizière­Regierung<br />

Vorschläge zur Errichtung von zwei bis elf Ländern für<br />

das Gebiet der ehemaligen DDR vor – etwa eines Landes<br />

Vorpommern oder auch eines separaten Landes Lausitz.<br />

Einig waren sich die Volksvertreter hingegen, dass der<br />

föderale Aufbau nicht nur eine gute Voraussetzung für<br />

die Wiedervereinigung schafft, sondern auch die Demo­<br />

— Neue Strukturen für das wiedervereinigte Land


Erfurt<br />

Suhl<br />

Schwerin<br />

Magdeburg<br />

Halle<br />

Gera<br />

Aus 14 Bezirken wurden<br />

fünf Länder, aus West- <strong>und</strong> Ost-<br />

Berlin wieder eine Stadt<br />

Rostock<br />

Neubrandenburg<br />

Berlin<br />

(Ost)<br />

Frankfurt/<br />

Oder<br />

Potsdam<br />

Leipzig<br />

Karl-Marx-<br />

Stadt<br />

kratie fördert <strong>und</strong> der kulturellen Vielfalt bessere Chancen<br />

als der Zentralismus bietet.<br />

Im Juli 1990 verabschiedete die Volkskammer mit Zweidrittelmehrheit<br />

das Ländereinführungsgesetz, wonach<br />

zum 14. Oktober 1990 – zeitgleich mit Landtagswahlen –<br />

aus den Bezirken Rostock, Schwerin <strong>und</strong> Neubrandenburg<br />

das Land Mecklenburg­Vorpommern sowie aus den<br />

Bezirken Potsdam, Cottbus <strong>und</strong> Frankfurt/Oder das Land<br />

Brandenburg wurde. Der Freistaat Sachsen setzt sich aus<br />

den Bezirken Dresden, Leipzig <strong>und</strong> Chemnitz (Karl­Marx­<br />

Stadt) zusammen. Der Freistaat Thüringen ist aus den<br />

Bezirken Erfurt, Gera <strong>und</strong> Suhl, Sachsen­Anhalt aus den<br />

Bezirken Halle <strong>und</strong> Magdeburg gebildet. Die Wahl der<br />

Landeshauptstädte sollte Sache der einzelnen Länder<br />

sein. Ost­Berlin wurde mit der Westhälfte Berlins vereinigt.<br />

32<br />

Cottbus<br />

Dresden<br />

Thüringen<br />

Sachsen-<br />

Anhalt<br />

Mecklenburg-<br />

Vorpommern<br />

Brandenburg<br />

Sachsen<br />

Berlin


Während der Länderbildung erhielt der Osten tatkräftige<br />

Hilfen aus dem Westen. Ähnlich wie bei den Kommunen<br />

bildeten sich enge Partnerschaftsbeziehungen zwischen<br />

den alten <strong>und</strong> den neuen Ländern. Das sollte garantieren,<br />

dass die Strukturen nach den rechtsstaatlichen Maßstäben<br />

der alten B<strong>und</strong>esrepublik entstanden.<br />

Beispielgebend war die Aufbauarbeit der damaligen<br />

B<strong>und</strong>eshauptstadt Bonn in Potsdam. Die ehemalige<br />

B<strong>und</strong>eshauptstadt kümmerte sich nicht nur um die<br />

Verwaltungsorganisation, sondern half auch mit ganz<br />

praktischen Dingen wie Rettungswagen für die Feuerwehr,<br />

Funktelefonen oder Kopiergeräten.<br />

Eigentumsfragen<br />

Als einer der schwierigsten Punkte sollten sich die Eigentumsverhältnisse<br />

erweisen. Das wurde bereits am R<strong>und</strong>en<br />

Tisch deutlich. So ließ die Modrow­Regierung schon<br />

vor der Volkskammerwahl erklären, dass die Eigentumsordnung,<br />

wie sie nach Ende des Zweiten Weltkriegs entstanden<br />

sei, nicht zur Disposition stehe. Diesen Standpunkt<br />

vertrat die Modrow­Delegation auch bei ihrem<br />

Treffen mit B<strong>und</strong>eskanzler Helmut Kohl in Bonn im Februar<br />

1990. Danach galt das Recht der DDR­Bauern auf ihr<br />

Bodenreformland auch nach der Wiedervereinigung als<br />

unantastbar. Ministerpräsident Lothar de Maizière blieb<br />

bei dieser Haltung <strong>und</strong> machte Wochen später in seiner<br />

Regierungserklärung deutlich, dass es bei einem Zurück<br />

vor die Bodenreform keinen Einigungsvertrag gebe.<br />

Dabei konnte sich der CDU­Politiker sowohl der Mehrheit<br />

der DDR­Bevölkerung als auch der Unterstützung Moskaus<br />

sicher sein. Gerade der Kreml legte Wert darauf,<br />

dass die Enteignungen vor der Gründung der DDR nicht<br />

rückgängig gemacht würden, was in Bonn nicht unumstritten<br />

war. Eine Reihe von Politikern machte sich dafür<br />

— Neue Strukturen für das wiedervereinigte Land


stark, bei dem Prinzip Rückgabe vor Entschädigung den<br />

Zeitraum 1945 bis 1949 nicht auszuklammern. B<strong>und</strong>esinnenminister<br />

Schäuble wusste hingegen, dass dies nicht<br />

durchsetzbar war.<br />

Für Enteignungen aus DDR­Zeit sollte die Rückgabe den<br />

Vorrang haben. Gleichwohl steckte auch hier der Teufel<br />

oft im Detail. Das Prinzip „Rückgabe vor Entschädigung“<br />

führte im Alltag oft zu langen Verzögerungen bei der<br />

Sanierung innerstädtischer Gebäude, beispielsweise<br />

wenn sich Erbengemeinschaften nicht über Verkauf oder<br />

Nutzung ihrer Immobilien einigen konnten. Die Alternative<br />

– Entschädigung vor Rückgabe – wäre allerdings<br />

einer nachträglichen Zustimmung zur Enteignungspolitik<br />

des SED­Regimes gleichgekommen.<br />

Das Investitionsvorranggesetz von 1992 brachte eine<br />

gewisse Erleichterung für Investitionen <strong>und</strong> damit die<br />

Schaffung von Arbeitsplätzen. Die Regelung der offenen<br />

Vermögensfragen hat jedoch bis heute bei vielen Betroffenen<br />

W<strong>und</strong>en hinterlassen.<br />

34


Unabhängige Justiz<br />

1958 hatte der SED­Generalsekretär Walter Ulbricht die<br />

Devise ausgegeben: „Unsere Juristen müssen begreifen,<br />

dass der Staat <strong>und</strong> das von ihm geschaffene Recht dazu<br />

dienen, die Politik von Partei <strong>und</strong> Regierung durchzusetzen.“<br />

Von einer unabhängigen Justiz konnte also in der<br />

DDR keine Rede sein.<br />

Die SED nahm auf unterschiedliche Arten Einfluss auf die<br />

Rechtsprechung. Dies reichte von einer ideologisch motivierten<br />

Personalpolitik über allgemeine ideologische<br />

„Anleitungen“ der Justizangehörigen bis hin zur Inszenierung<br />

einzelner Strafprozesse. Dann gab das Ministerium<br />

für Staatssicherheit konkrete Urteile vor.<br />

Nach der Wiedervereinigung gelang es sehr zügig, in<br />

allen neuen Ländern unabhängige Gerichte zu etablieren<br />

<strong>und</strong> damit der Gewaltenteilung Geltung zu verschaffen.<br />

Sichtbarster Ausdruck der neuen rechtsstaatlichen<br />

Ordnung war die Einführung von Verwaltungsgerichten.<br />

Zu DDR­Zeiten waren sie abgeschafft, sodass sich Bürgerinnen<br />

<strong>und</strong> Bürger nur mit „Eingaben“ an staatliche<br />

Stellen gegen falsches Verwaltungshandeln zur Wehr<br />

setzen konnten. Die Entscheidungen darüber waren<br />

nicht gerichtlich nachprüfbar, letztlich also willkürlich.<br />

Damit war es nun, im wiedervereinigten Deutschland,<br />

vorbei. Auch wenn nicht alle Urteile auf Zustimmung<br />

stoßen: Die unabhängige Verwaltungsgerichtsbarkeit ist<br />

einer der größten Gewinne, denn sie zwingt die öffentliche<br />

Verwaltung zu sorgfältigen <strong>und</strong> nachprüfbaren<br />

Entscheidungen in jedem Einzelfall.<br />

— Neue Strukturen für das wiedervereinigte Land


Ex-Stasi-Chef Mielke vor dem<br />

Landgericht Berlin (1993)<br />

Wie SED-Unrecht bestrafen?<br />

Als massives Problem stellte sich die Verfolgung von<br />

Menschenrechtsverletzungen zu DDR­Zeiten heraus. Sie<br />

strafrechtlich zu ahnden gelang wegen des sogenannten<br />

Rückwirkungsverbots in den seltensten Fällen: Was in<br />

der DDR nicht strafbar war, ließ sich nicht im Nachhinein<br />

bestrafen. Selbst Stasi­Chef Erich Mielke musste nicht<br />

wegen der systematischen Verfolgung Andersdenkender<br />

ins Gefängnis, sondern wegen eines Doppelmordes, an<br />

dem er 1931 beteiligt war.<br />

Die Bürgerrechtler verzweifelten geradezu daran, dass<br />

die Machthaber von einst ungeschoren davonkommen<br />

sollten. „Wir wollten Gerechtigkeit <strong>und</strong> bekamen den<br />

Rechtsstaat“, sagte die Malerin Bärbel Bohley, die seit<br />

Anfang der 1980er <strong>Jahre</strong> von der Stasi verfolgt worden<br />

war.<br />

Das wiedervereinigte Deutschland konnte das Leid, das<br />

die Verfolgten erlitten hatten, zwar nicht ungeschehen<br />

machen, <strong>und</strong> die Täter ließen sich in den seltensten<br />

Fällen zur Rechenschaft ziehen. Aber mit den Unrechtsbereinigungsgesetzen<br />

haben die SED­Opfer einen<br />

Anspruch auf straf­, verwaltungs­ <strong>und</strong> berufsrechtliche<br />

Rehabilitierung <strong>und</strong> Wiedergutmachung erhalten.<br />

Mit der Einführung der sogenannten SED­Opferpension<br />

im Sommer <strong>20</strong>07 ist der <strong>Deutsche</strong> B<strong>und</strong>estag einer<br />

jahrelangen Forderung der Opfer <strong>und</strong> ihrer Verbände<br />

nachgekommen. Jetzt erhalten bei mindestens sechsmonatiger<br />

Inhaftierung bedürftige Haftopfer monatlich<br />

250 Euro. Ende <strong>20</strong>09 hatten bereits 48.000 von ihnen<br />

einen Anspruch auf die SED­Opferpension.<br />

36


Vereint über den Wolken: eine<br />

von der NVA übernommene<br />

MIG29 (o.) zusammen mit Alpha<br />

Jet, Tornado <strong>und</strong> Phantom (v. l.)<br />

Die „Armee der Einheit“<br />

Gravierend waren die Veränderungen für die Angehörigen<br />

der Nationalen Volksarmee (NVA). Während die<br />

ostdeutsche Armee im Frühjahr 1990 noch eine Truppenstärke<br />

von r<strong>und</strong> 175.000 Mann hatte, waren es zum Zeitpunkt<br />

der Wiedervereinigung nur noch 90.000. Sie wurden<br />

am 3. Ok tober 1990 zunächst in die B<strong>und</strong>eswehr<br />

eingegliedert. Später wurden r<strong>und</strong> 50.000 NVA­Angehörige<br />

übernommen.<br />

Sofort entließ die B<strong>und</strong>eswehr jedoch Offiziere der<br />

Grenztruppen, Politoffiziere, Angehörige des Bereichs<br />

Aufklärung sowie Generäle <strong>und</strong> Admirale. R<strong>und</strong> 11.700<br />

ehemalige NVA­Angehörige bewarben sich für eine Offizierslaufbahn<br />

in der B<strong>und</strong>eswehr, 6.000 wurden angenommen.<br />

Von den 12.300, die Unteroffizier werden wollten,<br />

<strong>und</strong> 1.000, die sich für eine Mannschaftslaufbahn<br />

entschieden hatten, wurden 11.<strong>20</strong>0 übernommen. Die<br />

Übrigen verließen im Dezember 1990 die B<strong>und</strong>eswehr.<br />

— Neue Strukturen für das wiedervereinigte Land


Fahrzeugkontrolle an der B<strong>und</strong>eswehrkaserne<br />

„Albertstadt“<br />

bei Dresden<br />

Zur Zusammenführung der beiden Streitkräfte gehört<br />

auch, dass das B<strong>und</strong>esverteidigungsministerium insgesamt<br />

15 Einrichtungen von West nach Ost verlegte. So<br />

erhielt Berlin zum Beispiel die B<strong>und</strong>eswehrverwaltungsschule<br />

<strong>und</strong> die B<strong>und</strong>esakademie für Sicherheitspolitik.<br />

Die Offiziersschule des Heeres <strong>und</strong> das Militärhistorische<br />

Museum fanden in Dresden eine neue Heimat, <strong>und</strong> Rostock­Warnemünde<br />

wurde der neue Standort für das<br />

Marineamt. Insgesamt fanden so r<strong>und</strong> 8.000 B<strong>und</strong>eswehrangehörige<br />

in den neuen Ländern eine Beschäftigung.<br />

Die nüchternen Zahlen lassen allerdings kaum erahnen,<br />

welche Integrationsleistung die B<strong>und</strong>eswehr nach der<br />

Wiedervereinigung erbracht hat: Immerhin waren die<br />

Soldaten in den beiden deutschen Staaten dazu ausgebildet,<br />

im Ernstfall aufeinander zu schießen. Es ist vor allem<br />

umsichtigen Kommandeuren der einzelnen Armee­<br />

Einheiten zu verdanken, dass es gelang, die Soldaten aus<br />

B<strong>und</strong>eswehr <strong>und</strong> Nationaler Volksarmee ohne nennenswerte<br />

Konflikte zusammenzuführen. Die „Armee der<br />

Einheit“ konnte als eine der ersten staatlichen Institutionen<br />

im Einigungsprozess Vollzug melden.<br />

Neue Medienlandschaft<br />

Gewaltige Veränderungen vollzogen sich auch im Medienbereich.<br />

Mit dem Beschluss der Volkskammer vom<br />

5. Februar 1990, <strong>Presse</strong>freiheit zu gewähren, änderte sich<br />

die Arbeit für Journalisten in der DDR gr<strong>und</strong>legend.<br />

Die Zeitungen der SED (17), der CDU (6), der LDPD (5), der<br />

NDPD (6) <strong>und</strong> der Massenorganisationen (3) sowie der<br />

einen Zeitung der Bauernpartei lösten sich aus der Kontrolle<br />

ihrer Herausgeber.<br />

Zugleich mussten die 39 Tageszeitungen in der DDR<br />

durch den Wegfall der Subventionen ihre Preise erhö­<br />

38


hen – bislang kosteten Tageszeitungen 0,15 DDR­Mark<br />

<strong>und</strong> ein Monatsabonnement höchstens 3,15 DDR­Mark.<br />

Und sie hatten sich gegenüber der Konkurrenz aus dem<br />

Westen zu behaupten. Vor allem in grenznahen Gebieten<br />

gaben westdeutsche Verlage lokale Nebenausgaben<br />

heraus. Versuche des R<strong>und</strong>en Tisches, einen „Medienkontrollrat“<br />

zu schaffen, blieben erfolglos.<br />

Stattdessen waren auflagenstarke SED­Bezirkszeitungen,<br />

die später von der Treuhand zum Verkauf ausgeschrieben<br />

wurden, schon sehr früh begehrte Kooperationspartner<br />

der großen Verlagshäuser aus den alten Ländern.<br />

R<strong>und</strong> ein Jahr später gingen sie oft auch in deren Besitz<br />

über. Die Blätter haben bis heute einen Marktanteil von<br />

r<strong>und</strong> 90 Prozent. Elf von ihnen zählen zu den 25 auflagenstärksten<br />

Zeitungen Deutschlands. Neugründungen<br />

hatten keine Chance zu überleben.<br />

Für R<strong>und</strong>funk <strong>und</strong> Fernsehen sah der Einigungsvertrag<br />

die Bildung öffentlich­rechtlicher R<strong>und</strong>funkanstalten<br />

vor. So entstand in Sachsen, Sachsen­Anhalt <strong>und</strong> Thüringen<br />

der Mitteldeutsche R<strong>und</strong>funk (MDR), Mecklenburg­<br />

Vorpommern schloss sich dem Norddeutschen R<strong>und</strong>funk<br />

(NDR) an, <strong>und</strong> für Brandenburg wurde zunächst der Ostdeutsche<br />

R<strong>und</strong>funk Brandenburg (ORB) geschaffen, der<br />

<strong>20</strong>04 mit dem Sender Freies Berlin (SFB) zum R<strong>und</strong>funk<br />

Berlin­Brandenburg (RBB) fusionierte.<br />

1997 ging in Erfurt der „Kinderkanal“ (KI.KA) auf Sendung<br />

– ein Angebot von ARD <strong>und</strong> ZDF für junge<br />

Zuschauer, deren Eltern Wert auf ein werbe­ <strong>und</strong> gewaltfreies<br />

Programm legen.<br />

— Neue Strukturen für das wiedervereinigte Land


Geschichte<br />

lässt sich<br />

nicht<br />

w egschließen<br />

40<br />

Sturm auf die Stasi-Zentrale<br />

am 15. Januar 1990


— Geschichte lässt sich nicht wegschließen


Joachim Gauck, der erste Beauftragte<br />

für die Stasi-Unterlagen<br />

Am 15. Januar 1990 zogen tausende DDR­Bürger in die<br />

Berliner Normannenstraße, riefen „Stasi raus!“ <strong>und</strong><br />

besetzten die Zentrale des einstigen Ministeriums für<br />

Staatssicherheit (MfS). Der Sturm auf die Stasi­Zentrale in<br />

Ost­Berlin setzte den Schlusspunkt für den Spitzelapparat<br />

des SED­Regimes. Unzählige Akten konnten so vor dem<br />

Reißwolf gerettet werden.<br />

Insgesamt 39 Millionen Karteikarten <strong>und</strong> 180 Kilometer<br />

Akten hat die Stasi über die Menschen in der DDR zusammengetragen.<br />

Die Dokumente belegen, mit welchen<br />

Methoden die SED die Bevölkerung ausforschen <strong>und</strong><br />

politisch Andersdenkende m<strong>und</strong>tot machen ließ. Selbst<br />

Übersiedler <strong>und</strong> Ausgewiesene konnten vor „Zersetzungsmaßnahmen“<br />

nicht sicher sein: Die Stasi schreckte<br />

nicht davor zurück, sie bis nach West­Berlin oder in die<br />

B<strong>und</strong>esrepublik zu verfolgen.<br />

Die Stasi­Akten bergen allerdings nicht nur Zeugnisse,<br />

die Täter überführen, sondern beweisen auch, wie viel<br />

Mut Menschen zeigten, die sich auf das Menschenrecht<br />

auf freie Meinungsäußerung beriefen. Sonst wäre der<br />

ungeheure Aufwand, den die Stasi betrieb, nicht notwendig<br />

gewesen. Zudem enthalten die Unterlagen viele<br />

Hinweise darauf, mit wie viel Fantasie sich DDR­Bürger<br />

Anwerbe versuchen der Stasi entzogen haben, weil sie<br />

Verwandte, Fre<strong>und</strong>e, Nachbarn <strong>und</strong> Kollegen nicht<br />

bespitzeln wollten.<br />

Was tun mit den Stasi-Akten?<br />

Die Geschichte der DDR lässt sich nicht einfach so wegschließen.<br />

Das zeigt das große Interesse der Ostdeutschen<br />

an ihrer Vergangenheit: Immerhin haben seit Inkrafttreten<br />

des Stasi­Unterlagen­Gesetzes am <strong>20</strong>. Dezember 1991<br />

r<strong>und</strong> 2,5 Millionen Privatpersonen Anträge auf Auskunft,<br />

Einsicht <strong>und</strong> Herausgabe von Stasi­Unterlagen gestellt.<br />

42


Die „Birthler-Behörde“ In Zahlen<br />

Umfang aller Unterlagen<br />

mit Schriftgut<br />

r<strong>und</strong> 180<br />

Kilometer<br />

Antragszahlen seit 1991 insgesamt 6.453.400<br />

Darunter <strong>20</strong>05 <strong>20</strong>06 <strong>20</strong>07 <strong>20</strong>08 <strong>20</strong>09<br />

Anträge von Bürgern auf Auskunft,<br />

Einsicht <strong>und</strong> Herausgabe 1 2.661.969 80.574 97.068 101.521 87.366 102.658<br />

Ersuchen zur Überprüfung von<br />

Mitarbeitern des öffentlichen<br />

Dienstes<br />

Sonstige Überprüfungen 410.427<br />

Anträge von Journalisten <strong>und</strong><br />

Wissenschaftlern<br />

Anträge zu Fragen der Rehabilitierung,<br />

Wiedergutmachung,<br />

Strafverfolgung<br />

Ersuchen zu Rentenangelegenheiten<br />

1 Angabe umfasst Erst- <strong>und</strong><br />

Wiederholungsanträge,<br />

Anträge auf Decknamenentschlüsselung<br />

<strong>und</strong> Herausgabe<br />

von Kopien.<br />

2 davon 26.152 Ersuchen zur<br />

Opferrente<br />

3 davon 5.662 Ersuchen zur<br />

Opferrente<br />

Bürgerrechtler nehmen Einsicht<br />

in ihre Stasi-Akten. Von links:<br />

Eva-Maria Hagen, Pamela Biermann,<br />

Katja Havemann, Jürgen<br />

Fuchs <strong>und</strong> Wolf Biermann.<br />

1.754.235 50.946 13.187 523 345 175<br />

23.131 1.079 1.273 1.387 1.418 1.930<br />

467.153 6.736 5.625 9.482 32.<strong>20</strong>8 2 11.419 3<br />

1.136.343<br />

— Geschichte lässt sich nicht wegschließen


Stasi-Akten<br />

Allein <strong>20</strong>09 hat die B<strong>und</strong>esbeauftragte für die Unterlagen<br />

des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR,<br />

Marianne Birthler, 102.658 neue Anträge auf Einsicht in<br />

die DDR­Altlast registriert. Das waren über 15.000 mehr<br />

als <strong>20</strong>08. Auch die Zahl der Anträge aus Wissenschaft<br />

<strong>und</strong> Medien ist gestiegen. Seit Bestehen der Behörde,<br />

die die Akten auf der Gr<strong>und</strong>lage des Stasi­Unterlagen­<br />

Gesetzes erfasst, erschließt <strong>und</strong> verwaltet, sind über<br />

23.000 Medien­ <strong>und</strong> Forschungsanträge gestellt worden.<br />

Dass dabei Personen der Zeitgeschichte in der Öffentlichkeit<br />

von besonderem Interesse sind, liegt auf der Hand.<br />

Ihre Akten können nach einer Novellierung des Gesetzes<br />

<strong>20</strong>06 auch weiterhin eingesehen werden.<br />

Insgesamt zieht die Beauftragte für die Unterlagen des<br />

Staatssicherheitsdienstes eine positive Bilanz. Nach ihrer<br />

Einschätzung hat die Offenheit der Akteneinsicht zur<br />

Versöhnung beigetragen <strong>und</strong> nicht zur Spaltung, wie<br />

gerne behauptet wird.<br />

Dass selbst nach <strong>20</strong> <strong>Jahre</strong>n immer noch Stasi­Spitzel enttarnt<br />

werden, hat sich erst vor Kurzem in Brandenburg<br />

gezeigt. Gleich mehrere Abgeordnete, so kam heraus,<br />

haben als Informelle Mitarbeiter (IM) für den Staatssicherheitsdienst<br />

der DDR gespitzelt. Die Enthüllung hat<br />

b<strong>und</strong>esweit hohe Wellen geschlagen. Mit der früheren<br />

DDR­Bürgerrechtlerin Ulrike Poppe hat auch Brandenburg<br />

– als letztes neues B<strong>und</strong>esland – eine Landesbeauftragte<br />

zur Aufarbeitung der Folgen der kommunisti­<br />

44


schen Diktatur eingesetzt. Das, so Marianne Birthler, sei<br />

eine Genugtuung für all jene, denen die Aufarbeitung<br />

der Diktatur am Herzen liege. Es gebe aus Brandenburg<br />

in jüngster Zeit eine Zunahme von Anträgen auf Einsicht<br />

in die Stasi­Akten. Die Bürger des Landes wollten wissen,<br />

ob <strong>und</strong> warum sie bespitzelt wurden <strong>und</strong> wer dafür verantwortlich<br />

war. Das ist heute noch genauso brisant wie<br />

nach der Erstürmung der Stasi­Zentrale vor <strong>20</strong> <strong>Jahre</strong>n.<br />

Erinnerung wachhalten<br />

Wie wichtig es ist, die Erinnerung an die SED­Diktatur<br />

vor allem bei der Jugend wachzuhalten, machen Umfragen<br />

an den Schulen deutlich. Wissenschaftler des Forschungsverb<strong>und</strong>s<br />

SED­Staat der Freien Universität Berlin<br />

haben „Das DDR­Bild von Schülern“ untersucht <strong>und</strong> dazu<br />

2.400 Schüler <strong>und</strong> Jugendliche der B<strong>und</strong>eshauptstadt<br />

befragt. Das Ergebnis: Die Hälfte der Schüler gab an, dass<br />

die DDR zu wenig im Unterricht behandelt werde, <strong>und</strong><br />

<strong>20</strong> Prozent erklärten, das Thema sei überhaupt noch<br />

nicht vorgekommen. Entsprechend ist der Wissensstand.<br />

Nur jeder zweite befragte Schüler in Berlin hält die DDR<br />

für eine Diktatur, <strong>und</strong> ein Drittel wusste nicht einmal,<br />

dass die DDR die Mauer gebaut hat.<br />

Einen wichtigen Beitrag zur historischen Auseinandersetzung<br />

mit der deutschen Teilung <strong>und</strong> deren Folgen<br />

leistet die B<strong>und</strong>esstiftung zur Aufarbeitung der SED­Diktatur.<br />

Sie richtet sich vor allem an Jugendliche, die das<br />

DDR­Regime <strong>und</strong> die Mauer nicht mehr kennengelernt<br />

haben. Mehr als 1.700 Projekte hat die Stiftung in den<br />

vergangenen <strong>Jahre</strong>n gefördert, die nicht nur für die<br />

Menschen in den neuen Ländern gedacht sind.<br />

— Geschichte lässt sich nicht wegschließen


Gedenkstätten zur Erinnerung an Opposition,<br />

Widerstand <strong>und</strong> Verfolgung in der SBZ / DDR<br />

Berlin • Dokumentationszentrum<br />

Berliner Mauer<br />

• Erinnerungsstätte Notaufnahmelager<br />

Marienfelde<br />

• Forschungs- <strong>und</strong> Gedenkstätte<br />

Normannenstraße<br />

Brandenburg • Bildungs- <strong>und</strong> Dokumentationsstätte<br />

„Lindenstraße 54“, Potsdam<br />

• Gedenk- <strong>und</strong> Dokumentationsstätte<br />

„Opfer politischer Gewaltherrschaft“<br />

• Gedenkstätte Internierungslager<br />

Ketschendorf<br />

Mecklenburg-<br />

Vorpommern<br />

• Dokumentationszentrum für die Opfer<br />

deutscher Diktaturen, Schwerin<br />

Demmlerplatz<br />

Niedersachsen • Grenzdurchgangslager Friedland<br />

Sachsen •<br />

•<br />

•<br />

•<br />

Sachsen-Anhalt •<br />

•<br />

Stiftung Sächsische Gedenkstätten<br />

Dokumentations- <strong>und</strong> Informationszentrum<br />

(DIZ) Torgau<br />

Gedenkstätte Bautzen<br />

Gedenkstätte Münchner Platz Dresden<br />

Gedenkstätte <strong>Deutsche</strong> Teilung<br />

Marienborn<br />

Gedenkstätte Roter Ochse Halle/Saale<br />

Thüringen • Gedenkstätte Buchenwald<br />

Grenzmuseen<br />

46<br />

• Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen<br />

• Informations- <strong>und</strong> Dokumentationszentrum<br />

der B<strong>und</strong>esbeauftragten für<br />

die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes<br />

• Museum Haus am Checkpoint Charlie<br />

• Gedenkstätte Speziallager Nr. 1 des<br />

NKWD/MWD Mühlberg/Elbe<br />

• Gedenkstätte <strong>und</strong> Museum<br />

Sachsenhausen<br />

• Internierungslager Jamlitz<br />

• Zentralwaldfriedhof Halbe<br />

• Zuchthaus Brandenburg-Görden<br />

• Untersuchungshaftanstalt des MfS,<br />

R o s t o c k<br />

•<br />

•<br />

•<br />

Erinnerungs- <strong>und</strong> Begegnungsstätte im<br />

ehemaligen Jugendwerkhof Torgau<br />

Museum im Stasi-Bunker, Machern<br />

Museum in der „R<strong>und</strong>en Ecke“<br />

• Gedenkstätte Moritzplatz Magdeburg<br />

für die Opfer politischer Gewaltherrschaft<br />

• Grenzlandmuseum Bad Sachsa e. V. • Grenzhus, Schlagsdorf<br />

• Grenzlandmuseum Eichsfeld • Grenzlandmuseum Schnackenburg<br />

• Zonengrenz-Museum Helmstedt • Grenzlandmuseum „Swinmark“ Schnega<br />

• Grenzdenkmal Hötensleben • Thüringisch-Fränkische Begegnungs-<br />

• Gedenkstätte <strong>Deutsche</strong> Teilung stätte mit der Informationsstelle über<br />

Marienborn die Teilung Deutschlands, Neustadt bei<br />

• Deutsch-<strong>Deutsche</strong>s Museum Coburg<br />

Mödlareuth • Wanfrieder Dokumentationszentrum zur<br />

• Grenzmuseum „Schifflersgr<strong>und</strong>“ deutschen Nachkriegsgeschichte<br />

Museen zur oder mit einem Schwerpunkt DDR-Geschichte<br />

• DDR-Museum, Berlin • „Gegen das Vergessen“ – Sammlung zur<br />

• <strong>Deutsche</strong>s Historisches Museum, DDR-Geschichte, Pforzheim<br />

Berlin • Haus der Geschichte der B<strong>und</strong>es-<br />

• Deutsch-Russisches Museum Berlin- republik Deutschland, Bonn<br />

Karlshorst • Museum für Junge Kunst, Frankfurt/<br />

• Dokumentationszentrum Alltags- Oder<br />

kultur der DDR e. V., Eisenhüttenstadt • Wittenberger Haus der Geschichte<br />

• Filmmuseum Potsdam • Zeitgeschichtliches Forum Leipzig


Das Grenzmuseum in Mödlareuth.<br />

Zu DDR-Zeiten hieß der<br />

Ort „Klein-Berlin“, weil er durch<br />

die Grenze geteilt war.<br />

Die Erinnerung an die Geschichte der deutschen Teilung<br />

wachzuhalten <strong>und</strong> der Opfer von Mauerbau <strong>und</strong> Teilung<br />

zu gedenken, das ist die Aufgabe zahlreicher Stiftungen<br />

<strong>und</strong> Gedenkstätten. Sie sind nicht nur in Berlin <strong>und</strong> entlang<br />

der ehemaligen innerdeutschen Grenze zu finden,<br />

sondern auch an vielen anderen Orten in Deutschland.<br />

— Geschichte lässt sich nicht wegschließen


Das Stasi-Untersuchungsgefängnis<br />

in Berlin-Hohenschönhausen<br />

Dunkelzellentrakt im ehemaligen<br />

Jugendwerkhof Torgau,<br />

heute eine Gedenkstätte<br />

Zu den wichtigsten Erinnerungsorten für die Opfer kommunistischer<br />

Gewaltherrschaft gehört das ehemalige<br />

Untersuchungsgefängnis des Ministeriums für Staatssicherheit<br />

in Berlin­Hohenschönhausen. Dort waren von<br />

1951 bis 1989 vor allem politische Gefangene inhaftiert –<br />

ohne Gerichtsverfahren <strong>und</strong> unter menschenunwürdigen<br />

Bedingungen. Auch in der Sonderhaftanstalt<br />

„Bautzen II“, die das Mielke­Ministerium in einen Hochsicherheitstrakt<br />

mit <strong>20</strong>0 Plätzen für Regimekritiker,<br />

Gefangene aus Westdeutschland <strong>und</strong> Spione ausgebaut<br />

hatte, befindet sich eine Gedenkstätte, die der B<strong>und</strong><br />

fördert.<br />

Über die Geschichte der Berliner Mauer <strong>und</strong> die Fluchtbewegungen<br />

aus der DDR informieren die Gedenk stätten<br />

Berliner Mauer in der Bernauer Straße <strong>und</strong> das Notaufnahmelager<br />

Marienfelde. Beide Orte spiegeln wichtige<br />

Aspekte der deutschen Teilung wider: Die Bernauer<br />

Straße wurde nach dem Mauerbau am 13. August 1961<br />

durch dramatische Fluchtversuche zum Symbol der Teilung<br />

Berlins, die Familien, Fre<strong>und</strong>e <strong>und</strong> Nachbarn über<br />

Nacht gewaltsam auseinanderriss. Das Notaufnahmelager<br />

Marienfelde passierten bis zum Ende der DDR 1,35<br />

Millionen Menschen. Hier wurden sie untergebracht <strong>und</strong><br />

versorgt. Eine Ausstellung erinnert heute an Ursachen,<br />

Verlauf <strong>und</strong> Folgen der innerdeutschen Fluchtbewegung.<br />

Wie die SED mit Jugendlichen umging, die sich der Erziehung<br />

zu „sozialistischen Persönlichkeiten“ widersetzten,<br />

lässt sich in Torgau nachempfinden. Dort befand sich von<br />

1964 bis 1989 ein „Geschlossener Jugendwerkhof“, in den<br />

über 4.000 14­ bis 18­Jährige zur „Anbahnung eines Umerziehungsprozesses“<br />

eingewiesen wurden. Heute ist das<br />

Gebäude eine Gedenkstätte. Die Jugendlichen hatten<br />

keine Straftaten begangen, <strong>und</strong> es gab keine richterlichen<br />

Anordnungen für die Einweisung. Faktisch handelte<br />

es sich jedoch um ein Gefängnis, in dem ähnliche<br />

Regeln galten wie im Strafvollzug. Paramilitärischer<br />

48


Die Berliner Mauer-Gedenkstätte<br />

an der Bernauer Straße<br />

Drill, vielfach auch schlimme Misshandlungen sollten<br />

die Jugendlichen dazu bringen, sich den „sozialistischen<br />

Lebensformen“ unterzuordnen. Der Jugendwerkhof<br />

gehörte zur „Jugendhilfe“, die direkt DDR­Volksbildungsministerin<br />

Margot Honecker unterstand.<br />

„Besuch“ im Morgengrauen<br />

Zu den düsteren Kapiteln des SED­Staates, die sich erst<br />

nach der Wiedervereinigung aufarbeiten ließen, gehörten<br />

die Zwangsaussiedlungen. In zwei groß angelegten<br />

Nacht­<strong>und</strong>­Nebel­Aktionen hatte das Regime über 12.000<br />

Menschen an der innerdeutschen Grenze zwangsumgesiedelt.<br />

Über 3.000 konnten noch in den Westen flüchten.<br />

Manche der Dörfer in Grenznähe wurden dem Erdboden<br />

gleichgemacht. Eine gesetzliche Gr<strong>und</strong>lage dafür gab es<br />

nicht.<br />

— Geschichte lässt sich nicht wegschließen


Aufbau Ost –<br />

viel zu tun<br />

BUNA-Werk Schkopau, 1990


Die DDR hat ihre Wirtschaftslage, die in den 80er <strong>Jahre</strong>n<br />

immer aussichtsloser wurde, lange zu verheimlichen<br />

versucht. Noch kurz nach dem Mauerfall beschönigten<br />

ostdeutsche Spitzenpolitiker gegenüber ihren westdeutschen<br />

Gesprächspartnern die Situation. Dabei hätten sie<br />

wissen müssen, dass der Chef der Staatlichen DDR­Planungskommission,<br />

Gerhard Schürer, schon Mitte der<br />

1970er <strong>Jahre</strong> vor einer rasant steigenden Verschuldung<br />

bei westlichen Banken gewarnt hatte. Im Mai 1989, als<br />

sich das Ende des Arbeiter­<strong>und</strong> Bauern­Staates schon<br />

langsam abzeichnete, schlug er noch einmal Alarm <strong>und</strong><br />

verwies darauf, dass die DDR auf unverantwortliche<br />

Weise über ihre Verhältnisse lebte <strong>und</strong> dass die Verschuldung<br />

der DDR monatlich um eine halbe Milliarde Ostmark<br />

zunehme. Wenn so weiter gewirtschaftet werde,<br />

so Schürer, sei das Land schon 1991 zahlungsunfähig.<br />

Außenhandelsminister Gerhard Beil <strong>und</strong> sein Staatssekretär<br />

Alexander Schalck­Golodkowski errechneten kurz<br />

vor dem Mauerfall, dass sich ein Stopp der Verschuldung<br />

nur durch die Verringerung des Lebensstandards um<br />

25 bis 30 Prozent erreichen lasse. Damit werde die DDR<br />

aber unregierbar.<br />

So war verständlich, dass DDR­Ministerpräsident Lothar<br />

de Maizière 1990, als das finanzielle Desaster immer<br />

sichtbarer wurde, B<strong>und</strong>eskanzler Helmut Kohl in seinem<br />

Urlaubsort am Wolfgangsee aufsuchte <strong>und</strong> die Befürchtung<br />

äußerte, dass die DDR noch vor der Vereinigung am<br />

3. Oktober einen wirtschaftlichen Kollaps erleide.<br />

Die Treuhandanstalt<br />

Wie nahe die DDR tatsächlich am Abgr<strong>und</strong> stand, wurde<br />

erst richtig sichtbar, als die Treuhandanstalt ihre Arbeit<br />

aufnahm <strong>und</strong> hinter die Kulissen der volkseigenen Kombinate<br />

<strong>und</strong> Betriebe blicken konnte. Zuvor hatte bereits<br />

52


Detlev Karsten Rohwedder, der<br />

erste Chef der Treuhandanstalt<br />

die Modrow­Regierung eine erste Treuhand ins Leben<br />

gerufen. Sie sollte volkseigene Unternehmen in Aktiengesellschaften<br />

umwandeln <strong>und</strong> die kleinen <strong>und</strong> mittleren<br />

Betriebe reprivatisieren, die Anfang der 1970er<br />

<strong>Jahre</strong> enteignet worden waren. Im Zentrum der Modrow­<br />

Treuhand stand aber die Erhaltung <strong>und</strong> Bewahrung<br />

des Volkseigentums.<br />

Die neue Treuhandanstalt hingegen, die ihre Arbeit mit<br />

einem Mandat der frei gewählten Volkskammer aufnahm,<br />

sollte fast 8.000 Betriebe mit über vier Millionen<br />

Beschäftigten privatisieren – <strong>und</strong> ihnen so neue Chancen<br />

auf dem Markt eröffnen. Die Devise von Treuhandchef<br />

Detlev Karsten Rohwedder lautete: Schnell privatisieren –<br />

entschlossen sanieren – behutsam stilllegen.<br />

Auch die Treuhandanstalt startete allerdings mit einer<br />

grandiosen Fehleinschätzung. So rechneten ihre Chefs<br />

mit einem Industrievermögen der DDR von etwa 600 Milliarden<br />

DM. Als die Treuhand Ende 1994 ihre Arbeit beendete,<br />

verzeichnete sie ein Defizit von <strong>20</strong>4 Milliarden DM,<br />

das zu Lasten der Steuerzahler ging. Die Wettbewerbsfähigkeit<br />

der DDR­Wirtschaft <strong>und</strong> damit der Wert des<br />

DDR­Vermögens waren durchgängig, auch im Westen,<br />

überschätzt worden. Auch Helmut Kohl gestand dies in<br />

seinen Memoiren ein.<br />

Im September 1990 klang Rohwedders erster Bericht vor<br />

den Volkskammerabgeordneten noch optimistisch.<br />

Rohwedder räumte zwar einen „holprigen Start“ bei der<br />

Privatisierung ein, verwies aber auch auf reges Interesse<br />

von ausländischen Investoren. Dem Treuhand­Chef war<br />

bereits zu diesem frühen Zeitpunkt klar, dass die Treuhandanstalt<br />

nach r<strong>und</strong> einem Jahr von der „Verkäufersituation<br />

in die Anbietersituation“ gelangen würde.<br />

— Aufbau Ost – viel zu tun


Prototyp eines modernen Wartburg,<br />

der nicht in Serie ging<br />

Bei genauerem Hinsehen erwiesen sich die meisten<br />

Betriebe als kaum sanierungsfähig. Die Maschinen waren<br />

größtenteils völlig veraltet, der produktionstechnische<br />

Rückstand auf die alten B<strong>und</strong>esländer betrug mitunter<br />

mehrere Jahrzehnte. Neue Produkte, etwa neue Fahrzeugmodelle,<br />

auf den Markt zu bringen war immer wieder an<br />

fehlenden Werkstoffen gescheitert.<br />

Wegen des chronischen Devisenmangels konnte sich die<br />

DDR nicht die erforderlichen Rohstoffe im Ausland besorgen.<br />

Vor allem fehlten den Betrieben nach 40 <strong>Jahre</strong>n der<br />

Abschottung vermarktbare Produktmarken <strong>und</strong> die<br />

K<strong>und</strong>enstämme. Zur nüchternen Abschlussbilanz des<br />

SED­Staates gehört auch: Weil das Regime um jeden Preis<br />

Vollbeschäftigung organisieren wollte, war ein Teil der<br />

Betriebsangehörigen faktisch beschäftigungslos.<br />

Gleichwohl ist in den neuen Ländern die Kritik an der<br />

Arbeit der Treuhand bis heute nicht verstummt. Der<br />

Hauptvorwurf lautet, dass unter Detlev Karsten Rohwedder,<br />

der am 1. April 1991 in seinem Düsseldorfer Haus von<br />

RAF­Terroristen ermordet wurde, <strong>und</strong> seiner Nachfolgerin<br />

Birgit Breuel überlebensfähige DDR­Unternehmen zu<br />

schnell abgewickelt worden seien. Dabei sei es auch darum<br />

gegangen, unliebsame Konkurrenz für etablierte West­<br />

Firmen auszuschalten. Einer nüchternen Analyse des DDR­<br />

Erbes hält diese Kritik jedoch allenfalls in wenigen Einzelfällen<br />

stand. Die Treuhand hat alles in allem wesentlich<br />

dazu beitragen können, dass die ostdeutschen Betriebe<br />

zügig in die Marktwirtschaft einsteigen konnten.<br />

Absatzmärkte brachen weg<br />

Eine Rolle bei der wirtschaftlichen Talfahrt in Ostdeutschland<br />

spielte auch der Zusammenbruch des Handels mit<br />

den ehemaligen sozialistischen Ländern Osteuropas. Noch<br />

1991 gingen Kohl <strong>und</strong> Gorbatschow von Warenlieferungen<br />

54


Exporte DDR/RGW<br />

Entwicklung des Warenhandels der DDR<br />

Vereinigtes<br />

Königreich Niederlande<br />

Frankreich<br />

aus Ostdeutschland nach Russland im Wert von 25 Milliarden<br />

DM aus. Schon ein Jahr später waren es weniger als<br />

fünf Milliarden DM.<br />

Norwegen<br />

Schweden<br />

DDR<br />

Deutschland<br />

Polen<br />

Tschechien<br />

Slowakei<br />

Schweiz<br />

Österreich<br />

Slowenien<br />

Ungarn<br />

Italien<br />

Kroatien<br />

Entwicklung des Warenhandels der DDR mit dem<br />

nicht sozialistischen Wirtschaftsgebiet<br />

Serbien<br />

Albanien<br />

— Aufbau Ost – viel zu tun<br />

Finnland<br />

Estland<br />

Lettland<br />

Litauen<br />

Griechenland<br />

Weißrussland<br />

Rumänien<br />

Bosnien<br />

Ukraine<br />

Bulgarien<br />

Moldawien<br />

Türkei<br />

Entwicklung des Warenhandels der DDR mit dem<br />

sozialistischen Wirtschaftsgebiet<br />

Zeit Export insgesamt Import ingesamt Zeit Export insgesamt Import ingesamt<br />

1975 7.692 10.447 1975 13.115 13.304<br />

1980 12.621 15.385 1980 19.618 19.917<br />

1989 16.299 19.173 1989 31.078 29.177


Einen Schock für die Verbraucher löste auch die Preisentwicklung<br />

aus. Jahrzehntelang hatte die DDR die<br />

Preise festgesetzt <strong>und</strong> Gr<strong>und</strong>nahrungsmittel subventioniert.<br />

Was abstruse Blüten trieb: Wer im Wald Beeren<br />

sammelte <strong>und</strong> verkaufte, bekam dafür mehr, als er für<br />

die gleichen Beeren auf dem Markt zahlen musste. Dieses<br />

System konnte auf Dauer nicht funktionieren. Jetzt fielen<br />

diese Subventionen weg, zwangsläufig wurden beispielsweise<br />

Brot oder Milch um ein Vielfaches teurer.<br />

Auch mit dem bislang unbekannten Problem der Arbeitslosigkeit<br />

wurden die Ostdeutschen plötzlich konfrontiert.<br />

Schon Mitte Februar 1990 wurde das erste Arbeitslosengeld<br />

gezahlt. Da hielt sich die Zahl der Arbeitslosen<br />

mit r<strong>und</strong> 142.000 noch im Rahmen. Allerdings stieg die<br />

Zahl der Menschen ohne einen Job bereits im Herbst 1990<br />

auf r<strong>und</strong> eine halbe Millionen. Bis 1996 ging etwa die<br />

Hälfte der vier Million Arbeitsplätze in den Betrieben,<br />

die zur Treuhand gehörten, verloren.<br />

Der Solidarpakt<br />

Aufgr<strong>und</strong> der Wirtschaftsschwäche <strong>und</strong> des enormen<br />

Investitionsbedarfs zur Modernisierung der maroden<br />

Infrastruktur war von Anfang an klar, dass der wirtschaftliche<br />

Aufbau in den neuen Ländern nur mit einem<br />

enormen finanziellen Kraftakt zu stemmen war. Im Mittelpunkt<br />

stand dabei zunächst die Unterstützung der<br />

ostdeutschen Länder aus dem Fonds <strong>Deutsche</strong> Einheit.<br />

Die neuen Länder sofort in den sogenannten Länderfinanzausgleich<br />

einzubinden barg zu große Risiken,<br />

denn ihre Finanzkraft unterschied sich stark von den<br />

westdeutschen Ländern. Insgesamt erhielten die ostdeutschen<br />

Länder in den <strong>Jahre</strong>n von 1990 bis 1994 über<br />

den Fonds r<strong>und</strong> 82 Mrd. Euro, von denen 40 Prozent<br />

den Kommunen zugutekamen.<br />

56


Von 1995 bis <strong>20</strong>04 erfolgte die Hilfe über den Solidarpakt<br />

I, den B<strong>und</strong> <strong>und</strong> Länder ausgehandelt hatten. Die<br />

neuen Länder wurden mit gleichen Rechten <strong>und</strong> Pflichten<br />

in den Länderfinanzausgleich einbezogen. Darüber<br />

hinaus erhielten sie jährliche Transferzahlungen des<br />

B<strong>und</strong>es in Höhe von <strong>20</strong>,6 Milliarden DM.<br />

Schon bald wurde klar, dass der Solidarpakt weiterbestehen<br />

musste, um die Wirtschaftskraft <strong>und</strong> die Beschäftigung<br />

zu fördern <strong>und</strong> die Infrastrukturlücke weiter abzubauen.<br />

Der Solidarpakt II trat <strong>20</strong>05 in Kraft <strong>und</strong> gilt bis<br />

<strong>20</strong>19. Er hat ein Gesamtvolumen von 156,5 Milliarden<br />

Euro <strong>und</strong> wird vom B<strong>und</strong> finanziert. Die bereitgestellten<br />

Mittel nehmen Jahr für Jahr ab.<br />

Der Solidarpakt II stellt den zentralen finanziellen Rahmen<br />

für den Aufbau Ost dar <strong>und</strong> hat wesentlich dazu beigetragen,<br />

dass die ostdeutschen Länder binnen weniger<br />

<strong>Jahre</strong> eine beispiellose Entwicklung vollziehen konnten.<br />

Zu Beginn der 1990er <strong>Jahre</strong> gab es unter anderem bei der<br />

Telekommunikation einen besonders gravierenden<br />

Rückstand. Es war zur Zeit der Wiedervereinigung geradezu<br />

abenteuerlich, über die ehemalige innerdeutsche<br />

Grenze hinweg telefonieren zu wollen. Ein Großteil der<br />

Arbeitszeit ging damit verloren, eine Telefon­ oder Faxverbindung<br />

herzustellen. Zum Ende der DDR kamen auf<br />

100 Einwohner gerade einmal zehn Anschlüsse. Knapp<br />

sieben <strong>Jahre</strong> später, als die Telekom den Aufbau Ost offiziell<br />

für abgeschlossen erklärte, waren es 50 Anschlüsse.<br />

Das bedeutete nahezu Gleichstand mit dem Westen, wo<br />

auf 100 Einwohner 52 Anschlüsse entfielen.<br />

Aus dem maroden Telefonnetz des Ostens war schon zur<br />

Mitte der 1990er <strong>Jahre</strong> eines der modernsten Netze der<br />

Welt geworden.<br />

— Aufbau Ost – viel zu tun


Autobahnbaustelle bei<br />

Wandersleben in Thüringen Ausbau der Verkehrsinfrastruktur<br />

Einen ähnlichen Rückstand gegenüber dem Westen galt<br />

es auch beim ostdeutschen Straßen­ <strong>und</strong> Schienennetz<br />

aufzuholen. In den 40 <strong>Jahre</strong>n DDR wurden neue Autobahnen<br />

nur zwischen Berlin <strong>und</strong> Hamburg (als Transitverbindung<br />

vom Westen finanziert) sowie von Berlin nach Rostock<br />

gebaut. Erneuerungen auf den bereits bestehenden<br />

Autobahnen gab es kaum. In der alten B<strong>und</strong>esrepublik<br />

wurde das Autobahnnetz hingegen im gleichen Zeitraum<br />

von r<strong>und</strong> 2.<strong>20</strong>0 auf insgesamt r<strong>und</strong> 8.800 Kilometer<br />

erweitert.<br />

Die Mängel des Verkehrsnetzes waren schnell zu spüren,<br />

als die Zahl der West­Autos in den neuen Ländern geradezu<br />

explodierte. Das Straßennetz war dem rasant<br />

zunehmenden Verkehrsaufkommen nicht gewachsen.<br />

Die Folge war eine deutliche Zunahme der Verkehrsunfälle.<br />

58


Bahnbrückenbau bei Riesa<br />

(Sachsen)<br />

Wasserstraßenkreuz Magdeburg<br />

Das B<strong>und</strong>esverkehrsministerium startete ein Sofortprogramm.<br />

Durch Leitplanken <strong>und</strong> Standstreifen wurden<br />

Unfallschwerpunkte beseitigt. Die Verkehrssicherheit in<br />

den neuen Ländern verbesserte sich rasch, die Zahl der<br />

Verkehrstoten auf ostdeutschen Autobahnen sank von<br />

1991 bis 1992 um r<strong>und</strong> 25 Prozent.<br />

— Aufbau Ost – viel zu tun<br />

Neuer Lärmschutztunnel in<br />

Jena-Göschwitz<br />

Verkehrsprojekte <strong>Deutsche</strong> Einheit<br />

Mitentscheidend für den zügigen Aufbau einer leistungsfähigen<br />

Verkehrsinfrastruktur in den neuen Ländern<br />

waren die 17 Verkehrsprojekte <strong>Deutsche</strong> Einheit (VDE),<br />

die die Regierung Kohl im April 1991 beschlossen hatte.<br />

Die neun Schienen­ <strong>und</strong> sieben Autobahnvorhaben sowie<br />

ein Wasserstraßenprojekt hatten ein Gesamtinvestitionsvolumen<br />

von r<strong>und</strong> 39 Milliarden Euro. Sie galten als<br />

Voraussetzung für wirtschaftliche Entwicklung <strong>und</strong> für<br />

das Zusammenwachsen von Ost <strong>und</strong> West. Dauerte beispielsweise<br />

Ende der 1980er <strong>Jahre</strong> eine Bahnfahrt von<br />

Hannover nach Berlin noch mehr als vier St<strong>und</strong>en, beträgt<br />

die Reise zeit heute nur noch r<strong>und</strong> eineinhalb St<strong>und</strong>en.<br />

Bislang sind sechs Schienenprojekte <strong>und</strong> r<strong>und</strong> 1.840 km<br />

Straße für den Verkehr freigegeben, während weitere<br />

70 km Straße im Bau sind. Damit sind heute mehr als<br />

95 Prozent der Straßenvorhaben verwirklicht oder in der<br />

Umsetzung. Bis auf den Neubau der A44 von Kassel zur A4<br />

bei Eisenach soll das gesamte VDE­Straßennetz bis Ende<br />

<strong>20</strong>10 weitestgehend fertiggestellt sein.


Ausbau der Bahntrassen<br />

Neubau der Autobahnen<br />

60<br />

Ausbau der Autobahnen in den neuen B<strong>und</strong>esländern<br />

Hamburg<br />

Hannover<br />

Lübeck<br />

Uelzen<br />

Helmstedt<br />

Schwerin<br />

Salzwedel<br />

Strals<strong>und</strong><br />

Rostock<br />

Stendal<br />

Eichenberg Nordhausen Bitterfeld<br />

Halle Leipzig<br />

Bebra<br />

Eisenach<br />

Magdeburg<br />

Erfurt<br />

Nürnberg<br />

Aufholprozess noch nicht beendet<br />

Berlin<br />

Dresden<br />

Ausschlaggebend für den Aufholprozess der ostdeutschen<br />

Länder gegenüber dem Westen bleibt jedoch die<br />

wirtschaftliche Leistungsfähigkeit. B<strong>und</strong>eskanzlerin<br />

Angela Merkel hat den Menschen in den neuen Ländern<br />

bescheinigt, dass sie in den zurückliegenden <strong>Jahre</strong>n<br />

„unheimlich viel“ geleistet haben. Wegen der im Vergleich<br />

zu den alten Ländern nach wie vor geringeren<br />

Steuereinnahmen <strong>und</strong> einer doppelt so hohen flächendeckenden<br />

Arbeitslosigkeit seien jedoch noch „etliche<br />

<strong>Jahre</strong>“ besondere Anstrengungen nötig, so Merkel.


Gleichwohl sprechen Wirtschaftsexperten von einer<br />

„Wohlstandsexplosion“ in den neuen Ländern. Die Ausstattung<br />

der Wohnungen mit langlebigen Konsumgütern<br />

hat sich dem westdeutschen Niveau weitgehend<br />

angeglichen.<br />

Das verfügbare Durchschnittseinkommen je Einwohner<br />

wuchs von 1991 bis <strong>20</strong>07 in den neuen Ländern um<br />

85 Prozent auf 1.260 Euro im Monat, während es in Westdeutschland<br />

nur um 40 Prozent auf 1.603 Euro zunahm.<br />

Auch das Bruttoinlandsprodukt je Einwohner stieg von<br />

1991 bis <strong>20</strong>07 im Osten von 9.442 Euro auf 22.145 Euro. Das<br />

entspricht einem Zuwachs von 135 Prozent. Im Westen<br />

betrug der Anstieg im gleichen Zeitraum nur 42 Prozent<br />

auf insgesamt 31.381 Euro. <strong>20</strong>09 erreichte das Bruttoinlandsprodukt<br />

je Einwohner in den neuen Ländern (einschließlich<br />

Berlin) 73 Prozent des Westniveaus.<br />

Besonders wichtig für den Aufholprozess war die höhere<br />

Wachstumsrate der ostdeutschen Industrie im Vergleich<br />

zum Westen. So nahm die Bruttowertschöpfung im<br />

Verarbeitenden Gewerbe zwischen 1991 <strong>und</strong> <strong>20</strong>09 um<br />

atemberaubende 104 Prozent zu, während es in Westdeutschland<br />

nur knapp 3 Prozent waren. Auch in der<br />

jüngsten Wirtschaftskrise hat sich die ostdeutsche Wirtschaft<br />

insgesamt günstiger entwickelt als die im Westen.<br />

Inzwischen hat sich der Trend aber wieder umgekehrt.<br />

Nach Berechnungen des Instituts für Wirtschaftsforschung<br />

Halle (IWH) haben die neuen Länder zwar im<br />

Krisenjahr <strong>20</strong>09 Boden gutmachen können, weil der<br />

konjunkturelle Absturz weniger stark als im Westen ausfiel.<br />

Allerdings setzt sich bei ihnen auch die wirtschaftliche<br />

Erholung etwas langsamer durch als in den alten<br />

Ländern.<br />

— Aufbau Ost – viel zu tun


1991–<strong>20</strong>08<br />

(ohne Berlin, alte Länder = 100)<br />

Quelle: <strong>Jahre</strong>sbericht der<br />

B<strong>und</strong>esregierung zum Stand<br />

der <strong>Deutsche</strong>n Einheit <strong>20</strong>09<br />

Ost-Unternehmen legen zu –<br />

Export gewinnt an Bedeutung<br />

Die ostdeutsche Wirtschaft musste in der Marktwirtschaft<br />

nicht nur die Geschäftsprozesse optimieren <strong>und</strong><br />

Produkte entwickeln, die deutschlandweit absetzbar<br />

waren. Diese Zeit stand auch im Zeichen verstärkter Globalisierung,<br />

sodass die Herausforderung darin bestand,<br />

international wettbewerbsfähige Produkte <strong>und</strong> Strukturen<br />

zu schaffen.<br />

62<br />

75 %<br />

70 %<br />

65 %<br />

60 %<br />

55 %<br />

50 %<br />

45 %<br />

40 %<br />

Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts<br />

in den neuen Ländern<br />

1991<br />

1992<br />

Phase 1 Phase 2 Phase 3<br />

1993<br />

1994<br />

1995<br />

1996<br />

1997<br />

1998<br />

1999<br />

<strong>20</strong>00<br />

<strong>20</strong>01<br />

<strong>20</strong>02<br />

<strong>20</strong>03<br />

<strong>20</strong>04<br />

<strong>20</strong>05<br />

<strong>20</strong>06<br />

<strong>20</strong>07<br />

<strong>20</strong>08<br />

Die Unternehmen in den neuen Ländern haben diese<br />

Herausforderungen angenommen. In den vergangenen<br />

<strong>Jahre</strong>n ist es gelungen, in der Chemieindustrie, im<br />

Maschinenbau <strong>und</strong> insbesondere auf den zukunftsorientierten<br />

Wirtschaftsfeldern einen Spitzenplatz zu<br />

erobern. Das gilt für die erneuerbaren Energien, aber<br />

auch für die Medizintechnik, Ges<strong>und</strong>heitswirtschaft,<br />

Nanotechnologie oder Optische Technologien. Die Unternehmen,<br />

die sich in diesen Bereichen engagiert haben,<br />

werden sowohl von der B<strong>und</strong>esregierung als auch von<br />

den Ländern besonders gefördert.


Die Unterstützung der Mikroelektronikforschung durch<br />

die Staatsregierung in Sachsen ist ein Beispiel dafür. Der<br />

Präsident des B<strong>und</strong>esverbands der <strong>Deutsche</strong>n Industrie<br />

(BDI), Hans­Peter Keitel, kommt sogar zu dem Schluss,<br />

dass die alte DDR­Industrie, die in den 1990er <strong>Jahre</strong>n weggebrochen<br />

ist, inzwischen durch sehr moderne <strong>und</strong><br />

zukunftsorientierte Betriebe abgelöst worden sei. Und<br />

die Zahlen geben ihm recht. Allein <strong>20</strong>09 haben die Investitionen<br />

in neue Ansiedlungen <strong>und</strong> Modernisierungen<br />

dazu geführt, dass erneut 15 Prozent der ostdeutschen<br />

Bruttowertschöpfung auf das verarbeitende Gewerbe<br />

entfielen. Damit ist die Reindustrialisierung der neuen<br />

Länder auch im internationalen Vergleich weit vorangekommen,<br />

denn das ist deutlich mehr als in den Industrieländern<br />

USA, Großbritannien oder Frankreich.<br />

— Aufbau Ost – viel zu tun


Klaus von Dohnanyi, ehem.<br />

Hamburger Bürgermeister,<br />

sanierte <strong>und</strong> privatisierte nach<br />

der Wiedervereinigung das<br />

Schwermaschinenkombinat<br />

TAKRAF in Leipzig<br />

Photovoltaik<br />

„ Wir sind sehr weit gekommen. Wir haben eine sehr gute Infrastruktur<br />

geschaffen. Wir haben kleinere Unternehmen, aber zum Teil auch<br />

schon international wettbewerbsfähige kleine Unternehmen. Und<br />

man muss eben wissen: Es dauert lange.“<br />

Die neuen Länder haben zugleich an Attraktivität für<br />

ausländische Investoren gewonnen. Es ist vor allem die<br />

geografische Lage zwischen den hoch industrialisierten<br />

westeuropäischen Staaten <strong>und</strong> den neuen EU­Mitgliedsstaaten<br />

Osteuropas, die Ostdeutschland für Investoren<br />

aus Asien <strong>und</strong> Amerika so interessant macht. Nach den<br />

Worten des Chefs der Standortmarketinggesellschaft<br />

Germany Trade and Invest, Michael Pfeiffer, sind es<br />

besonders die hohe Qualifikation der ostdeutschen Facharbeiter<br />

<strong>und</strong> die duale Berufsausbildung, die mehr <strong>und</strong><br />

mehr ausländische Firmen dazu bringen, sich in den<br />

neuen Ländern anzusiedeln. Ihnen gehe es meist nicht<br />

nur um die reine Produktion, sondern auch um die<br />

Weiterentwicklung von Erzeugnissen. So nutzten sie die<br />

inzwischen gute Vernetzung von Unternehmen mit Universitäten<br />

<strong>und</strong> Forschungseinrichtungen. Als Beispiel<br />

führt Pfeiffer die Photovoltaik an. In dieser Branche seien<br />

die neuen Länder inzwischen weltweit die Nummer eins.<br />

Die gestiegene Wettbewerbsfähigkeit der neuen Länder<br />

zeigt sich auch an der Zunahme des Exports. Vor Ausbruch<br />

der internationalen Finanzmarktkrise gelang es<br />

den Unternehmen sogar, die Ausfuhren stärker als in den<br />

alten Ländern zu steigern. So nahmen die Ausfuhren<br />

zwischen <strong>20</strong>02 <strong>und</strong> <strong>20</strong>08 um 127 Prozent zu, während der<br />

Zuwachs im Westen nur 60 Prozent betrug. Das ändert<br />

allerdings nichts daran, dass der Exportanteil in den<br />

neuen Ländern mit <strong>20</strong>,3 Prozent immer noch erheblich<br />

unter dem westdeutschen Vergleichswert von 34,5 Prozent<br />

liegt.<br />

64


Das Auslandsgeschäft wirkt sich auch positiv auf die<br />

Schaffung von Arbeitsplätzen aus. Laut einer Prognos­<br />

Studie hat die Belegschaft in Unternehmen mit Auslandsengagement<br />

zwischen <strong>20</strong>05 <strong>und</strong> <strong>20</strong>08 um sieben Prozent<br />

zugenommen, während Firmen, die nur für den Binnenmarkt<br />

produzieren, um fünf Prozent gewachsen sind.<br />

Wie in den alten Ländern ging die Arbeitslosigkeit auch in<br />

den neuen im Laufe der vergangenen fünf <strong>Jahre</strong> deutlich<br />

zurück. Waren <strong>20</strong>06 noch fast 1,5 Millionen Menschen<br />

arbeitslos gemeldet, waren es im <strong>Jahre</strong>sdurchschnitt <strong>20</strong>09<br />

r<strong>und</strong> 400.000 weniger. Trotz dieser erfreulichen Entwicklung<br />

ist die Arbeitslosenquote immer noch deutlich höher<br />

als im Westen. Das zeigt, dass der Aufbau der Wirtschaft<br />

in den neuen Ländern zwar fortschreitet, aber nach wie<br />

vor besonderer Unterstützung bedarf.<br />

Landwirtschaft behauptet sich<br />

Zu den Erfolgsgeschichten des Einigungsprozesses gehört<br />

die Entwicklung der ostdeutschen Landwirtschaft. Ihre<br />

Produktivität ist seit der Wiedervereinigung ständig<br />

gestiegen. So nahm die Durchschnittsernte bei Weizen<br />

von r<strong>und</strong> 5.<strong>20</strong>0 Kilo pro Hektar im Jahr 1990 auf über<br />

7.600 Kilo zu. Auch die Milchleistung der Kühe erhöhte<br />

sich von jährlich 4.180 Liter auf 8.276 Liter.<br />

Die Zahl der Beschäftigten ist zeitgleich erheblich gesunken.<br />

1990 waren in der DDR­Landwirtschaft r<strong>und</strong> 850.000<br />

Menschen tätig, bereits im April 1991 war fast eine halbe<br />

Million ausgeschieden. <strong>20</strong>07 gab es in den 30.100 landwirtschaftlichen<br />

Betrieben der neuen Länder nur noch<br />

r<strong>und</strong> 159.000 Beschäftigte. Dass nur etwa 1,7 Arbeitskräfte<br />

je 100 Hektar für die ostdeutsche Landwirtschaftsproduktion<br />

erforderlich sind, liegt nach Einschätzung von Experten<br />

auch am geringen Anteil der Viehhaltung. Zwar wurden<br />

in den vergangenen <strong>Jahre</strong>n die Bestände an Geflügel<br />

— Aufbau Ost – viel zu tun


<strong>und</strong> Schweinen aufgestockt, doch spielt die Tierhaltung<br />

eine wesentlich geringere Rolle als im Westen.<br />

Die nach wie vor großen, zusammenhängenden Flächen<br />

bieten für die Landwirtschaftsbetriebe in den neuen Ländern<br />

erhebliche Kostenvorteile. So können die Betriebe<br />

leistungsstarke Erntemaschinen nutzen <strong>und</strong> benötigen<br />

weniger Arbeitskräfte.<br />

Auch auf den Zukunftsfeldern nachwachsende Rohstoffe<br />

<strong>und</strong> ökologisch erzeugte Lebensmittel haben die Ostdeutschen<br />

mittlerweile die Nase vorn. Mit zwölf Prozent<br />

Anteil im Ökolandbau liegt Mecklenburg­Vorpommern<br />

b<strong>und</strong>esweit an der Spitze. Auch alle großen Biosprit­<br />

Fabriken liegen in den neuen Ländern. Experten sind sich<br />

einig: Die Anpassungsprobleme in der Landwirtschaft,<br />

die dem Westen noch bevorstehen, sind im Osten schon<br />

gelaufen.<br />

Als wichtigste Ursache für die Aufwärtsentwicklung der<br />

Landwirtschaft in den neuen Ländern gilt die Tatsache,<br />

dass die Landwirte wieder Eigenverantwortung tragen.<br />

In der ehemaligen DDR waren nicht nur die ökonomischen<br />

Anreizsysteme unzureichend, sondern durch die<br />

Kollektivierung waren die Landwirte auch weitgehend<br />

von Gr<strong>und</strong> <strong>und</strong> Boden entfremdet. Deshalb hat bereits<br />

die Volkskammer im Juni 1990 das erste sogenannte<br />

Landwirtschaftsanpassungsgesetz verabschiedet. Es<br />

schuf die Rechtsgr<strong>und</strong>lage zur Wiederherstellung <strong>und</strong><br />

Gewährleistung des Privateigentums. Mit der Novellierung<br />

des Gesetzes r<strong>und</strong> ein Jahr später konnten dann die<br />

Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften<br />

(LPG) als Unternehmen in neuen Rechtsformen fortbestehen.<br />

Alternativ konnten sich die LPG­Mitglieder den<br />

Eigenkapitalanteil, der ihnen zustand, auszahlen lassen.<br />

66


Weizenfeld bei Köthen<br />

(Sachsen-Anhalt)<br />

Tourismus auf Wachstumskurs<br />

Die neuen Länder haben sich inzwischen auch im Tourismus<br />

einen Namen gemacht. So kamen <strong>20</strong>09 mehr<br />

Sommerurlauber nach Mecklenburg­Vorpommern als in<br />

jedes andere deutsche B<strong>und</strong>esland. Auch bei den prozentualen<br />

Zuwachsraten der Übernachtungen liegt der<br />

Nordosten, gefolgt von Thüringen, vor allen anderen<br />

deutschen Flächenländern.<br />

Die Regionen zwischen Kap Arkona auf Rügen <strong>und</strong> dem<br />

Fichtelberg im Erzgebirge haben beste Aussichten, auch<br />

weiterhin auf Wachstumskurs zu bleiben. So gehören<br />

— Aufbau Ost – viel zu tun


Seebrücke in Sellin auf Rügen<br />

beispielsweise Berlin/Potsdam, Dresden <strong>und</strong> Weimar zu<br />

den beliebtesten Urlaubszielen im Inlandstourismus.<br />

Derzeit sind in der Branche r<strong>und</strong> 450.000 Menschen<br />

beschäftigt. Das sind etwa acht Prozent aller Erwerbstätigen<br />

in den neuen Ländern. Schon <strong>20</strong><strong>20</strong> könnte jeder<br />

zehnte Beschäftigte im Osten im Tourismus arbeiten.<br />

Die Branche ist zu einem wichtigen Wirtschaftsfaktor<br />

geworden. So stieg die Zahl der Übernachtungen von<br />

1996 bis <strong>20</strong>08 von 43,3 Millionen auf 69,8 Millionen.<br />

Die Zahl der Gästebetten ist im gleichen Zeitraum um<br />

30 Prozent auf über 500.000 gewachsen.<br />

68


Weimar, Goethes Gartenhaus<br />

Selbst die globale Finanzmarktkrise konnte diese Entwicklung<br />

nicht stoppen. Im Gegenteil: Sie hat sogar dazu<br />

beigetragen, dass mehr Urlauber Deutschland wieder als<br />

Ferienland entdeckten. Den Osten Deutschlands schätzen<br />

inzwischen auch immer mehr Ausländer als Ferienziel.<br />

Das ostdeutsche Konzept für den Landtourismus hat<br />

sogar b<strong>und</strong>esweit Vorbildcharakter, obwohl „Ferien auf<br />

dem Bauernhof“ bis zur Wiedervereinigung im Osten<br />

völlig unbekannt waren. Inzwischen bieten zahlreiche<br />

Betriebe Urlaub auf dem Land an. Die Palette reicht von<br />

Biohöfen, Kneipp­Ferienhöfen, Obst­, Spargel­, Winzer­<br />

<strong>und</strong> Ziegenhöfen bis hin zu Reiterferien, Kochkursen <strong>und</strong><br />

Kräuterakademien. Sogar Urlaub im Planwagen ist im<br />

Kommen. Damit sind die neuen Länder beim Landurlaub<br />

nach Einschätzung von Tourismusexperten deutlich<br />

vielfältiger als die Konkurrenz im Westen.<br />

— Aufbau Ost – viel zu tun


Quedlinburg im Harz. Mit ihren<br />

über 1.<strong>20</strong>0 Fachwerkhäusern<br />

gehört die Stadt seit 1994 zum<br />

Weltkulturerbe der UNESCO.<br />

Auferstanden<br />

aus<br />

Ruinen ...<br />

… so begann die DDR­Hymne. Allerdings durfte der Text<br />

ab Anfang der 1970er <strong>Jahre</strong> nicht mehr gesungen werden,<br />

weil „Deutschland, einig Vaterland“ nicht mehr zur<br />

Abgrenzungspolitik der SED passte. Als der Dichter<br />

Johannes R. Becher 1949 die Hymne schrieb, konnte er<br />

nicht ahnen, dass die DDR in 40 <strong>Jahre</strong>n ihrer Existenz nie<br />

aus den Ruinen des Zweiten Weltkriegs auferstehen<br />

würde. Im Gegenteil: Sie hat immer neue produziert.<br />

„Ruinen schaffen ohne Waffen“, lautete ein treffender<br />

— Auferstanden aus Ruinen


DDR-Plattenbau<br />

Spruch in der Bevölkerung. Am Ende waren Städte <strong>und</strong><br />

Dörfer, ja ganze Stadtviertel dem Verfall preisgegeben.<br />

Wie katastrophal der Zustand der Gebäude wirklich war,<br />

machte eine Reportage im DDR­Fernsehen unter dem<br />

Titel „Ist Leipzig noch zu retten?“ deutlich. In dem Beitrag,<br />

der am 6. November 1989 auf dem Sendeplatz des<br />

abgesetzten „Schwarzen Kanals“ lief, wurde zum ersten<br />

Mal das Thema Verfall der Altbausubstanz am Beispiel<br />

der Messestadt realistisch dargestellt. Denn Leipzig hatte<br />

trotz enormer Kriegsschäden den wohl größten Bestand<br />

an Gründerzeit­Häusern in Deutschland. Doch anstatt<br />

die Gebäude zu sanieren <strong>und</strong> zu erhalten, verfielen die<br />

Wohnungsbestände immer mehr.<br />

Es gab kaum Baukapazitäten, um diese Entwicklung zu<br />

stoppen. Es fehlte an Geld – denn die Mieten deckten die<br />

Kosten nicht – <strong>und</strong> an Material. Sowohl die Bauleute als<br />

auch das Material wurden aus der gesamten Republik<br />

zusammengezogen <strong>und</strong> in das ehrgeizige Neubauprogramm<br />

Erich Honeckers gesteckt. Im Eiltempo schossen<br />

in allen DDR­Bezirken Betonbauten aus dem Boden. Die<br />

Devise lautete: „Jedem eine eigene Wohnung“. Der sogenannte<br />

Plattenbau hatte höchste Priorität. Den Preis<br />

mussten Millionen Altbauwohnungen zahlen, die dem<br />

Verfall preisgegeben wurden.<br />

„Bei vielen Gebäuden glaubte ich nicht, dass sie jemals<br />

neu entstehen könnten“, sagte der Leipziger Fotograf<br />

Armin Kühne, der den Verfall Leipzigs mit der Kamera<br />

festhielt. „Die Dächer waren kaputt, an den Fassaden war<br />

kaum noch Putz, <strong>und</strong> in den Wohnungen breitete sich<br />

Schimmel aus. Ich dachte eher, ich mache noch ein Foto,<br />

bevor die Abrissbirne kommt.“ Umso mehr bew<strong>und</strong>ert er<br />

heute den Mut der Bauherren <strong>und</strong> Architekten, „aus dieser<br />

Substanz wieder bewohnbare <strong>und</strong> nutzbare Gebäude<br />

geschaffen zu haben, in denen sich die Menschen wohlf<br />

ühlen“.<br />

72


Fotos von Armin Kühne:<br />

die Universitätsbibliothek<br />

(Albertina) in Leipzig – Anfang<br />

der 1990er <strong>Jahre</strong> <strong>und</strong> heute<br />

Die Michaelisstraße im Erfurter<br />

Andreasviertel – 1990 <strong>und</strong> <strong>20</strong>08<br />

— Auferstanden aus Ruinen


Naumburg an der Saale<br />

Rettung in letzter Minute<br />

Solche „Schönheitsoperationen“ haben in den <strong>20</strong> <strong>Jahre</strong>n<br />

deutscher Einheit in fast allen Städten <strong>und</strong> Dörfern Ostdeutschlands<br />

stattgef<strong>und</strong>en. Und es geht weiter. Denn<br />

der Prozess ist noch nicht abgeschlossen.<br />

„Blühende Landschaften“ hatte B<strong>und</strong>eskanzler Helmut<br />

Kohl den Bürgern der DDR 1990 versprochen. Auch wenn<br />

noch eine Menge zu tun bleibt: Wer durch die neuen<br />

Länder fährt, kann mit eigenen Augen sehen, dass dies in<br />

vielen Bereichen bereits gelungen ist. Zwischen Ostsee<br />

<strong>und</strong> Erzgebirge präsentieren sich Kirchen <strong>und</strong> Klöster,<br />

Burgen <strong>und</strong> Schlösser, ja ganze Stadtviertel <strong>und</strong> Dorfstraßen<br />

in neuer Pracht. Sie sind im wahrsten Sinne des<br />

Wortes in letzter Minute gerettet worden <strong>und</strong> aus Ruinen<br />

auferstanden.<br />

Aus den einst grauen Gemäuern aus DDR­Zeiten sind<br />

moderne Wohngebiete <strong>und</strong> Geschäftshäuser entstanden.<br />

Selbst alte Wohnviertel aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg<br />

sind behutsam restauriert <strong>und</strong> in alter Schönheit<br />

wiedererstanden. Anders als in den meisten Städten<br />

Westdeutschlands, wo in den 1960er <strong>und</strong> frühen 1970er<br />

<strong>Jahre</strong>n manches verschandelt oder abgerissen wurde,<br />

was den Krieg überlebt hatte, war in Ostdeutschland von<br />

der historischen Bausubstanz noch sehr viel erhalten.<br />

Alte Häuser aus Renaissance, Barock <strong>und</strong> Klassizismus<br />

erstrahlen heute in neuem Glanz.<br />

Wirksamer Denkmalschutz<br />

Zum Beispiel Naumburg in Sachsen­Anhalt: Die Stadt ist<br />

voll von solchen historisch wertvollen Gebäuden, die<br />

nach den Plänen der DDR flächendeckend abgerissen<br />

werden sollten. Inzwischen sind 65 Prozent der Häuser<br />

saniert – dank des B<strong>und</strong>­Länder­Programms „Städtebaulicher<br />

Denkmalschutz“. R<strong>und</strong> 90 Millionen Euro wurden<br />

74


Güstrow (Mecklenburg-<br />

Vorpommern)<br />

seit der Wiedervereinigung in das einzigartige baukulturelle<br />

Erbe Naumburgs investiert. Weitere 30 Projekte<br />

werden noch umgesetzt. Die Stadt atmet Geschichte,<br />

steht für Lebensqualität <strong>und</strong> hat ein individuelles Image.<br />

Für das Denkmalschutz­Programm, 1991 in den neuen<br />

Ländern eingeführt <strong>und</strong> <strong>20</strong>09 auch in die alten Länder<br />

übertragen, hat der B<strong>und</strong> bis Ende <strong>20</strong>09 insgesamt<br />

1,85 Milliarden Euro zur Verfügung gestellt.<br />

Davon ist beispielsweise auch ein Teil in die Restaurierung<br />

der Altstadt von Güstrow geflossen. Der Stadtkern<br />

gilt als einer der schönsten in Mecklenburg­Vorpommern<br />

<strong>und</strong> ist inzwischen ein beliebter Anziehungspunkt<br />

für Touristen geworden. Über 90 Millionen Euro haben<br />

B<strong>und</strong>, Land <strong>und</strong> Stadt dort bislang investiert. Noch bis<br />

<strong>20</strong><strong>20</strong>, also insgesamt drei Jahrzehnte, wird die Sanierung<br />

dauern, rechnet die Stadt. Deutschlandweit bekannt<br />

wurde Güstrow 1981, als der damalige B<strong>und</strong>eskanzler<br />

Helmut Schmidt nach einem Gespräch mit DDR­Staatschef<br />

Erich Honecker das Atelier des berühmten Künstlers<br />

Ernst Barlach (1870–1938) besuchte. Eine Begegnung des<br />

Kanzlers mit der Güstrower Bevölkerung wollte das SED­<br />

Regime verhindern, also ersetzte es die Einwohner durch<br />

Stasi­Mitarbeiter. Eine makabere Inszenierung.<br />

Stadtumbau<br />

Trotz der Sanierung <strong>und</strong> damit der Zunahme an Lebensqualität<br />

haben die meisten Städte in den neuen Ländern<br />

mit Bevölkerungsverlust zu kämpfen. Nach wie vor ist die<br />

Zahl der Abwanderer größer als die der Zuwanderer.<br />

Bemerkbar machte sich das vor allem durch den wachsenden<br />

Wohnungsleerstand in den Plattenbaugebieten.<br />

In Güstrow waren zeitweise bis zu 15 Prozent dieser Wohnungen<br />

unbewohnt, heute sind es nur noch drei bis vier<br />

— Auferstanden aus Ruinen


Stadtumbau in Frankfurt/Oder<br />

Prozent. Inzwischen wurden Gebäude mit r<strong>und</strong> 1.000<br />

Wohnungen abgerissen, die anderen saniert.<br />

Zu verdanken haben Güstrow, Leipzig, Naumburg <strong>und</strong> all<br />

die anderen Kommunen diese Entwicklung auch dem<br />

Förderprogramm „Stadtumbau Ost“. Im Jahr <strong>20</strong>00 standen<br />

r<strong>und</strong> eine Millionen Wohnungen in den neuen Ländern<br />

leer. Deshalb hat die B<strong>und</strong>esregierung <strong>20</strong>02 dieses<br />

Programm gestartet. Bis heute ist es eines der wichtigsten<br />

Instrumente der Stadtentwicklung in den neuen<br />

Ländern.<br />

Ziele des Programms, das B<strong>und</strong>, Länder <strong>und</strong> Kommunen<br />

gemeinsam tragen, sind der Abriss leer stehender Wohnungen<br />

<strong>und</strong> die Aufwertung der Innenstädte. Beides<br />

greift ineinander <strong>und</strong> ist als Doppelstrategie angelegt.<br />

Auch die Zersiedelung des Umlandes soll dadurch<br />

gebremst werden. Gemeinsam haben B<strong>und</strong>, Länder <strong>und</strong><br />

Gemeinden von <strong>20</strong>02 bis <strong>20</strong>09 insgesamt 2,5 Milliarden<br />

Euro für den „Stadtumbau Ost“ bereitgestellt, davon hat<br />

alleine der B<strong>und</strong> eine Milliarde Euro beigesteuert.<br />

76


Campus der Universität<br />

Greifswald<br />

Städtebaulich gefördert wurden bzw. werden r<strong>und</strong><br />

400 Gemeinden. Das sind drei Viertel aller ostdeutschen<br />

Kommunen mit mehr als 10.000 Einwohnern sowie alle<br />

Großstädte mit Ausnahme Potsdams. Konkret bedeutet<br />

das: Etwa jeder zweite Einwohner in den neuen Ländern<br />

lebt in einer Stadtumbau­Gemeinde.<br />

Bis Ende <strong>20</strong>09 wurden über 270.000 Wohnungen abgerissen.<br />

Auch das zweite Ziel – die Aufwertung der Städte –<br />

ist sichtbar näher gerückt. Die Lebensqualität hat sich in<br />

vielen Stadtquartieren bereits spürbar verbessert.<br />

Nicht zuletzt wegen der weiter abnehmenden Bevölkerungszahl<br />

wird das Programm bis <strong>20</strong>16 fortgeführt, um<br />

die Zukunftsfähigkeit ostdeutscher Städte nachhaltig<br />

zu sichern.<br />

Aufgr<strong>und</strong> der positiven Ergebnisse des Programms<br />

wurde die Förderung des Stadtumbaus <strong>20</strong>04 auf die alten<br />

Länder ausgedehnt. Sie profitieren nun von den Erfahrungen<br />

in den neuen Ländern.<br />

Wissen schafft Wohlstand<br />

Die Studierenden aus dem Westen kommen noch mit<br />

Vorbehalten. Doch wenn sie erst mal da sind, wollen<br />

sie kaum noch weg. Die Universitäten, Hoch­ <strong>und</strong> Fachschulen<br />

zwischen Rostock <strong>und</strong> Ilmenau sind nicht nur<br />

viel moderner, auch die Betreuung ist besser, <strong>und</strong> die<br />

Hörsäle sind nicht heillos überfüllt. Das heißt: In den<br />

neuen Ländern sind die Studienbedingungen deutlich<br />

besser als in den alten.<br />

Diese Einschätzung belegen Untersuchungen des Centrums<br />

für Hochschulentwicklung (CHE), das die Bertelsmann­Stiftung<br />

<strong>und</strong> die Hochschulrektorenkonferenz<br />

finanzieren. Das Ergebnis einer Umfrage unter 75.000<br />

Studierenden ist bemerkenswert: Der Osten liegt im<br />

— Auferstanden aus Ruinen


Campus der Universität Jena<br />

Vergleich zum Westen fast durchweg an der Spitze. Bewertet<br />

wurden der Zustand der Räume, der vorhandene<br />

Platz pro Student, die Qualität der Bibliothek <strong>und</strong> die<br />

technische Ausstattung.<br />

Trotzdem beginnen nur etwa vier Prozent der westdeutschen<br />

Abiturienten ein Studium in einem der neuen<br />

Länder. Umgekehrt zieht es mehr als ein Fünftel der Ost­<br />

Schulabgänger in den Westen. Wegen des Geburtenrückgangs<br />

erwarten die neuen Länder von <strong>20</strong>11 bis <strong>20</strong>15<br />

eine Lücke von 63.000 Studierenden. B<strong>und</strong> <strong>und</strong> Länder<br />

tragen dieser Sondersituation im Hochschulpakt <strong>20</strong><strong>20</strong><br />

Rechnung <strong>und</strong> haben weiterhin finanzielle Unterstützung<br />

zugesichert.<br />

Allein der B<strong>und</strong> stellt zur Kapazitätssicherung der Studienplätze<br />

<strong>und</strong> damit zur Entlastung der westdeutschen<br />

Flächenländer zusätzlich 179 Millionen Euro bereit. Voraussetzung<br />

ist aber, dass die Zahl der Studienanfänger<br />

konstant bleibt. Aus dem eigenen Nachwuchs können<br />

die neuen Länder voraussichtlich nur 50 Prozent der<br />

Studien plätze besetzen – die andere Hälfte muss aus den<br />

alten Ländern <strong>und</strong> dem Ausland angeworben werden.<br />

Deshalb rühren die Ost­Hochschulen in der Hochschulinitiative<br />

Neue B<strong>und</strong>esländer gemeinsam mit dem B<strong>und</strong><br />

<strong>und</strong> den Ländern kräftig die Werbetrommel.<br />

Unterstützung für Studienanfänger<br />

„Pack Dein Studium – am besten in Sachsen“ heißt zum<br />

Beispiel das Motto des Freistaats, mit dem er mehr West­<br />

Abiturienten zu einem Umzug nach Leipzig, Dresden<br />

oder Chemnitz motivieren will. Auf Internetforen<br />

können die kommenden Erstsemester nicht nur ihre<br />

„Wunschhochschule“ angeben, sondern auch gleich<br />

ihre künftigen Kommilitonen kennenlernen <strong>und</strong> sich<br />

mit ihnen vernetzen.<br />

78


Hörsaal in der Universität<br />

Leipzig<br />

Engagierte Studentinnen <strong>und</strong> Studenten aus den jeweiligen<br />

Studienbereichen sollen als Ansprechpartner im<br />

Netz fungieren. Seit dem Start der Onlineaktion im April<br />

<strong>20</strong>09 haben bis Januar <strong>20</strong>10 bereits 29.450 Schülerinnen<br />

<strong>und</strong> Schüler eine ostdeutsche Hochschule als Wunschhochschule<br />

angegeben, davon waren 36,1 Prozent aus<br />

dem Westen. Der B<strong>und</strong> unterstützt die Hochschulinitiative.<br />

Vor dem Hintergr<strong>und</strong> des demografischen Wandels ist<br />

es umso wichtiger, dass junge Menschen nicht nur vermehrt<br />

in den neuen Ländern studieren, sondern nach<br />

dem Studium dort bleiben. Deshalb richtet sich die Hochschulinitiative<br />

auch an Ost­Kommilitonen, die es an<br />

West­Unis zieht.<br />

Dass heute mehr Schüler eines Jahrgangs im Osten ihr<br />

Abitur machen <strong>und</strong> anschließend ein Studium aufnehmen<br />

können, hat verschiedene Gründe. Zum einen ist die<br />

Vergabe von Studienplätzen nicht mehr – wie zu DDR­<br />

Zeiten – von staatlicher Bedarfsplanung <strong>und</strong> leistungsfremden<br />

Kriterien wie der politischen Einstellung<br />

ab hängig. Zum anderen ist bei vielen die Überzeugung<br />

gewachsen, dass ein Studium die beste Gr<strong>und</strong>lage für<br />

berufliche <strong>und</strong> materielle Sicherheit bietet.<br />

Waren 1990/91 nur 106.960 Studierende an Hochschulen<br />

in den neuen Ländern (ohne Berlin) immatrikuliert, so<br />

gab es <strong>20</strong>08/09 bereits 294.230 Studenten. Auch wenn<br />

ein Teil davon aus Westdeutschland stammte <strong>und</strong> viele<br />

Ostdeutsche ein Studium in Westdeutschland aufgenommen<br />

hatten, so wird doch deutlich, dass in den neuen<br />

Ländern erheblich mehr junge Menschen ein Hochschulstudium<br />

aufnehmen konnten als zu DDR­Zeiten. Auf fällig<br />

war auch die Änderung der Studienfächer: Während<br />

die Zahl der Studenten in den Ingenieurwissenschaften<br />

abgenommen hat, gab es in den Sprach­ <strong>und</strong> Kultur­<br />

— Auferstanden aus Ruinen


Quelle: Statistisches B<strong>und</strong>esamt<br />

wissenschaften sowie den Rechts­, Wirtschafts­ <strong>und</strong><br />

Sozialwissenschaften größeren Zulauf.<br />

Zur gleichen Zeit erhöhte sich auch der Anteil der Bevölkerung<br />

mit Fachhochschulreife: Verfügten 1991 r<strong>und</strong><br />

12,5 Prozent über einen solchen Abschluss, waren es<br />

sechs <strong>Jahre</strong> später bereits 21,0 Prozent.<br />

80<br />

Studierende in den neuen Ländern –<br />

Wintersemester 1990 / 91 bis Wintersemester <strong>20</strong>08 / 09<br />

Neue Länder insgesamt<br />

(ohne Berlin)<br />

1990/01 <strong>20</strong>00/01 <strong>20</strong>08/09<br />

106.960 223.156 294.230<br />

Brandenburg 5.415 33.015 46.865<br />

Mecklenburg-Vorpommern 13.160 27.646 37.252<br />

Sachsen 53.813 84.516 107.355<br />

Thüringen 13.711 39.752 50.034<br />

Neue Strukturen im Bildungssystem<br />

Die positive Entwicklung ist auch darauf zurückzuführen,<br />

dass die Umstrukturierung des Bildungssystems in<br />

Ostdeutschland weitgehend reibungslos verlief. Gleich<br />

die erste frei gewählte Volkskammer hat zahlreiche<br />

Gesetze <strong>und</strong> Verordnungen des DDR­Bildungssystems<br />

abgeschafft. Und da mit der Vereinigung der Bildungsbereich<br />

unter die Hoheit der neu gegründeten Länder<br />

fiel, haben alle fünf das einheitliche Bildungssystem der<br />

DDR durch das gegliederte ersetzt.<br />

Die Gliederung sah jedoch von B<strong>und</strong>esland zu B<strong>und</strong>esland<br />

unterschiedlich aus. Lediglich Mecklenburg­Vorpommern<br />

hat das dreigliedrige System der alten Länder<br />

übernommen. Am Abitur nach zwölf Schuljahren haben<br />

die meisten neuen Länder festgehalten.


Bei „Fahnenappellen“ sollten die<br />

Kinder zu DDR-Zeiten ihre Treue<br />

zum Sozialismus bekräftigen.<br />

Zur Bilanz gehört allerdings auch, dass die Zahl der<br />

Schulabgänger ohne Abschluss (Hauptschule) deutlich<br />

gestiegen ist. Sie hat sich im Osten wie im Westen bei<br />

r<strong>und</strong> zehn Prozent eingependelt.<br />

Die meisten Schüler schließen die Realschule ab <strong>und</strong><br />

beginnen eine Lehre als Facharbeiter. Wie in den alten<br />

Ländern teilen sich Staat <strong>und</strong> Wirtschaft die Verantwortung<br />

für die Berufsausbildung. Alle Berufsschulen sind<br />

seit der Wiedervereinigung in kommunale Trägerschaft<br />

überführt.<br />

Jugendlichen eine Chance beim Einstieg in das Berufsleben<br />

zu geben ist Sinn <strong>und</strong> Zweck des Ausbildungsplatzprogramms<br />

Ost. Der B<strong>und</strong> <strong>und</strong> die neuen Ländern finanzieren<br />

es gemeinsam. Es hat einen erheblichen Beitrag<br />

zur Entlastung des ostdeutschen Lehrstellenmarktes<br />

geleistet. R<strong>und</strong> 185.000 zusätzliche Ausbildungsplätze<br />

ließen sich in den neuen Ländern so für unvermittelte<br />

Jugendliche bereitstellen.<br />

Mittlerweile entspannt sich die Ausbildungssituation<br />

im Osten wegen der demografischen Entwicklung <strong>und</strong><br />

der sinkenden Bewerberzahlen. Wurden <strong>20</strong>01 noch<br />

16.000 Lehrstellen gefördert, so sind es heute nur noch<br />

7.000. Dennoch beträgt der Anteil außerbetrieblicher<br />

Ausbildung zum Ausgleich des mangelnden betrieblichen<br />

Angebots noch immer r<strong>und</strong> 23 Prozent.<br />

Nicht zu vernachlässigen sind auch die vielen Altbewerber,<br />

die sich wiederholt vergeblich auf Ausbildungsstellen<br />

beworben haben. Andererseits fehlen in manchen<br />

Ausbildungsberufen inzwischen geeignete Bewerber.<br />

Hier sind nicht die Ausbildungsplätze knapp, sondern<br />

die Lehrlinge.<br />

— Auferstanden aus Ruinen


Hochschulen als Innovationsmotor<br />

Wie in den Schulen haben sich auch die Aufgaben der<br />

Hochschulen geändert. In der DDR waren sie hauptsächlich<br />

für die Lehre zuständig, forschen konnten sie nur am Rande.<br />

Mit der Wiedervereinigung sind die Hochschulen in<br />

die Hoheit der Länder übergegangen, sind die Strukturen<br />

den westdeutschen angepasst. Dennoch ist die Rolle der<br />

Hochschulen eine andere: Wegen der fehlenden Großunternehmen<br />

gehören die 57 staatlichen Hochschulen nicht<br />

nur häufig zu den wichtigsten Arbeitgebern in den Regionen,<br />

sie sind gleichzeitig ein wichtiger Innovationsmotor.<br />

Wichtig ist, dass Hochschulabsolventinnen, die Kinder<br />

haben, ihren Beruf ausüben können. Dazu müssen genügend<br />

Kindertagesstätten vorhanden sein. Hier liegt der<br />

Osten weit vor dem Westen. Während in den neuen Ländern<br />

von Anfang an ein großes Angebot an Kinderbetreuungsplätzen<br />

vorhanden war, hat in den alten Ländern die<br />

Phase des Ausbaus erst begonnen. Im Westen liegt der<br />

Anteil der betreuten Kinder unter drei <strong>Jahre</strong>n bei 15 Prozent<br />

<strong>und</strong> erreicht damit nur ein Drittel der Quote in den<br />

neuen Ländern. Nachholbedarf besteht dort vor allem hinsichtlich<br />

erzieherischer Hilfen.<br />

Neue Forschungslandschaft<br />

Große Veränderungen gab es nach der Wiedervereinigung<br />

in den Bereichen Wissenschaft <strong>und</strong> Forschung. Die<br />

meisten ostdeutschen Wissenschaftseinrichtungen, die<br />

der Wissenschaftsrat positiv bewertet hat, sind heute in<br />

eine der westdeutschen Forschungsgemeinschaften integriert.<br />

So gingen die Akademien der Wissenschaften, die<br />

in der DDR für die Gr<strong>und</strong>lagenforschung zuständig waren,<br />

in die Leibniz­Gemeinschaft (WGL) über. Heute gibt es im<br />

Osten 42 Leibniz­Einrichtungen, die zur Hälfte vom B<strong>und</strong>esministerium<br />

für Bildung <strong>und</strong> Forschung sowie vom<br />

82


Stand: <strong>20</strong>09<br />

* ehem. Ost-Teil<br />

jeweiligen Land finanziert werden – allein im vergangenen<br />

Jahr mit 210 Millionen Euro.<br />

Forschungseinrichtungen in den neuen Ländern<br />

Leibniz-<br />

Gemeinschaft<br />

— Auferstanden aus Ruinen<br />

Max-Planck-<br />

Gesellschaft<br />

Fraunhofer-<br />

Gesellschaft<br />

Helmholtz-<br />

Gemeinschaft<br />

Berlin* 10 1 2 2<br />

Brandenburg 9 3 4 4<br />

Mecklenburg-<br />

Vorpommern<br />

5 1 2 3<br />

Sachsen 11 6 13 3<br />

Sachsen-<br />

Anhalt<br />

5 4 4 1<br />

Thüringen 2 3 3 1<br />

Summe 42 18 28 14<br />

Zu den Glanzlichtern gehören unter anderem das Leibniz­Institut<br />

für Länderk<strong>und</strong>e in Leipzig, das den Nationalatlas<br />

B<strong>und</strong>esrepublik Deutschland herausgibt, das Forscherteam<br />

zur Identifizierung des SARS­Coronavirus am<br />

Berliner Leibniz­Institut für Molekulare Pharmakologie<br />

<strong>und</strong> das Potsdam­Institut für Klimafolgenforschung.<br />

Inzwischen ist in jedem neuen B<strong>und</strong>esland auch ein Institut<br />

der Helmholtz­Gemeinschaft angesiedelt. Zum Beispiel<br />

das Helmholtz­Zentrum für Umweltforschung in<br />

Leipzig. Es erforscht Ursachen <strong>und</strong> Folgen von Umweltveränderungen<br />

<strong>und</strong> erarbeitet Handlungskonzepte für<br />

Politik, Wirtschaft <strong>und</strong> Gesellschaft. R<strong>und</strong> 900 Mitarbeiter<br />

sind dort beschäftigt. Das GeoForschungsZentrum<br />

Potsdam ist durch die Entwicklung eines Tsunami­Frühwarnsystems<br />

weltweit bekannt geworden. <strong>20</strong>09 sind<br />

insgesamt 330 Mio. Euro vom B<strong>und</strong> in die ostdeutschen<br />

Einrichtungen geflossen.<br />

Erfolgreich haben sich auch die Max­Planck­Gesellschaften<br />

(MPG) entwickelt, die unmittelbar nach der Wiedervereinigung<br />

in den neuen Ländern ins Leben gerufen


Auf dem Beutenberg-Campus in<br />

Jena arbeiten zehn Forschungsinstitute.<br />

Im angegliederten<br />

Technologie- <strong>und</strong> Innovationspark<br />

sind 50 Firmen zu finden.<br />

wurden. Heute haben sie mit 18 Instituten <strong>und</strong> Forschungsstellen<br />

eine Dichte wie im Westen erreicht.<br />

Durch den hohen Anteil an ausländischen Direktoren<br />

(40 Prozent) <strong>und</strong> wissenschaftlichen Mitarbeitern (30<br />

Prozent) sind sie auch international sehr attraktiv. Das<br />

Max­Planck­Institut „Wendelstein 7X“ in Greifswald zum<br />

Beispiel ist der weltgrößte Fusionsreaktor des Stellarator­<br />

Typs <strong>und</strong> liefert wichtige Forschungsergebnisse für den<br />

Fusionsreaktor ITER, der unter internationaler Beteiligung<br />

in Frankreich entsteht. Das B<strong>und</strong>esministerium<br />

unterstützte die Max­Planck­Einrichtungen <strong>20</strong>09 mit<br />

160 Millionen Euro.<br />

Zur ostdeutschen Forschungslandschaft gehört jetzt<br />

auch die Fraunhofer Gesellschaft (FhG), die 28 Einrichtungen<br />

mit über 2.000 Mitarbeitern unterhält, darunter<br />

15 Institute <strong>und</strong> fünf Teilinstitute. Besonders für Industrie<br />

<strong>und</strong> Hochschulen sind die FhG­Einrichtungen wichtige<br />

Forschungspartner. An den Standorten Halle <strong>und</strong><br />

Potsdam existieren bereits Forschungsnetzwerke, in<br />

denen Fraunhofer­Institute mit der Universität <strong>und</strong> den<br />

Max­Planck­Gesellschaften zusammenarbeiten.<br />

84


Das Fraunhofer-Institut für<br />

Digitale Medientechnologie auf<br />

dem Gelände der TU Ilmenau<br />

Halle an der Saale ist seit 1878 Sitz der <strong>Deutsche</strong>n Akademie<br />

der Naturforscher Leopoldina. Sie ist die älteste<br />

medizinisch­naturwissenschaftliche Akademie der Welt.<br />

Im Februar <strong>20</strong>08 wurde sie zur Nationalen Akademie der<br />

Wissenschaften ernannt, die in internationalen Gremien<br />

die deutschen Wissenschaftler vertritt. Schirmherr der<br />

Leopoldina ist der B<strong>und</strong>espräsident. Die Einrichtung<br />

wird vom B<strong>und</strong> (80 Prozent) <strong>und</strong> vom Land Sachsen­<br />

Anhalt (<strong>20</strong> Prozent) finanziert.<br />

Im Rahmen der Exzellenzinitiative fördert der B<strong>und</strong><br />

innovative Zukunftskonzepte an drei ostdeutschen Graduiertenschulen<br />

in Jena, Leipzig <strong>und</strong> Dresden sowie ein<br />

Exzellenzcluster an der Technischen Universität Dresden.<br />

Weitere sieben Graduiertenschulen <strong>und</strong> sechs Exzellenzcluster<br />

werden an den Berliner Universitäten (Humboldt,<br />

Technische <strong>und</strong> Freie Universität) unterstützt. In der<br />

geplanten zweiten R<strong>und</strong>e sollen erstmals auch inno vative<br />

Konzepte zur forschungsorientierten Lehre bewertet<br />

werden.<br />

— Auferstanden aus Ruinen


Ein völlig neues Förderinstrument hat das B<strong>und</strong>esministerium<br />

für Bildung <strong>und</strong> Forschung 1999 in Gang gesetzt:<br />

Mit InnoRegio sollten unterschiedliche Akteure aus<br />

Forschung, Wirtschaft <strong>und</strong> Verwaltung zusammenarbeiten<br />

<strong>und</strong> Innovationspotenziale ihrer Region ausfindig<br />

machen. Noch zu schwach war die Partnerschaft zwischen<br />

den Bildungs­ <strong>und</strong> Forschungseinrichtungen sowie<br />

der Wirtschaft entwickelt, die aber für die kleinen <strong>und</strong><br />

mittleren Unternehmen besonders wichtig war.<br />

Dass InnoRegio damit ins Schwarze getroffen hat, zeigte<br />

die große Resonanz. Insgesamt 444 InnoRegios reichten<br />

ein Zukunftskonzept für die Region ein, davon wurden<br />

23 fünf <strong>Jahre</strong> gefördert. Von 1999 bis <strong>20</strong>06 sind über 230<br />

Millionen Euro für die regions­ <strong>und</strong> clusterorientierte<br />

Innovationspolitik zur Verfügung gestellt worden. Und<br />

die Investition hat sich gelohnt: Über 11.100 Einzelprojekte<br />

wurden in Angriff genommen, die nicht nur neue<br />

Arbeitsplätze (7.500) geschaffen <strong>und</strong> die Gründung von<br />

143 Unternehmen angestoßen haben, sondern sie legten<br />

auch den Gr<strong>und</strong>stein für die Entwicklung leistungsstarker<br />

Wirtschaftsstandorte. In r<strong>und</strong> 70 Prozent der<br />

geförderten Regionen ist die Zahl der Beschäftigten<br />

weiter gestiegen.<br />

Um Forschungsergebnisse schneller zu Produkten <strong>und</strong><br />

Märkten zu entwickeln, wurde erstmals ein konsistentes<br />

Innovationskonzept auf den Gebieten Ges<strong>und</strong>heit, Klima,<br />

Energie, Mobilität <strong>und</strong> Sicherheit gestartet. Voraussetzungen<br />

sind, dass Wirtschaft, Wissenschaft <strong>und</strong> Politik<br />

in einem Cluster Hand in Hand arbeiten. Zu Deutschlands<br />

Spitzencluster gehören auch zwei Innovationsverbünde<br />

aus dem Osten: „Solarvalley Mitteldeutschland“<br />

<strong>und</strong> „Cool Silicon – Energy Efficiency Innovations from<br />

Silicon Saxony“.<br />

86


Herausragende Solarstandorte in Deutschland<br />

Düsseldorf<br />

Rheinland-<br />

Pfalz<br />

Nordrhein-<br />

Westfalen<br />

Saarland<br />

Saarbrücken<br />

Stand: <strong>20</strong>07<br />

Quelle: Standortgutachten<br />

Deutschland, ifo, EuPD Research,<br />

<strong>20</strong>08<br />

Hessen<br />

Wiesbaden<br />

Mainz<br />

Niedersachsen<br />

Stuttgart<br />

Bremen<br />

Baden-<br />

­Württemberg<br />

Kiel<br />

Schleswig-<br />

Holstein<br />

Hamburg<br />

— Auferstanden aus Ruinen<br />

Mecklenburg-<br />

Vorpommern<br />

Schwerin<br />

Hannover Berlin<br />

Sachsen-<br />

Anhalt<br />

Potsdam<br />

Erfurt<br />

Thüringen<br />

Magdeburg<br />

Bayern<br />

München<br />

Brandenburg<br />

Zulieferer Industrie Handel<br />

Sachsen<br />

Dresden<br />

< 50 Mitarbeiter<br />

51 – 250 Mitarbeiter<br />

251 – 1.000 Mitarbeiter<br />

> 1.001 Mitarbeiter


Von der<br />

Dreckschleuder<br />

zum<br />

„ S o lar Vall ey “<br />

88


Braunkohlekraftwerk<br />

Espenhain 1990 <strong>und</strong> <strong>20</strong>08<br />

Die Schornsteine des Kraftwerks in Bitterfeld, „die wie<br />

Kanonenrohre in den Himmel zielen <strong>und</strong> ihre Dreckladung<br />

Tag für Tag <strong>und</strong> Nacht für Nacht auf die Stadt<br />

schießen, nicht mit Gedröhn, nein sachte wie Schnee, der<br />

langsam <strong>und</strong> sanft fällt, der die Regenrinnen verstopft,<br />

die Dächer bedeckt, in den der Wind kleine Wellen<br />

weht“ – diese Schornsteine, wie sie Monika Maron 1981<br />

in ihrem Roman „Flugasche“ beschrieben hat, gibt es<br />

nicht mehr. Mitsamt dem Braunkohletagebau in dieser<br />

Gegend.<br />

Aus der einst dreckigsten Stadt Europas, wo bis 1990<br />

mehr als 300 Millionen Tonnen Kohle aus der Erde<br />

gebaggert wurden, ist eine r<strong>und</strong> 60 Quadratkilometer<br />

große Seen­, Natur­ <strong>und</strong> Kulturlandschaft entstanden,<br />

eine der weltgrößten überhaupt. Die Chemieregion<br />

Bitter feld­Wolfen hat eine erstaunliche Entwicklung<br />

durchgemacht. Nach erfolgreichem Strukturwandel ist<br />

eine Freizeitlandschaft mit hohem Erholungswert entstanden<br />

– ohne dass der Chemiestandort an Bedeutung<br />

ver loren hätte.<br />

Auf dem sanierten Gelände des ehemaligen Chemiekombinats<br />

haben sich ein großer deutscher Pharma­ <strong>und</strong><br />

Chemiekonzern sowie etwa 360 kleinere Firmen der<br />

Chemie­ <strong>und</strong> Pharmabranche angesiedelt. R<strong>und</strong> 11.000<br />

— Von der Dreckschleuder zum „Solar Valley“


BUNA-Werke Schkopau, 1990<br />

Chemisches Kombinat Bitterfeld,<br />

„Straße der tausend Düfte“<br />

Die Pleiße bei Leipzig, April 1981<br />

Menschen arbeiten hier, weitere 2.<strong>20</strong>0 sind in der neuen<br />

Solarindustrie, im sogenannten Solar Valley, beschäftigt.<br />

Die enormen Veränderungen, die sich seit der Einheit<br />

vollzogen haben, sind eine Erfolgsgeschichte, die nicht<br />

nur den Wandel der Chemieregion Halle­Leipzig­Bitterfeld<br />

von der einstigen Dreckschleuder zum Standort<br />

modernster Umwelttechnologien betrifft, sondern alle<br />

neuen Länder.<br />

Umwelt-Einheit<br />

Dank gemeinsamer Anstrengungen von B<strong>und</strong>, Ländern<br />

<strong>und</strong> Kommunen wurden die Umweltgefahren beseitigt<br />

<strong>und</strong> moderne Strukturen aufgebaut. Das im Einigungsvertrag<br />

festgeschriebene Ziel, „die Einheitlichkeit der<br />

ökologischen Lebensverhältnisse auf hohem, mindestens<br />

jedoch dem der B<strong>und</strong>esrepublik Deutschland erreichten<br />

Niveau zu fördern“, ist inzwischen erreicht.<br />

Doch der Weg zur Umwelt­Einheit war nicht einfach. Die<br />

ökologischen Schäden, die das DDR­Regime dem vereinten<br />

Deutschland aufgebürdet hatte, waren katastrophal.<br />

Vier Jahrzehnte hatte die sozialistische Planwirtschaft<br />

kurzfristige Planerfüllung vor notwendige Umweltschutzmaßnahmen<br />

gestellt, dringende Investitionen in<br />

die Umweltstruktur fanden nicht statt. Die Folgen waren<br />

überall sichtbar: akute Ges<strong>und</strong>heitsgefahren vor allem<br />

durch belastetes Trinkwasser <strong>und</strong> hohe Luftverschmutzung<br />

in den Industrie­ <strong>und</strong> Ballungszentren. Hinzu<br />

kamen militärische <strong>und</strong> industrielle Altlasten sowie die<br />

hohe Belastung von Flüssen <strong>und</strong> Seen durch Industrie<br />

<strong>und</strong> Landwirtschaft, die nicht nur eine Umweltgefahr,<br />

sondern auch ein riesiges Investitionshemmnis waren.<br />

Die ökologische Bilanz der DDR war verheerend. Das hat<br />

auch das Umweltgutachten bestätigt, das die Generalstaatsanwaltschaft<br />

im Februar 1990 in Auftrag gegeben<br />

90


Umweltbibliothek im<br />

Gemeindehaus der Ost-Berliner<br />

Zionskirche<br />

hat: Es verzeichnet für 1989 2,2 Millionen Tonnen Staub­<br />

<strong>und</strong> 5,2 Millionen Tonnen Schwefeldioxid­Ausstoß – die<br />

höchste Belastung aller europäischen Länder. In den<br />

Industrieregionen litt bereits jeder vierte Bewohner<br />

unter der hohen Luftverpestung, fast jedes zweite Kind<br />

hatte Atemwegserkrankungen <strong>und</strong> jedes dritte Ekzeme.<br />

Hochgradig verseucht waren auch Flüsse <strong>und</strong> Seen.<br />

Besonders die östliche Elbe mit ihren Nebenflüssen war<br />

eine einzige Industriekloake. Sie galt als meistvergifteter<br />

<strong>und</strong> verseuchter Fluss Europas. Bei der ersten gesamtdeutschen<br />

Gewässergütekarte zur Beschreibung der<br />

Wasserqualität der Elbe musste sogar eine zusätzliche<br />

Güteklasse, „ökologisch zerstört“, eingeführt werden.<br />

Über 1,2 Millionen Menschen ließen sich nicht mehr mit<br />

sauberem Trinkwasser versorgen. Auch das hat sich rasch<br />

geändert. Durch die Stilllegungen veralteter Industriewerke<br />

<strong>und</strong> den Neubau von Kläranlagen stieg die Wasserqualität<br />

bis 1995 in den Flussabschnitten, die am stärksten<br />

verschmutzt waren, gleich um mehrere Stufen.<br />

Geheimhaltung in der DDR<br />

Enorm belastet waren auch die Wälder, über die Hälfte<br />

des Bestandes war geschädigt. Doch in den DDR­Medien<br />

war von all dem nichts zu lesen – weder von den verseuchten<br />

Gewässern noch von der verpesteten Luft <strong>und</strong><br />

den vergifteten Böden. Zwar hatte die DDR­Regierung<br />

bereits 1968 als einer der ersten Staaten in Europa den<br />

Umweltschutz als Staatsziel in die DDR­Verfassung aufgenommen,<br />

doch die jährlichen Umweltschutzberichte<br />

wurden ab Anfang der 1980er <strong>Jahre</strong> zur „Geheimen Verschlusssache“<br />

(GVS) erklärt, sodass sie nur noch wenige<br />

Personen einsehen konnten. Die übliche Begründung:<br />

Die Umweltdaten würde der Klassenfeind nutzen, um<br />

der DDR zu schaden.<br />

— Von der Dreckschleuder zum „Solar Valley“


Kläranlagenbau in Neustrelitz<br />

Unter strenger Geheimhaltung stand auch die Atomkatastrophe<br />

von Tschernobyl am 26. April 1986. Während<br />

die Medien der B<strong>und</strong>esrepublik sofort über den Unfall<br />

im ukrainischen Kernkraftwerk <strong>und</strong> über eingeleitete<br />

Schutzmaßnahmen berichteten, erschien in den Zeitungen<br />

der DDR erst nach vier Tagen eine kurze Mitteilung<br />

der sowjetischen Nachrichtenagentur TASS. Die DDR­<br />

Medien verschwiegen, dass beispielsweise in Sachsen­<br />

Anhalt die Radioaktivität von Milchproben den Grenzwert<br />

mit 700 Prozent überschritten hatte. Erich Honecker<br />

aber gab den verängstigten Müttern den Rat, Salat vorher<br />

zu waschen, bevor sie ihn den Kindern zum Essen gäben.<br />

Erst nach der Friedlichen Revolution konnten sich die<br />

Bürger ein wahres Bild von den Umweltschäden in der<br />

DDR machen. Das drückte sich auch in Umfragen zur<br />

Umweltsituation aus. 1991 hielten nur vier Prozent der<br />

Befragten ihre Umweltbedingungen für gut oder ausgezeichnet,<br />

im Westen waren es 49 Prozent. Das änderte<br />

sich schon fünf <strong>Jahre</strong> später. Da waren die Befragten in<br />

den neuen Ländern (51 Prozent) <strong>und</strong> in den alten Ländern<br />

(52 Prozent) gleichermaßen mit ihrer Umweltsituation<br />

zufrieden <strong>und</strong> schätzten sie mit gut ein.<br />

Rasche Verbesserungen<br />

Diese positiven Werte sind auf die rasche Beseitigung<br />

von Umweltschäden zurückzuführen. Die Luftschadstoff<br />

Emissionen waren bereits Mitte der 1990er <strong>Jahre</strong><br />

beträchtlich gesunken. Heute werden in den neuen<br />

L ändern Schwefeldioxid­Konzentrationen gemessen,<br />

die denen in den alten Ländern entsprechen. In Sachsen­<br />

Anhalt beträgt die Luftbelastung durch SO 2 nur noch<br />

0,5 bis ein Prozent der DDR­Belastungen.<br />

Schon im Februar 1990 ergriff das B<strong>und</strong>esumweltministerium<br />

die Initiative <strong>und</strong> beschloss mit der damaligen<br />

92


DDR­Regierung in einer Gemeinsamen Umweltkommission<br />

ein Sofortprogramm, um akute Gefahren zu beheben.<br />

Dazu gehörten die Stilllegung der Atomkraftwerke<br />

sowjetischer Bauart in Greifswald <strong>und</strong> Rheinsberg sowie<br />

der Baustopp einer weiteren Anlage in Stendal. Auch wurden<br />

Smog­Frühwarnsysteme <strong>und</strong> Trinkwassermessnetze<br />

erarbeitet. Zum 1. Juli 1990, zeitgleich mit der Wirtschafts­,<br />

Währungs­ <strong>und</strong> Sozialunion, entstand mit dem Umweltrahmengesetz<br />

die Umweltunion: Wesentliche Bestimmungen<br />

des Umweltrechts der B<strong>und</strong>esrepublik Deutschland<br />

erlangten auch auf dem Gebiet der DDR Geltung.<br />

Die B<strong>und</strong>esregierung legte gleich nach der Wiedervereinigung<br />

im November 1990 konkrete „Eckwerte für die<br />

ökologische Sanierung <strong>und</strong> Entwicklung in den neuen<br />

Ländern“ fest – mit dem Ziel, „bis zum Jahr <strong>20</strong>00 gleiche<br />

Umweltbedingungen auf hohem Niveau in ganz Deutschland<br />

zu schaffen“. Es war eine Bestandsaufnahme der<br />

Umweltsituation <strong>und</strong> ein Gesamtrahmen für die Sanierungs­<br />

<strong>und</strong> Entwicklungsstrategie. Um das bestehende<br />

Umweltgefälle zwischen Ost <strong>und</strong> West auszugleichen,<br />

erhielten die Umweltministerien in den neuen Ländern<br />

finanzielle Unterstützung. Auch Beraterfirmen wurden<br />

ihnen an die Seite gestellt.<br />

Wie hoch die finanziellen Investitionen des B<strong>und</strong>es in den<br />

Umweltschutz der neuen Länder waren, ist schwer zu<br />

beziffern. Von 1990 bis 1998 sind allein für Investitionen in<br />

den Bereich der Wasserversorgung r<strong>und</strong> 6,7 Milliarden<br />

Euro geflossen (Umweltgutachten <strong>20</strong>00).<br />

Neben der Beseitigung der Umweltschäden (2,9 Milliar den<br />

Euro) waren die Sanierungsaufgaben gleich zu Beginn der<br />

1990er <strong>Jahre</strong> auf den Abbau von Investitionshemmnissen<br />

gerichtet. Dazu zählten ökologische Altlasten an vielen<br />

Produktionsstandorten <strong>und</strong> mangelnde Infrastruktur im<br />

Umweltschutz. Daran wird noch heute gearbeitet.<br />

— Von der Dreckschleuder zum „Solar Valley“


Altlasten-Großprojekte<br />

GP = Großprojekt<br />

Quelle: B<strong>und</strong>esanstalt für<br />

Vereinigungsbedingte<br />

Sonderausgaben<br />

1 Dem Land Mecklenburg-<br />

Vorpommern am 29. November<br />

1994 übergeben<br />

Altlastenverpflichtungen<br />

pauschalisiert<br />

Altlastenverpflichtungen<br />

nicht pauschalisieren<br />

Altlasten-Großprojekte<br />

Neue Chancen für die Natur<br />

Vor allem der großflächige Abbau der Braunkohle hat<br />

gravierende Schäden hinterlassen. Die Sanierung von<br />

etwa 100.000 Hektar, die sich nicht privatisieren ließen,<br />

liegt in der Verantwortung des B<strong>und</strong>es <strong>und</strong> der Braunkohleländer<br />

Brandenburg, Sachsen, Sachsen­Anhalt <strong>und</strong><br />

Thüringen. Insgesamt 8,8 Milliarden Euro flossen bisher<br />

in die Sicherung der stillgelegten Tagebaue <strong>und</strong> die<br />

Sanierung des Geländes. Dabei tragen der B<strong>und</strong> 75 Prozent<br />

<strong>und</strong> die Länder 25 Prozent. R<strong>und</strong> 95 Prozent der<br />

bergtechnischen Gr<strong>und</strong>arbeiten sind weitgehend<br />

ab geschlossen. Über ein Drittel der Flächen ist bereits<br />

privatisiert, alle geplanten Seen sind geflutet.<br />

94<br />

GP Küstenindustrie,<br />

Standort Rostock<br />

GP Küstenindustrie,<br />

Standort Wismar<br />

Mecklenburg-<br />

Vorpommern<br />

1<br />

Sachsen-<br />

Anhalt<br />

GP Küstenindustrie,<br />

Standort Strals<strong>und</strong> 1<br />

GP PCK AG Schwedt<br />

Brandenburg<br />

GP Region Oranienburg<br />

GP Stadt Berlin<br />

Brandenburg<br />

GP Berlin<br />

GP Sanierungsgesellschaft<br />

Magdeburg-Rothensee<br />

GP Erdöl-Erdgas<br />

Gommern GmbH<br />

GP Bitterfeld-Wolfen<br />

GP Mansfeld AG GP BUNA GmbH<br />

GP Leuna-Werke GmbH<br />

GP Kali<br />

GP BASF Schwarzheide<br />

Thüringen<br />

GP SOWBohlen GP Lautawerk GmbH<br />

GP Hydrierwerk Zeitz / Sachsen<br />

Paraffinwerk Webau GP VVG Kositz GP Dresden-Coschütz /<br />

Thüringen<br />

Gittersee<br />

GP SAXONIA<br />

Freiberg


Der Cospudener See bei Leipzig,<br />

früher ein Braunkohle-Tagebaugelände<br />

Wismut nach der Sanierung<br />

Michael Beleites, Mitbegründer<br />

der Umweltbewegung in der DDR<br />

Jetzt wachsen auf der größten Landschaftsbaustelle Europas<br />

in der Lausitz <strong>und</strong> im mitteldeutschen Revier um<br />

Leipzig neue ökologische Seelandschaften mit hohem<br />

Freizeitwert <strong>und</strong> neue Standorte für Industrie <strong>und</strong><br />

Gewerbe. Das „Lausitzer Seenland“ <strong>und</strong> das „Leipziger<br />

Neuseenland“ sind die ersten großräumigen Naturschutzprojekte,<br />

die auf den ehemaligen Tagebauen <strong>und</strong><br />

Standorten der Braunkohleindustrie entstanden sind.<br />

Dass die wissenschaftlich­technologischen Kompetenzen,<br />

die die Fachleute bei der Braunkohlesanierung<br />

erworben haben, jetzt sogar auf internationales Interesse<br />

stoßen, ist ein weiterer Gewinn.<br />

Wie in der Braunkohle gehen auch die Sanierungsarbeiten<br />

im Uranerzbergbau der ehemaligen Sowjetisch­deutschen<br />

Wismut AG voran. Zu DDR­Zeiten förderte sie unter<br />

anderem das Uran für die sowjetischen Atomwaffen. Die<br />

Stilllegung der Bergwerke, die Sanierung <strong>und</strong> Revitalisierung<br />

der radioaktiv verseuchten Flächen sind bereits<br />

zu 80 Prozent abgeschlossen. Sie werden im Auftrag der<br />

B<strong>und</strong>esregierung von der 1991 gegründeten Wismut<br />

GmbH durchgeführt. Insgesamt bis zu 6,4 Milliarden<br />

Euro hat der B<strong>und</strong> dafür bereitgestellt. Mit dem Abschluss<br />

der Sanierung ist in fünf <strong>Jahre</strong>n zu rechnen. Die<br />

Wismut GmbH ist noch heute mit 1.500 Mitarbeitern <strong>und</strong><br />

<strong>20</strong>0 Lehrlingen ein wichtiger Wirtschaftsfaktor. Zurzeit<br />

wird die Privatisierung des Unternehmens vorbereitet.<br />

„Das hätte sich zu DDR-Zeiten niemand vorstellen können: dass<br />

nicht nur der Uranbergbau beendet wird, sondern tatsächlich eine<br />

Sanierung passiert, in die wirklich viel investiert wird. Das ist wirk-<br />

lich ein Glücksfall für alle Menschen, die dort leben.“<br />

— Von der Dreckschleuder zum „Solar Valley“


Herstellung von Solarmodulen<br />

in Freiberg<br />

Hightech für die Umwelt<br />

Dank gemeinsamer Anstrengungen von B<strong>und</strong>, Ländern<br />

<strong>und</strong> Kommunen führt eine ökologisch orientierte Industriepolitik<br />

zu Erfolgen. Anreize schuf das Erneuerbare<br />

Energien­Gesetz (EEG). Dadurch haben sich neue Industriefirmen<br />

angesiedelt, die schon nach kurzer Zeit zu den<br />

Großen ihrer Branche aufgestiegen sind. Beispiele dafür<br />

sind das Solarunternehmen Q­Cells in Thalheim bei Bitterfeld<br />

<strong>und</strong> der Windkraftanlagenbauer ENERCON auf<br />

dem Gelände des früheren Magdeburger Schwermaschinenherstellers<br />

TAKRAF. ENERCON ist mit seinen 2.000<br />

Mitarbeitern einer von sieben führenden Herstellern.<br />

Besonders die Regionen um Freiberg (Sachsen), Bitterfeld­Wolfen<br />

(Sachsen­Anhalt), Frankfurt/Oder (Brandenburg)<br />

<strong>und</strong> Arnstadt (Thüringen) haben sich fest als Solarstandorte<br />

etabliert.<br />

Neben den erneuerbaren Energien eröffnen Informations­<br />

<strong>und</strong> Kommunikationstechnologien sowie die<br />

Nanot echnologie Chancen <strong>und</strong> Perspektiven für die<br />

neuen Länder in hoch innovativen Bereichen. Auch die<br />

Kohle­Kraft werkstechnik ist eine der modernsten weltweit.<br />

Einen besonderen Stellenwert im Umweltschutz nimmt<br />

die Sicherung des wertvollen Naturerbes ein. Gerade die<br />

neuen Länder verfügen über einen großen Reichtum an<br />

Naturschätzen. Von den 14 deutschen Nationalparks<br />

befinden sich sieben, von den 13 Biosphären­Reservaten<br />

acht ganz oder teilweise in den neuen Ländern.<br />

96<br />

Windpark Küstrow<br />

(Nordvorpommern)


Ehemaliger Grenzstreifen bei<br />

Behrungen (Thüringen)<br />

Quelle: B<strong>und</strong>esamt für<br />

Naturschutz<br />

Das „Grüne Band“ von Finnland bis zum Schwarzen Meer<br />

Vereinigtes<br />

Königreich<br />

Frankreich<br />

Niederlande<br />

Belgien<br />

Deutschland<br />

Schweiz<br />

Italien<br />

Norwegen<br />

Schweden<br />

Tschechien<br />

Österreich<br />

Slowenien<br />

Kroatien<br />

Ungarn<br />

— Von der Dreckschleuder zum „Solar Valley“<br />

Polen<br />

Slowakei<br />

Bosnien u.<br />

Herzegowina<br />

Serbien<br />

Finnland<br />

Lettland<br />

Litauen<br />

Estland<br />

Weißrussland<br />

Rumänien<br />

Bulgarien<br />

Mazedonien<br />

Albanien<br />

Griechenland<br />

Ukraine<br />

Moldawien<br />

Türkei<br />

Vor allem der frühere Todesstreifen entlang der ehemaligen<br />

innerdeutschen Grenze, das „Grüne Band“, das sich<br />

über 1.393 Kilometer von der Ostsee bis zum sächsischen<br />

Vogtland erstreckt, hat einen unerwarteten Reichtum<br />

an gefährdeten Tier­ <strong>und</strong> Pflanzenarten offenbart. Er ist<br />

deutschlandweit einmalig <strong>und</strong> macht einen wesentlichen<br />

Teil unseres Nationalen Naturerbes aus.


Eine gute<br />

Versorgung<br />

für alle<br />

98


Es gibt wohl kaum einen Bereich des gesellschaftlichen<br />

Lebens der ehemaligen DDR, der so überschätzt wurde –<br />

<strong>und</strong> teilweise immer noch wird – wie das staatliche<br />

Ges<strong>und</strong>heitswesen. Zwar verfügten die Polikliniken<br />

<strong>und</strong> Krankenhäuser über gut ausgebildete Ärzte <strong>und</strong><br />

Schwestern, aber es haperte nicht nur an modernen<br />

medizinisch­technischen Geräten, sondern auch an simplen<br />

Dingen wie Spritzen oder Verbandsmaterialien.<br />

Selbst in der renommierten Berliner Charité mussten Studenten<br />

benutzte Gummihandschuhe immer wieder reinigen,<br />

um sie aus Kostengründen mehrfach verwenden<br />

zu können. Wenn ältere Ärzte dem medizinischen Nachwuchs<br />

von heute über ihre DDR­Erfahrungen berichten,<br />

ernten sie nur ungläubiges Kopfschütteln.<br />

Es waren vor allem junge Ärzte <strong>und</strong> Schwestern, die mit<br />

ihren Familien 1989 über Budapest, Warschau oder Prag<br />

der DDR den Rücken kehrten <strong>und</strong> so das ostdeutsche<br />

Ges<strong>und</strong>heitswesen zusätzlich an den Rand des Zusammenbruchs<br />

brachten. Pro 100.000 Einwohner gab es im<br />

Jahr des Mauerfalls im Osten 245 Ärzte, im Westen dagegen<br />

303. Heute sind es in den neuen Ländern 345, <strong>und</strong><br />

mit 385 bleibt die Ärztedichte in den alten Ländern trotz<br />

der Aufholjagd immer noch beträchtlich höher. Bei Zahnärzten<br />

war die Versorgung von jeher geringfügig besser<br />

als im Westen, <strong>und</strong> es ist mit 85 (West: 78) bis in die Gegenwart<br />

so geblieben.<br />

Soforthilfe<br />

Die Experten sind sich einig, dass es gelungen ist, schon<br />

in den frühen <strong>Jahre</strong>n der Einheit im Ges<strong>und</strong>heitsbereich<br />

schnell eine Ost­West­Annäherung zu erreichen. Es<br />

erwies sich als Vorteil, dass der Umbau des Ges<strong>und</strong>heitswesens<br />

noch in der Amtszeit der letzten DDR­Regierung<br />

begann. Damals stellte die B<strong>und</strong>esregierung der DDR<br />

— Eine gute Versorgung für alle


Das neue Carl-Thiem-Klinikum<br />

in Cottbus (Brandenburg)<br />

Mittlere Lebenserwartung<br />

bei Geburt <strong>und</strong> fernere Lebenserwartung<br />

(mit 65 <strong>Jahre</strong>n) im<br />

Zeitvergleich<br />

Alte B<strong>und</strong>esländer<br />

Deutschland<br />

Neue B<strong>und</strong>esländer<br />

Quelle: BMG<br />

r<strong>und</strong> drei Milliarden D­Mark zur Verfügung, um schnell<br />

die wichtigsten Unzulänglichkeiten in der medizinischen<br />

Versorgung zu beseitigen. Das betraf vor allem die<br />

bessere Ausstattung der Arztpraxen mit Geräten <strong>und</strong><br />

Material sowie der Austausch der veralteten Betten in<br />

Krankenhäusern.<br />

Wie erfolgreich die Angleichung inzwischen vorangeschritten<br />

ist, zeigt sich unter anderem bei der gestiegenen<br />

Lebenserwartung. Neben der verbesserten Umweltsituation<br />

<strong>und</strong> anderen Faktoren hat auch die verbesserte<br />

Ges<strong>und</strong>heitsversorgung wesentlich dazu beigetragen.<br />

Noch 1990 starben Ostdeutsche im Schnitt sechs <strong>Jahre</strong><br />

früher als ihre Landsleute im Westen. Diese Unterschiede<br />

haben sich deutlich verringert. So lag die Lebenserwartung<br />

bei Frauen schon <strong>20</strong>07 im Osten bei 82,0 <strong>und</strong> im<br />

Westen bei 82,3 <strong>Jahre</strong>n. Die entsprechenden Werte für<br />

Männer betrugen zu diesem Zeitpunkt 75,8 in den neuen<br />

<strong>und</strong> 77,2 <strong>Jahre</strong> in den alten Ländern.<br />

100<br />

84<br />

82<br />

80<br />

78<br />

76<br />

74<br />

72<br />

70<br />

68<br />

66<br />

Entwicklung der Lebenserwartung bei<br />

Geburt seit 1990<br />

1990 / 1992<br />

1991 / 1993<br />

1992 / 1994<br />

1993 / 1995<br />

1994 / 1996<br />

1995 / 1997<br />

1996 / 1998<br />

1997 / 1999<br />

1998 / <strong>20</strong>00<br />

1999 / <strong>20</strong>01<br />

<strong>20</strong>00 / <strong>20</strong>02<br />

<strong>20</strong>01 / <strong>20</strong>03<br />

<strong>20</strong>02 / <strong>20</strong>04<br />

<strong>20</strong>03 / <strong>20</strong>05<br />

<strong>20</strong>04 / <strong>20</strong>06<br />

<strong>20</strong>05 / <strong>20</strong>07<br />

<strong>20</strong>06 / <strong>20</strong>08


Ärztehaus in Berlin-Weißensee<br />

Senioren-Pflegeheim in Chemnitz<br />

Bereits Mitte der 1990er <strong>Jahre</strong> war das westdeutsche<br />

Ges<strong>und</strong>heitswesen nahezu komplett <strong>und</strong> ohne größere<br />

Probleme auf den Osten übertragen worden. Das traf auf<br />

die Finanzierung genauso zu wie auf die Struktur des<br />

Krankenversicherungssystems. Wegen der unterschiedlichen<br />

Einkommensverhältnisse <strong>und</strong> Wirtschaftskraft<br />

war in den neuen Ländern in der Übergangszeit eine<br />

Reihe von Sonderregelungen erforderlich. Das betraf<br />

unter anderem die Zuzahlungsregelungen <strong>und</strong> die Härtefallgrenzen<br />

sowie die Beitragsbemessungsgrenzen.<br />

Polikliniken in neuer Form<br />

Der dringend notwendigen Erneuerung des Ges<strong>und</strong>heitswesens<br />

fielen zunächst auch Einrichtungen zum<br />

Opfer, die sich – bei näherem Hinsehen – bewährt hatten:<br />

vor allem die sogenannten Polikliniken. Inzwischen<br />

sind sie als Ärztehäuser oder medizinische Versorgungszentren<br />

wieder oder neu entstanden. In den <strong>Jahre</strong>n <strong>20</strong>05<br />

bis <strong>20</strong>09 hat sich ihre Zahl b<strong>und</strong>esweit von 269 auf 1.378<br />

erhöht. Auch das Modell der Gemeindeschwester, das<br />

früher in Ostdeutschland verbreitet war, hat unter dem<br />

Namen AGnES in ganz Deutschland Schule gemacht.<br />

Mehr <strong>und</strong> bessere Pflegeheime<br />

Einen besonderen Nachholbedarf gab es bei der Ausstattung<br />

der Heime für Senioren, speziell für pflegebedürftige.<br />

Der bauliche Zustand sowie die technische Ausrüstung<br />

der meisten Feierabend­ <strong>und</strong> Pflegeheime mit<br />

Mehrbettzimmern befanden sich in einem unzumutbaren<br />

Zustand. So sah das Pflegeversicherungsgesetz von<br />

1995 auch Finanzhilfen des B<strong>und</strong>es von 3,3 Milliarden<br />

Euro zur Verbesserung der Pflegeinfrastruktur vor.<br />

Damit konnten allein 1.025 neue Pflegeeinrichtungen<br />

in den neuen Ländern in Betrieb genommen werden.<br />

— Eine gute Versorgung für alle


Zusätzlich wurden für besondere Projekte zur Verbesserung<br />

der Versorgung pflegebedürftiger Senioren noch<br />

einmal 80,4 Millionen Euro bewilligt.<br />

Hohes Rentenniveau<br />

Die gesetzliche Rentenversicherung hat sich als erste<br />

Säule der Alterssicherung auch in den neuen Ländern<br />

bewährt. Am 1. Januar 1992 trat das sogenannte Rentenüberleitungsgesetz<br />

in Kraft. Damit wurde die gesetzliche<br />

Rentenversicherung für alle Bestands­ <strong>und</strong> Zugangsrentner<br />

in den alten <strong>und</strong> neuen Ländern auf eine einheitliche<br />

Rechtsgr<strong>und</strong>lage (Sozialgesetzbuch VI) gestellt.<br />

Besonderheiten des DDR­Rechts, die der Systematik der<br />

beitrags­ <strong>und</strong> lohnbezogenen westdeutschen Rente<br />

fremd sind, wurden stufenweise verändert. Die umfangreichen<br />

Zusatz­ <strong>und</strong> Sonderversorgungssysteme sind in<br />

die Rentenversicherung überführt worden.<br />

Die Rentner in den neuen Ländern haben von den neuen<br />

Regeln profitiert. In der DDR betrugen ihre Altersbezüge<br />

nicht mehr als 30 Prozent ihres durchschnittlichen<br />

Arbeitseinkommens. Gesetzlich garantierte Rentenanhebungen<br />

waren in der DDR nicht vorgesehen, von einer<br />

dynamischen Rente, wie sie 1957 in der B<strong>und</strong>esrepublik<br />

eingeführt wurde, ganz zu schweigen. Rentenerhöhungen<br />

behielt sich das SED­Politbüro vor, das dabei weder<br />

die Gewerkschaft noch das zuständige Arbeitsressort<br />

einbezog.<br />

So gab es zwischen der Staatsgründung 1949 <strong>und</strong> dem<br />

Mauerbau 1961 nur vier Erhöhungen der Altersruhegelder,<br />

die mehr als bescheiden ausfielen. Nach dem<br />

Volksaufstand am 17. Juni 1953 hoben die Machthaber<br />

die Renten einheitlich um zehn Mark an.<br />

Zum Zeitpunkt der Vereinigung beliefen sich die Altersruhegelder<br />

der ostdeutschen Rentner auf etwa 35 Pro­<br />

102


Alte Länder<br />

Neue Länder<br />

zent der Bezüge im Westen. Inzwischen sind die Renten<br />

auf 88,7 Prozent des Westwertes gestiegen. Für die gegenwärtige<br />

ostdeutsche Rentnergeneration haben sich die<br />

Bezüge zwischen 1990 <strong>und</strong> 1999 etwa vervierfacht. Ein<br />

guter Beleg für die Funktionsweise des solidarischen<br />

Systems der deutschen Sozialversicherung.<br />

1.400 €<br />

1.<strong>20</strong>0 €<br />

1.000 €<br />

800 €<br />

600 €<br />

400 €<br />

<strong>20</strong>0 €<br />

0 €<br />

Entwicklung der Standardrenten<br />

in Ost <strong>und</strong> West im Vergleich<br />

954 €<br />

486 €<br />

— Eine gute Versorgung für alle<br />

+ 25,3 %<br />

+ 116,3 %<br />

1.195 €<br />

1.050 €<br />

1991 <strong>20</strong>08<br />

Dass die westdeutschen Rentner dennoch einen Vorsprung<br />

haben, liegt daran, dass sie neben der gesetzlichen<br />

Rente oft noch andere Einnahmen – beispielsweise aus<br />

Betriebsrenten – haben. So können Rentnerehepaare im<br />

Westen monatlich durchschnittlich 2.350 Euro aus geben,<br />

im Osten lediglich 1.937 Euro.<br />

Die Senioren in den neuen Ländern sind bislang zu<br />

93 Prozent ausschließlich auf Bezüge aus der gesetzlichen<br />

Rentenversicherung angewiesen. Der Anteil an Betriebsrenten<br />

oder privater Vorsorge nimmt zwar bei den jüngeren<br />

Jahrgängen in den neuen Ländern zu, aber die lang<br />

anhaltend hohe Arbeitslosigkeit veranlasst die Politik,<br />

Konzepte zur Verhinderung von Altersarmut zu diskutieren.


Eine<br />

Zwischenbilanz<br />

Das sanierte „Holländische<br />

Viertel“ in Potsdam<br />

104


Zwei Jahrzehnte sind seit der deutschen Wiedervereinigung<br />

vergangen. Wie lautet die Zwischenbilanz?<br />

Reiht man die wirtschaftlichen Erfolge beim Aufbau der<br />

neuen Länder aneinander, kommt eine beachtliche Liste<br />

zustande, um die das wiedervereinigte Deutschland – vor<br />

allem von seinen ehemaligen sozialistischen Nachbarstaaten<br />

– beneidet wird. Es war ein Schnellstart beim<br />

Übergang von einer Kommandowirtschaft zur Marktwirtschaft.<br />

Schon Mitte der 1990er <strong>Jahre</strong> gab es kaum<br />

noch Ost­West­Unterschiede bei der Ausstattung der<br />

Haushalte mit langlebigen Konsumgütern. Versorgungsmängel,<br />

die zum Alltag in den 40 <strong>Jahre</strong>n DDR gehörten,<br />

kennen die Menschen in den neuen Ländern seit Oktober<br />

1990 nicht mehr.<br />

— Eine Zwischenbilanz


Dabei waren es längst nicht nur die Südfrüchte, die früher<br />

fehlten. So gab es sogar Papiertaschentücher oder Toilettenpapier<br />

oft nur unter dem Ladentisch. Und wer ein Auto<br />

haben wollte, musste sich anmelden <strong>und</strong> gut eineinhalb<br />

Jahrzehnte warten. 1988 hatten in der ehemaligen DDR<br />

nur 54 Prozent der Haushalte ein Auto. In der alten B<strong>und</strong>esrepublik<br />

waren es zu diesem Zeitpunkt 73 Prozent.<br />

Schon <strong>20</strong>08 besaßen 76 Prozent der ostdeutschen Haushalte<br />

einen eigenen Pkw, im Westen 78 Prozent. Auch die<br />

Reisefreiheit, auf die die Ostdeutschen 40 <strong>Jahre</strong> warten<br />

mussten, nutzen sie seit dem ersten Tag nach dem Mauerfall.<br />

Beim Immobilienbesitz haben die Ostdeutschen ebenfalls<br />

gegenüber ihren westdeutschen Landsleuten Boden gut<br />

gemacht. Bei der Wiedervereinigung hatten gerade einmal<br />

25,7 Prozent (West: 40,5 Prozent) der Bevölkerung<br />

in den neuen Ländern ihre eigenen vier Wände. Gut<br />

eineinhalb Jahrzehnte weiter waren schon 32,7 Prozent<br />

(West: 43,7 Prozent) in Besitz einer Immobilie.<br />

Aufholbedarf besteht allerdings noch bei der Wirtschaftskraft.<br />

Ihre Stärkung ist die Voraussetzung dafür, dass<br />

sich auch die Einkommen zwischen Ost <strong>und</strong> West weiter<br />

anpassen können. Zwar hat sich der Ost­West­Abstand bei<br />

den Einkommen seit 1990 deutlich verringert, dennoch<br />

hatte <strong>20</strong>07 ein Ostdeutscher im Durchschnitt 1.260 Euro<br />

(1991: 595 Euro) monatlich zur Verfügung, während es in<br />

den alten Ländern 1.603 Euro (1991: 1.148 Euro) waren.<br />

Fehlen darf bei der Aufzählung auch nicht der schnelle<br />

Ausbau des Straßen­, Schienen­ <strong>und</strong> Telekommunikationsnetzes<br />

sowie die Modernisierung der Schulen, Krankenhäuser<br />

<strong>und</strong> Altenheime. Das alles war nur mit massiven<br />

Hilfen der alten Länder zu schaffen. Deshalb lagen die<br />

öffentlichen Investitionen in den ersten <strong>Jahre</strong>n der Einheit<br />

pro Bürger auch mehr als ein Drittel über dem Vergleichswert<br />

der alten Länder.<br />

106


Die neue Strelas<strong>und</strong>brücke<br />

zwischen Strals<strong>und</strong> <strong>und</strong> der<br />

Insel Rügen<br />

Angesichts dieser Bilanz erscheint es müßig, darüber zu<br />

streiten, ob in den neuen Ländern tatsächlich die „blühenden<br />

Landschaften“ entstanden sind, die Helmut Kohl<br />

1990 versprochen hat. Selbst der Altkanzler hat inzwischen<br />

eingeräumt, über den wahren Zustand der DDR zu<br />

wenig gewusst zu haben. Es gab keinen Masterplan für<br />

die Einheit, den man nur aus der Schublade hätte ziehen<br />

müssen. Deswegen waren Fehler im Einzelnen nicht zu<br />

vermeiden.<br />

Kritiker halten der Kohl­Regierung vor, die Höhe der Vereinigungskosten<br />

verschleiert zu haben, als sie den größten<br />

Teil der Hilfsgelder für den Osten auf die Sozialkassen<br />

abgewälzt habe. Nie wäre die Bereitschaft der Westdeutschen<br />

zu Steuererhöhungen für die Einheit größer gewesen<br />

als 1990, heißt es. Aber war der tatsächliche Aufwand<br />

damals wirklich absehbar? Nur wenige westdeutsche<br />

Fachleute hatten sich vor 1990 ein Bild vom tatsächlichen<br />

Zustand der Kombinate <strong>und</strong> „Volkseigenen Betriebe“ in<br />

der DDR machen können. Die offiziellen Statistiken des<br />

SED­Staates waren schöngefärbt, wie sich zeigen sollte.<br />

Kosten der <strong>Deutsche</strong>n Einheit<br />

Die Kosten der Einheit sind in regelmäßigen Abständen<br />

ein Streitpunkt geblieben. Die letzte offizielle Aufstellung<br />

ist über zehn <strong>Jahre</strong> alt. Dass die B<strong>und</strong>esregierung<br />

seitdem bewusst darauf verzichtet, ist vor allem der Tatsache<br />

geschuldet, dass sich viele Leistungen, die Ost wie<br />

West erhalten, nicht mehr gesondert erfassen lassen.<br />

Der B<strong>und</strong>eshaushalt ist nach sachlichen <strong>und</strong> nicht nach<br />

regionalen Gesichtspunkten gegliedert.<br />

Manche Medien haben mitunter H<strong>und</strong>erte Milliarden<br />

Euro <strong>und</strong>ifferenziert zusammenaddiert. Dabei wurden<br />

Leistungen wie Personalkosten des B<strong>und</strong>es oder Ausgaben<br />

für die B<strong>und</strong>eswehr mitgerechnet, denen Gegen­<br />

— Eine Zwischenbilanz


leistungen für ganz Deutschland gegenüberstehen.<br />

Oder Leistungen, die auf einer b<strong>und</strong>eseinheitlichen<br />

Rechtsgr<strong>und</strong>lage gewährt werden, also keine spezifische<br />

Förderung der neuen Länder darstellen – etwa im Bereich<br />

des Länderfinanzausgleichs <strong>und</strong> der Sozialversicherung.<br />

Teilweise blieb auch verschwiegen, wie viele Steuern <strong>und</strong><br />

Beiträge die Menschen in den ostdeutschen Ländern<br />

erbracht haben. Oder man übersieht, wie viel die ostdeutschen<br />

Fachkräfte zur Wirtschaft in den westdeutschen<br />

Ländern beigetragen haben. Professor Ulrich Blum vom<br />

Institut für Wirtschaftsforschung in Halle schätzt, dass<br />

die Bürger, die seit der Wiedervereinigung in den Westen<br />

abgewandert sind, dort jährlich ein Sozialprodukt<br />

von 60 bis 70 Milliarden Euro erwirtschaften.<br />

Auch nicht zu vergessen ist, dass die Gelder letztendlich<br />

in ganz Deutschland zu zusätzlicher Produktion geführt<br />

haben; westdeutsche Unternehmen konnten von heute<br />

auf morgen neue Absatzmärkte erschließen <strong>und</strong> ihre<br />

Produkte an viel mehr Menschen verkaufen.<br />

Die Diskussion um die Kosten der Einheit ist müßig<br />

geworden, da heute niemand mehr genau sagen kann,<br />

wo der Westen aufhört <strong>und</strong> der Osten anfängt.<br />

Kontroverse Debatte über den<br />

Einigungsprozess<br />

Die zwei Jahrzehnte Vereinigungsgeschichte haben eine<br />

Reihe von Irrtümern hervorgebracht. So werden nach<br />

wie vor gerne Solidarpakt <strong>und</strong> Solidaritätszuschlag verwechselt.<br />

Der Zuschlag in Höhe von 5,5 Prozent auf die<br />

Einkommen­, Kapitalertrag­ sowie Körperschaftsteuer<br />

wurde 1991 eingeführt <strong>und</strong> unter anderem mit der Finanzierung<br />

der Aufbauleistungen im Osten begründet. Das<br />

mag manche Westdeutsche zu dem Glauben verleitet<br />

108


haben, nur sie hätten den „Soli“ zu zahlen. Tatsächlich<br />

wird der Zuschlag sowohl im Westen als auch im Osten<br />

erhoben. Zunächst galt er für ein Jahr, wurde aber 1995<br />

erneut eingeführt. Sein Aufkommen wird in diesem Jahr<br />

voraussichtlich zwölf Milliarden Euro betragen <strong>und</strong> liegt<br />

damit r<strong>und</strong> zwei Milliarden Euro niedriger als die Aufbauleistungen<br />

des B<strong>und</strong>es für den Osten, die im Rahmen<br />

des Solidarpaktes II vorgesehen sind.<br />

Der Solidarpakt II ist der Finanzrahmen für die Aufbauleistungen<br />

des B<strong>und</strong>es in Ostdeutschland. Er soll es<br />

ermöglichen, dass die ostdeutschen Länder ihre Infrastruktur<br />

an das westdeutsche Niveau anpassen <strong>und</strong> die –<br />

auch nach dem Länderfinanzausgleich – unterproportionale<br />

Finanzkraft ihrer Kommunen aufstocken können.<br />

Darüber hinaus soll – unter anderem durch Investitions­<br />

<strong>und</strong> Innovationsförderung – die Wirtschaftskraft so<br />

gestärkt werden, dass die neuen Länder wirtschaftlich<br />

auf eigenen Beinen stehen <strong>und</strong> ohne besondere Hilfen<br />

auskommen, wenn die Vereinbarung <strong>20</strong>19 ausläuft.<br />

Darin sind sich B<strong>und</strong> <strong>und</strong> Länder einig.<br />

Hauptaufgaben: Abbau der Arbeitslosigkeit,<br />

Stärkung der Wirtschaftskraft, Gestaltung<br />

der Folgen des demografischen Wandels<br />

Eine Hauptaufgabe für die neuen Länder bleibt der<br />

Abbau der immer noch deutlich höheren Arbeitslosigkeit.<br />

Sie hat in den letzten <strong>Jahre</strong>n bereits deutlich abgenommen.<br />

Nicht zuletzt aufgr<strong>und</strong> der Bevölkerungsentwicklung<br />

hat sie sich bereits ein Stück weit dem<br />

geringeren westdeutschen Niveau angenähert.<br />

Auch bei der Anpassung der Wirtschaftskraft gibt es<br />

positive Perspektiven, wenn man realistische Erfolgsmaßstäbe<br />

zugr<strong>und</strong>e legt. So kommt eine Studie des<br />

Kölner Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) zu dem<br />

— Eine Zwischenbilanz


Stadtumbau in der Lutherstadt<br />

Eisleben: R<strong>und</strong> um Martin<br />

Luthers Geburtshaus ist ein<br />

attraktives Wohn- <strong>und</strong> Lebensumfeld<br />

entstanden.<br />

Ergebnis, dass die neuen Länder in r<strong>und</strong> zehn <strong>Jahre</strong>n die<br />

Wirtschaftskraft der strukturschwächeren alten Länder<br />

erreichen könnten, wenn die Wachstumstrends der letzten<br />

<strong>Jahre</strong> anhalten.<br />

Mehr Arbeitsplätze <strong>und</strong> eine stärkere Wirtschaftskraft<br />

sind auch Voraussetzung, um die Abwanderung zu<br />

bremsen. Denn um zu bleiben, brauchen junge Leute<br />

in ihrer Umgebung in der Regel ähnliche berufliche<br />

P erspektiven wie anderswo.<br />

Ein struktureller Nachteil für den Aufbau Ost, der sich<br />

nur allmählich überwinden lässt, ist der geringe Anteil<br />

an Großunternehmen <strong>und</strong> Konzernzentralen. Damit<br />

verb<strong>und</strong>en ist auch, dass die Forschungszentren häufig<br />

weiter in den alten Ländern angesiedelt sind. Langsam,<br />

aber stetig entsteht jedoch eine leistungsfähige mittelständische<br />

Unternehmenslandschaft, die Anlass zu<br />

H offnung bietet.<br />

Die Bevölkerungsentwicklung in den neuen Ländern<br />

zeigt im Zeitraffer, worauf sich in Zukunft auch viele<br />

Regionen im Westen einstellen müssen. Deshalb können<br />

110


Die wieder aufgebaute Dresdner<br />

Frauenkirche<br />

die Lösungen, die die neuen Länder insbesondere zur<br />

Organisation der Daseinsvorsorge finden, richtungsweisend<br />

sein. Wie sind unter den Bedingungen einer<br />

alternden <strong>und</strong> abnehmenden Bevölkerung die technische<br />

<strong>und</strong> die soziale Infrastruktur zu gestalten? Wie lässt<br />

sich das Fachkräfteangebot sichern? Wie ist ein lebenswertes<br />

Umfeld zu bewahren? Die Lösungsansätze, die<br />

hierzu in den neuen Ländern entwickelt werden, stoßen<br />

b<strong>und</strong>esweit auf großes Interesse. Ein Beispiel dafür ist die<br />

im April <strong>20</strong>10 eröffnete Internationale Bauausstellung<br />

Stadtumbau Sachsen­Anhalt.<br />

Gesellschaftlichen Zusammenhalt stärken<br />

Zu den Erfahrungen des Einigungsprozesses gehört,<br />

dass in Zeiten gravierender sozialer <strong>und</strong> ökonomischer<br />

Veränderungen der Erhalt des gesellschaftlichen Zusammenhalts<br />

unserer besonderen Fürsorge bedarf.<br />

Inzwischen gibt es in den neuen Ländern viele Projekte<br />

des bürgerschaftlichen Engagements, in denen „Zukunft<br />

erf<strong>und</strong>en“ wird. Bürgerarbeit, Bürgerbusse <strong>und</strong> Bürgerstiftungen<br />

sind einige der Formen, mit denen die Menschen<br />

auf kreative <strong>und</strong> neue Art Verantwortung für ihr<br />

Gemeinwesen wahrnehmen.<br />

Neue Formen bürgerschaftlichen Engagements sind<br />

auch in Zukunft gefragt, da der Staat nicht mehr auf alle<br />

Fragen Antworten geben kann. Viele Zukunftsideen für<br />

das mecklenburgische Dorf oder die sächsische Kleinstadt<br />

lassen sich nur vor Ort finden, nicht in den Regierungszentralen<br />

von B<strong>und</strong> <strong>und</strong> Ländern.<br />

Dazu zählt auch ein entschiedenes Eintreten gegen Extremismus<br />

<strong>und</strong> gewaltsame Übergriffe auf Andersdenkende.<br />

Bürgerbündnisse <strong>und</strong> Bürgerinitiativen in Dresden,<br />

Jena, Pirna <strong>und</strong> vielen anderen Orten haben gezeigt,<br />

dass die Menschen in den neuen Ländern entschlossen<br />

— Eine Zwischenbilanz


Die Altstadtbrücke, die den<br />

deutschen <strong>und</strong> den polnischen<br />

Teil von Görlitz verbindet<br />

<strong>und</strong> in der Lage sind, die Werte <strong>und</strong> Traditionen der<br />

Friedlichen Revolution des <strong>Jahre</strong>s 1989 zu verteidigen.<br />

<strong>Deutsche</strong> Einheit bleibt ein Gewinn<br />

<strong>20</strong> <strong>Jahre</strong> nach der Wiedervereinigung ist eine junge<br />

Generation herangewachsen. Sie ist in ein Deutschland<br />

geboren, in dem alle Menschen in Freiheit leben. Das<br />

Ende von Mauer, Stacheldraht <strong>und</strong> Schießbefehl hat den<br />

Weg in die Zukunft eröffnet.<br />

Die jungen <strong>Deutsche</strong>n stehen inzwischen vor neuen Herausforderungen.<br />

Die Dimension dieser Aufgaben ist nicht<br />

geringer als die bei der Gestaltung der deutschen Einheit<br />

in den letzten zwanzig <strong>Jahre</strong>n.<br />

Der frei gewählte DDR­Ministerpräsident Lothar de Maizière<br />

hat mehrmals darauf hingewiesen, die Teilung lasse<br />

sich nur durch Teilen überwinden. Und das ist im weitesten<br />

Sinne zu verstehen. Auch die Bevölkerung in den<br />

alten Ländern wird bei genauerem Hinsehen feststellen,<br />

dass sich nach <strong>20</strong> <strong>Jahre</strong>n Vereinigungsgeschichte nicht<br />

nur der Osten verändert hat.<br />

Dabei ist unstrittig, dass den Menschen in den neuen<br />

Ländern am meisten abverlangt wurde. Dennoch bedeutet<br />

die <strong>Deutsche</strong> Einheit etwas anderes als nur die Fortsetzung<br />

der alten B<strong>und</strong>esrepublik in größerem Rahmen. Es<br />

ist ein neues Deutschland entstanden. Ein Deutschland,<br />

das zum ersten Mal in seiner gesamten Geschichte in<br />

Freiheit, Einheit <strong>und</strong> in Frieden mit allen seinen Nachbarn<br />

lebt <strong>und</strong> dadurch eine tragfähige Brücke zwischen<br />

West­ <strong>und</strong> Osteuropa bildet.<br />

112


Bildnachweis<br />

Armin Kühne (73 o., 73 M.), BMU/Transit/Busse (96 o.),<br />

B<strong>und</strong>esregierung/Bergmann (26), B<strong>und</strong>esregierung/<br />

Fassbender (34), B<strong>und</strong>esregierung/Lehnartz (17, 24 u.,<br />

25 u., 73 u.l., 88), B<strong>und</strong>esregierung/Pfeil (27 o.), B<strong>und</strong>es­<br />

regierung/Reineke (19, 27 u., 28 u.), B<strong>und</strong>esregierung/<br />

Schaack (12 o.), B<strong>und</strong>esregierung/Schambeck (25 M.,<br />

57), B<strong>und</strong>esregierung/Schütz (10 u.), B<strong>und</strong>esregierung/<br />

Stutterheim (38, 58), B<strong>und</strong>esregierung/Thurn (39 o.),<br />

B<strong>und</strong>eswehr (37), Burkhard Peter (59 u., 73 u.r., 76, 89,<br />

98), Dr. Heinz Löster (15), IBA Büro­GbR (110), Jochen<br />

Eckel (68, 81 u.), KI.KA/Feske (39 u.), Laif/Buessemeier<br />

(104/105), Laif/Elleringmann (67), Laif/Eisermann (82),<br />

Laif/hemis.fr/Mattes (111), Laif/Zenit/Langrock (90 M.),<br />

Laurence Chaperon (6, 7), Ostkreuz/Mahler (50/51,<br />

90 o.), Peter Wensierski (43), Picture­alliance/AKG<br />

(48 o.), Picture­alliance/dpa (23, 91), Picture­alliance/<br />

dpa/Bein (70/71), Picture­alliance/dpa/Endig (48 u., 99),<br />

Picture­alliance/dpa/Grubitzsch (74, 79), Picture­<br />

alliance/dpa/Henkel (59 M.), Picture­alliance/dpa/<br />

Hirschberger (54), Picture­alliance/dpa/Jensen (44),<br />

Picture­alliance/dpa/Jung (28 o.), Picture­alliance/dpa/<br />

Kalaene (92), Picture­alliance/dpa/Kasper (64 u., 78,<br />

84), Picture­alliance/dpa/Kühl (72), Picture­alliance/<br />

dpa/Kumm (21, 25 o., 36), Picture­alliance/dpa/Leh­<br />

mann (53), Picture­alliance/dpa/Link (101 o.), Picture­<br />

alliance/dpa/Pleul (64 M.), Picture­alliance/dpa/Sauer<br />

(77), Picture­alliance/dpa/Schindler (64 o.), Picture­<br />

alliance/dpa/Schutt (69, 85), Picture­ alliance/dpa/<br />

Thieme (101 u.), Picture­alliance/dpa/Witten burg<br />

(90 u.), Picture­alliance/dpa/Wüstneck (75, 96 u.),<br />

Rainer Weisflog (35, 100), Reuters (<strong>20</strong> o.), Rolf Zöllner<br />

(41), Sebastian Bolesch (47, 63, 97, 107), Steffen Giersch<br />

(95 u.), Transit/Busse (112), Transit/Eisler (95 o.), Transit/<br />

Kirschner (<strong>20</strong> u.), Ulf Dieter (59 o., 95 M.), Ullstein (10 o.),<br />

Ullstein/ADN­Bildarchiv (18, 24 o.), Ullstein/AP (13), Ull­<br />

stein/Bodig (Titel), Ullstein/CARO/Muhs (49), Ullstein/<br />

ddrbildarchiv.de (81 o.), Ullstein/dpa (14 o., 42), Ullstein/<br />

Ritter (9), Ullstein/Schraps (16), Ullstein/Werek (14 u.),<br />

Visum/ Steche (12 u.)


Impressum<br />

Herausgeber<br />

Stand<br />

Juni <strong>20</strong>10<br />

Druck<br />

Silber Druck oHG, Niestetal<br />

Gestaltung<br />

MetaDesign AG, Berlin<br />

Publikationsversand der B<strong>und</strong>esregierung<br />

Postfach 48 10 09<br />

18132 Rostock<br />

Servicetelefon: 0180/577 8090<br />

Servicefax: 0180/577 8094<br />

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<strong>und</strong> max. 42 Cent pro Minute aus dem Mobilfunk<br />

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Internet: www.b<strong>und</strong>esregierung.de<br />

Diese <strong>Broschüre</strong> ist Teil der Öffentlichkeitsarbeit der B<strong>und</strong>esregierung.<br />

Sie wird kostenlos abgegeben <strong>und</strong> ist nicht zum Verkauf bestimmt.<br />

Sie darf weder von Parteien noch von Wahlbewerberinnen <strong>und</strong> Wahlbewerbern<br />

oder Wahlhelferinnen <strong>und</strong> Wahlhelfern während eines<br />

Wahlkampfes zum Zwecke der Wahlwerbung verwendet werden.<br />

Dies gilt für Europa­, B<strong>und</strong>estags­, Landtags­ <strong>und</strong> Kommunalwahlen.


Mehr Informationen unter:<br />

www.b<strong>und</strong>esregierung.de<br />

Informationen zu den Jubiläen<br />

60 <strong>Jahre</strong> B<strong>und</strong>esrepublik Deutschland<br />

<strong>20</strong> <strong>Jahre</strong> Friedliche Revolution <strong>und</strong> <strong>Deutsche</strong> Einheit:<br />

www.freiheit-<strong>und</strong>-einheit.de<br />

Magazin für Infrastruktur <strong>und</strong> neue Länder<br />

Kostenloses Abonnement unter:<br />

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