Stille Helfer: Die Quäker in der NS-Zeit
Stille Helfer: Die Quäker in der NS-Zeit
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DER MAXVORSTÄDTER – ONLINE<br />
Informationen<br />
des Bezirksausschusses 3<br />
Maxvorstadt<br />
Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus 2009<br />
<strong>Die</strong>nstag, 27. Januar 2009<br />
Ausgabe 1 (2009))<br />
<strong>Stille</strong> <strong>Helfer</strong>: <strong>Die</strong> <strong>Quäker</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>NS</strong>-<strong>Zeit</strong><br />
Das Hilfsnetz von Annemarie und Rudolf Cohen <strong>in</strong> München<br />
Gedenkveranstaltung<br />
des Bezirksausschusses Maxvorstadt<br />
Angeregt und gestaltet<br />
von<br />
Klaus Bäumler<br />
Herausgegeben<br />
von<br />
Oskar Holl<br />
München 2009
© 2009 bei den Autoren<br />
Herausgegeben vom Bezirksausschuss 3 Maxvorstadt<br />
Geschäftsstelle: Tal 13, 80331 München<br />
Bürgerbüro: Schell<strong>in</strong>gstraße 28a, 80798 München<br />
Verantwortlich: Dr. Oskar Holl<br />
Beim Zitieren bitte Quelle angeben:<br />
Oskar Holl (Hg.), <strong>Stille</strong> <strong>Helfer</strong>: <strong>Die</strong> <strong>Quäker</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>NS</strong>-<strong>Zeit</strong>.<br />
In: Der Maxvorstädter – Onl<strong>in</strong>e. München 2009<br />
URL: http://www.muenchen.<strong>in</strong>fo/ba/03/ba_<strong>in</strong>fo/docs/<strong>Stille</strong><strong>Helfer</strong>.pdf<br />
2
I n h a l t<br />
Oskar Holl, Begrüßung und Dank 5<br />
Klaus Bäumler, <strong>Stille</strong> <strong>Helfer</strong>: <strong>Die</strong> <strong>Quäker</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>NS</strong>-<strong>Zeit</strong><br />
Das Hilfsnetz von Annemarie und Rudolf Cohen <strong>in</strong> München 7<br />
Peter Zahn, Annemarie und Rudolf Cohen <strong>in</strong> München:<br />
Hilfe für Verfolgte 1938-1940 11<br />
Rudolf Cohen, Er<strong>in</strong>nerungen 27<br />
Gedenktag 27. Januar 2009, Programm 36<br />
3
Begrüßung zum Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus<br />
am 27. Januar 2009<br />
Sehr geehrte Damen und Herren,<br />
im Namen des Bezirksausschusses Maxvorstadt<br />
begrüße ich Sie alle sehr herzlich bei unserer<br />
diesjährigen Feier zum Gedenktag für die Opfer<br />
des Nationalsozialismus. Der Bezirksausschuss<br />
Maxvorstadt begeht diesen Gedenktag alljährlich<br />
seit 1996, <strong>in</strong> diesem Jahr also zum 13. Mal,<br />
und wir verdanken diese Initiative nicht nur <strong>in</strong><br />
den zurückliegenden 12 Jahren, son<strong>der</strong>n auch<br />
diesmal wie<strong>der</strong> Klaus Bäumler, dem langjährigen<br />
Vorsitzenden unseres Bezirksausschusses.<br />
Es ist das zweite Mal, dass wir diesen schönen<br />
Saal, den Fürstensaal <strong>der</strong> Bayerischen Staatsbibliothek,<br />
als Veranstaltungsort benützen dürfen,<br />
und darum geht <strong>der</strong> Dank des Bezirksausschusses<br />
auch ganz beson<strong>der</strong>s an Herrn<br />
Schnitzle<strong>in</strong>, den Leiter <strong>der</strong> Öffentlichkeitsarbeit<br />
<strong>in</strong> diesem Haus. Zugleich geht e<strong>in</strong> Gruß an das<br />
Haus selbst, das 2008, bis vor wenigen Wochen,<br />
se<strong>in</strong>en 450-jährigen Bestand mit e<strong>in</strong>em so<br />
bemerkenswerten Fest- und Wissenschaftsprogramm<br />
gefeiert hat.<br />
Mit dem Stichwort „Wissenschaft“ komme ich<br />
auch zu den Referenten des heutigen Abends<br />
und dem Ablauf, unter den unser Gedenken<br />
gestellt ist.<br />
Nach dem Vortrag von Klaus Bäumler über die<br />
<strong>Quäker</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>NS</strong>-<strong>Zeit</strong> ergreifen zwei Wissenschaftler<br />
das Wort, die – <strong>der</strong> e<strong>in</strong>e aus mehr wissenschaftlicher,<br />
<strong>der</strong> an<strong>der</strong>e aus sehr persönlicher<br />
Perspektive – zum Thema sprechen werden.<br />
Herr Professor Peter Zahn hat sich mit den<br />
glücklicherweise erhaltenen Aufzeichnungen<br />
des <strong>in</strong> München lebenden und wirkenden Ehepaares<br />
Rudolf und Annemarie Cohen als Historiker,<br />
<strong>der</strong> er ist, beschäftigt und die Fassung,<br />
aus <strong>der</strong> wir heute schöpfen, aus <strong>der</strong> <strong>in</strong> deutscher<br />
Schreibschrift gehaltenen Handschrift<br />
transkribiert.<br />
Herr Zahn, Nürnberger vom Jahrgang 1936,<br />
hat e<strong>in</strong>e ganze Reihe von Geisteswissenschaften<br />
mit den Schwerpunkten Germanistik und<br />
Geschichte <strong>in</strong> München und Paris studiert, war<br />
nach se<strong>in</strong>er Promotion Wissenschaftlicher Mitarbeiter<br />
bei <strong>der</strong> Bayerischen Akademie <strong>der</strong> Wissenschaft<br />
und widmete sich fast 20 Jahre lang,<br />
Von Oskar Holl<br />
von 1968 bis 1987, dem Staatlichen und Städtischen<br />
Bibliothekswesen. Daneben war er Lehrbeauftragter<br />
an <strong>der</strong> Ludwig-Maximilians-<br />
Universität, bis er im Jahre 1987 e<strong>in</strong>en Ruf <strong>der</strong><br />
Freien Universität Berl<strong>in</strong> im Fachbereich Kommunikationswissenschaften<br />
am Institut für Bibliothekswissenschaft<br />
und Bibliothekarausbildung<br />
annahm, e<strong>in</strong>e Position, die mit <strong>der</strong> Zusammenlegung<br />
<strong>der</strong> entsprechenden Fachbereiche 1994<br />
an die Humboldt-Universität zu Berl<strong>in</strong> überg<strong>in</strong>g.<br />
Herr Zahn war <strong>in</strong> vielen Instituts- und Fakultätsräten<br />
tätig und kehrte nach se<strong>in</strong>er Emeritierung<br />
Ende 1998 nach München zurück. Seitdem befasst<br />
er sich ehrenamtlich mit <strong>der</strong> Edition <strong>der</strong><br />
Inschriften se<strong>in</strong>er Vaterstadt Nürnberg und ist<br />
bei <strong>der</strong> Bayerischen Akademie <strong>der</strong> Wissenschaften<br />
Mitglied <strong>der</strong> Kommission für die Herausgabe<br />
<strong>der</strong> Deutschen Inschriften des Mittelalters und<br />
<strong>der</strong> Frühen Neuzeit.<br />
Herr Professor Rudolf Cohen ist <strong>der</strong> Sohn des<br />
<strong>Quäker</strong>ehepaares, das wir <strong>in</strong> unserer Gedenkstunde<br />
heute ehren werden. Er selbst hatte zunächst<br />
e<strong>in</strong>e Ausbildung zum Volksschullehrer an<br />
<strong>der</strong> Lehrerbildungsanstalt <strong>in</strong> München-Pas<strong>in</strong>g,<br />
studierte anschließend <strong>in</strong> München und Hamburg<br />
Psychologie, war <strong>in</strong> Hamburg<br />
wissenschaftlicher Assistent unter an<strong>der</strong>em bei<br />
dem bekannten Psychologen Peter R. Hofstätter<br />
und übernahm nach e<strong>in</strong>er kurzen Tätigkeit am<br />
Max-Planck-Institut für Psychiatrie <strong>in</strong> München<br />
e<strong>in</strong>en Lehrstuhl für Psychologie an <strong>der</strong> damals<br />
neugegründeten Universität Konstanz. Von dort<br />
aus betreute er über 30 Jahre lang e<strong>in</strong>e Forschungsstation<br />
im Psychiatrischen Landeskrankenhaus<br />
Reichenau.<br />
<strong>Die</strong> Schwerpunkte se<strong>in</strong>er Arbeit lagen <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />
Neurospychologie von Schizophrenie und Aphasie.<br />
Herr Cohen war Theodor-Heuss-Professor<br />
an <strong>der</strong> New School of Social Research <strong>in</strong> New<br />
York, Vizepräsident <strong>der</strong> Deutschen Forschungsgeme<strong>in</strong>schaft<br />
und Rektor <strong>der</strong> Universität Konstanz.<br />
Wir freuen uns, zwei so prom<strong>in</strong>ente und vielfach<br />
engagierte Gelehrte heute hören zu dürfen.<br />
Und ich verschweige nicht, dass wir dies e<strong>in</strong>em<br />
Mann verdanken, den ich allerd<strong>in</strong>gs jetzt<br />
nicht mehr mit e<strong>in</strong>er wissenschaftlichen Vita<br />
5
vorstellen werde, wiewohl dies auch bei ihm e<strong>in</strong><br />
Leichtes wäre – unserem hier gar nicht wegzudenkenden<br />
Klaus Bäumler.<br />
Denn ihn kennen hier so gut wie alle im Saal,<br />
und jenen wenigen, die das vielleicht noch nicht<br />
tun, kann ich nur empfehlen, das rasch nachzuholen:<br />
beispielsweise jetzt gleich im Anhören<br />
se<strong>in</strong>es Vortrages über die <strong>Quäker</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>NS</strong>-<br />
<strong>Zeit</strong>.<br />
Zwei D<strong>in</strong>ge noch: Wenn wir heute Bachs Solosonate<br />
BWV 1001 hören, vorgetragen von Naoya<br />
Nishimura, dem Interpreten, den wir schon<br />
zum zweiten Mal begrüßen dürfen, dann sei<br />
daran er<strong>in</strong>nert, dass dieser 27. Januar nicht nur<br />
e<strong>in</strong>er <strong>der</strong> schwierigsten Gedenktage <strong>in</strong> <strong>der</strong> jüngeren<br />
deutschen Geschichte ist, son<strong>der</strong>n auch<br />
<strong>der</strong> Geburtstag e<strong>in</strong>es <strong>der</strong> Größten unserer klassischen<br />
Musik, nämlich <strong>der</strong> von Wolfgang Amadeus<br />
Mozart. Und so erlaubt <strong>der</strong> Tag, an dem<br />
In-sich-Gehen, Trauer, ja Scham geboten<br />
6<br />
s<strong>in</strong>d, auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite auch durch die<br />
consolatio musicae, die m<strong>in</strong>destens ebenso<br />
tröstend ist wie die sprichwörtliche Tröstung <strong>der</strong><br />
Philosophie des Boethius, etwas ganz an<strong>der</strong>es.<br />
Etwas, das den Menschen über den Tag h<strong>in</strong>aus<br />
am Leben erhält: Hoffnung. Es ist – und zwar<br />
ganz im Gegensatz zu <strong>der</strong> im 20. Jahrhun<strong>der</strong>t<br />
entfesselten menschlichen Destruktivität, von<br />
<strong>der</strong> Erich Fromm so hellsichtig gesprochen hat –<br />
die Hoffnung an das Gute, von dem wir heute<br />
hören werden.<br />
Und als Letztes, nur im S<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>es H<strong>in</strong>weises:<br />
Herr Dr. Andreas Heusler vom Stadtarchiv München<br />
wird die Freundlichkeit haben, am Ende<br />
<strong>der</strong> Vorträge Nachfragen <strong>der</strong> Zuhörer aufzunehmen<br />
und das Gespräch zu mo<strong>der</strong>ieren.<br />
Ich danke schon jetzt allen, die sich – redend<br />
o<strong>der</strong> zuhörend – an diesem Abend beteiligen.
<strong>Stille</strong> <strong>Helfer</strong>: <strong>Die</strong> <strong>Quäker</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>NS</strong>-<strong>Zeit</strong><br />
Das Hilfsnetz von Annemarie und Rudolf Cohen <strong>in</strong> München<br />
Me<strong>in</strong>e sehr geehrten Damen und Herren,<br />
am heutigen Tag und mit <strong>der</strong> heutigen Veranstaltung<br />
gedenken wir <strong>der</strong> Opfer des Nationalsozialismus,<br />
gedenken <strong>der</strong> sechs Millionen<br />
Menschen, die von 1933-1945 ermordet wurden.<br />
Wir er<strong>in</strong>nern zugleich an das Leid <strong>der</strong><br />
Überlebenden, die emigrieren mußten, ihre Heimat<br />
verloren haben.<br />
Wir er<strong>in</strong>nern an den Schmerz jener Menschen,<br />
die überlebten, aber ihre Familien und<br />
engsten Angehörigen verloren haben.<br />
Bis heute stellt sich die Frage: Wie konnte<br />
dies alles geschehen? Und immer wie<strong>der</strong> hört<br />
man diese Antworten: Wir wußten nichts … Es<br />
gab ke<strong>in</strong>e Möglichkeit zu helfen. Das Risiko war<br />
zu groß...“<br />
Aber: Gab es wirklich ke<strong>in</strong>e Hilfsmöglichkeiten?<br />
War für Zivilcourage wirklich ke<strong>in</strong> Raum?<br />
Heute wissen wir: Es gab Menschen, die nicht<br />
weggeschaut haben. Es gab Menschen, die die<br />
Not erkannten und halfen. Es gab Menschen,<br />
die mit Zivilcourage, mit dem „Mut des Bürgers“,<br />
von Deportation und Massenmord bedrohten<br />
Mitbürgern halfen und das Risiko für die eigene<br />
Person, für die eigene Familie nicht scheuten…<br />
<strong>Die</strong> Unterschlupf und Versteck gewährten, die<br />
mit falschen Papieren, die mit Lebensmitteln<br />
halfen, die mit Rat und Tat die Ausreisebemühungen<br />
unterstützten. Man geht davon aus, daß<br />
<strong>in</strong> ganz Deutschland etwa 3 000 Menschen im<br />
Untergrund überleben konnten. Wer Verfolgten<br />
half, mußte spätestens ab 1941 mit KZ-Haft<br />
rechnen, da die Unterstützung von Verfolgten<br />
als „Mißachtung <strong>der</strong> staatlichen Maßnahmen“<br />
galt.<br />
In Yad Vashem wird <strong>der</strong> Ermordeten gedacht.<br />
Es wird aber auch an Menschen er<strong>in</strong>nert, die<br />
unter E<strong>in</strong>satz ihres Lebens geholfen haben.<br />
Über zweiundzwanzigtausend Frauen und Männer<br />
vieler Nationalitäten werden <strong>in</strong> Yad Vashem<br />
als „Gerechte unter den Völkern“ geehrt. Darunter<br />
<strong>der</strong> japanische Diplomat Chu<strong>in</strong>e Sugihara,<br />
<strong>der</strong> <strong>in</strong> Kaunas, dem heutigen Kowno, 1940 entgegen<br />
<strong>der</strong> Weisung se<strong>in</strong>er Regierung für 6 000<br />
Von Klaus Bäumler<br />
Menschen E<strong>in</strong>reisevisa nach Japan ausstellte<br />
und sie damit vor dem sicheren Tod bewahrte.<br />
Darunter <strong>der</strong> Amerikaner Varian Fry, <strong>der</strong> <strong>in</strong><br />
Marseille Verfolgten die Flucht aus dem besetzten<br />
Frankreich ermöglichte.<br />
Darunter Gertrud Luckner, auf <strong>der</strong>en Beziehung<br />
zu München und zu Annemarie Cohen ich<br />
noch zu sprechen komme.<br />
Derzeit werden über 400 Deutsche <strong>in</strong> Yad<br />
Vashem als „Gerechte unter den Völkern“ geehrt.<br />
Wer waren diese vierhun<strong>der</strong>t Deutschen?<br />
Wer kennt sie?<br />
Im Oktober letzten Jahres wurde <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> die<br />
Gedenkstätte „<strong>Stille</strong> Helden“ eröffnet. Es wird<br />
dort an jene Menschen er<strong>in</strong>nert, die <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>NS</strong>-<br />
<strong>Zeit</strong> nicht „wegschauten“ son<strong>der</strong>n geholfen haben.<br />
In Berl<strong>in</strong> gelang es etwa 1 700 Menschen als<br />
sog. Untergetauchte zu überleben, mit <strong>der</strong> Hilfe<br />
von Menschen, die das eigene Risiko nicht<br />
scheuten.<br />
<strong>Die</strong>se neue Gedenkstätte macht deutlich:<br />
Um zu helfen, mußten viele Kontakte geknüpft<br />
werden, vorhandene Netzwerke genutzt o<strong>der</strong><br />
neue geschaffen werden. Netzwerke im lokalen<br />
Bereich, im regionalen Bereich, Netzwerke <strong>in</strong><br />
Deutschland, <strong>in</strong> Europa und bis <strong>in</strong> die USA.<br />
Netzwerke, die von Menschen geschaffen wurden,<br />
die aus humanitären Gründen handelten,<br />
ohne Vorurteile, ohne Ansehen von Religion und<br />
über Parteigrenzen h<strong>in</strong>weg.<br />
Wie vielen Menschen so die rettende Flucht<br />
gelang, darüber gibt es ke<strong>in</strong>e zuverlässigen<br />
Zahlen. Aber auch hier gilt: „Wer auch nur e<strong>in</strong>en<br />
Menschen rettet, rettet die ganze Welt.“<br />
Warum wissen wir bis heute so wenig über<br />
diese humanitäre Hilfe?<br />
Viele <strong>der</strong> „stillen <strong>Helfer</strong>“ haben nach 1945 geschwiegen,<br />
da sie ihre Hilfe als selbstverständlich<br />
angesehen haben. Aber auch die sog. „öffentliche<br />
Me<strong>in</strong>ung“ war über Jahrzehnte h<strong>in</strong>weg<br />
aus naheliegenden Gründen nicht <strong>in</strong>teressiert.<br />
Zumeist fehlen auch schriftliche Aufzeichnungen,<br />
wodurch dokumentarische Recherchen<br />
sehr erschwert wurden und werden.<br />
7
E<strong>in</strong> beson<strong>der</strong>er Glücksfall ist es, daß sich e<strong>in</strong>e<br />
authentische Quelle über die Hilfstätigkeit <strong>der</strong><br />
<strong>Quäker</strong>, <strong>der</strong> „Religiösen Gesellschaft <strong>der</strong> Freunde“,<br />
wie sie offiziell heißen, <strong>in</strong> München erhalten<br />
hat.<br />
E<strong>in</strong>ige von Ihnen er<strong>in</strong>nern sich noch an den<br />
Vortrag von Dirk Schönlebe zum Gedenktag für<br />
die Opfer des Nationalsozialismus 2006, „Von<br />
ihren Kirchen verlassen und vergessen? Zum<br />
Schicksal Christen jüdischer Herkunft im München<br />
<strong>der</strong> <strong>NS</strong>-<strong>Zeit</strong>“.<br />
Schönlebe kam <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Magisterarbeit zum<br />
Ergebnis: „<strong>Die</strong> Hilfe, welche die <strong>Quäker</strong> Annemarie<br />
und Rudolf Cohen leisteten, läßt sich nur<br />
auf Umwegen nachzeichnen, da ke<strong>in</strong> Nachlaß<br />
<strong>der</strong> Cohens bekannt ist und auch ke<strong>in</strong>e<br />
Nachkommen ermittelt werden konnten.“<br />
Es gibt aber Nachkommen des Ehepaars Cohen,<br />
und es gibt auch e<strong>in</strong>en Nachlaß <strong>der</strong> Cohens.<br />
2006 übergab Professor Cohen die Aufzeichnungen<br />
se<strong>in</strong>es Vaters im Münchner Stadtarchiv<br />
an Dr. Andreas Heusler. <strong>Die</strong>se Aufzeichnungen<br />
s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong>e wertvolle zeitgeschichtliche Quelle für<br />
München und darüber h<strong>in</strong>aus.<br />
Sie dokumentieren die humanitäre Hilfe von<br />
Annemarie und Rudolf Cohen, dokumentieren<br />
erfolgreiche und auch gescheiterte Rettungsversuche<br />
<strong>in</strong> München.<br />
Zunächst aber e<strong>in</strong>ige Informationen über die<br />
„Religiöse Gesellschaft <strong>der</strong> Freunde“, kurz <strong>Quäker</strong><br />
genannt, die für ihr humanitäres Wirken <strong>in</strong><br />
aller Welt während <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong> von 1933-1945 mit<br />
dem Friedens-Nobelpreis 1947 ausgezeichnet<br />
wurden.<br />
Das Selbstverständnis <strong>der</strong> <strong>Quäker</strong> ist geprägt<br />
von absoluter Gewaltlosigkeit und großer humanitärer<br />
Hilfsbereitschaft. <strong>Die</strong> <strong>Quäker</strong> engagieren<br />
sich für soziale Gerechtigkeit und s<strong>in</strong>d überzeugte<br />
Pazifisten.<br />
Als christliche Laiengeme<strong>in</strong>schaft, ohne hierarchisch-zentralistische<br />
Struktur, ohne religiösen<br />
o<strong>der</strong> weltanschaulichen Fundamentalismus,<br />
setzen sich die <strong>Quäker</strong> auch heute noch weltweit<br />
für soziale Gerechtigkeit, Frieden und Menschenrechte<br />
e<strong>in</strong>.<br />
Weltweit zählen die <strong>Quäker</strong> über 300 000 Mitglie<strong>der</strong>,<br />
davon z.B. etwa 100 000 <strong>in</strong> Amerika, 18<br />
000 <strong>in</strong> England, etwa 120 000 <strong>in</strong> Afrika .<br />
Das „American Friends Service Committee“<br />
führt Projekte <strong>in</strong> über zwanzig Län<strong>der</strong>n <strong>der</strong> Welt<br />
8<br />
durch und verfügt über e<strong>in</strong> Jahresbudget von 42<br />
Millionen Dollar.<br />
<strong>Die</strong> <strong>Quäker</strong>-Bewegung entstand Mitte des 17.<br />
Jahrhun<strong>der</strong>ts <strong>in</strong> England aus Protest gegen<br />
soziale und politische Ungleichheit und den<br />
Puritanismus. Um <strong>der</strong> Verfolgung zu entgehen,<br />
wan<strong>der</strong>ten viele <strong>Quäker</strong> nach Amerika aus. Der<br />
<strong>Quäker</strong> William Penn gründete um 1680 die<br />
Kolonie „Pennsylvania“, bis heute das Zentrum<br />
des <strong>Quäker</strong>tums <strong>in</strong> Nordamerika.<br />
In Deutschland wurde die <strong>Quäker</strong>-Bewegung<br />
<strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong> nach dem Ersten Weltkrieg durch die<br />
sog. <strong>Quäker</strong>-Speisung bekannt und geschätzt.<br />
1920 begannen amerikanische und englische<br />
<strong>Quäker</strong> unterernährte K<strong>in</strong><strong>der</strong> mit Essen zu versorgen.<br />
Täglich wurden Tausende deutscher<br />
K<strong>in</strong><strong>der</strong> verpflegt.<br />
Zur Koord<strong>in</strong>ation ihrer Hilfstätigkeit hatten die<br />
<strong>Quäker</strong> 1920 <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> e<strong>in</strong> „Internationales Sekretariat“<br />
e<strong>in</strong>gerichtet. Mit <strong>der</strong> sog. Machtergreifung<br />
1933 wurde dieses „Internationale <strong>Quäker</strong>-<br />
Center“ zu e<strong>in</strong>er wichtigen Anlaufstelle für verfolgte<br />
Menschen. Das Center übernahm auch<br />
die Betreuung von KZ-Häftl<strong>in</strong>gen und <strong>der</strong>en<br />
Angehörigen. Im Taunus wurde e<strong>in</strong> Erholungsheim<br />
für Verfolgte e<strong>in</strong>gerichtet.<br />
Schon im April 1933 gründeten die <strong>Quäker</strong> <strong>in</strong><br />
London das „German Emergency Committee“,<br />
das die Hilfsaktionen <strong>in</strong> Deutschland koord<strong>in</strong>ierte<br />
und zentral Informationen sammelte. Das<br />
<strong>Quäker</strong>-Center <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> bemühte sich ab 1935,<br />
vielen Menschen zur Emigration zu verhelfen.<br />
Dabei arbeiteten die <strong>Quäker</strong> mit jüdischen Hilfse<strong>in</strong>richtungen,<br />
aber auch mit katholischen und<br />
evangelischen Organisationen zusammen.<br />
Bei <strong>der</strong> Hilfe zur Emigration konnten die <strong>Quäker</strong><br />
ihr weltweites Netz von Kontaktpersonen<br />
nutzen. Sie hatten Büros <strong>in</strong> allen wichtigen Städten<br />
Europas, so <strong>in</strong> Paris, Marseille, Genf, Lissabon,<br />
Rom, Wien, Toulouse, aber auch <strong>in</strong> Tokio,<br />
Shanghai, Australien und Südafrika.<br />
Schwerpunkte <strong>der</strong> Hilfsmaßnahmen waren die<br />
Beschaffung von Visa und Bürgschaften, die<br />
Aufbr<strong>in</strong>gung von Reise- und Passkosten, die<br />
Suche nach Arbeitsplätzen im Ausland sowie<br />
die Umschulung von Erwachsenen und Jugendlichen.<br />
E<strong>in</strong>e Schlüsselfunktion kam den <strong>Quäker</strong>n<br />
1938 unmittelbar nach <strong>der</strong> Reichspogromnacht<br />
zu. Drei offizielle Vertreter <strong>der</strong> amerikanischen<br />
<strong>Quäker</strong> (Rufus Jones, George Walton und Ro-
ert Yarnall) reisten unmittelbar nach dem 10.<br />
November nach Berl<strong>in</strong>. Unter dem E<strong>in</strong>druck des<br />
Pogroms führten sie e<strong>in</strong> Gespräch im Berl<strong>in</strong>er<br />
Gestapo-Hauptquartier. Im Rahmen dieses Gesprächs<br />
wurde ihnen von <strong>der</strong> Gestapo zugesagt,<br />
daß Hilfsaktionen <strong>der</strong> <strong>Quäker</strong> für Juden nicht<br />
beh<strong>in</strong><strong>der</strong>t würden.<br />
Unmittelbar nach <strong>der</strong> Reichspogromnacht genehmigte<br />
die britische Regierung am 16. November<br />
1938 die E<strong>in</strong>reise von zehntausend sog.<br />
unbegleiteten K<strong>in</strong><strong>der</strong>n und Jugendlichen unter<br />
17 Jahren, überwiegend jüdischer Abstammung,<br />
aus Deutschland und den besetzten Gebieten.<br />
<strong>Die</strong> ersten K<strong>in</strong><strong>der</strong>transporte verließen Berl<strong>in</strong> am<br />
1. Dezember 1938, Wien am 10. Dezember.<br />
(H<strong>in</strong>weis auf Rahel Behrend-Rosenfeld, von <strong>der</strong><br />
wir durch Herrn Cohen sicher noch hören werden:<br />
Sie betreute die Münchner K<strong>in</strong><strong>der</strong>transporte.<br />
Wöchentlich fuhr e<strong>in</strong>e Münchner K<strong>in</strong><strong>der</strong>gruppe<br />
nach Frankfurt; sie begleitete die letzte Gruppe,<br />
die Ende August 39 München verließ.)<br />
Zum Gel<strong>in</strong>gen dieser Rettungsaktion haben<br />
die <strong>Quäker</strong> wesentlich beigetragen. <strong>Die</strong> letzte<br />
K<strong>in</strong><strong>der</strong>gruppe verließ Deutschland am 1. September<br />
1939, dem Tag des deutschen Angriffs<br />
auf Polen.<br />
Der Arbeit des <strong>Quäker</strong>-Büros Berl<strong>in</strong> konnte bis<br />
April 1945 aufrecht erhalten werden. Das Büro<br />
<strong>der</strong> <strong>Quäker</strong> wurde von <strong>der</strong> Gestapo ständig<br />
überwacht. E<strong>in</strong> Beispiel: Das mutige E<strong>in</strong>treten<br />
von Leonard Friedrich, Verwalter des <strong>Quäker</strong>-<br />
Hauses <strong>in</strong> Bad Pyrmont, für Juden und an<strong>der</strong>e<br />
Verfolgte hatte Konsequenzen. Friedrich war<br />
von Mai 1942 bis 1945 im KZ Buchenwald <strong>in</strong>haftiert.<br />
1941 war die legale Emigration aus Deutschland<br />
nicht mehr möglich.<br />
<strong>Die</strong> offizielle Hilfe <strong>der</strong> <strong>Quäker</strong> konzentrierte<br />
sich daher auf Paketsendungen <strong>in</strong> Lager und<br />
Ghettos. In vielen Fällen leisteten <strong>Quäker</strong> auch<br />
Hilfe zum Überleben im Untergrund.<br />
Beson<strong>der</strong>e Bedeutung erlangte <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong> ab<br />
1941 das „American Friends Service Committee“<br />
mit Sitz <strong>in</strong> Philadelphia. <strong>Die</strong>se <strong>Quäker</strong>-<br />
Organisation setzte sich im beson<strong>der</strong>en Maße<br />
für die Optimierung <strong>der</strong> E<strong>in</strong>reisemöglichkeiten <strong>in</strong><br />
die Vere<strong>in</strong>igten Staaten e<strong>in</strong>. Nach dem<br />
Kriegse<strong>in</strong>tritt <strong>der</strong> USA konnten zwischen Dezember<br />
1941 und Mai 1945 21 000 Flüchtl<strong>in</strong>ge<br />
aus Europa, überwiegend Juden, <strong>in</strong> die Vere<strong>in</strong>igten<br />
Staaten e<strong>in</strong>reisen.<br />
Durch den Ausbau <strong>der</strong> deutschen Macht- und<br />
Besatzungsstrukturen hatte sich die Situation<br />
<strong>der</strong> nach Frankreich, Spanien und Italien geflüchteten<br />
Emigranten erheblich verschlechtert.<br />
Das Committee verstärkte daher se<strong>in</strong>e Hilfe <strong>in</strong><br />
Frankreich und Spanien.<br />
Vor allem <strong>in</strong> <strong>der</strong> Schweiz nahm <strong>der</strong> Vertreter<br />
<strong>der</strong> <strong>Quäker</strong>, Roswald McClelland, e<strong>in</strong>e Schlüsselstelle<br />
e<strong>in</strong>. McClelland leitete das Flüchtl<strong>in</strong>gshilfsprogramm<br />
<strong>der</strong> <strong>Quäker</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Schweiz und<br />
koord<strong>in</strong>ierte das Hilfsprogramm <strong>der</strong> US-<br />
Regierung. Er hatte beste Beziehungen zu hohen<br />
Regierungsbeamten, aber auch zu Hilfs-<br />
und Fluchthilfeorganisationen, die wie<strong>der</strong>um<br />
geheime Kontakte zu Untergrundgruppen unterhielten.<br />
McClelland hatte e<strong>in</strong>en Fond von 250<br />
000 Dollar zur Verfügung. Er f<strong>in</strong>anzierte damit<br />
u.a. Hilfsaktionen im <strong>NS</strong>-Machtbereich sowie die<br />
Anfertigung falscher Dokumente, den Aufbau<br />
e<strong>in</strong>es Untergrundkurierdiensts, Flüchtl<strong>in</strong>gshilfsaktionen<br />
und stellte Schmiergel<strong>der</strong> für Grenzbeamte<br />
und Polizisten bereit.<br />
Über das grenznahe Freiburg führten die illegalen<br />
Wege vieler Emigranten <strong>in</strong> die Schweiz.<br />
Und über die Schweiz und Freiburg schließt<br />
sich <strong>der</strong> Kreis nach München:<br />
Am 22. Februar 1943 geht <strong>in</strong> <strong>der</strong> Gestapo-<br />
Leitstelle München im Wittelsbacher Palais e<strong>in</strong><br />
Fernschreiben <strong>der</strong> Gestapo Freiburg e<strong>in</strong>: „Am<br />
Freitag, den 26. Februar1943, trifft dort [also <strong>in</strong><br />
München, K.B.] e<strong>in</strong> Fräule<strong>in</strong> Dr. Gertrud Luckner<br />
aus Freiburg im Breisgau e<strong>in</strong>, um sich mit e<strong>in</strong>er<br />
weiblichen Person aus München, mit Vornamen<br />
Annemarie, zu treffen. <strong>Die</strong> Luckner hat für sich<br />
im Hotel Europäischer Hof … e<strong>in</strong> Zimmer bestellt.<br />
Bei <strong>der</strong> Luckner handelt es sich um e<strong>in</strong>e<br />
Beauftragte des Deutschen Episkopats. Es wird<br />
vermutet, daß sie Nachrichtenübermittler<strong>in</strong> ist,<br />
wofür gewisse Anhaltspunkte vorhanden s<strong>in</strong>d…<br />
Ich bitte die Beobachtung <strong>der</strong> Luckner <strong>in</strong> München<br />
von Beobachtung <strong>der</strong> Luckner <strong>in</strong> München<br />
von dort durchführen zu lassen. In erster L<strong>in</strong>ie<br />
<strong>in</strong>teressiert, mit welchen Personen die Luckner<br />
im dortigen Bereich zusammentrifft.<br />
Bemerken möchte ich noch, daß es sich um<br />
e<strong>in</strong>e äußerst vorsichtige und erfahrungsreiche<br />
Agent<strong>in</strong> handelt, die erst 1931 von England<br />
nach Deutschland zugezogen ist.“<br />
Wer war Gertrud Luckner?<br />
Wer war die weibliche Person mit Vornamen<br />
Annemarie?<br />
9
Gertrud Luckner war Mitarbeiter<strong>in</strong> des Deutschen<br />
Caritasverbands und von dem Freiburger<br />
Bischof Gröber mit <strong>der</strong> Betreuung und Beratung<br />
von Katholiken jüdischer Herkunft betreut. Ab<br />
Dezember 1938 verhalf Gertrud Luckner Verfolgten<br />
zum illegalen Grenzübertritt <strong>in</strong> die<br />
Schweiz. Daneben bemühte sie sich mit an<strong>der</strong>en<br />
Organisationen um die legale Ausreise von<br />
Verfolgten.<br />
Gertrud Luckner war zunächst <strong>Quäker</strong><strong>in</strong> (Studium<br />
an dem <strong>Quäker</strong>-College Woodbrooke /<br />
Birm<strong>in</strong>gham), trat aber 1934 zum katholischen<br />
Glauben über. Ihre guten Kontakte zu den <strong>Quäker</strong>n,<br />
<strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e zu Annemarie Cohen <strong>in</strong><br />
München, bestanden jedoch weiter. Wegen ihrer<br />
Hilfstätigkeit für Verfolgte wurde Gertrud<br />
Luckner ab Januar 1943 von <strong>der</strong> Gestapo überwacht,<br />
am 24. März 1943 von <strong>der</strong> Gestapo verhaftet;<br />
sie überlebte das KZ Ravensbrück.<br />
<strong>Die</strong> Überwachungsberichte <strong>der</strong> Gestapo haben<br />
sich erhalten; damit ist die große Zahl <strong>der</strong><br />
Ansprechpartner im Münchner <strong>Helfer</strong>netz durch<br />
die Gestapo selbst dokumentiert.<br />
Bei <strong>der</strong> weiblichen Person mit Vornamen Annemarie<br />
handelt es sich um Annemarie Cohen.<br />
<strong>Die</strong> Aufzeichnungen von Rudolf Cohen, die<br />
Prof. Zahn übertragen und ausgewertet hat,<br />
stellen somit e<strong>in</strong>e Art Gegenüberlieferung dar.<br />
Prof. Zahn wird <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Referat auch das<br />
10<br />
Münchner <strong>Helfer</strong>netz darstellen, <strong>in</strong> das Gertrud<br />
Luckner e<strong>in</strong>gebunden war.<br />
Ich komme zum Schluß: Für mich stellt sich<br />
die Frage: Wie hätte ich mich damals verhalten?<br />
Wäre ich bereit gewesen, das Risiko für mich<br />
und me<strong>in</strong>e Familie auf mich zu nehmen, um zu<br />
helfen?<br />
Ich weiß es nicht<br />
E<strong>in</strong>es aber steht fest:<br />
Zivilcourage und bürgerlicher Mut müssen e<strong>in</strong>geübt<br />
werden. Müssen e<strong>in</strong>geübt werden <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er<br />
<strong>Zeit</strong>, <strong>in</strong> <strong>der</strong> es ke<strong>in</strong> persönliches Risiko bedeutet,<br />
h<strong>in</strong>zuschauen o<strong>der</strong> Flagge zu zeigen.<br />
In diesem S<strong>in</strong>n sehe ich die heutige Veranstaltung<br />
als Chance auf dem richtigen Weg.<br />
Mit dieser Veranstaltung soll e<strong>in</strong> Anstoß gegeben<br />
werden, zu weiteren Recherchen <strong>in</strong> München<br />
zum Themenkreis „<strong>Stille</strong> <strong>Helfer</strong>“<br />
Wie Sie wissen, nimmt das <strong>NS</strong>-Dokumentationszentrum<br />
für München konkrete Formen<br />
an. Am 6. März wird <strong>der</strong> Realisierungswettbewerb<br />
entschieden. Der Stadtrat hat die Gründungsdirektor<strong>in</strong>,<br />
Frau Wojak, bestellt.<br />
Das <strong>NS</strong>-Dokumentationszentrum soll e<strong>in</strong> historisch-politischer<br />
Lernort, vor allem auch für die<br />
Jugend werden. Auch die <strong>Stille</strong>n <strong>Helfer</strong>, die Mut<br />
und Zivilcourage zeigten, sollen ihren Platz im<br />
<strong>NS</strong>-Dokumentationszentrum f<strong>in</strong>den!<br />
Ich danke Ihnen.
Annemarie und Rudolf Cohen <strong>in</strong> München:<br />
Hilfe für Verfolgte 1938-1940<br />
Von Peter Zahn<br />
Bild 1: Manuskript im Stadtarchiv München, Protokolle von Dr. Rudolf Cohen 1938-40/41<br />
Me<strong>in</strong>e Damen und Herren,<br />
Ich habe die beson<strong>der</strong>e Ehre, Ihnen heute von<br />
e<strong>in</strong>em Manuskript berichten zu dürfen, das<br />
Professor Rudolf Cohen aus Konstanz, <strong>der</strong><br />
Sohn von Annemarie und Rudolf Cohen, im<br />
Sommer 2006 im Stadtarchiv München Herrn<br />
Dr. Andreas Heusler übergeben hat. Es<br />
stammt von se<strong>in</strong>en Eltern, Dr. Rudolf Cohen<br />
und Dr. med. Annemarie Cohen her, über die<br />
wir ja auch vom Sohn Rudolf Cohen hören<br />
werden. Herr Bäumler hatte mich auf dieses<br />
Konvolut aufmerksam gemacht und dessen<br />
Umschrift angeregt, an <strong>der</strong> ich schon e<strong>in</strong>e<br />
geraume Weile mit Hilfe des Stadtarchivs<br />
München arbeite, dank <strong>der</strong> digitalen Fotoaufnahmen,<br />
welche Herr Dr. Heusler von den<br />
e<strong>in</strong>zelnen Seiten anfertigen lässt, auch dank<br />
<strong>der</strong> immer willkommenen Lese-Hilfe Professor<br />
Rudolf Cohens, dem die Schriftzüge se<strong>in</strong>es<br />
Vaters und se<strong>in</strong>er Mutter noch wohl vertraut<br />
s<strong>in</strong>d.<br />
Das Manuskript enthält auf 324 Blättern die<br />
Protokolle, die Rudolf Cohen bei den Besuchen<br />
von 324 Hilfesuchenden <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong> zwischen<br />
Spätherbst 1938 und <strong>der</strong> Mitte des Jahres<br />
1940 notiert und aufbewahrt hat. Bevor ich<br />
näher auf das Manuskript, die Umstände und<br />
se<strong>in</strong>en Inhalt e<strong>in</strong>gehe, lese ich aus e<strong>in</strong>er <strong>der</strong><br />
Seiten vor, die mich beson<strong>der</strong>s berührt hat.<br />
Nach <strong>der</strong> Notiz über den Besucher und se<strong>in</strong>e<br />
Frau folgt unmittelbar <strong>der</strong> Briefentwurf an e<strong>in</strong>e<br />
englische <strong>Quäker</strong><strong>in</strong>, das e<strong>in</strong>zige Beispiel dieser<br />
Art <strong>in</strong> den mir bisher bekannten Blättern,<br />
denn Dr. Cohen sche<strong>in</strong>t se<strong>in</strong>e ohne Zweifel<br />
zahlreichen Briefkopien an an<strong>der</strong>er Stelle aufbewahrt<br />
zu haben. Cohen notiert kurz nach<br />
dem 10. August 1939:<br />
11
12<br />
Bild 2, Blatt 079 Goldschmidt, Detail<br />
079 Goldschmidt Bernhard Goldschmidt, 1 49 J. a. j. K.<br />
Kett 5 hat die Töchter nach Holland gebracht. /<br />
hat Mrs. Meyers gekannt. 6 [?]/<br />
Gesuch über London gegangen. /<br />
Bru<strong>der</strong> als Chemiker <strong>in</strong> London /<br />
per Luftpost schreiben. /<br />
Am 10. an Camilla Wedgewood geschrieben. //<br />
bei Geh[eim]rath Herzfel<strong>der</strong> /<br />
nördl. Auffahrtsallee 28 2<br />
Tel. 60184<br />
Frau [Magdalena] Goldschmit(d) 3 , K(onfesions)l.(os) /<br />
Töchter katholisch, waren <strong>in</strong> Nymphenburg /<br />
<strong>in</strong> d(er) Schule d(er) Engl. Fräule<strong>in</strong>. 4<br />
1 Bernhard Goldschmidt, geb, 3.8.1890 <strong>in</strong> Nürnberg, deportiert am 20.11.1941 nach Kaunas, ermordet <strong>in</strong> Kaunas am 25.11.1941.-<br />
BGBJ Bd. 1 S. 435.<br />
2 Lt. BGBJ „Südliche Auffahrtsallee 95 (seit 21.10.1929)“.<br />
3 Magdalena Goldschmidt, geb. Herzfel<strong>der</strong>, geb. am 20.11.1898 <strong>in</strong> München, deportiert am 20.11.1941 nach Kaunas, ermordet <strong>in</strong><br />
Kaunas am 25.11.1941.- BGBJ Bd. 1 S. 435 u. 439.<br />
4 Töchter: Annemarie Louise, Haustochter (geb. am 31.1.1922 <strong>in</strong> München), emigrierte mit <strong>der</strong> Schwester Elfriede Karol<strong>in</strong>e Ida,<br />
Schüler<strong>in</strong> (geb. am 4.8.1923) am 30.3.1939 nach Holland (Kloster Konnigbosch <strong>in</strong> Echt). Beide mit dem Transport <strong>der</strong><br />
Maastrichter Gestapo vom 2.8.1942 nach Auschwitz (zusammen mit Edith Ste<strong>in</strong>?), dort ermordet am 26.8.1942.- BGBJ Bd. 1 S.<br />
435f.<br />
5 August Kett, Caritas-Sekretär und <strong>in</strong> Personalunion Geschäftsführer <strong>der</strong> Caritas / Raphaelsvere<strong>in</strong>sstelle <strong>in</strong> <strong>der</strong> Heßstraße <strong>in</strong><br />
München, durch Erlass <strong>der</strong> Reichsstelle für Auswan<strong>der</strong>ungswesen v. 19.4.1934 als Auswan<strong>der</strong>ungsberater zugelassen. In Kard<strong>in</strong>al<br />
Faulhabers Auftrag im März 1939 an dem Versuch beteiligt, 3000 brasilianische Visa für "nichtarische" Katholiken zu<br />
organisieren. Nach <strong>der</strong> Wahl von Eugenio Pacelli zum Papst Pius XII. wird er durch Faulhaber nach Genf geschickt zu<br />
Besprechungen mit dem brasilianischen Vertreter beim Internationalen Arbeitsamt, Helio Lobo. Pius XII. erreichte die Zusage<br />
<strong>der</strong> 3000 E<strong>in</strong>reisevisa; 1000 davon sollten an „nichtarische“ deutsche Katholiken gehen, die schon im Ausland waren, viele davon<br />
<strong>in</strong> Italien. <strong>Die</strong> Zweigstelle des Raphaelsvere<strong>in</strong>s <strong>in</strong> Rom organisierte <strong>der</strong>en Reise per Flugzeug nach Lissabon und von dort per<br />
Schiff nach Brasilien, <strong>der</strong> brasilianische Botschafter <strong>in</strong> Rom war kooperativ. <strong>Die</strong> Zuteilung <strong>der</strong> übrigen 2000 Visa wurde „aus<br />
offenbar antisemitischen Gründen“ von <strong>der</strong> brasilianischen Botschaft <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> und dem brasilianischen Generalkonsulat <strong>in</strong><br />
Hamburg h<strong>in</strong>tertrieben. – Schönlebe (2006) S. 25, 70f., 105f., 112f., 120. -<br />
6 im Text: „bekannt“?
L.(iebe) Freund<strong>in</strong>, //<br />
Herr Bernhard Goldschmidt <strong>in</strong> München hat<br />
sich <strong>in</strong> Canberra um /<br />
die E<strong>in</strong>wan<strong>der</strong>ungserlaubnis [bemüht?] u. nach<br />
Australien am 5. Juni / 1939 / geschrieben und<br />
auch / dem Friends Committee am 14. Juli das<br />
Material mit <strong>der</strong> Bitte um / Unterstützung geschickt.<br />
/<br />
Bild 3: Bernhard Goldschmidt als Bergsteiger<br />
Er war mit se<strong>in</strong>er Frau bei mir und bat mich Ihnen<br />
/ e<strong>in</strong> paar Worte über ihn zu schreiben. Ich<br />
vermuthe, daß Sie se<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>gaben / bereits kennen,<br />
die me<strong>in</strong>er Ansicht nach / Ihnen e<strong>in</strong> gutes<br />
Bild von <strong>der</strong> Persönlichkeit geben. Herr Goldschmidt<br />
machte / e<strong>in</strong>en sehr guten, e<strong>in</strong>fachen,<br />
ernsten, gewissenhaften -u. aufrichtigen E<strong>in</strong>druck,<br />
x) bescheiden und von sehr guten Manieren<br />
x)7 / die Frau ist / die Tocht(er) / e<strong>in</strong>es hier<br />
sehr bekannten und / sehr / angesehenen<br />
Rechtsanwalts. <strong>Die</strong> beiden / Töchter, die katholisch<br />
s<strong>in</strong>d, s<strong>in</strong>d bei den Englischen Fräule<strong>in</strong> hier<br />
erzogen / u. durch den katholischen Raphaels-<br />
7 x) unten angehängt.<br />
vere<strong>in</strong> schon seit e<strong>in</strong>iger <strong>Zeit</strong> nach Holland zur<br />
/ weiteren Ausbildung <strong>in</strong> <strong>der</strong> Hauswirtschaft<br />
gekom(m)en: sie haben sehr gute Schulzeug-<br />
/nisse u. waren <strong>in</strong> d(er) Schule bei den<br />
Lehrer<strong>in</strong>nen sehr beliebt. / Ich hoffe sehr, daß<br />
ihr Gesuch genehmigt wird und b<strong>in</strong> Ihnen sehr<br />
dankbar / wenn Sie etwas für sie thun können.<br />
/ Me<strong>in</strong>e Frau und ich s<strong>in</strong>d Mitglie<strong>der</strong> <strong>der</strong> deutschen<br />
Jahresversammlung / und e<strong>in</strong> <strong>in</strong>vestigat<strong>in</strong>g<br />
centre des Germany Emergency Committee<br />
8 <strong>in</strong> / London. Sodann möchte ich bei dieser<br />
Gelegenheit auch herzlich danken dafür / wie<br />
Sie sich <strong>der</strong> jungen Brü<strong>der</strong> Feller 9 angenom(m)en<br />
haben.<br />
Mit Freundschaft.<br />
Bild 4: Familie Goldschmidt <strong>in</strong> den Bergen<br />
Auf den ersten Blick kl<strong>in</strong>gt es beruhigend: <strong>Die</strong><br />
beiden jungen Mädchen (Bild 4) s<strong>in</strong>d durch<br />
Vermittlung des Caritas-Sekretärs August Kett<br />
(auf ihn komme ich noch zu sprechen) <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em<br />
Kloster <strong>in</strong> Holland <strong>in</strong> Sicherheit, für die<br />
Eltern Magdalena und Bernhard Goldschmidt<br />
läuft das E<strong>in</strong>wan<strong>der</strong>ungsgesuch nach Australien.<br />
Aber es war schon spät und kurz vor Anbruch<br />
des Krieges. E<strong>in</strong> Blick <strong>in</strong> das „Biographische<br />
Gedenkbuch <strong>der</strong> Münchener Juden“<br />
zeigt, daß die Eltern unter den 1000 Münchnern<br />
s<strong>in</strong>d, die am 20. November 1941 vom<br />
Bahnhof Milbertshofen deportiert und fünf Tage<br />
später <strong>in</strong> <strong>der</strong> Festung Kaunas erschossen<br />
wurden. <strong>Die</strong> beiden Mädchen werden am 2.<br />
August 1942 auf die Transportliste <strong>der</strong> Maastrichter<br />
Gestapo unter Nr. 32 und 33 gesetzt,<br />
zusammen mit Edith Ste<strong>in</strong>, <strong>der</strong>en Schwester<br />
Rosa Ste<strong>in</strong> und an<strong>der</strong>en Nonnen und Mönchen<br />
jüdischen Herkommens nach Auschwitz deportiert<br />
und dort am 26. August 1942 ermordet.<br />
8 G(ermany E(mergency) C(ommittee), siehe bei Nr. 017.<br />
9 Bruno und Karl Feller, <strong>in</strong> <strong>der</strong> Namenliste (001 Nr. 15 u.<br />
16.<br />
13
Annemarie Louise ist 20, Elfriede Karol<strong>in</strong>e Ida<br />
gerade 19 Jahre alt.<br />
Bild 5: Rudolf und Annemarie Cohen<br />
Zurück zum Manuskript. Geschrieben wurden<br />
die 324 Blätter von Rudolf Cohen und teilweise<br />
auch von se<strong>in</strong>er Frau Annemarie <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong> zwischen<br />
dem 9. November 1938, <strong>der</strong> sog. „Kristallnacht“,<br />
und <strong>in</strong> <strong>der</strong> Hauptsache bis zum Sommer<br />
1940, mit Nachträgen auf den Blättern bis<br />
zum Dezember 1941, dem E<strong>in</strong>tritt <strong>der</strong> U.S.A. <strong>in</strong><br />
den Europäischen Krieg. Sie s<strong>in</strong>d <strong>der</strong> Extrakt<br />
jener Gespräche, die das Ehepaar Cohen als die<br />
Münchener Vertreter <strong>der</strong> „<strong>Quäker</strong> mit 324 hilfesuchenden<br />
Münchnern jüdischer Religion o<strong>der</strong><br />
jüdischer Herkunft“ geführt haben.<br />
Bild 6: Namensliste<br />
324 Schicksale, h<strong>in</strong>ter denen mehr als dreimal<br />
so viele Menschen stehen: Frauen, K<strong>in</strong><strong>der</strong>, El-<br />
14<br />
tern, Großeltern, Angehörige. Lei<strong>der</strong> ist nur<br />
wenigen davon die Emigration gelungen.<br />
<strong>Die</strong> Männer waren nach dem 9. November fast<br />
alle <strong>in</strong> Dachau <strong>in</strong>haftiert gewesen, die meisten<br />
gesundheitlich stark mitgenommen, e<strong>in</strong>ige<br />
waren an den Misshandlungen gestorben. Alle,<br />
die zu den Cohens kommen, erkundigen sich<br />
nach den Möglichkeiten, wie sie dieses Land<br />
h<strong>in</strong>ter sich lassen können. Es ist die <strong>Zeit</strong>, <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />
<strong>in</strong> den Monaten nach <strong>der</strong> „Kristallnacht“ weitere<br />
150 000 Juden Deutschland verlassen. 10<br />
<strong>Die</strong> Cohens empfangen alle<strong>in</strong> 65 Besucher von<br />
Januar bis März 1939, an manchen Tagen bis<br />
zu drei. Rudolf und Annemarie Cohen haben<br />
e<strong>in</strong>e Art Fragebogen, nach dem das Gespräch<br />
abläuft.<br />
Bild 7: Aufnahmeschema – „Fragebogen“<br />
L<strong>in</strong>ks: „Geschickt von“, rechts: „Name / geb. <strong>in</strong><br />
/ Rasse Confession / Adresse / verh. / K<strong>in</strong><strong>der</strong>“,<br />
l<strong>in</strong>ks „Eltern: Confession / Beruf / Schule /<br />
Ausbildung / Stellungen / Kriegstheilnehmer /<br />
Sprachkenntnisse / Pläne / Bisher Unternommenes<br />
/ Nr. von Stuttgart / Ausländische Verwandte<br />
Name / Adressen / Referenzen / was<br />
10 Leonard S. Kenworthy, E<strong>in</strong> amerikanischer <strong>Quäker</strong> <strong>in</strong><br />
Nazi-Deutschland – Das Schicksal <strong>der</strong> Juden als tägliche<br />
Erfahrung. Bad Pyrmont 1984 S. 27.
ist zu veranlassen.“ Rechts unten steht „1940",<br />
im Mai war <strong>der</strong> Beg<strong>in</strong>n <strong>der</strong> Offensive im Westen.<br />
Wer waren die Cohens, und wie waren sie zu<br />
den <strong>Quäker</strong>n gekommen?<br />
Rudolf Cohen (geboren 1864 <strong>in</strong> Hamburg, 1953<br />
<strong>in</strong> München neunundachtzigjährig gestorben), 11<br />
war <strong>der</strong> Sohn e<strong>in</strong>es angesehenen Arztes <strong>in</strong><br />
Hamburg. Nach dem Studium <strong>der</strong> Physik <strong>in</strong><br />
Freiburg i. Breisgau und Straßburg 1887 über<br />
e<strong>in</strong> physikalisches Thema zum Doktor <strong>der</strong> Mathematik<br />
promoviert, am physikalischen Laboratorium<br />
mehrere Jahre angestellt.<br />
1890-92 Erster Assistent bei Wilhelm Conrad<br />
Röntgen <strong>in</strong> Würzburg, danach 1892 Volontär bei<br />
Bild 8: Sigmund Schuckert<br />
Schuckert & Co. <strong>in</strong> Nürnberg, bald stellvertreten<strong>der</strong><br />
Direktor <strong>der</strong> „Cont<strong>in</strong>entalen Gesellschaft<br />
für elektrische Unternehmungen, Nürnberg“,<br />
e<strong>in</strong>er F<strong>in</strong>anzierungsgesellschaft <strong>der</strong> Schuckert-<br />
Werke. 12 „Elektrizitätsgesellschaft vorm. Schuckert<br />
& Co.“ und <strong>der</strong> „Cont<strong>in</strong>entalen Gesell-<br />
11 Das Folgende nach freundlichen Mitteilungen von Rudolf<br />
J. Cohen an den Bearbeiter, ab Nov./Dez. 2007.<br />
12 [Rudolf Cohen, Bearb.] Schuckert 1873-1923. Würzburg:<br />
Sturtz [1923] S. 45-59, 61-70, 74-87, 88-95; Hans Keuth,<br />
Sigmund Schuckert, e<strong>in</strong> Pionier <strong>der</strong> Elektrotechnik., Siemens<br />
AG Berl<strong>in</strong> und München 1988; Zur Siemens-Schuckert-<br />
Werke GmbH vgl. Wilfried Feldenkirchen, Siemens 1918-<br />
1945 (München 1995) S. 68-81 und passim (Register S. 773),<br />
zur Cont<strong>in</strong>entalen Gesellschaft für Elektrische<br />
Unternehmungen vgl. Cohen, Schuckert 1873-1923 [1923] S.<br />
45-59, 61-70, 74-87, 88-95; Feldenkirchen, Siemens 1918-1945<br />
(München 1995) S. 37, 71, 450, 466, 469; ferner: Wilfried<br />
Feldenkirchen, Werner von Siemens (München 1996) S. 235-<br />
245, <strong>der</strong>selbe: Siemens (München 1997) S. 92-97.<br />
schaft“ ist er dann von 1908 bis 1916. In se<strong>in</strong>en<br />
Aufgabenbereich fällt die Akquisition von<br />
Dampf- und Pferdebahnl<strong>in</strong>ien im In- und Ausland<br />
und <strong>der</strong>en Umwandlung <strong>in</strong> elektrische<br />
Bahnen: im ganzen damaligen Europa, zwischen<br />
Bilbao und Czernowitz, zwischen Oslo<br />
und Palermo.<br />
Bild 9: Schuckert-Katalog von 1905<br />
Dazu gehören Straßenbahnen <strong>in</strong> zahlreichen<br />
Städten, wie etwa die Straßenbahn Münchener<br />
Freiheit – Ungererbad, die Bahnl<strong>in</strong>ie von Wien<br />
nach Baden bei Wien o<strong>der</strong> die Standseilbahn<br />
Dresden / Loschwitz-Weißer Hirsch – gegenwärtig<br />
den Lesern von Uwe Tellkamps „Turm“<br />
vertraut. Der Schuckertsche Katalog „Elektrische<br />
Bahnen“ von 1905 (Bild 9) bildet mehr als<br />
50 Bahnen und Kraftanlagen ab. 13<br />
Im Siemens-Archiv verwahrt s<strong>in</strong>d se<strong>in</strong>e nach<br />
Nürnberg geschickten Reiseberichte und Telegramme<br />
aus den Jahren 1895-96. 14 Im Bericht<br />
13 Cohen, Schuckert 1873-1923 [1923] S. 46, 50f.; (Siemens-<br />
Archiv München) Beschreibung von Anlagen und<br />
Erzeugnissen <strong>der</strong> Elektrizitäts-Aktiengsellschaft vormals<br />
Schuckert & Co., Nürnberg. 1. Jahrgang 1901. /<br />
Selbstverlag <strong>der</strong> Elektrizitäts-Aktiengsellschaft vormals<br />
Schuckert & Co., Nürnberg.- Ferner: Siemens-Schuckert-<br />
Werke G.m.b.H. Berl<strong>in</strong> Elektrische / Bahnen. Ullste<strong>in</strong> &<br />
Co Berl<strong>in</strong> SW. 12 [1905] mit zahlr. Abb.<br />
14 Siemens-Archiv München WP, Akte SAA 6188. Drei<br />
Aktenbände, Karton, Halble<strong>in</strong>en, h<strong>in</strong>ten bezeichnet (Alte<br />
Signatur) 291 / 1-3; Rückentitel: 291/1: 1895. / Dr. Cohen<br />
/ Ingenieur v. Hause / Vom: 1. Jan. 1895 / Bis: 16. Sept.<br />
1895. - 291/2 : 1895. / Dr. Cohen / Ingenieur v. Hause /<br />
nun b. d. Cont<strong>in</strong>entalen Ges. / Vom: 17. Sept. 1895 / Bis :<br />
27. März 1896. - 291/3: 1896. / Dr. Cohen / Ingenieur /<br />
<strong>der</strong> Cont<strong>in</strong>entalen Ges. / Vom: 28. März 1896 / Bis: 20.<br />
Juli 1899. - Für sehr freundliche Betreuung danke ich Prof.<br />
Dr.Wilfried Feldenkirchen, Dr. Frank Wittendorfer und<br />
Herrn Christoph Frank, alle Siemens-Archiv.<br />
15
No. 1 vom 28. Dez. 94 aus Hamburg schreibt er<br />
über das Conzessionsgesuch für die Schwebebahn<br />
Barmen-Elberfeld, beabsichtigt Reisen<br />
nach Görlitz, Leipzig, Boulogne, Charleroi, Lille<br />
und Bilbao. Will <strong>in</strong> Hamburg den Bankier Warburg<br />
„wegen <strong>der</strong> schwedischen Geschichte“<br />
aufsuchen (geme<strong>in</strong>t ist die Bahn Christiania –<br />
Holmenkollen). Erwartet zugesagten Creditbrief.<br />
„<strong>Die</strong> Kopie des Kostenanschlages Goerlitz und<br />
den / Vertragsentwurf Barmen-Elberfeld habe ich<br />
dankend / erhalten.“<br />
Bild 10: Telegramm vom 2. Jan. 1895<br />
Er kümmert sich um technische Details: Im Telegramm<br />
vom 2. Jan. 1895 schreibt er: „drahtet<br />
vier jahreszeiten goerlitz ob rechenfehler bei<br />
kabelnetz / goerlitz ausgeschloszen = cohen + “<br />
In ständigem Brief- und Telegramm-Kontakt<br />
steht er dabei mit Alexan<strong>der</strong> Wacker, <strong>der</strong> seit<br />
1884 kaufmännischer Direktor <strong>der</strong> Schuckert-<br />
Werke & Co. ist.<br />
Bild 11: Alexan<strong>der</strong> Wacker<br />
16<br />
E<strong>in</strong>e<strong>in</strong>halb Jahre später ist Cohen noch immer<br />
auf Reisen: am 27. Mai 1896 <strong>in</strong> Abbazia,<br />
schreibt am 28. Mai auf Briefpapier des „Pera<br />
Palace Hotel Constant<strong>in</strong>ople“, am 9. Juni aus<br />
Odessa, am 16. aus Taganrog, „Hotel de l'Europe“,<br />
kurz darauf ist er wie<strong>der</strong> <strong>in</strong> London.<br />
Im Jahr darauf (1897) heiratet er Agnes Booth,<br />
aus e<strong>in</strong>er englisch-amerikanischen Familie.<br />
Bild 12: Familie Cohen um 1909<br />
Zwei K<strong>in</strong><strong>der</strong> werden geboren: Gotthart und<br />
Hertha, das Foto ist um 1909 <strong>in</strong> Nürnberg aufgenommen.<br />
Wenig später, im Krieg, 1916/17,<br />
stirbt se<strong>in</strong>e Frau.<br />
In <strong>der</strong> Kriegswirtschaft ist Rudolf Cohen<br />
Hilfsreferent im Kriegsamt München, auch<br />
Leiter <strong>der</strong> Kriegsgefangenenfürsorge des<br />
Roten Kreuzes München bis Juli 1919. Danach<br />
folgt 1919-23 e<strong>in</strong>e Art „Auszeit“: e<strong>in</strong> weiteres<br />
Studium an <strong>der</strong> Münchener Universität: alte<br />
Sprachen, Kunstgeschichte und Paläographie,<br />
letztere wohl bei Paul Lehmann. 15 . Geheimrat<br />
15 Paul Lehmann (1884-1964), 1921-1953 an <strong>der</strong> Univ.<br />
München o. Prof. <strong>der</strong> Mittelallate<strong>in</strong>ischen Philologie, mit<br />
Schwerpunkt Late<strong>in</strong>ische Paläographie und<br />
Handschriftenkunde. – Bernhard Bischoff (1906-1991),<br />
studierte seit 1925 u.a. bei Paul Lehmann Mittellate<strong>in</strong>ische<br />
Philologie, 1953-1975 an <strong>der</strong> Univ. München o. Prof. <strong>der</strong>
Alexan<strong>der</strong> von Wacker, <strong>der</strong> <strong>in</strong>zwischen 1914 die<br />
Wacker-Chemie begründet hat, ist nach dem<br />
Tod Hugo von Maffeis nunmehr Vorsitzen<strong>der</strong><br />
des Schuckert-Aufsichtsrats und macht Cohen<br />
1921 zum Generalbevollmächtigten. Cohen wird<br />
1923 Direktor <strong>der</strong> Bayerischen Verkehrskreditbank<br />
München und Mitglied im Aufsichtsrat <strong>der</strong><br />
Schuckertgesellschaft.<br />
In dieser <strong>Zeit</strong> entsteht die von ihm verfasste<br />
Denkschrift zum 50-jährigen Firmenjubiläum <strong>der</strong><br />
Schuckert-Werke. 16<br />
Bild 13: Rudolf Cohens Denkschrift, 1923<br />
Technischer Direktor <strong>der</strong> Schuckert-Betriebe<br />
München ist er dann 1925-1932 mit zahlreichen<br />
weiteren Aufenthalten u. a. <strong>in</strong> Palermo, Rom und<br />
Paris. Cohen wird 1933 mit 69 Jahren<br />
pensioniert, aus dem Aufsichtsrat muss er 1935<br />
austreten.<br />
Es ist, wie wir heute sagen würden, die<br />
glanzvolle Karriere e<strong>in</strong>es naturwissenschaftlichtechnisch,<br />
auch geisteswissenschaftlich gebildeten<br />
„Leistungsträgers“ <strong>der</strong> Groß<strong>in</strong>dustrie.<br />
– – –<br />
Mittelallate<strong>in</strong>ischen Philologie mit Schwerpunkt Late<strong>in</strong>ische<br />
Paläographie und Handschriftenkunde. - Deutsche Biographische<br />
Enzyklopädie (DBE) CD-ROM-Edition München<br />
2001.<br />
16 [Rudolf Cohen, Bearb.] Schuckert 1873-1923. Würzburg:<br />
Sturtz [1923], 102 S.<br />
Bild 14: Rudolf und Annemarie Cohen um 1930<br />
Nun aber beg<strong>in</strong>nt e<strong>in</strong> zweites Leben:<br />
Zehn Jahre nach dem Tod se<strong>in</strong>er ersten Frau<br />
heiratet er 1927 die Ärzt<strong>in</strong> Dr. med. Annemarie<br />
Buch (1897-1885), dreiunddreißig Jahre jünger<br />
als er und die Assistent<strong>in</strong> se<strong>in</strong>es Sohnes<br />
Gotthart. 17<br />
Nach <strong>der</strong> „Machtergreifung“ <strong>der</strong> Nazis lehnt er<br />
e<strong>in</strong>e Auswan<strong>der</strong>ung ab, um solange wie möglich<br />
an<strong>der</strong>en <strong>in</strong> Deutschland helfen zu können.<br />
Das Ehepaar schließt sich schon vorher, 1932,<br />
<strong>der</strong> deutschen Sektion <strong>der</strong> <strong>Quäker</strong> an (Anlass<br />
war wohl die Geburt des Sohnes Rudolf, <strong>der</strong><br />
heute unter uns ist), und es wird zur Münchener<br />
Anlaufstelle <strong>in</strong> diesem <strong>in</strong>ternationalem<br />
Hilfswerk. 18 <strong>Die</strong> von den Cohens <strong>in</strong> <strong>der</strong> kurzen<br />
<strong>Zeit</strong> von nur e<strong>in</strong>e<strong>in</strong>halb Jahren ab 1938/39<br />
protokollierten Hilfeleistungen belegen ihre<br />
Verb<strong>in</strong>dungen zu den <strong>Quäker</strong>n <strong>in</strong> Deutschland,<br />
England, Schottland und den Vere<strong>in</strong>igten Staaten.<br />
Neben <strong>der</strong> schon genannten Camilla<br />
17 Rudolf J. Cohen (* 13.06.1932 München), Dr. phil.,<br />
Dipl.-Psychologe, ab 1966 o. Univ.-Prof. an <strong>der</strong> Universität<br />
Konstanz u. Leiter <strong>der</strong> Forschungsstelle im Psychiatrischen<br />
Landeskrankenhaus Reichenau; Autor zahlreicher Aufsätze<br />
<strong>in</strong> kl<strong>in</strong>ischen und experimentellen psychologischen<br />
<strong>Zeit</strong>schriften, Theodor Heuss Professor an <strong>der</strong> New School<br />
of Social Research, New York, Vizepräsident <strong>der</strong> Deutschen<br />
Forschungsgeme<strong>in</strong>schaft, zuletzt Rektor <strong>der</strong> Universität<br />
Konstanz. – (Kürschners Gelehrtenlexikon, hrsg. v.<br />
Werner Schu<strong>der</strong>, 13. Ausg.Berl<strong>in</strong> [u.a.] 1980 S. 552). –<br />
Rudolf J. Cohen hat im Sommer 2006 das Konvolut <strong>der</strong><br />
Aufzeichnungen se<strong>in</strong>es Vaters dem Stadtarchiv München<br />
übergeben. – Andreas Heusler, Dr. Rudolf Cohen: Hilfe <strong>der</strong><br />
<strong>Quäker</strong> für verfolgte Juden 1938-1940, In: Münchner<br />
Beiträge zur Jüdischen Geschichte und Kultur 1 (2007) S.<br />
55-56.<br />
18 Annemarie und Rudolf Cohen stehen für die Stadt<br />
München <strong>in</strong> <strong>der</strong> „Liste <strong>der</strong> Vertrauensleute <strong>der</strong> Religiösen<br />
Gesellschaft <strong>der</strong> Freunde (<strong>Quäker</strong>) <strong>in</strong> Deutschland“. –<br />
Lebensbil<strong>der</strong> deutscher <strong>Quäker</strong> (1992) S. 7.<br />
17
Wedgewood s<strong>in</strong>d es Cor<strong>der</strong> Catchpool, 19 <strong>der</strong><br />
nach dem ersten Weltkrieg <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> die K<strong>in</strong><strong>der</strong>speisung<br />
organisiert hat, und se<strong>in</strong>e Frau Gwen,<br />
Bild 15: Cor<strong>der</strong> und Gwen Catchpool<br />
auch Laura Liv<strong>in</strong>gstone, 20 die Schwäger<strong>in</strong> des<br />
Bischofs von Chichester. Er wendet sich an die<br />
Committees <strong>der</strong> „Friends“ <strong>in</strong> Belfast, London,<br />
New York und Philadelphia, an Howard Elk<strong>in</strong>ton<br />
21 am Internationalen <strong>Quäker</strong>zentrum <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong>,<br />
<strong>der</strong> beim „American Friends Service Committee“<br />
auf die E<strong>in</strong>reise jüdischer K<strong>in</strong><strong>der</strong> <strong>in</strong> die<br />
U.S.A. drängt, an das Ehepaar Leonhard und<br />
Mary Friedrich im <strong>Quäker</strong>haus <strong>in</strong> Pyrmont, die<br />
nach 1919 <strong>in</strong> Nürnberg die <strong>Quäker</strong>speisung<br />
betreut haben 22 an die <strong>Quäker</strong><strong>in</strong> Mary Elliott <strong>in</strong><br />
Manchester, an Maurice und Joan Mary Fry vom<br />
„Germany Emergency Committee“, an William<br />
Hughes, <strong>der</strong> sich im Ersten Weltkrieg <strong>in</strong> England<br />
19 Cor<strong>der</strong> Catchpool (1883-1952), zusammen mit se<strong>in</strong>er Frau<br />
Gwen Vertreter <strong>der</strong> britischen <strong>Quäker</strong> <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong><br />
(Internationales <strong>Quäker</strong> Center, Pr<strong>in</strong>z-Louis-Ferd<strong>in</strong>and-Straße<br />
5) bis 1936. Er setzte sich beson<strong>der</strong>s ab 1934 für Inhaftierte <strong>in</strong><br />
den Lagern e<strong>in</strong>, ab 1935 bis 1937 (ab 1936 wie<strong>der</strong> <strong>in</strong> England)<br />
für K<strong>in</strong><strong>der</strong> <strong>in</strong> den erzgebirgischen Dörfern. – Otto, Werden<br />
und Wesen des <strong>Quäker</strong>tums (1972) S. 321-325. – Halle,<br />
<strong>Quäker</strong>haltung (1993) S. 5.; Borries, <strong>Stille</strong> <strong>Helfer</strong> (1995/96) S.<br />
18ff.; das Ehepaar Catchpool kümmerte sich auch um die<br />
jugendlichen „nichtarischen“ Christen. – Schönlebe (2006) S.<br />
43.<br />
20 Laura Liv<strong>in</strong>gstone, Schwäger<strong>in</strong> des Bischofs George Bell<br />
von Chichester (e<strong>in</strong>es Freundes von <strong>Die</strong>trich Bonhoeffer),<br />
seit Sommer 1937 als Vertreter<strong>in</strong> des „International Christian<br />
Committee fur German Refugees“ im Auftrag des „Church of<br />
England Committee for Non-Aryan Christians“ <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong>. –<br />
Dirk Schönlebe, Von ihren Kirchen verlassen (2006) S. 40.<br />
21 Howard E. Elk<strong>in</strong>ton, amerikanischer Mitarbeiter im<br />
Internationale <strong>Quäker</strong> Center <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong>, drängte von dort aus<br />
beim „American Friends Service Committee“ auf E<strong>in</strong>reise<br />
jüdischer K<strong>in</strong><strong>der</strong> <strong>in</strong> die USA. – Borries, <strong>Stille</strong> <strong>Helfer</strong><br />
(1995/96) S. 22f.<br />
22 Leonhard Friedrich (1889-1979) und Mary Friedrich, geb.<br />
Tubholme (1882-1970), nach 1919 <strong>in</strong> Nürnberg als<br />
Mitarbeiter <strong>der</strong> <strong>Quäker</strong>, ab 1934 Betreuer des <strong>Quäker</strong>hauses<br />
<strong>in</strong> Bad Pyrmont, Schatzmeister <strong>der</strong> Religiösen Gesellschaft<br />
<strong>der</strong> Freunde. 1942 bis 1945 im KZ Buchenwald. –<br />
Lebensbil<strong>der</strong> deutscher <strong>Quäker</strong> (1992) S. 17-21<br />
18<br />
um deutsche Kriegsgefangene gekümmert<br />
hat 23 , an Gilbert McMaster <strong>in</strong> New York, Emma<br />
Cadbury <strong>in</strong> Wien, an Carl und Eva Hermann <strong>in</strong><br />
Bild 16: Mary und Leonhard Friedrich<br />
Mannheim und Marburg 24 Zu den von Cohen<br />
häufig Genannten gehört auch die jüdische<br />
<strong>Quäker</strong><strong>in</strong> Elisabeth Heims 25 , wie auch Else<br />
Behrend-Rosenfeld, die jüdische Fürsorger<strong>in</strong><br />
im Kloster <strong>der</strong> V<strong>in</strong>zent<strong>in</strong>er<strong>in</strong>nen, <strong>in</strong> dem das<br />
Lager Berg am Laim untergebracht war.<br />
Bild 17: Carl und Eva Hermann<br />
23 William R. Hughes, englischer <strong>Quäker</strong>, <strong>der</strong> im Ersten<br />
Weltkrieg deutsche Kriegsgefangene und Zivil<strong>in</strong>ternierte <strong>in</strong><br />
England betreut hatte, kam im Oktober 1933 nach<br />
Deutschland. Er bemühte sich mit Erfolg um<br />
Besuchserlaubnisse und Mil<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Haftbed<strong>in</strong>gungen. –<br />
Borries, <strong>Stille</strong> <strong>Helfer</strong> (1995/96) S. 20.<br />
24 Carl Hermann (1898-1961), Professor für Physik, und<br />
Eva Hermann (* 1900), seit 1935 Mitglie<strong>der</strong> <strong>der</strong> Religiösen<br />
Gesellschaft <strong>der</strong> Freunde (<strong>Quäker</strong>) <strong>in</strong> Mannheim, später<br />
Marburg. Beide nahmen sich vor allem <strong>der</strong> jüdischen und<br />
„jüdisch versippten“ Verfolgten an. Carl Hermann genoss<br />
Weltruf auf dem Gebiet <strong>der</strong> Kristallphysik und war bei IG-<br />
Farben, Werk Oppau, tätig. Carl H. wurde 1943 zu acht<br />
Jahren Zuchthaus verurteilt, Eva H. zu drei Jahren. –<br />
Lebensbil<strong>der</strong> deutscher <strong>Quäker</strong> (1992) S. 40-44.<br />
25 Elisabeth Heims, geb. 25.7.1895 <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong>, deportiert am<br />
20.11.1941 nach Kaunas, dort ermordet am 25.11.1941. –<br />
Annemarie Cohen, Begegnung mit dem Judentum, In:<br />
Stimmen <strong>der</strong> Freunde (1962 Heft 2) 1962; Elisabeth Heims,<br />
In: Lebensbil<strong>der</strong> deutscher <strong>Quäker</strong> (1992) S. 38-39; BGBJ<br />
Bd. 1 (2003) S. 551.
Ihr gel<strong>in</strong>gt auf illegalen Wegen über Berl<strong>in</strong> und<br />
Freiburg die Flucht <strong>in</strong> die Schweiz.<br />
Else Rosenfelds Mann, Dr. Siegfried Rosenfeld,<br />
Jurist und ehemaliger M<strong>in</strong>isterialbeamter, ist am<br />
8. April 1939 bei Rudolf Cohen.<br />
Bild 18: R. Cohens Aufzeichnung über Dr. Rosenfeld<br />
Der ältere Sohn Gustav ist bereits seit zwei Jahren<br />
<strong>in</strong> Argent<strong>in</strong>ien, <strong>der</strong> 17 ½ jährige Ludwig und<br />
die 16 ½ jährige Hanna erst seit kurzem <strong>in</strong> England.<br />
Mit Hilfe englischer <strong>Quäker</strong> gelangt auch<br />
Siegfried Rosenfeld nach England. Unter dem<br />
25. September 1939 notiert Rudolf Cohen: „Dr.<br />
Rosenfeld wohnt bei Mr. Geo Kaufmann, London<br />
Eastholme ... Tochter Hanna jetzt dauernd mit<br />
Miss Rhys, Twickenham, Middlesex ... als tra<strong>in</strong>ee<br />
für Haushalt. Sohn Ludwig ist im Internat<br />
Hazelmere, Surrey...“ – Erst 1946 war die Familie<br />
wie<strong>der</strong> vere<strong>in</strong>t. 26<br />
Der Kriegsausbruch am 1.9.1939 überrascht<br />
viele, die schon ihre Affidavits und Permits haben<br />
und kurz vor <strong>der</strong> Auswan<strong>der</strong>ung stehen.<br />
Danach war nur noch <strong>der</strong> Landweg über Sibirien<br />
nach Shanghai möglich, <strong>in</strong> E<strong>in</strong>zelfällen über die<br />
Schweiz nach den U.S.A. Aber auch diese Auswege<br />
waren versperrt mit dem Überfall Deutschlands<br />
auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 und<br />
nach <strong>der</strong> Kriegserklärung <strong>der</strong> Achse am 11. Dezember<br />
an die U.S.A. Neben den <strong>Quäker</strong>n <strong>in</strong><br />
Deutschland, England, Schottland und <strong>in</strong> den<br />
U.S.A. s<strong>in</strong>d Rudolf und Annemarie Cohen <strong>in</strong><br />
26 Else Behrend-Rosenfeld, Fürsorger<strong>in</strong> <strong>der</strong> Jüdischen Geme<strong>in</strong>de<br />
München, zuletzt im Kloster Berg am Laim; ihr gelang<br />
e<strong>in</strong>e spektakuläre Flucht <strong>in</strong> die Illegalität nach Berl<strong>in</strong> und<br />
von dort nach mehreren Monaten über Freiburg i. Br. <strong>in</strong> die<br />
Schweiz.- Else R Behrend-Rosenfeld, Ich stand nicht alle<strong>in</strong>.<br />
Erlebnisse e<strong>in</strong>er Jüd<strong>in</strong> <strong>in</strong> Deutschland 1933-1944. 1. Aufl.<br />
Zürich 1944 (hier benützt: Stuttgart, Evangelische Buchgeme<strong>in</strong>de<br />
1949).<br />
Bild 19: Pfarrer D. Kurt Frör, um 1960<br />
enger Verb<strong>in</strong>dung mit e<strong>in</strong>em Netz von <strong>Helfer</strong>n<br />
aus den beiden christlichen Kirchen. Es ist dies<br />
auf evangelischer Seite <strong>in</strong> München <strong>der</strong> Pfarrer<br />
Kurt Frör 27 an <strong>der</strong> Christuskirche <strong>in</strong> Neuhausen,<br />
zum Kreis um den Verleger Albert Lempp<br />
gehörend, <strong>der</strong> <strong>in</strong> Opposition zum angepassten<br />
Kurs <strong>der</strong> Bayerischen Landeskirche steht. 28<br />
Frör wird am häufigsten <strong>in</strong> den Papieren genannt,<br />
von Cohen immer nur „Curt“ (mit „C“).<br />
H<strong>in</strong>zu kommen <strong>der</strong> vom Landesbischof Hans<br />
Meiser für die Betreuung „nichtarischer“ Christen<br />
beauftragte Pfarrer und Leiter <strong>der</strong> Inneren<br />
Mission Friedrich Hofmann, 29 von Hans Meiser<br />
27 Kurt Frör, Mitglied <strong>der</strong> „Bekennenden Kirche“, im<br />
Netzwerk <strong>der</strong> Hilfe für „nichtarische“ Christen. Nach dem<br />
Krieg Ord<strong>in</strong>arius für Praktische Theologie an <strong>der</strong> Universität<br />
Erlangen. Se<strong>in</strong> Nachlaß im LKAN Personen XLII, NL<br />
Frör. – Schönlebe (2006) S. 6, 81, 85, 86, 122, 131. – Zu<br />
Frörs „antisemitischen“ Äußerungen neuerd<strong>in</strong>gs: Berndt<br />
Hamm, Landeskirchliche Normalität und exponierte Positionen<br />
<strong>in</strong> <strong>der</strong> E<strong>in</strong>stellung bayerischer Lutheraner zum<br />
Nationalsozialismus. – Referat, gehalten bei <strong>der</strong> Tagung <strong>der</strong><br />
evangelischen Stadtakademie „<strong>Die</strong> Evangelisch-Lutherische<br />
Kirche <strong>in</strong> Bayern und <strong>der</strong> Nationalsozialismus“<br />
(17./18.10.2008) – Prof. Dr. Berndt Hamm danke ich<br />
freundlichst für die Überlassung des Vortragsmanuskriptes<br />
(22 S.). – Praxis Ecclesiae. Praktische Theologie als Hermeneutik<br />
... Kurt Frör zum 65. Geburtstag am 10.Okt. 1970.<br />
München, Chr. Kaiser Verl. 1970 (Studien zur Praktischen<br />
Theologie, hrsg. v.. Rudolf Bohren; 9).<br />
28 Hamm, ebenda S. 12 mit Anm. 62-63; Zum Kreis um das<br />
Ehepaar Lempp vgl. Baier, Liebestätigkeit unterm<br />
Hakenkreuz (2008) S. 170 mit Anm. 218.<br />
29 Pfarrer Friedrich Hofmann (1904-1965), ab 1931 (als<br />
Nachfolger von Hans Meiser) bis 1945 Leiter <strong>der</strong> Inneren<br />
Mission <strong>in</strong> München.- zu ihm vgl. Helmut Baier,<br />
Liebestätigkeit unter dem Hakenkreuz (2008), S. 38-89 u.<br />
passim.<br />
19
Bild 20: Pf. Friedrich Hofmann<br />
September 1938 zum Vertrauensmann zum<br />
Berl<strong>in</strong>er „Büro Grüber“ berufen. Zu Hofmanns<br />
Hilfe kommt Johannes Zwanzger, <strong>der</strong> se<strong>in</strong>e<br />
Pfarrstelle im oberfränkischen Thüngen hatte<br />
verlassen müssen, weil er zum e<strong>in</strong>en ke<strong>in</strong> „Vollarier“<br />
war und sich zum an<strong>der</strong>en den drei Pogromen<br />
<strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Geme<strong>in</strong>de wi<strong>der</strong>setzt hatte. Er<br />
wird von Cohen ebenso häufig genannt wie Kurt<br />
Frör. Das Büro für die Betreuung nichtarischer<br />
Christen ist bei <strong>der</strong> Inneren Mission <strong>in</strong> <strong>der</strong> Mathildenstraße<br />
untergebracht, sogar bei <strong>der</strong> Gestapo<br />
angemeldet. 30 Zwanzger betreut im Auftrag<br />
des Landesbischofs zwischen Dezember 1938<br />
und 1941 rund 500 Christen jüdischen Herkommens.<br />
Nach dem Krieg hat er e<strong>in</strong>e Pfarrstelle <strong>in</strong><br />
Neuburg an <strong>der</strong> Donau und wird 94 Jahre alt.<br />
Auch nach Berl<strong>in</strong> leiten die Cohens die Hilfesuchenden<br />
an das „Büro Grüber“ weiter, mit Pfarrer<br />
He<strong>in</strong>rich Grüber, 31 <strong>der</strong> weitgehend auf sich<br />
30 Johannes Zwanzger, Pfarrer, betreut 1939-1941 <strong>in</strong><br />
München etwa 500 Christen jüdischen Herkommens. <strong>Die</strong><br />
„Hilfsdienststelle Zwanzger“ bei <strong>der</strong> Inneren Mission,<br />
Mathildenstraße, ist e<strong>in</strong>e <strong>der</strong> 20 Außenstellen des <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong><br />
gegründeten „Büro Grüber“. Zwanzger hat nach dem Krieg<br />
e<strong>in</strong>e Pfarrstelle <strong>in</strong> Neuburg/Donau, wird 94 Jahre alt. – Lit:<br />
Johannes Zwanzger: Jahre <strong>der</strong> Unmenschlichkeit – e<strong>in</strong>e<br />
Rückbes<strong>in</strong>nung. In: Concordia (Neuendettelsau) 73. Nr. 4<br />
(1988) S. 9-21; Matthias Seiler, Tritt e<strong>in</strong> für die Schwachen! –<br />
Hans Werner Jordan – E<strong>in</strong> Pfarrer jüdischer Herkunft im<br />
E<strong>in</strong>satz für "nichtarische" Christen während des 3. Reiches.-<br />
In: <strong>Zeit</strong>schr. f. Bayerische Kirchengeschichte 74 (2005) S.<br />
200-232, hier S. 211ff.; Dirk Schönlebe, München im<br />
Netzwerk <strong>der</strong> Hilfe für „nichtarische“ Christen 1938-1941.<br />
München (Bezirksausschuss Maxvorstadt) 2006, S. 1f. und<br />
passim; Helmut Baier, Liebestätigkeit unter dem Hakenkreuz<br />
(2008), S. 90-92 u. passim; auch: Jutta Neupert: „Das Büro<br />
Grüber. Hilfe für Christen jüdischer Herkunft“. Bayerisches<br />
Fernsehen, Sendung v. 19.11.2008 (43’ 58’’).<br />
31 „Büro Grüber“ (Pfarrer He<strong>in</strong>rich Grüber) <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong>, An <strong>der</strong><br />
Stechbahn 3, verhalf mit se<strong>in</strong>en 20 Außenstellen an die 1000<br />
Juden und sog. „Judenchristen“ zwischen 1935 und 1940 zur<br />
Emigration (= Flucht). Das „Büro Grüber“ wird am<br />
20<br />
Bild 21: Pf. Johannes Zwanzger<br />
Bild 22: Pf. He<strong>in</strong>rich Grüber<br />
gestellt 65 Juden und sogenannten<br />
„Judenchristen“ zur Emigration verhilft. Das<br />
„Büro Grüber“ wird im Dezember 1940 von <strong>der</strong><br />
Gestapo geschlossen, He<strong>in</strong>rich Grüber zuerst<br />
<strong>in</strong>s KZ Sachsenhausen, dann nach Dachau<br />
verbracht (er ist dort Blockältester im<br />
Pfarrerblock „Pfaffenkapo“, wie er berichtet, –<br />
am 19. November 2008 gab es im Bayerischen<br />
Fernsehen e<strong>in</strong>e 45-m<strong>in</strong>ütige Sendung von<br />
Jutta Neupert über ihn). Am häufigsten neben<br />
Frör und Zwanzger wird August Kett <strong>in</strong> den<br />
Cohen-Papieren genannt, meist nur mit <strong>der</strong> <strong>in</strong><br />
rot geschriebenen Initiale „K“, 32 er ist Caritas-<br />
Sekretär, <strong>in</strong> Personalunion Geschäftsführer <strong>der</strong><br />
Caritas und des Raphaelsvere<strong>in</strong>s <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />
Heßstraße <strong>in</strong> München. In Kard<strong>in</strong>al Faulhabers<br />
Auftrag ist er im März 1939 an dem Versuch<br />
beteiligt, 3000 brasilianische Visa für „nichtarische“<br />
Katholiken zu organisieren. E<strong>in</strong>e geradezu<br />
filmreife Figur im Münchner Hilfsnetz für<br />
die bedrohten und verfolgten Juden ist auch<br />
<strong>der</strong> Schweizer Buchhändler und Verleger Walter<br />
Classen, 33 <strong>der</strong> Juden versteckt, mit fal-<br />
19.12.1940 von <strong>der</strong> Gestapo geschlossen, He<strong>in</strong>rich Grüber<br />
<strong>in</strong> die KZ’s Sachsenhausen, später Dachau verbracht. –<br />
Matthias Seiler, Tritt e<strong>in</strong> für die Schwachen! (2005) S. 212f.,<br />
215, 230; Süddeutsche <strong>Zeit</strong>ung v. 9.02.2007, im Artikel über<br />
Landesbischof Meiser. – Zu Pfarrer Grüber vgl. Schönlebe<br />
(2006) passim (Index S. 142); Jutta Neupert, „Das Büro<br />
Grüber. Hilfe für Christen jüdischer Herkunft“. Bayerisches<br />
Fernsehen, Sendung v. 19.11.2008 (43’ 58’’); He<strong>in</strong>rich<br />
Grüber. „An <strong>der</strong> Stechbahn“ (Er<strong>in</strong>nerungen, zitiert bei<br />
Zwanzger, Jahre <strong>der</strong> Unmenschlichkeit, 1988, S. 14);<br />
Helmut Baier, Liebestätigkeit unter dem Hakenkreuz<br />
(2008), S. 11, 13, 44, ... 148f, 151-153 u. passim.<br />
32 Siehe Anm. 5.<br />
33 Walter Classen, Schweizer Buchhändler u. Verleger, <strong>in</strong><br />
München Leiter des Ackermann-Kunst-Verlages, Teil e<strong>in</strong>er<br />
„illegalen Hilfsorganisation für Verfolgte“, organisierte<br />
Fluchten, versteckte Verfolgte im Münchener<br />
„Europäischen Hof“, traf sich mit den Angehörigen des
schen Papieren ausstattet und ihre Flucht über<br />
Österreich und Südtirol <strong>in</strong> die Schweiz organisiert,<br />
wobei auch e<strong>in</strong> Kurierflugzeug <strong>der</strong> deutschen<br />
Abwehr e<strong>in</strong>gesetzt wurde.<br />
Bild 23: Katholiken aus R. Cohens Aufzeichnungen<br />
Es s<strong>in</strong>d jedoch ke<strong>in</strong>eswegs nur Juden <strong>in</strong> christlichen<br />
Konfessionen, denen geholfen wird. <strong>Die</strong><br />
<strong>Quäker</strong> helfen ohneh<strong>in</strong> allen ohne Ansehen von<br />
Religion o<strong>der</strong> Rasse:<br />
E<strong>in</strong>e vorläufige Übersicht aus dem Index zum<br />
Manuskript zeigt, dass die Mehrzahl <strong>der</strong> Hilfesuchenden<br />
jüdischer Konfession war.<br />
Von den bis Blatt 229 (von 324) <strong>in</strong> 245 Fällen<br />
notierten Konfessionen <strong>der</strong> Hilfesuchenden s<strong>in</strong>d<br />
102 jüdisch, 67 evangelisch, 40 katholisch, 22<br />
konfessionlos, 3 freireligiös. E<strong>in</strong>e Namensliste,<br />
überschrieben „Katholiken“, nennt 31 Personen<br />
(Bild 23).<br />
Netzwerks <strong>der</strong> Inneren Mission <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Wohnung<br />
Theresienstr. 19, brachte e<strong>in</strong>e Reihe von Juden mit falschen<br />
Pässen <strong>in</strong> die Schweiz und kehrte mit se<strong>in</strong>er Frau während des<br />
Krieges <strong>in</strong> die Schweiz zurück. – Zwanzger, Jahre <strong>der</strong><br />
Unmenschlichkeit (1988) S. 13; Schönlebe (2006) S. 9, 72f.,<br />
86-88, 104, 120-122., 128; Baier, Liebestätigkeit (2008) S. 163,<br />
170.<br />
<strong>Die</strong> geglückten Emigrationen und Fluchten<br />
vermerkt Rudolf Cohen am oberen rechten<br />
Rand se<strong>in</strong>er Protokollbogen <strong>in</strong> roter T<strong>in</strong>te:<br />
Shanghai, England, U.S.A., Australien.<br />
Bild 24: Auswan<strong>der</strong>ungsziele<br />
Nicht immer jedoch trifft das oben rot markierte<br />
Land auch zu: Der 63jährige Georg Philippsborn<br />
aus <strong>der</strong> Ungererstraße 42, Gesellschafter<br />
e<strong>in</strong>er Hutform-Fabrikation mit 30 Arbeitern <strong>in</strong><br />
<strong>der</strong> Theat<strong>in</strong>erstraße, ist im Juli 1939 bei<br />
Cohens: Seit e<strong>in</strong>em Jahr ist er beim amerikanischen<br />
Konsulat <strong>in</strong> Stuttgart über die polnische<br />
Quote Nr. 910 für die E<strong>in</strong>reise <strong>in</strong> die<br />
U.S.A. angemeldet, das Affidavit kommt von<br />
se<strong>in</strong>em Vetter Philippsborn <strong>in</strong> Chicago, <strong>der</strong><br />
auch für London garantiert, e<strong>in</strong>e Fotokopie <strong>der</strong><br />
Bürgschaft liegt bereits <strong>in</strong> London. Am 16.<br />
August trägt Cohen nach: „Vor 4 Wochen<br />
Permit an Engl.(ischen) Consul, durch <strong>Quäker</strong><br />
21
Bild 25: Aufzeichnungen zu Georg Philippsborn<br />
besorgt / hat falsches Geburtsdatum, muß<br />
berichtigt werden.“ – Sechs Tage später, am 22.<br />
August heißt es abermals: „telefoniert, daß er<br />
auf gut Glück aufs Consulat geht, / u. <strong>der</strong> richtig<br />
gestellte Permit seit 11. Aug.(ust) (!) bereit / liegt.<br />
/ reist <strong>in</strong> 10 Tagen ab“. <strong>Die</strong> vierwöchige<br />
Verzögerung bedeutet das Todesurteil: Am 1.<br />
September bricht <strong>der</strong> Krieg aus. Philippsborn ist<br />
unter den Münchener Juden, die <strong>in</strong> Auschwitz<br />
ermordet werden. 34<br />
Nachträge im Manuskript bezeugen solche<br />
missglückten Auswan<strong>der</strong>ungen und Fluchten<br />
(Bild 25), dabei s<strong>in</strong>d auch Todesdaten<br />
nachgetragen (etwa bei Carol<strong>in</strong>e Borchardt 35 ,<br />
34 BGMJ Bd. II (2007) S. 251f.<br />
35 Carol<strong>in</strong>a Clara Borchardt (* 13.11.1873 Heidelberg), ∞<br />
5.07.1906 London den Schriftsteller Rudolf Borchardt (1877-<br />
1945), deportiert am 15.07.1942 nach Theresienstadt, dort<br />
ermordet am 4.01.1944.- BGBJ Bd. I S. 182.<br />
22<br />
<strong>der</strong> seit 1919 geschiedenen Frau des<br />
Schriftstellers Rudolf Borchardt), abgekürzt<br />
auch <strong>der</strong> Ort <strong>der</strong> Verschleppung: Piaski, Riga,<br />
Theresienstadt, wenn er bekannt geworden<br />
war (von Kaunas wusste damals ja niemand<br />
etwas). Solche Zusätze stammen meist von<br />
Annemarie Cohen. Deren selbstloses Wirken<br />
für die Münchener Juden <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong> ihrer<br />
Entrechtung und Verfolgung an <strong>der</strong> Seite ihres<br />
Mannes ist auch im Buch von Else Behrend-<br />
Rosenfeld dokumentiert, die sie dar<strong>in</strong> als<br />
„Me<strong>in</strong>e Freund<strong>in</strong> Annemarie“ o<strong>der</strong> „Annemarie<br />
die <strong>Quäker</strong><strong>in</strong>“ bezeichnet. 36 Auch <strong>in</strong> dem<br />
bewegenden Buch von Amelie Fried,<br />
„Schuhhaus Pallas“, werden Dr. Rudolf Cohen<br />
und se<strong>in</strong>e „Geheimdatei“ mehrmals erwähnt,<br />
das Besuchsblatt über ihren Großvater<br />
36 Else Behrend-Rosenfeld (1949) S. 53, 91ff, 96 101, 103<br />
113, 120, 154, 178, 184, 231.
Bild 26<br />
Franz Fried ist abgebildet. 37 Auch viele <strong>der</strong> im<br />
Film von Paul Verhoeven „Menschliches<br />
Versagen“ genannten Juden kommen bei<br />
Cohens vor: Dr. med. Alfred Haas, Denny<br />
Löffler, die Feuchtwangers, Gabriele Rosenthal,<br />
geb. Landauer, und die Ärzte Dr. Maximilian<br />
Sigmund und Dr. Rudolf Picard, immer wie<strong>der</strong><br />
auch die Kochschule Albert Schwarz.<br />
Gibt es e<strong>in</strong>e vorläufige Bilanz <strong>der</strong> Geretteten? –<br />
Rudolf Cohen hat e<strong>in</strong>e Namensliste <strong>der</strong> 324<br />
Hilfesuchenden zusammengestellt.<br />
Bild 28: Namensliste „Ausgewan<strong>der</strong>t“<br />
Oben ist sie mit T<strong>in</strong>tenstift „1940“ überschrieben,<br />
e<strong>in</strong> rotes X vor dem Namen steht für „ausgewan<strong>der</strong>t“,<br />
e<strong>in</strong> blaues Kreuz für „tot“. Am oberen<br />
37 Amelie Fried, Schuhhaus Pallas (2008) S. 91 (mit Foto),<br />
100f. („Geheimdatei“), 107.<br />
Bild 27<br />
Rand heißt es von se<strong>in</strong>er späterer Hand, etwas<br />
zitterig: „v(on) 324 (s<strong>in</strong>d) / 44 / ausgewan<strong>der</strong>t“<br />
(Bild 29). Johannes Zwanzger spricht <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em<br />
Interview 1990 von 65 Juden, die „<strong>in</strong> <strong>der</strong><br />
Zusammenarbeit mit den Cohens und dem<br />
Verleger Classen vom Ackermann-Verlag“<br />
gerettet werden konnten.<br />
Nach dieser sehr traurig stimmenden Bilanz<br />
möchte ich zum Ausklang doch noch zwei<br />
Beispiele „erfolgreicher“ Emigrationen nennen.<br />
In beiden Fällen hat <strong>der</strong> sog. „arische“ Le-<br />
Bild 29: Ausschnitt von Bild 28, siehe oben rechts<br />
bensgefährte treu zum „nichtarischen“ gehalten.<br />
<strong>Die</strong> Scheidung wäre, wie <strong>in</strong> vielen Fällen,<br />
das Todesurteil für den jüdischen Partner gewesen.<br />
Am 14. April 1939 notiert Rudolf Cohen den<br />
Besuch des 46jährigen Dr. Felix (er schreibt<br />
irrtümlich „Philipp“) Pr<strong>in</strong>tz, „arisch, evangelisch,<br />
Bild 30: Notiz zu Dr. Philipp [recte Felix] Pr<strong>in</strong>tz<br />
23
Werneckstraße 6, Musiker und Musiklehrer, bis<br />
zum Juni 1938 achtzehn Jahre lang am Lan<strong>der</strong>ziehungsheim<br />
Schondorf am Ammersee: Viol<strong>in</strong>e,<br />
Bratsche, Blockflöte, Chor, Orchester“. <strong>Die</strong> Ehefrau,<br />
Liddy Pr<strong>in</strong>tz, geb. Fischl, 44 Jahre alt, ist<br />
Jüd<strong>in</strong>, konfessionslos, gibt Klavierunterricht. <strong>Die</strong><br />
K<strong>in</strong><strong>der</strong> evangelisch, Ursula 18 und Susanne 11,<br />
s<strong>in</strong>d bereits <strong>in</strong> Schweden, <strong>der</strong> Sohn Klaus Andreas<br />
16, soll „diesen Montag <strong>in</strong>s Realgymnasium<br />
e<strong>in</strong>treten“, er wird aber rechtzeitig nach Schweden<br />
nachfolgen, wie auch Vater und Mutter.<br />
Cohen notiert vorher: e<strong>in</strong> „Bekannter, Villard,<br />
N.(ew) Y.(ork) 38 Journalist, dessen Junge <strong>in</strong><br />
Schondorf, will versuchen (ihn) ex quota als<br />
Professor am Conservatorium... Versucht Klaus<br />
nach England zu br<strong>in</strong>gen durch Frau von Eckard,<br />
Schwester e<strong>in</strong>es Grafen Schuland (?)“,<br />
weiter heißt es: „Papiere für Schweden für Klaus<br />
an Pater Pernow gegangen kurz vor Ostern,<br />
durch Frau Sylvia Wolf, Berl<strong>in</strong>, die mit Frau Pfarrer<br />
Blanck <strong>in</strong> Malmö zusammen arbeitet.<br />
Schwed. Kirchengeme<strong>in</strong>schaft, Wilmersdorf,<br />
Landhausstraße 27“ – Unsere Fotos aus dem<br />
Bild 31: Felix (li.) und Liddy (re.) Pr<strong>in</strong>z<br />
Archiv <strong>der</strong> Stiftung Landheim Schondorf (Dank<br />
an Frau Adelheid Gernhardt, Schondorf) zeigen<br />
Felix und Liddy Pr<strong>in</strong>tz beim Fasch<strong>in</strong>g (Bild 31), <strong>in</strong><br />
ihrer Mitte Dr. Felix Ziel<strong>in</strong>sky (genannt „Ziu“,<br />
Naturkunde, Chemie, Erdkunde, Geschichte –<br />
20 Jahre später ist er noch immer <strong>in</strong> Schondorf<br />
und auch me<strong>in</strong> Biologielehrer). Im Bild von <strong>der</strong><br />
großen Theater-Aufführung „Der Vogel Greif“<br />
1936 im Landheim, zu <strong>der</strong> Felix Pr<strong>in</strong>tz die Musik<br />
38 Dr. Oswald Garrison Villard, New York, Redakteur „The<br />
Nation“. Se<strong>in</strong> gleichnamiger Sohn Oswald Garrison Villard (*<br />
17.9.1916, ev.) war im Schuljahr 1931 <strong>in</strong> Schondorf.- Archiv<br />
Stiftung Landheim Schondorf am Ammersee, Schüler-<br />
Verzeichnis 1931.- Zum Vorstehenden briefliche und<br />
mündliche Mitteilungen v. 2. und 12.12.2008, sowie Fotos,<br />
von Frau Adelheid C. Gernhardt, Stiftung Landheim<br />
Schondorf am Ammersee, <strong>der</strong> hiermit freundlichst gedankt<br />
wird.<br />
24<br />
komponiert hatte, ist auch die Tochter Ursula<br />
zu sehen.<br />
Bild 32: Theateraufführung im Landheim Schondorf<br />
Der Leiter des Landheims Schondorf, Ernst<br />
Reis<strong>in</strong>ger, hatte für die Pr<strong>in</strong>tzens eigens das<br />
etwas weiter abgelegene „Waldhaus“ gekauft,<br />
weil Frau Pr<strong>in</strong>tz als „Nichtarier<strong>in</strong>“ auf dem<br />
Landheimgelände nicht mehr wohnen durfte.<br />
Alle fünf haben sie <strong>in</strong> Schweden überlebt,<br />
wenn auch Felix Pr<strong>in</strong>tz die Familie recht mühsam<br />
als Geigenlehrer hat durchbr<strong>in</strong>gen müssen.<br />
Es gibt sogar so etwas wie e<strong>in</strong> Happy<br />
End: Klaus, <strong>der</strong> <strong>in</strong> Schweden auf e<strong>in</strong>em großen<br />
Gut Landwirtschaft lernte, heiratete die<br />
Tochter des Gutsbesitzers und übernahm das<br />
Gut. Frau Dr. Hedwig Theisen-Reis<strong>in</strong>ger, die<br />
Tochter von Dr. Ernst Reis<strong>in</strong>ger und Julie Kerschenste<strong>in</strong>er,<br />
hat die Pr<strong>in</strong>tzens nach dem<br />
Krieg <strong>in</strong> Göteborg besucht, die K<strong>in</strong><strong>der</strong> ihrerseits<br />
machten e<strong>in</strong>en Gegenbesuch <strong>in</strong> Schondorf.<br />
(Ist Frau Dr. Hedwig Theisen-Reis<strong>in</strong>ger<br />
heute unter uns?)<br />
E<strong>in</strong>e weitere Emigrationsgeschichte, im Vergleich<br />
zu den vielen Opfern „gut ausgegangen“,<br />
ist die <strong>der</strong> Familie Hamburger. Dr. Rudolf<br />
Cohen notiert im Frühjahr 1939:<br />
Bild 33: Blatt 098 „Hamburger“
Scan-Nr. 098 England ╬ v<br />
(α) Aufnahmedatum: [o. D.]<br />
(β) Geschickt von: [ohne Angabe]<br />
(γ) Name: Hamburger 39<br />
(δ) Vorname: Hermann / Dr. med.<br />
(η) Rasse: J. 100 %<br />
(θ) Konfession: protest(antisch)<br />
(κ) Adresse: Murnau, Antonienweg 74c. / Tel.<br />
314<br />
(ν) Ehepartner: Frau Martha, 40 arisch, protest.(antisch)<br />
(ξ) K<strong>in</strong><strong>der</strong>: Tochter Emmi 41 bei Mrs. de Jong,<br />
70 Green House. / Edgeware, Middlesex /<br />
Sohn <strong>in</strong> Australien 42 / Student <strong>in</strong> Basel 43 / Junge<br />
<strong>in</strong> Murnau, 44 jetzt <strong>in</strong> England. /<br />
(ψ) Kriegsteilnehmer: Frontkämpfer<br />
(Γ) Pläne: 45 Vater geht nach England<br />
Der Vater, Dr. med. Hermann Hamburger,<br />
entkam <strong>in</strong> <strong>der</strong> Tat noch rechtzeitig nach England,<br />
blieb dort und praktizierte nach dem<br />
Krieg als Arzt, dem Sohn Fritz gelang die Emi-<br />
39 Hermann Hamburger gelang die Emigration nach<br />
England im Juli 1939, se<strong>in</strong>e Frau Martha folgte im<br />
November 1939 über die Schweiz nach.<br />
40 Martha (bei Cohen irrtümlich „Bertha“) Hamburger, geb.<br />
Schreiber, konnte im Nov./Dez. 1939 über die Schweiz<br />
ihrem Mann nach England nachfolgen.<br />
41 Tochter Emmi Hamburger (* 2.11.1914 Pfaffenhofen,<br />
gest. 2006) war im Juli 1939 von England <strong>in</strong> die Ferien<br />
zurückgekehrt zu <strong>der</strong> Mutter <strong>in</strong> Murnau, um ihr bei den<br />
Auswan<strong>der</strong>ungsvorbereitungen zu helfen, wurde vom<br />
Kriegsbeg<strong>in</strong>n überrascht; im Krieg dienstverpflichtet <strong>in</strong><br />
Klei<strong>der</strong>fabrik <strong>in</strong> Murnau, ab 1944 <strong>in</strong> <strong>der</strong> "Muna"<br />
(Munitionsfabrik); ∞ nach dem Krieg Alexan<strong>der</strong> Piekarczyk<br />
(Poln. Offizier, während des Krieges im Lager bei Murnau,<br />
gest. Tel Aviv 2003), beide ausgewan<strong>der</strong>t nach Tel Aviv.<br />
42 1. Sohn Fritz (Fred) Hamburger (* 4.8.1913, gest. 2001)<br />
gelang die Emigration nach Australien.<br />
43 2. Sohn Dolf Hamburger (* 1918), Student <strong>in</strong> Basel, <strong>in</strong><br />
den Semesterferien nach Murnau, dort vom Kriegsausbruch<br />
überrascht. In Murnau und München Hilfsarbeiter, ab 1944<br />
<strong>in</strong> Zwangsarbeit. Nach dem Krieg Studienabschluß, ∞ Irmi<br />
Randlkofer aus München; Facharzt (Nervenarzt), eigene<br />
Praxis <strong>in</strong> München bis 1993 (Ruhestand mit 75). Lebt<br />
seither <strong>in</strong> Gmund / St. Quir<strong>in</strong> (Tegernsee).<br />
44 3. Sohn Hermann (* 7.4.1924), <strong>in</strong> Murnau vom<br />
Gymnasium verwiesen, Mechaniker-Lehre bei Mercedes<br />
(Meister war Ant<strong>in</strong>azi), 1948 nach Australien ausgewan<strong>der</strong>t<br />
mit Frau Hanni. Hat sich vom Arbeiter zum Chef e<strong>in</strong>er<br />
großen Firma hochgearbeitet. Lebt 2008 noch und kam<br />
zum 90. Geburtstag se<strong>in</strong>es Bru<strong>der</strong>s Dolf nach St. Quir<strong>in</strong><br />
(Tegernsee). – Alle Mitteilungen von Prof. Dr. Rudolf<br />
Cohen am 1. Dez. 2008 (München) und von Dr. Dolf<br />
Hamburger im Januar 2009<br />
45 Das folgende <strong>in</strong> Blei nachgetragen.<br />
Bild 34: Familie Hamburger 1950 <strong>in</strong> Tel Aviv<br />
migration nach Australien (wo er 2001 starb),<br />
<strong>der</strong> Junge <strong>in</strong> Murnau, „jetzt <strong>in</strong> England“, Hermann<br />
Hamburger, emigrierte ebenfalls nach<br />
Australien, und <strong>der</strong> „Student <strong>in</strong> Basel“ ist Dolf<br />
Hamburger, <strong>der</strong> verschiedene Lager und<br />
Zwangsarbeiten überlebte, nach dem Krieg<br />
das Mediz<strong>in</strong>studium beendete, e<strong>in</strong>e Münchner<strong>in</strong><br />
heiratete, und bis zu se<strong>in</strong>em 75. Lebensjahr<br />
Bild 35: <strong>Die</strong> „jungen Hamburgers“ 1948<br />
als Nervenarzt se<strong>in</strong>e Praxis <strong>in</strong> München führte.<br />
Er lebt, <strong>in</strong>zwischen 90jährig, mit se<strong>in</strong>er Frau<br />
am Tegernsee. Beide s<strong>in</strong>d sie heute unter uns.<br />
Me<strong>in</strong> letztes Bild (Bild 36) soll mit dem<br />
5jährigen Hans Koppel, <strong>der</strong> mit se<strong>in</strong>en Eltern<br />
im Transport vom November 1941 nach Kaunas<br />
verschleppt und dort ermordet wurde, für<br />
die Vielen stehen, die e<strong>in</strong> gleiches Schicksal<br />
hatten. <strong>Die</strong> Überschrift „Hans Koppel, geb. am<br />
9. Januar 1936, deportiert am 20.11.1941 nach<br />
Kaunas, dort am 25.11.1941 ermordet“ sagt<br />
alles aus.<br />
25
26<br />
Bild 35:<br />
Hans Koppel, geboren am 9. Januar 1936, deportiert am 20.11.1941 nach Kaunas,<br />
dort am 25.11.1941 ermordet
Das Hilfsnetz von Annemarie und Rudolf Cohen <strong>in</strong> München<br />
Er<strong>in</strong>nerungen<br />
Von Rudolf Cohen<br />
Zunächst möchte mich herzlich bei Herrn Bäumler, Herrn Heusler und Herrn Zahn für<br />
diese Veranstaltung und bei Herrn Zahn noch beson<strong>der</strong>s für se<strong>in</strong>e Aufarbeitung <strong>der</strong><br />
Aufzeichnungen me<strong>in</strong>es Vaters bedanken.<br />
Herrn Bäumlers E<strong>in</strong>ladung, auf dieser Veranstaltung auch selber etwas über me<strong>in</strong>e<br />
Er<strong>in</strong>nerung an diese <strong>Zeit</strong> beizutragen, war mir Anlass, mich e<strong>in</strong>mal gründlicher mit<br />
e<strong>in</strong>igem zu beschäftigen, das mir bislang so sehr als Selbstverständlichkeit vorge-<br />
kommen war, dass es ke<strong>in</strong>er gründlichen Beschäftigung damit bedurfte. Es war er-<br />
staunlich anstrengend: Im Unterschied zum Aufruf historischen Detailwissens aus<br />
dem Gedächtnis erwecken ganz persönliche Er<strong>in</strong>nerungen an diese Jahre, an die<br />
Jahre <strong>der</strong> Deportationen, <strong>der</strong> Hilflosigkeit, und <strong>der</strong> Bomben doch unweigerlich noch<br />
sehr viel Angst.<br />
Bedanken möchte ich mich auch bei me<strong>in</strong>er Schwäger<strong>in</strong>, L<strong>in</strong>da L<strong>in</strong>cke-Cohen, die<br />
mir e<strong>in</strong>ige Materialien gab, von denen ich Ihnen – dank <strong>der</strong> technischen Hilfe von<br />
Herrn Zahn – im Folgenden e<strong>in</strong>ige Bil<strong>der</strong> aus <strong>der</strong> jeweils entsprechenden <strong>Zeit</strong> zeigen<br />
kann.<br />
Zunächst ersche<strong>in</strong>t es mir aber nötig, e<strong>in</strong>er ansonsten nahe liegenden Enttäuschung<br />
vorzubeugen: Von all dem, über das Herr Zahn anhand <strong>der</strong> Aufzeichnungen me<strong>in</strong>es<br />
27
Vaters soeben berichtet hat, habe ich als K<strong>in</strong>d – soweit ich mich er<strong>in</strong>nern kann –<br />
nichts mitbekommen. Wann und wo – doch wohl <strong>in</strong> unserer Wohnung – me<strong>in</strong> Vater<br />
diese Gespräche geführt hat, ist mit nicht bekannt. Möglicherweise hatte er die Ter-<br />
m<strong>in</strong>e so anberaumt, dass me<strong>in</strong> Bru<strong>der</strong> und ich dann gerade <strong>in</strong> <strong>der</strong> Schule waren.<br />
Ich er<strong>in</strong>nere mich h<strong>in</strong>gegen sehr wohl, dass me<strong>in</strong> Vater immer wie<strong>der</strong> „Gäste“ hatte,<br />
die ke<strong>in</strong>er von uns (auch me<strong>in</strong>e Mutter nicht) sehen sollte, so wie auch umgekehrt<br />
me<strong>in</strong> Vater entsprechende „Gäste“ me<strong>in</strong>er Mutter nicht treffen sollte. Wer dann aufs<br />
Klo musste, musste sich laut vernehmbar machen, bevor<br />
er se<strong>in</strong> Zimmer verließ. Uns war nur klar, dass dann<br />
Leute bei uns waren, die nicht gestört werden durften<br />
und Schutz brauchten. Wie oft wer von me<strong>in</strong>en Eltern<br />
solche Gäste hatte, woher sie kamen und woh<strong>in</strong> sie<br />
g<strong>in</strong>gen, wusste ich nie. Man sprach vernünftigerweise<br />
nicht darüber. Vermutlich hat es sich bei diesen Gästen<br />
aber um ganz an<strong>der</strong>e Personen gehandelt als jene, über<br />
die me<strong>in</strong> Vater se<strong>in</strong>e Aufzeichnungen angefertigt hatte.<br />
Denn alle Aufzeichnungen mussten <strong>in</strong> diesen Jahren<br />
doch stets so abgefasst se<strong>in</strong>, dass sie auch <strong>in</strong> den<br />
Händen <strong>der</strong> Gestapo ke<strong>in</strong>em Betroffenen gefährlich<br />
werden konnten.<br />
Deutlich er<strong>in</strong>nere ich mich demgegenüber an e<strong>in</strong>ige, recht häufige Besucher, die of-<br />
fenkundig von me<strong>in</strong>en Eltern hoch geschätzt waren und mit denen sich me<strong>in</strong>e Eltern<br />
meist sehr schnell zurückziehen wollten, um irgendetwas zu besprechen, was mit <strong>der</strong><br />
Hilfe für irgendwelche an<strong>der</strong>e zu tun hatte.<br />
28
Zu diesen recht häufigen Besu-<br />
chern, zählte Gertrud Luckner,<br />
sowohl <strong>Quäker</strong><strong>in</strong> als auch Katholi-<br />
k<strong>in</strong> – e<strong>in</strong>e höchst ungewöhnliche<br />
Verb<strong>in</strong>dung. Das Bild zeigt Gertrud<br />
Luckner mit me<strong>in</strong>em Vater auf<br />
e<strong>in</strong>er Jahresversammlung <strong>der</strong><br />
<strong>Quäker</strong> <strong>in</strong> Bad Pyrmont. Gertrud<br />
Luckner reiste stets mit e<strong>in</strong>em<br />
offiziellen Schreiben des Freiburger Erzbischofs Gröber, nach dem sie „mit <strong>der</strong><br />
Durchführung notwendiger Aufgaben <strong>der</strong> außerordentlichen Seelsorge“ betraut war.<br />
Bis zu ihrer Verhaftung 1943 und ihrer Verfrachtung als „politischer Häftl<strong>in</strong>g“ nach<br />
Ravensbrück – war sie so gut wie dauernd unterwegs, um für unzählige Menschen<br />
Kontakte zu stiften und Hilfe zu organisieren.<br />
Zum diesem Kreis an Besuchern zählten u.a. Pfarrer Zwanzger, Luise Oesterreicher,<br />
Pater Delp sowie viele auswärtige <strong>Quäker</strong>, von denen mir vor allem noch Douglas<br />
Steere und später Margarete Lachmund <strong>in</strong> deutlicher Er<strong>in</strong>nerung s<strong>in</strong>d.<br />
Lei<strong>der</strong> waren all me<strong>in</strong>e Versuche erfolglos, herauszuf<strong>in</strong>den, wie me<strong>in</strong>e Eltern eigent-<br />
lich zu den <strong>Quäker</strong>n gekommen waren – o<strong>der</strong> gar jenen Brief aufzutreiben, von dem<br />
me<strong>in</strong>e Eltern immer mal wie<strong>der</strong> erzählt hatten. In diesem Brief hätten sie – im H<strong>in</strong>-<br />
blick auf die Entwicklung unter Hitler – um Mitgliedschaft bei den <strong>Quäker</strong>n nachge-<br />
sucht, obwohl me<strong>in</strong> Vater <strong>in</strong> dem Brief <strong>in</strong> dem Brief unmissverständlich deutlich ge-<br />
macht hatte, er könne mit ke<strong>in</strong>erlei christlichen Überzeugungen aufwarten, son<strong>der</strong>n<br />
alle<strong>in</strong> mit e<strong>in</strong>fachem humanistischem Verantwortungsbewusstse<strong>in</strong>. Nichtsdestoweni-<br />
ger würde er es als große Ehre ansehen, dieser „Gesellschaft anständiger Leute“<br />
anzugehören.<br />
Me<strong>in</strong>e Mutter hatte demgegenüber offenbar schon<br />
sehr früh e<strong>in</strong>e große Offenheit religiösen Fragen<br />
gegenüber und vermochte auch <strong>in</strong> den schlimmsten<br />
<strong>Zeit</strong>en aus ihren eher mystisch-protestantischen<br />
Überzeugungen immer wie<strong>der</strong> erstaunlich viel Kraft<br />
und Sicherheit zu ziehen.<br />
29
Wie auch immer diese Kontakte mit den <strong>Quäker</strong>n abgelaufen se<strong>in</strong> mögen – 1934<br />
wurden me<strong>in</strong>e beiden Eltern <strong>in</strong> die „Religiöse Gesellschaft <strong>der</strong> Freunde, <strong>Quäker</strong>“,<br />
aufgenommen. Und es ist kaum zu viel gesagt, dass sie sich bei all ihren Hilfsaktivi-<br />
täten <strong>der</strong> kommenden Jahre klar als <strong>Quäker</strong> verstanden hatten.<br />
Me<strong>in</strong>e Er<strong>in</strong>nerungen an die Hilfstätigkeit me<strong>in</strong>er Eltern <strong>in</strong> diesen Jahren werden ganz<br />
wesentlich von „den Päckchen“ dom<strong>in</strong>iert. Was das für Päckchen waren, än<strong>der</strong>te<br />
sich allerd<strong>in</strong>gs im Laufe <strong>der</strong> Jahre zum<strong>in</strong>dest zweimal.<br />
Soweit ich rekonstruieren kann, begann es Anfang 1940 mit den „Päckchen nach<br />
30<br />
Polen“. In dieser <strong>Zeit</strong> erwuchs auch die enge<br />
Freundschaft und Zusammenarbeit mit Else<br />
Rosenfeld, – damals Sozialarbeiter<strong>in</strong> <strong>der</strong> Jüdi-<br />
schen Geme<strong>in</strong>de <strong>in</strong> München, und ab August 1941<br />
Wirtschaftsleiter<strong>in</strong> <strong>der</strong> „Heimanlage für Juden <strong>in</strong><br />
Berg am Laim“. Wir haben sie dort auch als K<strong>in</strong><strong>der</strong><br />
bis zu ihrer Flucht oft besucht – und später dann<br />
wie<strong>der</strong> nach dem Krieg <strong>in</strong> Ick<strong>in</strong>g.<br />
Unmittelbarer Anlass für<br />
die damalige Päckchen-<br />
Aktion waren die Berichte,<br />
dass <strong>in</strong> dem grimmigen<br />
W<strong>in</strong>ter 1940/41 etwa 1000 Juden aus Stett<strong>in</strong> und Vorpom-<br />
mern <strong>in</strong> mehrere weit im Osten Polens gelegene Siedlungen<br />
– am bekanntesten ist Piaski geworden – deportiert worden<br />
waren und von den dort lebenden, meist fromm-orthodoxen<br />
Juden <strong>in</strong> ihren zumeist arg kärglichen Unterkünften<br />
aufgenommen werden mussten. <strong>Die</strong> Deportierten hatten nicht<br />
mehr dabei, als was sie am Körper trugen, viele kamen mit<br />
schweren Erfrierungen. Ihre Not muss immens gewesen se<strong>in</strong>.<br />
Else Rosenfeld und Gertrud Luckner hatten es <strong>in</strong>zwischen geschafft, Adressen von<br />
solchen Deportierten zu besorgen, an die es nun galt, so viel und so schnell wie<br />
möglich Nahrungsmittel und sog. „gebrauchtes Material“ <strong>in</strong> Zwei-Kilo-Päckchen zu<br />
verschicken: nicht nur Kleidung, Medikamente und Verbandzeug, auch Teller und<br />
Becher, Nähzeug und Kerzen, Unterwäsche, Strümpfe, Reclam-Bände <strong>der</strong> Klassiker<br />
und Buntstifte für K<strong>in</strong><strong>der</strong> – alles, was es zu erbetteln und zu verpacken gab.
Sehr bald hatte sich gottlob herausgestellt, dass „richtige Pakete“ anstelle dieser<br />
kle<strong>in</strong>en Päckchen, o<strong>der</strong> gar Pakete mit neuen Sachen, die Adressaten oft nicht er-<br />
reichten. Mäntel, Jacken, Decken und ähnliches mussten also aufgetrennt und zu-<br />
sammen mit Nähzeug aufgeteilt <strong>in</strong> auf verschiedene Päckchen zur Post gebracht<br />
werden. Douglas Steere, e<strong>in</strong> amerikanischer <strong>Quäker</strong>, er<strong>in</strong>nerte sich noch viele Jahre<br />
nach dem Krieg, dass ich ihm – als er 1940 bei e<strong>in</strong>em Besuch me<strong>in</strong>er Eltern wegen<br />
des warmen Wetters se<strong>in</strong>en Mantel über dem Arm trug, ihm diesen gleich an <strong>der</strong> Tür<br />
mit <strong>der</strong> Bemerkung „Danke für Polen“ hatte abnehmen wollen.<br />
Spätestens 1942, als diese sog. „Aussiedler“ <strong>in</strong> Polen ihrer „Endlösung“ zugeführt<br />
worden waren, begann die zweite Serie von Päckchen: Sie waren jetzt sehr viel klei-<br />
ner und an Menschen <strong>in</strong> Konzentrationslagern adressiert. Überall <strong>in</strong> unserer Woh-<br />
nung und auf dem Balkon standen damals Bretter herum, auf denen Apfelscheiben<br />
und Unmengen <strong>in</strong> kle<strong>in</strong>e Würfel geschnittene Schwarzbrot-Scheiben getrocknet wur-<br />
den, um zusammen mit „Tengelmanns Suppengrundlage“ und den von me<strong>in</strong>er Mutter<br />
und an<strong>der</strong>en dutzendweise gehäkelten o<strong>der</strong> gestrickten Pulswärmern <strong>in</strong> die Lager<br />
verschickt zu werden. Ich er<strong>in</strong>nere nicht, was sonst noch alles <strong>in</strong> die Päckchen kam.<br />
Ich er<strong>in</strong>nere nur noch, dass me<strong>in</strong> Vater „ständig“ irgendwo und überall verknotete<br />
B<strong>in</strong>dfäden fand und diese dann zuhause aufpulte, um die nächsten Päckchen zu<br />
verschnüren, vor allem aber, dass er bei jedem Päckchen auf se<strong>in</strong>er Briefwaage ge-<br />
nau nachprüfte, dass es auch ke<strong>in</strong> Gramm zu viel wog. Wegen e<strong>in</strong> paar Gramm zu-<br />
31
viel wollte er nicht <strong>in</strong>s KZ. Woche für Woche zog er dann mit unserem Bollerwagen<br />
zur Post, wo man den „Herrn Doktor“ mit se<strong>in</strong>en ganzen Päckchen freundlich und oft<br />
lachend empf<strong>in</strong>g. Zu fast all diesen Päckchen kamen übrigens glaubwürdige Emp-<br />
fangsbestätigungen. Hier zwei Beispiele solcher Empfangsbestätigungen an das mit<br />
me<strong>in</strong>en Eltern eng befreundeten Ehepaar Julius und Berta Bauer, die mir <strong>der</strong>en <strong>in</strong><br />
New York lebende Tochter für diesen Vortrag geschickt hat.<br />
Mit dem Ende des Krieges wurde es bei uns zunächst kaum ruhiger, son<strong>der</strong>n eher<br />
arg chaotisch: Me<strong>in</strong>e Eltern und me<strong>in</strong> Bru<strong>der</strong> Walther hatten nach <strong>der</strong> Öffnung von<br />
Dachau und an<strong>der</strong>en Lagern e<strong>in</strong>ige völlig erschöpfte und hilflos durch die Straßen<br />
irrende Leute aufgesammelt, die bei uns nun erst mal zu Ruhe und Kräften kommen<br />
sollten. Natürlich brachten diese dann bald Leidensgenossen mit, die irgendwie auch<br />
noch <strong>in</strong> unserem ehemaligen „Wohnzimmer“ auf dem Boden kampierten. E<strong>in</strong>ige<br />
fromme Juden aus Polen und Rumänien – die ersten orthodoxen Juden, die wir ken-<br />
nen lernten – hatten es sogar geschafft, überlebende Verwandte zu f<strong>in</strong>den, und na-<br />
türlich landeten diese dann auch immer mal wie<strong>der</strong> bei uns.<br />
32<br />
Gottlob kamen zu dieser <strong>Zeit</strong> die ersten<br />
Care-Pakete amerikanischer <strong>Quäker</strong>,<br />
denn all diese Leute konnte man un-<br />
möglich nur von Wildgemüse ernähren,<br />
das me<strong>in</strong> Vater und ich auf den Wiesen<br />
sammelten.<br />
Me<strong>in</strong>e Eltern waren allerd<strong>in</strong>gs überzeugt,<br />
dass <strong>der</strong> Inhalt dieser Pakete nicht für<br />
uns bestimmt sei, son<strong>der</strong>n weiter<br />
verschickt werden müsse, an Menschen,<br />
die noch weit bedürftiger waren als wir,<br />
und von denen gab und gibt es zu allen<br />
<strong>Zeit</strong>en unübersehbar viele. Damit begann die dritte Phase <strong>der</strong> Päckchen-Schickerei<br />
<strong>in</strong> Flüchtl<strong>in</strong>gslager und an Menschen <strong>in</strong> beson<strong>der</strong>s kümmerlichen Verhältnissen.<br />
Me<strong>in</strong> Vater hatte sich <strong>in</strong> diesen Jahren schon weitgehend zu se<strong>in</strong>en Klassikern und<br />
zu se<strong>in</strong>em Klavier zurückgezogen. Mit dem Cello g<strong>in</strong>g es nicht mehr so recht. Nun<br />
h<strong>in</strong>g nahezu alles von me<strong>in</strong>er Mutter ab, zumal unsere Haushaltshilfe, Emmi Janda,
die all die Jahre unter den Nazis treu zu uns gehalten hatte, bei dem jetzigen Durch-<br />
e<strong>in</strong>an<strong>der</strong> nicht mehr mitkam.<br />
Es dauerte, bis me<strong>in</strong>e Mutter dann schließlich so wurde, wie sich wohl die meisten,<br />
die sie nach dem Krieg kennen lernten, noch an sie er<strong>in</strong>nern:<br />
Erlauben Sie mir, zum Schluss noch e<strong>in</strong>er Frau zu gedenken, die für mich beson<strong>der</strong>s<br />
eng mit dem Thema des heutigen Abends assoziiert ist, wohl die engste Freund<strong>in</strong><br />
me<strong>in</strong>er Mutter, <strong>der</strong>en Schreibtisch mich noch heute fast täglich an sie er<strong>in</strong>nert: Elisa-<br />
beth Heims.<br />
Sie war auch Mitglied <strong>der</strong> <strong>Quäker</strong> und Jüd<strong>in</strong>. Wir hatten sie noch e<strong>in</strong>ige Male <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />
Judensiedlung <strong>in</strong> Milbertshofen, Knorrstraße, be-<br />
sucht, wo sie irgende<strong>in</strong>e Funktion als Sozial-<br />
arbeiter<strong>in</strong> <strong>in</strong>ne hatte und für jüdische Mädchen <strong>in</strong><br />
<strong>der</strong> Flachsfabrik verantwortlich war.<br />
Elisabeth Heims hatte alle Papiere für e<strong>in</strong>e Aus-<br />
wan<strong>der</strong>ung <strong>in</strong> die USA zusammen, entschloss sich<br />
dann aber, hier zu bleiben, damit sich die von ihr<br />
Betreuten nicht auch noch von ihr verlassen fühlen<br />
mussten. Hier wisse sie doch besser, was zu tun<br />
sei als irgendwo <strong>in</strong> den USA <strong>in</strong> fraglos weit geord-<br />
neteren Verhältnissen. Es war – wie mir sche<strong>in</strong>t –<br />
e<strong>in</strong>e sehr ähnliche Haltung wie jene, die me<strong>in</strong>e<br />
33
Eltern veranlasste, <strong>in</strong> <strong>der</strong> Nazi-<strong>Zeit</strong> <strong>in</strong> Deutschland zu bleiben. Hier könne man – um<br />
mit me<strong>in</strong>em Vater zu reden – noch „Vernünftiges“, etwas „Nützliches“; tun. Der Auf-<br />
bau e<strong>in</strong>er neuen Existenz im nicht so gefährlichen und brutalen Ausland hätte da<br />
nicht dazu gezählt.<br />
Zwei Tage vor ihrem Abtransport mit rund 1000 an<strong>der</strong>en nach Kaunas, von wo ke<strong>in</strong><br />
e<strong>in</strong>ziger zurück kam, schrieb Elisabeth Heims die folgende Karte: Ich bitte Sie, diese<br />
selber zu lesen.<br />
Me<strong>in</strong> sehr liebes Tescile<strong>in</strong>, Telefon – das ist e<strong>in</strong> Ana-<br />
chronismus; aber glaube mir, man kann auch ohne leben.<br />
Solange ich e<strong>in</strong>e Liegestatt habe und me<strong>in</strong>e Lohofer Schlaffähigkeit<br />
erhalten bleibt, kann es nicht fehlen.<br />
Nur müsste me<strong>in</strong> Gedächtnis <strong>in</strong>s Unermeßliche wachsen,<br />
denn ohne Bücher, ohne Briefpapier, ohne Zeugnisse zu se<strong>in</strong>,<br />
ist e<strong>in</strong>e ungewohnte Sache.<br />
Aber das Herz ist und bleibt dasselbe – me<strong>in</strong> Liebes! Ich<br />
küsse Dich; möge Gott Dich segnen.<br />
Für den Transport b<strong>in</strong> ich als „Fürsorger<strong>in</strong>“ e<strong>in</strong>geteilt.<br />
Außerdem werden die Lohhofer mit mir fahren und wir s<strong>in</strong>d<br />
In dieser kurzen <strong>Zeit</strong> wun<strong>der</strong>bar zusammen gewachsen.<br />
Annemarie musst Du mal anrufen, denn ich konn-<br />
te sie nicht mehr benachrichtigen. Ich habe sie noch<br />
kürzlich gesehen. Sie ist e<strong>in</strong> prachtvoller Mensch.<br />
Überhaupt nehme ich viel Freundschaft und viel<br />
Liebe mit mir!<br />
Du hast viel Arbeit, viel Verantwortung, viel Kraft<br />
verbraucht. Bitte, bitte spare Kräfte für den Neuaufbau<br />
auf – ich glaube noch immer dran!<br />
Hier ist es bei <strong>der</strong> köstlichen Herbstsonne wie auf e<strong>in</strong>er<br />
Hütte im Gebirge: wir sitzen auf e<strong>in</strong>er Bank vor <strong>der</strong> Baracke<br />
und schmoren!<br />
Ob Du Dich noch um den Waldfriedhof kümmern kannst? Ich hatte<br />
lei<strong>der</strong>, lei<strong>der</strong> ke<strong>in</strong>e <strong>Zeit</strong> mehr dazu. Friedhofsgärtnerei Wase,<br />
Mchn, Forstenrie<strong>der</strong>str. Ja, Liebes – wann und wo wir uns sehen?<br />
Wir wissen uns aber e<strong>in</strong>s im Lieben, Hoffen und Tun!<br />
Es küsst Dich De<strong>in</strong>e<br />
Elisabeth<br />
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.<br />
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GEDENKTAG FÜR DIE OPFER DES NATIONALSOZIALISMUS 2009<br />
DIE<strong>NS</strong>TAG, 27. JANUAR 2009<br />
<strong>Stille</strong> <strong>Helfer</strong>: <strong>Die</strong> <strong>Quäker</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>NS</strong>-<strong>Zeit</strong><br />
Das Hilfsnetz von Annemarie und Rudolf Cohen <strong>in</strong> München<br />
<strong>Die</strong>nstag, 27. Januar 2009, 19.00 Uhr<br />
Bayerische Staatsbibliothek, Fürstensaal<br />
Ludwigstraße 16, 80539 München – Maxvorstadt<br />
(U-Bahnhof Universität, Bus Museumsl<strong>in</strong>ie 100 / Von-<strong>der</strong>-Tann-Straße)<br />
Begrüßung<br />
Oskar Holl, Vorsitzen<strong>der</strong> des Bezirksausschusses 3 Maxvorstadt<br />
<strong>Stille</strong> <strong>Helfer</strong>: <strong>Die</strong> <strong>Quäker</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>NS</strong>-<strong>Zeit</strong><br />
Klaus Bäumler<br />
Annemarie und Rudolf Cohen <strong>in</strong> München: Hilfe für Verfolgte 1938-1940<br />
Peter Zahn<br />
Er<strong>in</strong>nerungen<br />
Rudolf Cohen<br />
<strong>Die</strong> Gedenkstätte „<strong>Stille</strong> Helden“ wurde im Oktober 2008 <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> eröffnet. Es wird dort an Menschen<br />
er<strong>in</strong>nert, die <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>NS</strong>-<strong>Zeit</strong> nicht „wegschauten“, son<strong>der</strong>n die Not ihrer Mitbürger erkannten und halfen.<br />
Das Hilfsnetz <strong>der</strong> <strong>Quäker</strong> ist bis heute nahezu unbekannt geblieben. Es ist e<strong>in</strong> beson<strong>der</strong>er Glücksfall,<br />
daß sich e<strong>in</strong>e authentische Quelle über die Hilfstätigkeit von Dr. med. Annemarie und Dr. math. Rudolf<br />
Cohen im Familienbesitz erhalten hat. Prof. Dr. Rudolf Cohen übergab 2006 die Aufzeichnungen<br />
se<strong>in</strong>es Vaters dem Stadtarchiv München. Prof. Dr. Peter Zahn übernahm die Transkription. Damit wird<br />
e<strong>in</strong>e wertvolle zeitgeschichtliche Quelle für München erschlossen.<br />
Mit <strong>der</strong> Veranstaltung soll e<strong>in</strong> Impuls für Recherchen zum Themenkreis „<strong>Stille</strong> <strong>Helfer</strong> <strong>in</strong> München“<br />
gegeben werden.<br />
Musikalisches Memento<br />
Naoya Nishimura, Viol<strong>in</strong>e (Stipendiat <strong>der</strong> Akademie des BR-Symphonieorchesters)<br />
Mit Unterstützung des Kulturreferats und des Stadtarchivs <strong>der</strong> Stadt München laden e<strong>in</strong>:<br />
Evang. Kirchengeme<strong>in</strong>de<br />
St. Markus<br />
Kath. Pfarrgeme<strong>in</strong>de<br />
St. Benno<br />
Kath. Hochschulgeme<strong>in</strong>de<br />
LMU<br />
Evang. Stadtakademie<br />
München<br />
Kath. Hochschulgeme<strong>in</strong>de<br />
TUM<br />
Gegen Vergessen<br />
Für Demokratie e.V.<br />
Kath. Pfarrgeme<strong>in</strong>de<br />
St. Ludwig<br />
Kath. Pfarrgeme<strong>in</strong>de<br />
St. Bonifaz<br />
Evang. Hochschulgeme<strong>in</strong>de<br />
TUM<br />
Evang. Studentengeme<strong>in</strong>de<br />
LMU<br />
Kath. Pfarrgeme<strong>in</strong>de<br />
St. Joseph<br />
Weiße Rose Stiftung e.V<br />
Volkshochschule München<br />
Fachber. Politik u. Gesellschaft<br />
Religiöse Geme<strong>in</strong>schaft <strong>der</strong> Freunde<br />
(<strong>Quäker</strong>) Gruppe München<br />
Bezirksausschuss 3 Maxvorstadt, Dr. Oskar Holl, Tal 13, 80331 München, Tel. 2280 2666