Kampfkunst als Möglichkeit der Persönlichkeitsstärkung - KHA
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Kirchliche Pädagogische Hochschule Edith Stein<br />
<strong>Kampfkunst</strong> <strong>als</strong> <strong>Möglichkeit</strong> <strong>der</strong> <strong>Persönlichkeitsstärkung</strong><br />
Prävention und Deeskalation von Gewalt im Kindesalter<br />
am Beispiel von WingTsun<br />
Bachelorarbeit<br />
zur Erlangung des akademischen Grades<br />
Bachelor of Education (BEd)<br />
Eingereicht bei<br />
Prof in . Mag a .phil. Elisabeth Ostermann<br />
Zweitbegutachterin<br />
Prof in . Mag a . et Dr in .theol. Karin Peter<br />
Eingereicht von<br />
Bryan Daniel Auer<br />
Stams, im Mai 2012
Kurzzusammenfassung<br />
Die vorliegende Bachelorarbeit befasst sich mit <strong>der</strong> <strong>Kampfkunst</strong> <strong>als</strong> Möglich-<br />
keit <strong>der</strong> <strong>Persönlichkeitsstärkung</strong> und mit Prävention und Deeskalation von<br />
Gewalt im Kindesalter am Beispiel von WingTsun. Um <strong>der</strong> Vielschichtigkeit<br />
<strong>der</strong> Thematik gerecht zu werden, ist sie in Bezug gesetzt zu den Bereichen<br />
Persönlichkeit und Persönlichkeitsbildung, Aggression und Gewalt sowie zur<br />
Pädagogik. Der hermeneutische Ansatz in seiner interdisziplinären und inter-<br />
kulturellen Funktion hat <strong>als</strong> Brückenbauer gedient und dazu beigetragen,<br />
dass das Erkenntnisinteresse <strong>der</strong> Arbeit positiv beantwortet werden kann:<br />
WingTsun ist eine <strong>Möglichkeit</strong> <strong>der</strong> <strong>Persönlichkeitsstärkung</strong> und kann im<br />
Dienst des staatlichen Erziehungsauftrags in Österreich stehen.<br />
2
Vorwort<br />
In den letzten Jahren haben sich die Berichte um die erhöhte Gewaltsituation<br />
in Schulen angehäuft, auch in Österreich und Deutschland. Mobbing, Amok-<br />
läufe, Cyberbullying und Happy-Slapping sind nur einige Begriffe, die in den<br />
Medien immer wie<strong>der</strong> auftauchen und für reichlich Diskussionsstoff sorgen.<br />
Umso wichtiger ist es daher, auch schon im Volksschulalter intensiv Gewalt-<br />
prävention zu betreiben.<br />
Die Entscheidung, eine Bachelorarbeit zur angeführten Thematik zu verfas-<br />
sen, liegt in meiner persönlichen mittlerweile 18-jährigen Erfahrung in <strong>der</strong><br />
<strong>Kampfkunst</strong> begründet, vor allem im Bereich WingTsun. Über acht Jahre da-<br />
von habe ich <strong>als</strong> WingTsun-Trainer Kin<strong>der</strong>gruppen geleitet. Viele Kin<strong>der</strong>, die<br />
im Alter zwischen sechs und zwölf Jahren in meinen Unterricht gekommen<br />
sind, wiesen anfangs spürbare Defizite in ihrem Selbstvertrauen und in ihrem<br />
Verhalten auf. Die geistige Haltung und das Knowhow <strong>der</strong> Kampftechnik, die<br />
durch WingTsun vermittelt werden, führten regelmäßig zu deutlich sichtbaren<br />
Verbesserungen im Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong>. Es<br />
entspricht meiner Erfahrung, dass <strong>Kampfkunst</strong> und Persönlichkeitsentwick-<br />
lung in einem engen Zusammenhang stehen.<br />
Ein Blick in die einschlägige Gegenwartsliteratur zeigt, dass <strong>Kampfkunst</strong> vor<br />
allem im Zusammenhang mit Gewaltprävention thematisiert wird. Gemessen<br />
an <strong>der</strong> Aktualität <strong>der</strong> Thematik ist <strong>der</strong> Umfang <strong>der</strong> Literatur noch relativ ge-<br />
ring. Von daher ist es mir ein Anliegen, die <strong>Kampfkunst</strong> WingTsun im Kontext<br />
<strong>der</strong> <strong>Persönlichkeitsstärkung</strong> und Persönlichkeitsentwicklung darzulegen. Dies<br />
möchte ich in dieser Bachelorarbeit tun.<br />
Ich bedanke mich bei <strong>der</strong> Betreuerin dieser Bachelorarbeit, Prof in . Mag a .phil.<br />
Elisabeth Ostermann, für die fachkundige Betreuung und für wertvolle Anre-<br />
gungen, die in die Arbeit eingeflossen sind. Mein Dank gilt auch <strong>der</strong> Zweitbe-<br />
gutachterin, Prof in . Mag a . et Dr in . theol. Karin Peter, die mir weitere Perspek-<br />
tiven für die Arbeit eröffnet hat. Mein beson<strong>der</strong>er Dank gilt meinen Eltern, die<br />
mich immer in meinem Werdegang unterstützt haben und immer für mich da<br />
waren, sowie meiner Freundin, Mag a . Flavia Boitos, die wesentlich zu meiner<br />
3
Berufsentscheidung beigetragen und mich auf diesem Weg ohne Wenn und<br />
Aber begleitet hat. Ein weiterer Dank geht an meinen WingTsun-Lehrer und<br />
Si-Fu Gernot Redondo, <strong>der</strong> mich über viele Jahre in die Tiefen von WingTsun<br />
eingeführt hat.<br />
Für die Arbeit habe ich die Zitierregeln verwendet, wie sie an <strong>der</strong> KPH Edith<br />
Stein üblich sind, jedoch wegen <strong>der</strong> besseren Lesbarkeit und <strong>der</strong> <strong>Möglichkeit</strong><br />
ergänzen<strong>der</strong> Erläuterungen <strong>als</strong> Fußnoten und nicht <strong>als</strong> Klammertext o<strong>der</strong> <strong>als</strong><br />
Endnoten. Bei Vergleichen mit verwendeter Literatur werden diese entspre-<br />
chend angeführt, vom Original übernommene Wortgruppen innerhalb <strong>der</strong><br />
Vergleiche werden dabei mit Anführungszeichen, aber nicht mit einer zusätz-<br />
lichen Fußnote, versehen.<br />
Geschlechtsspezifische Bezeichnungen werden durchgehend in ihrer weibli-<br />
chen und männlichen Form angeführt, auch dort, wo es dadurch zu einer<br />
Beeinträchtigung des Leseflusses kommt. Wo gen<strong>der</strong>gerechte Formulierun-<br />
gen nicht möglich o<strong>der</strong> unbekannt sind, habe ich in <strong>der</strong> Fußnote darauf hin-<br />
gewiesen.<br />
Die konsultierte Literatur ist im Literaturverzeichnis am Ende <strong>der</strong> Arbeit ange-<br />
führt, ebenso verwendete Internetquellen im Internetverzeichnis.<br />
Ich wünsche allen, die diese Arbeit lesen, dass sie daraus einen persönli-<br />
chen Gewinn ziehen können.<br />
Innsbruck, im Mai 2012 Bryan D. Auer<br />
4
Inhaltsverzeichnis<br />
Kurzzusammenfassung ........................................................................................... 2<br />
Vorwort .................................................................................................................... 3<br />
Abbildungsverzeichnis ............................................................................................. 8<br />
1 Einführung in die Problemstellung .................................................................... 9<br />
2 Begriffsbestimmungen .....................................................................................11<br />
2.1 Persönlichkeit und Persönlichkeitsentwicklung .........................................11<br />
2.2 Aggression und Aggressionsarten ............................................................12<br />
2.3 Gewalt und Formen <strong>der</strong> Gewalt ................................................................13<br />
3 Persönlichkeitsbildung .....................................................................................17<br />
3.1 Zum Verhältnis von Persönlichkeit und Bildung ........................................17<br />
3.2 Wertbezogene Persönlichkeitsbildung <strong>als</strong> staatlicher Erziehungsauftrag ..20<br />
3.3 Stufen <strong>der</strong> kognitiven und moralischen Persönlichkeits-entwicklung .........24<br />
3.3.1 Kognitive Persönlichkeitsentwicklung nach Piaget .............................24<br />
3.3.2 Moralische Persönlichkeitsentwicklung nach Kohlberg ......................27<br />
3.4 Persönlichkeitsbildung im Kontext von Stress- und Konfliktbewältigung ...30<br />
3.4.1 Die medizinische Perspektive ............................................................31<br />
3.4.2 Die psychologische Perspektive ........................................................33<br />
4 Aggression und Gewalt: Prävention und Deeskalation .....................................36<br />
4.1 Erklärungsmodelle <strong>der</strong> Aggression ...........................................................36<br />
4.1.1 Psychologische Theorien ...................................................................36<br />
4.1.1.1 Sigmund Freud und Konrad Lorenz ...................................................37<br />
4.1.1.2 Frustrations-Aggressions-Theorie ......................................................38<br />
4.1.1.3 Aggression <strong>als</strong> Folge von Lernprozessen ..........................................39<br />
4.1.2 Soziologische Theorien .....................................................................41<br />
4.1.3 Integrative Erklärungsmodelle ...........................................................43<br />
4.1.3.1 Der sozialisationstheoretische Ansatz ..................................................44<br />
4.1.3.2 Der geschlechtsspezifische Ansatz ......................................................46<br />
4.1.3.3 Der schulbezogene sozialökologische Ansatz ......................................47<br />
4.2 Gewaltprävention ......................................................................................48<br />
4.2.1 Primär-, Sekundär- und Tertiärprävention ..........................................48<br />
5
4.2.2 Präventionsmöglichkeiten in <strong>der</strong> Schule ............................................50<br />
4.2.3 Aktuelle Gewaltpräventionsprogramme .............................................53<br />
4.2.4.1 Programm „FAUSTLOS“ ....................................................................53<br />
4.2.3.2 Anti-Mobbing-Programm nach Olweus ................................................56<br />
4.2.3.3 Die Peer-Mediation .............................................................................57<br />
4.2.3.4 Das Buddy-Projekt ..............................................................................59<br />
4.2.3.5 Funktionalität und Wirkkraft .................................................................61<br />
5 Die <strong>Kampfkunst</strong> WingTsun ..............................................................................63<br />
5.1 Zur geschichtlichen Entwicklung ...............................................................63<br />
5.1.1 Die Verbrennung des Shaolin-Klosters ..............................................64<br />
5.1.2 Ng Mui ...............................................................................................65<br />
5.1.3 Die schöne Yim Wing Tsun ...............................................................67<br />
5.1.4 Leung Bok Chau und Leung Lan Kwai ...............................................68<br />
5.1.5 Wong Wah Bo und Leung Yee Tei.....................................................69<br />
5.1.6 Dr. Leung Jan ....................................................................................70<br />
5.1.7 Chan Wah Shun und seine 16 Schüler ..............................................70<br />
5.1.8 Yip Man .............................................................................................71<br />
5.1.9 Geschichte und Identität ....................................................................72<br />
5.2 Philosophische Bezugspunkte von WingTsun ..........................................73<br />
5.2.1 Buddhismus .......................................................................................73<br />
5.2.2 Taoismus ...........................................................................................74<br />
5.2.3 Konfuzianismus .................................................................................75<br />
5.3 Die drei Ebenen des WingTsun ................................................................76<br />
5.3.1 Körperliche Selbstverteidigung ..........................................................77<br />
5.3.2 Strategie und Taktik ...........................................................................77<br />
5.3.3 Selbstvervollkommnung .....................................................................78<br />
5.4 Prinzipien und Kraftsätze ..........................................................................79<br />
5.4.1 Die vier Prinzipien ..............................................................................80<br />
5.4.2 Die vier Kraftsätze .............................................................................82<br />
6 Die praktische Umsetzung von WingTsun .......................................................85<br />
6.1 Methodologische Überlegungen ...................................................................85<br />
6.2 Allgemeine und spezielle Programminhalte ..................................................87<br />
6.3 Praktischer Unterrichtsaufbau ......................................................................88<br />
6.3.1 Unterrichtselemente ...............................................................................88<br />
6
6.3.2 Eigene Erfahrungen ...............................................................................93<br />
7 WingTsun <strong>als</strong> geeigneter Weg zur Persönlichkeitsbildung und -stärkung im Dienst<br />
des Art 14 Abs 5a B-VG ..........................................................................................95<br />
8 Schlusswort ........................................................................................................97<br />
Literaturverzeichnis .................................................................................................98<br />
Internetverzeichnis ................................................................................................ 100<br />
7
Abbildungsverzeichnis<br />
Abb.1: Klassifikationen von Gewalt im schulischen Kontext ………………………15<br />
Abb.2: Grundsätze des Art 14 Abs 5a B-VG ……………………………………..…22<br />
Abb.3: Ziele des Art 14 Abs 5a B-VG ………………………………………………..23<br />
Abb.4: Kohlbergs Niveauebenen ……………………………………………….. ….. 29<br />
Abb.5: Kohlbergs Stufen des moralischen Urteils …………………………………. 30<br />
Abb.6: Der achtfache Pfad im Buddhismus …………………………………………74<br />
Abb.7: Konfuzianische Tugenden …………………………………………………… 76<br />
Abb.8: Die drei Ebenen des WingTsun ……………………………………………. . 79<br />
Abb.9: Die vier Prinzipien des WingTsun …………………………………………... 82<br />
Abb.10: Die vier Kraftsätze von WingTsun …………………………………………. 84<br />
8
1 Einführung in die Problemstellung<br />
Diese Arbeit will aufzeigen, wie die <strong>Kampfkunst</strong> WingTsun bei Kin<strong>der</strong>n im<br />
Volksschulalter zur Gewaltprävention, Gewaltdeeskalation, Gewaltinterventi-<br />
on und Persönlichkeitsentwicklung beitragen kann. Auf <strong>der</strong> Basis <strong>der</strong> Erfah-<br />
rungen des Verfassers und unter Miteinbeziehung <strong>der</strong> aktuellen fachein-<br />
schlägigen Literatur sollen folgende Fragen erörtert werden.<br />
� Wie lernen Kin<strong>der</strong>, Konfliktsituationen richtig einzuschätzen und im<br />
Hinblick auf sich selbst angemessen zu reagieren?<br />
� Wie lernen Kin<strong>der</strong>, fortgeschrittenen Konfliktsituationen zu begegnen<br />
und die Lage zu deeskalieren?<br />
� Wie können sie im Hinblick auf an<strong>der</strong>e Personen in Bedrängnis an-<br />
gemessen reagieren?<br />
� Wie tragen die geistige Grundhaltung und die <strong>Kampfkunst</strong>technik von<br />
WingTsun dazu bei, die Persönlichkeit zu bilden und zu stärken?<br />
Nach <strong>der</strong> Einführung in die Problemstellung geht Kapitel 2 auf die Begriffsbe-<br />
stimmungen von Persönlichkeit, Gewalt und Aggression ein. Wie diese ent-<br />
stehen und welche Formen es gibt, ist wichtig für das Verständnis <strong>der</strong> The-<br />
matik.<br />
Kapitel 3 thematisiert die Persönlichkeitsbildung <strong>als</strong> staatlicher Erziehungs-<br />
auftrag und das Verhältnis von Persönlichkeit und Bildung. Im Kontext von<br />
Persönlichkeit und Stressverarbeitung werden auch die Stufen <strong>der</strong> kognitiven<br />
und moralischen Entwicklung nach Jean Piaget und Lawrence Kohlberg er-<br />
läutert.<br />
Kapitel 4 widmet sich <strong>der</strong> Aggression mit ihren verschiedenen Erklärungs-<br />
modellen sowie den <strong>Möglichkeit</strong>en <strong>der</strong> Gewaltprävention und -intervention.<br />
Kapitel 5 behandelt die <strong>Kampfkunst</strong> WingTsun mit ihrer Geschichte, ihrer<br />
Philosophie und ihren Prinzipien.<br />
Im 6. Kapitel wird auf das Konzept <strong>der</strong> Gewaltpräventionskurse eingegangen.<br />
Der Aufbau <strong>der</strong> Kurse, die Vermittlung geistiger Grundhaltungen und kampf-<br />
9
technischer Kenntnisse sowie psychologisches Grundwissen sind Bestandteil<br />
dieses Abschnitts. Wie das Individuum mit Konfliktsituationen in unterschied-<br />
lichen Kontexten umgehen kann, ist ebenso Teil dieser Einheit wie das Erler-<br />
nen von Friedfertigkeit durch Überlegenheit und Stärkung <strong>der</strong> Zivilcourage.<br />
Im 7. Kapitel wird WingTsun <strong>als</strong> geeigneter Weg zur Persönlichkeitsbildung<br />
und -stärkung <strong>als</strong> Teil <strong>der</strong> staatlichen Bildungs- und Erziehungsziele im Sinn<br />
des Art 14 Abs 5a Bundes-Verfassungsgesetz dargelegt.<br />
10
2 Begriffsbestimmungen<br />
Begriffsbestimmungen sind unabdingbarer Bestandteil wissenschaftlicher<br />
Arbeiten und gehören von daher an den Beginn <strong>der</strong>selben. Dies ist von umso<br />
größerer Bedeutung, wenn es um Themen und Begriffe geht, <strong>der</strong>en Ver-<br />
ständnis nicht allgemein vorausgesetzt werden kann. Dies ist auch bei <strong>der</strong><br />
gegenständlichen Arbeit <strong>der</strong> Fall. Was umgangssprachlich häufig mit Kampf-<br />
sport bzw. <strong>Kampfkunst</strong> konnotiert wird, hat kaum etwas mit WingTsun <strong>als</strong><br />
Teil <strong>der</strong> Persönlichkeitsentwicklung und <strong>als</strong> <strong>Möglichkeit</strong> von Gewaltpräventi-<br />
on und Gewaltdeeskalation zu tun. Missverständnisse dieser Art werden<br />
durch die fachliche Kenntnis <strong>der</strong> Begriffe vermieden.<br />
2.1 Persönlichkeit und Persönlichkeitsentwicklung<br />
Vielfältig wie <strong>der</strong> Begriff selbst sind die Begriffsdefinitionen von Persönlich-<br />
keit. Die Alltagspsychologie versteht darunter die Gesamtheit aller Eigen-<br />
schaften des Menschen, in denen er sich von an<strong>der</strong>en Menschen unter-<br />
scheidet. 1 Zur Erfassung <strong>der</strong> Persönlichkeit gibt es mehrere unterschiedliche<br />
Ansätze in <strong>der</strong> Wissenschaft. Einer dieser Ansätze besteht darin, „das We-<br />
sen einer Person zu erfassen, indem man sie einem festen Persönlichkeits-<br />
o<strong>der</strong> Charaktertyp zuordnet.“ Aus dem Altertum ist die „Lehre von den Tem-<br />
peramenten“ bekannt, die in vier Grundpersönlichkeiten einteilt: Der aufbrau-<br />
sende und reizbare Choleriker, <strong>der</strong> trübsinnige, zur Depressivität und<br />
Schwermütigkeit neigende Melancholiker, <strong>der</strong> träge und nur schwer zu erre-<br />
gende Phlegmatiker, sowie <strong>der</strong> lebhafte, temperamentvolle, lebensbejahende<br />
Sanguiniker.<br />
In <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Persönlichkeitspsychologie werden Menschen nicht mehr<br />
starren Typen zugeordnet. Viel mehr werden die vielen Persönlichkeits-<br />
1 Vgl. ASENDORPF 1999, S. 5<br />
11
merkmale zu einem Mosaik zusammengefügt, die auch unterschiedliche<br />
Ausprägungen haben können. 2<br />
Wie Persönlichkeitsmerkmale in <strong>der</strong> Kindheit und Jugend entstehen und wie<br />
diese sich auch im weiteren Leben verän<strong>der</strong>n können, ist Gegenstand <strong>der</strong><br />
Entwicklungspsychologie. In diesem Bereich hat sich in den letzten Jahren<br />
sehr viel getan. Es ist <strong>der</strong> Säuglingsforschung gelungen, „die wesentlichen<br />
Etappen <strong>der</strong> Entwicklung <strong>der</strong> kindlichen Persönlichkeit und des Ich heraus-<br />
zuarbeiten.“ 3 Im Kontext dieser Bachelorarbeit werden diese Begriffe vor al-<br />
lem im Sinne <strong>der</strong> Stärkung des Selbstvertrauens und des Selbstbewusst-<br />
seins verwendet.<br />
2.2 Aggression und Aggressionsarten<br />
Aggression kommt vom lateinischen „aggressio bzw. aggredi“ und bedeutet<br />
„heranschreiten“, „sich nähern“, „angreifen“. 4 Es gibt keine einheitliche Defini-<br />
tion für diesen Begriff. Daher soll versucht werden, ihn durch einige Erklä-<br />
rungen einzugrenzen und <strong>der</strong> Leserin und dem Leser eine Idee von <strong>der</strong> Be-<br />
deutung zu geben. Eine nicht unumstrittene Definition besagt: „Aggression ist<br />
Verhalten mit <strong>der</strong> Absicht, An<strong>der</strong>en zu schaden.“ 5 Dabei kann <strong>der</strong> Schaden<br />
sowohl physisch <strong>als</strong> auch psychisch sein. Diese negative Bewertung des Be-<br />
griffs wird jedoch nicht generell geteilt. Die Psychologie kennt neben <strong>der</strong> de-<br />
struktiven auch noch eine an<strong>der</strong>e Bedeutung in Form des In-Angriff-<br />
Nehmens, im Sinne von Wetteifern o<strong>der</strong> selbstbewusstem Auftreten. „Mit<br />
Aggression ist jedes Verhalten gemeint, das im Wesentlichen das Gegenteil<br />
von Passivität und Zurückhaltung darstellt.“ 6 Damit ist eine Erklärung von<br />
Aggression angesprochen, die sich von <strong>der</strong> Begrifflichkeit <strong>der</strong> Destruktion<br />
deutlich abhebt. Es hängt von <strong>der</strong> jeweiligen Kultur ab, ob Aggressivität gebil-<br />
ligt o<strong>der</strong> missbilligt wird.<br />
2 Vgl. ROTH 2011, S. 36<br />
3 Ebd., S. 62<br />
4 STOWASSER 1968, S. 49<br />
5 SMITH/MACKIE 2000, S. 504<br />
6 BACH/GOLDBERG 1974, S. 14, zit. nach NOLTING 2000, S. 24<br />
12
Prinzipiell unterscheidet die Aggressionspsychologie zwei Grundtypen: die<br />
emotionale Aggression und die instrumentelle Aggression. Während die erste<br />
auf gefühlsmäßigen Reaktionen auf ein erfahrenes Leid, in welcher Form<br />
auch immer, beruht und nicht rational gesteuert ist, basiert die instrumentelle<br />
Aggression auf rationalem Denken, um eine verfolgte Intention zu erreichen. 7<br />
2.3 Gewalt und Formen <strong>der</strong> Gewalt<br />
Für den Begriff Gewalt gibt es in <strong>der</strong> Wissenschaft und im Alltagsverständnis<br />
keine einheitliche Definition. Allerdings ist die absichtsvolle Schädigung von<br />
Menschen durch an<strong>der</strong>e Menschen zentrales Element des Verständnisses.<br />
Der Begriff Gewalt beinhaltet im engeren Kontext neben physischer auch die<br />
psychische Gewalt. Eine Erweiterung des Gewaltbegriffs ist aus soziologi-<br />
scher Perspektive auch die staatliche Gewalt, die von verletzen<strong>der</strong> und kör-<br />
perlicher Gewalt differenziert wird. Eine entscheidende Frage ist, wo Gewalt<br />
beginnt. In literarisch eindrucksvoller Form hat <strong>der</strong> österreichische Dichter<br />
Erich Fried dargelegt, dass Gewalt sehr vielschichtig ist und oft schon dort<br />
beginnt, wo kaum jemand von Gewalt spricht.<br />
7 Vgl. STAEGLICH 2010, S. 13 f.<br />
Die Gewalt fängt nicht an<br />
wenn einer einen erwürgt<br />
Sie fängt an<br />
wenn einer sagt:<br />
"Ich liebe dich:<br />
du gehörst mir!"<br />
Die Gewalt fängt nicht an<br />
wenn Kranke getötet werden<br />
Sie fängt an<br />
wenn einer sagt:<br />
"Du bist krank:<br />
Du musst tun, was ich sage!"<br />
Die Gewalt fängt an<br />
wenn Eltern<br />
ihre folgsamen Kin<strong>der</strong> beherrschen<br />
13
und wenn Päpste und Lehrer und Eltern<br />
Selbstbeherrschung verlangen<br />
Die Gewalt herrscht dort<br />
wo <strong>der</strong> Staat sagt:<br />
"Um die Gewalt zu bekämpfen<br />
darf es keine Gewalt mehr geben<br />
außer meiner Gewalt!"<br />
o<strong>der</strong> wo die Kritik nichts tun darf<br />
son<strong>der</strong>n nur reden<br />
und die Heiligen und die Hohen<br />
mehr tun dürfen <strong>als</strong> reden<br />
Die Gewalt herrscht dort wo es heißt:<br />
"Du darfst Gewalt anwenden!"<br />
aber oft auch dort, wo es heißt:<br />
"Du darfst keine Gewalt anwenden!"<br />
Die Gewalt herrscht dort<br />
wo sie ihre Gegner einsperrt<br />
und sie verleumdet<br />
<strong>als</strong> Anstifter zur Gewalt<br />
Das Grundgesetz <strong>der</strong> Gewalt<br />
lautet: "Recht ist, was wir tun.<br />
Und das was die an<strong>der</strong>en tun<br />
das ist Gewalt!"<br />
Die Gewalt kann man vielleicht nie<br />
mit Gewalt überwinden<br />
aber vielleicht auch nicht immer<br />
ohne Gewalt 8<br />
Bei <strong>der</strong> Frage, wo Gewalt beginnt, gehen bei vielen Menschen die Perspekti-<br />
ven aber weit auseinan<strong>der</strong>. Während für manche eine „Rauferei“ am Schul-<br />
hof <strong>der</strong> Beginn von Gewalt ist, sprechen an<strong>der</strong>e erst von Gewalt, wenn es zu<br />
Verletzungen o<strong>der</strong> Sachbeschädigungen kommt. Untersuchungen zeigen,<br />
dass viele Jugendliche und Kin<strong>der</strong> nur bei sichtbaren körperlichen Verletzun-<br />
gen von Gewalt sprechen. Im Gegensatz dazu sehen sie psychische und<br />
verbale Attacken eher <strong>als</strong> normale Umgangsformen o<strong>der</strong> <strong>als</strong> „Spaßkampf“. 9<br />
8 FRIED o.J.<br />
9 Vgl. SCHUBARTH 2010, S. 16-18<br />
14
Die nachfolgende Tabelle zeigt die verschiedenen Gewaltformen auf Schul-<br />
ebene auf und ermöglicht ein besseres Verständnis <strong>der</strong> unterschiedlichen<br />
Facetten des Gewaltbegriffs.<br />
Formen <strong>der</strong> Gewalt Beispiele<br />
Individuelle Gewalt<br />
physische Gewalt körperliche Angriffe, Schlagen, Treten<br />
psychische Gewalt<br />
Abwertung, Abwendung, Ablehnung,<br />
Entmutigung, emotionales Erpressen<br />
� verbal<br />
Beschimpfungen, Beleidigungen, Hän-<br />
� nonverbal<br />
seln<br />
� indirekt<br />
Gesten, Mimiken, Blicke<br />
Jemanden schlecht machen, Gerüchte<br />
Neue psychische Gewaltformen<br />
streuen, ausgrenzen, ignorieren, anstiften,...<br />
Cyberbullying, Happy Slapping<br />
Vandalismus Zerstörung von Schuleigentum<br />
schwere Gewalt Amoklauf<br />
fremdenfeindliche Gewalt Gewalt gegen bestimmte Herkunftsgruppen<br />
geschlechterfeindliche Gewalt Diskriminierung des an<strong>der</strong>en Geschlechts<br />
sexuelle Gewalt<br />
Institutionelle Gewalt<br />
erzwungener intimer Körperkontakt<br />
legitime „Ordnungsgewalt“ Verfügungsmacht <strong>der</strong> Lehrkräfte zur<br />
Erfüllung <strong>der</strong> gesellschaftlichen Funktionen<br />
<strong>der</strong> Schule, vorgegebene Schülerund<br />
Lehrerrolle, Struktur schulischer<br />
Kommunikation, Leistungsprinzip<br />
illegitime „strukturelle“ Gewalt Beeinträchtigung <strong>der</strong> Selbstentfaltung<br />
und Selbstbestimmung <strong>der</strong> Schüler<br />
kollektive „politische“ Gewalt Kritik ungerechter Machtverhältnisse,<br />
Schülerproteste zur Verän<strong>der</strong>ung von<br />
Schule, z.B. gegen ungerechte Bewertungspraktiken<br />
Abb.1: Klassifikationen von Gewalt im schulischen Kontext 10<br />
Markant ist <strong>der</strong> Unterschied zwischen individueller und institutioneller Gewalt.<br />
Eindrucksvoll zeigt die Tabelle die verschiedenen Formen <strong>der</strong> individuellen<br />
Gewalt. Physische Gewalt ist nur ein Teil <strong>der</strong> Gewaltformen. Psychische<br />
Gewalt umfasst viele unterschiedliche Erscheinungsformen und wird unter-<br />
teilt in verbale, nonverbale und indirekte Gewalt. Fremdenfeindliche, ge-<br />
10 Vgl. HURRELMANN K./BRÜNDEL H. 2007, zit. nach SCHUBARTH 2010, S. 19<br />
15
schlechterfeindliche und sexuelle Gewalt nehmen auch in <strong>der</strong> Berichterstat-<br />
tung <strong>der</strong> Medien ein bedrohlich anmutendes Ausmaß an.<br />
Dass die institutionelle Gewalt in <strong>der</strong> Übersicht einen großen Raum ein-<br />
nimmt, zeugt von einem Gewaltverständnis, das auch nicht vor dem Staat<br />
und dessen Institutionen Halt macht und damit an das Gedicht „Gewalt“ von<br />
Erich Fried erinnert. Obwohl in Demokratien das Gewaltmonopol des Staa-<br />
tes durch die freiheitliche Grundordnung des demokratischen Gemeinwesens<br />
legitimiert und auch kontrolliert wird, ist es kaum möglich, sich <strong>als</strong> verletztes<br />
Individuum gegen strukturelle Gewalt durchzusetzen. WingTsun zeigt seine<br />
Stärke <strong>als</strong> <strong>Kampfkunst</strong> vor allem im Bereich <strong>der</strong> individuellen Gewalt, bietet<br />
durch seine Prinzipien und seine Philosophie aber auch Hilfestellungen in<br />
Situationen, in denen <strong>der</strong> Mensch institutioneller Gewalt unterworfen bzw.<br />
ausgeliefert ist.<br />
16
3 Persönlichkeitsbildung<br />
WingTsun wird in dieser Arbeit <strong>als</strong> <strong>Möglichkeit</strong> <strong>der</strong> <strong>Persönlichkeitsstärkung</strong><br />
thematisiert. Von daher ist es unabdingbar, Person und Persönlichkeit, Per-<br />
sönlichkeitsbildung und Persönlichkeitsentwicklung näher darzulegen. Dass<br />
je<strong>der</strong> Mensch „angeborne, schon durch die Vernunft einleuchtende Rechte“<br />
hat und von „daher <strong>als</strong> eine Person zu betrachten“ ist, ist Kernaussage des<br />
§ 16 ABGB 11 . Person und Persönlichkeit stehen in einer engen Verbindung<br />
einerseits zueinan<strong>der</strong>, an<strong>der</strong>erseits zu den staatlichen Erziehungszielen. 12<br />
Die schulrechtlichen Normen, in denen dieser Zusammenhang deutlich wird,<br />
werden in diesem Kapitel ebenso aufgezeigt wie die Stufen <strong>der</strong> kognitiven<br />
Entwicklung nach Jean Piaget und <strong>der</strong> moralischen Entwicklung nach Law-<br />
rence Kohlberg. Überlegungen zur Persönlichkeitsbildung im Kontext von<br />
Stress- und Konfliktbewältigung bilden den Abschluss dieses Kapitels.<br />
3.1 Zum Verhältnis von Persönlichkeit und Bildung<br />
Bildung und Persönlichkeit gehören zusammen. In unserem Bildungssystem<br />
geht es nicht nur darum, Wissen und Fertigkeiten zu vermitteln, son<strong>der</strong>n we-<br />
sentlich auch darum, dass sich die Persönlichkeit <strong>der</strong> Lernenden entwickelt.<br />
Dieser Auftrag spielt eine beson<strong>der</strong>s große Rolle, wenn die Schülerinnen und<br />
Schüler im Grundschulalter sind. Selbstverständlich spielt die Persönlich-<br />
keitsentwicklung auch eine wichtige Rolle im außerschulischen und nach-<br />
schulischen Bildungsbereich. Reifeprüfung o<strong>der</strong> Pflichtschulabschluss mar-<br />
kieren dabei nicht das Ende <strong>der</strong> Persönlichkeitsentwicklung, ganz im Gegen-<br />
teil, sie hält ein Leben lang an, auch wenn sich die wesentlichen Grundzüge<br />
einer Persönlichkeit schon in <strong>der</strong> frühen Jugend festigen. Für die Persönlich-<br />
keitsbildung spielen viele Faktoren eine Rolle. Im Kontext dieser Arbeit gehö-<br />
ren vor allem Stressverarbeitung, Frustrationstoleranz und die Fähigkeit <strong>der</strong><br />
Selbstberuhigung dazu. Selbstmotivation, Impulshemmung und <strong>der</strong> Umgang<br />
11 ABGB: Allgemein Bürgerliches Gesetzbuch<br />
12 Vgl. AUER 2007 b, S. 17-23<br />
17
mit negativen Gefühlen spielen dabei ebenso eine Rolle wie Bindungsfähig-<br />
keit und Empathie. Die Ausbildung eines Realitätssinnes und <strong>der</strong> Risiko-<br />
wahrnehmung rundet eine „reife Persönlichkeit“ ab. Dies ist eine lebenslange<br />
Aufgabe.<br />
Person und Persönlichkeit sind zentrale Elemente im Kontext schulischer<br />
Bildung. Es gibt keine Bildung ohne Persönlichkeitsbildung. 13 „Die Merkmale<br />
<strong>der</strong> individuellen Persönlichkeit bilden die Voraussetzungen und den Rah-<br />
men, in denen Lehren und Lernen stattfinden.“ 14 Dabei ist die Lehrerin o<strong>der</strong><br />
<strong>der</strong> Lehrer keineswegs nur Informationssen<strong>der</strong>, son<strong>der</strong>n die Lehrperson be-<br />
einflusst durch die Persönlichkeit die Einstellung gegenüber dem Lehrberuf.<br />
Ist dieser Beruf eine Bestimmung o<strong>der</strong> steht die Lehrperson jedes Jahr am<br />
Rande eines Burnout? Sind die Lernenden nur Empfänger von Informationen<br />
o<strong>der</strong> herrscht gegenseitiger Respekt vor? Wird Raum für konstruktive Aneig-<br />
nung des Unterrichtsstoffes angeboten? Der Lehrkörper bestimmt nicht nur<br />
die Art und die Wahl des Unterrichts, son<strong>der</strong>n vor allem, wie sich das Ver-<br />
hältnis zwischen Lernenden und Lehrenden gestaltet. Haben die Lehrerinnen<br />
und Lehrer ein Feingefühl für die Schülerinnen und Schüler? Macht <strong>der</strong> Lehr-<br />
körper einen vertrauenswürdigen Eindruck? Wirkt er fachlich kompetent?<br />
Kann er eine Richtung vorgeben, ohne Stress und Angst zu verbreiten? Kann<br />
man sich auf ihn verlassen? Ist er fair?<br />
Genauso wichtig wie die Persönlichkeit <strong>der</strong> Lehrenden ist die Persönlichkeit<br />
<strong>der</strong> Lernenden auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite. Durch welche Einstellungen ist die<br />
Persönlichkeit <strong>der</strong> Schülerinnen und Schüler geprägt? Wie empfinden sie<br />
das Umfeld Schule? Ist Schule ein Ort <strong>der</strong> Angst, des Konkurrenzkampfes,<br />
<strong>der</strong> Demütigung und des eigenen Versagens? O<strong>der</strong> ist Schule ein Ort <strong>der</strong><br />
Solidarität, Freundschaft, <strong>der</strong> trotz <strong>der</strong> Mühen des Lernens doch auch Er-<br />
folgserlebnisse mit sich bringt und gern aufgesucht wird?<br />
Lernerfolg <strong>als</strong> wesentliches Element, um Schule positiv zu erleben, basiert<br />
auf drei wesentlichen Faktoren: Intelligenz, Motivation und Fleiß. Intelligenz<br />
ist zum größten Teil angeboren, wird jedoch von den Bedingungen in Kind-<br />
13 Vgl. AUER 2007, S. 189 f.<br />
14 ROTH 2011, S. 308<br />
18
heit und Jugend stark beeinflusst. 15 „Im positiven Sinne geschieht dies ins-<br />
beson<strong>der</strong>e durch eine sichere Bindung, einen offenen und zugleich respekt-<br />
vollen Umgang <strong>der</strong> Familienmitglie<strong>der</strong> miteinan<strong>der</strong> und durch das Vorbild <strong>der</strong><br />
Eltern.“ 16<br />
Motivation kommt durch Ermutigungen, frühe Lernerfolge und durch Vorbil-<br />
<strong>der</strong> zustande. Die Sinnhaftigkeit des Lernens spielt dabei eine große Rolle.<br />
Das Gehirn lernt am besten und bereitwilligsten, wenn <strong>der</strong> Sinn des Lernens<br />
begriffen wird und eine Belohnungserwartung damit in Verbindung gebracht<br />
wird. Die größte Belohnung geht dabei von <strong>der</strong> „Erfahrung <strong>der</strong> Selbstwirk-<br />
samkeit“ aus. Bei all dem Spaß, den Lernen haben kann, ist es auch an-<br />
strengend. Für den Lernerfolg ist gerade diese Anstrengung äußerst wichtig,<br />
wobei zu beachten ist, dass diese nicht in Stress ausartet. Fleiß, ein zum Teil<br />
genetisch bedingtes Charaktermerkmal, wird auch von den Erfolgserwartun-<br />
gen und von <strong>der</strong> Wertschätzung in Familie und Gesellschaft bestimmt. Die<br />
Einstellung zum Fleiß ist bei Mädchen an<strong>der</strong>s <strong>als</strong> bei Buben: Bei Mädchen<br />
wird Fleiß untereinan<strong>der</strong> „geduldet“, aber bei Buben gilt es <strong>als</strong> „uncool“, flei-<br />
ßig zu sein. Die Fleißigen müssen diesen sorgfältig verbergen, um nicht <strong>als</strong><br />
„Streber“ gehänselt zu werden. Diese Einstellung ist allerdings kulturabhän-<br />
gig und im deutschsprachigen Raum sowohl bei Autochthonen <strong>als</strong> auch be-<br />
stimmten Migrantengruppen vertreten, während im asiatischen Raum Fleiß<br />
auch bei Buben eine geschätzte Tugend ist. 17<br />
Das Verhältnis von Persönlichkeit und Bildung wird auch deutlich, wenn man<br />
sich vor Augen führt, worum es beim Lehren und Lernen eigentlich geht,<br />
nämlich darum, „erworbene und erarbeitete Kenntnisse dauerhaft im Lang-<br />
zeitgedächtnis zu verankern.“ Um dies zu erreichen, sind zwei Regeln von<br />
enormer Bedeutung: Erstens braucht Lernen Zeit, d.h., dass <strong>der</strong> zu erlernen-<br />
de Stoff umso besser ins Gedächtnis eindringt, je intensiver und länger sich<br />
die Lernenden diesem widmen, ohne sich zu langweilen. Zweitens braucht<br />
Lernen Verknüpfung; je mehr Verknüpfungen die o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Lernende zu an-<br />
15 Vgl. ebd., S. 309 f.<br />
16 Ebd., S. 310<br />
17 Vgl. ebd., S. 310 f. und AUER 2011, S. 43-58<br />
19
<strong>der</strong>en Lerninhalten schaltet, desto leichter kann sie o<strong>der</strong> er das Gelernte<br />
wie<strong>der</strong> abrufen. 18 „Weniger ist hier meist mehr.“ 19<br />
3.2 Wertbezogene Persönlichkeitsbildung <strong>als</strong> staatlicher Erziehungsauftrag<br />
Ziel und Leitbild <strong>der</strong> österreichischen Schule sind auf einfachgesetzlicher<br />
Ebene in § 2 Abs 1 Schulorganisationsgesetz (SchOG) und auf verfassungs-<br />
rechtlicher Ebene in Art 14 Abs 5a Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG) nor-<br />
miert. Der Zielparagraf nach § 2 SchOG stammt aus dem Jahr 1962, die Ver-<br />
fassungsbestimmung nach Art 14 Abs 5a B-VG wurde vom Verfassungsge-<br />
setzgeber 2005 beschlossen. 20<br />
§ 2 Abs 1 SchOG: Die österreichische Schule hat die Aufgabe, an <strong>der</strong><br />
Entwicklung <strong>der</strong> Anlagen <strong>der</strong> Jugend nach den sittlichen, religiösen<br />
und sozialen Werten sowie nach den Werten des Wahren, Guten und<br />
Schönen durch einen ihrer Entwicklungsstufe und ihrem Bildungsweg<br />
entsprechenden Unterricht mitzuwirken. Sie hat die Jugend mit dem<br />
für das Leben und den künftigen Beruf erfor<strong>der</strong>lichen Wissen und Können<br />
auszustatten und zum selbsttätigen Bildungserwerb zu erziehen.<br />
Die jungen Menschen sollen zu gesunden, arbeitstüchtigen, pflichttreuen<br />
und verantwortungsbewussten Glie<strong>der</strong>n <strong>der</strong> Gesellschaft und<br />
Bürgern <strong>der</strong> demokratischen und bundesstaatlichen Republik Österreich<br />
herangebildet werden. sie sollen zu selbständigen Urteil und sozialem<br />
Verständnis geführt, dem politischen und weltanschaulichen<br />
Denken an<strong>der</strong>er aufgeschlossen sowie befähigt werden, am Wirtschaft-<br />
und Kulturleben Österreichs, Europas und <strong>der</strong> Welt Anteil zu<br />
nehmen und in Freiheits- und Friedensliebe an den gemeinsamen Aufgaben<br />
<strong>der</strong> Menschheit mitzuwirken.<br />
Aus dieser Norm ist klar ersichtlich, dass die Schule eine Mitwirkungsaufga-<br />
be bei <strong>der</strong> Vermittlung von „sittlichen, religiösen und sozialen Werten sowie<br />
18<br />
Vgl. ROTH 2011, S. 311<br />
19<br />
Ebd.<br />
20<br />
Inhaltlich sind die genannten Normen einan<strong>der</strong> sehr ähnlich, unterscheiden sich jedoch<br />
durch die unterschiedliche Verankerung in <strong>der</strong> Rechtsordnung. Während § 2 Abs 1 SchOG<br />
<strong>als</strong> einfachgesetzliche Norm mit einfacher Mehrheit im Nationalrat geän<strong>der</strong>t werden kann,<br />
setzt eine Än<strong>der</strong>ung des Art 14 Abs 5a B-VG <strong>als</strong> Verfassungsnorm eine Zweidrittel-Mehrheit<br />
voraus.<br />
20
nach den Werten des Wahren, Guten und Schönen“ hat. Während die Werte<br />
„des Wahren, Guten und Schönen“ mit dem klassischen europäischen Bil-<br />
dungsideal korrelieren, kann man bei <strong>der</strong> sittlichen, religiösen und sozialen<br />
Dimension von konkreter Wertbezogenheit sprechen. Die Schule hat „nur“<br />
eine Mitwirkungsaufgabe. Das primäre Erziehungsziel obliegt den Eltern, die<br />
für die Wertevermittlung Vorbild sein sollten.<br />
Die Werterziehung stellt ein primäres Bildungsziel <strong>der</strong> österreichischen Schu-<br />
le dar. Sie ist nicht nur in § 2 Abs 1 SchOG verankert, son<strong>der</strong>n auch auf Ver-<br />
fassungsebene in Art 14 Abs 5a B-VG.<br />
Art 14 Abs 5a B-VG: Demokratie, Humanität, Solidarität, Friede und<br />
Gerechtigkeit sowie Offenheit und Toleranz gegenüber den Menschen<br />
sind Grundwerte <strong>der</strong> Schule, auf <strong>der</strong>en Grundlage sie <strong>der</strong> gesamten<br />
Bevölkerung, unabhängig von Herkunft, sozialer Lage und finanziellem<br />
Hintergrund, unter steter Sicherung und Weiterentwicklung bestmöglicher<br />
Qualität ein höchstmögliches Bildungsniveau sichert. Im partnerschaftlichen<br />
Zusammenwirken von Schülern, Eltern und Lehrern ist<br />
Kin<strong>der</strong>n und Jugendlichen die bestmögliche geistige, seelische und<br />
körperliche Entwicklung zu ermöglichen, damit sie zu gesunden,<br />
selbstbewussten, glücklichen, leistungsorientierten, pflichttreuen, musischen<br />
und kreativen Menschen werden, die befähigt sind, an den sozialen,<br />
religiösen und moralischen Werten orientiert Verantwortung für<br />
sich selbst, Mitmenschen, Umwelt und nachfolgende Generationen zu<br />
übernehmen. Je<strong>der</strong> Jugendliche soll seiner Entwicklung und seinem<br />
Bildungsweg entsprechend zu selbständigem Urteil und sozialem Verständnis<br />
geführt werden, dem politischen, religiösen und weltanschaulichen<br />
Denken an<strong>der</strong>er aufgeschlossen sein sowie befähigt werden,<br />
am Kultur- und Wirtschaftsleben Österreichs, Europas und <strong>der</strong> Welt<br />
teilzunehmen und in Freiheits- und Friedensliebe an den gemeinsamen<br />
Aufgaben <strong>der</strong> Menschheit mitzuwirken.<br />
Die Leitlinien dieses Artikels basieren auf den Grundwerten <strong>der</strong> Demokratie,<br />
Humanität und Solidarität. Dies gilt nicht nur für die Schule im engeren Be-<br />
reich, son<strong>der</strong>n ist für die gesamte Bevölkerung von Bedeutung. Dabei spielen<br />
Frieden, Gerechtigkeit sowie Offenheit und Toleranz eine tragende Rolle. Der<br />
Bevölkerung soll „unabhängig von Herkunft, sozialer Lage und finanziellem<br />
Hintergrund“ ein höchstmögliches Bildungsniveau gesichert werden. Je<strong>der</strong><br />
soll die <strong>Möglichkeit</strong> haben, eine gute Ausbildung zu bekommen. Damit ist die<br />
21
Chancengleichheit in <strong>der</strong> Verfassung verankert. Die Grafiken sind ein Ver-<br />
such, die komplexen Inhalte des § 2 Abs 1 SchOG und des Art 14 Abs 5a B-<br />
VG zu verdeutlichen.<br />
Abb.2: Grundsätze des Art 14 Abs 5a B-VG 21<br />
Die Ziele des Artikels sind eindeutig formuliert. Schule und Eltern sollen Kin-<br />
<strong>der</strong> und Jugendliche zu „gesunden, selbstbewussten, glücklichen, leistungs-<br />
orientierten, pflichttreuen, musischen und kreativen Menschen“ erziehen. Sie<br />
sollen die bestmögliche geistige, seelische und körperliche Entwicklung ge-<br />
währleistet bekommen. Jedes pädagogische Tun hat sich an sozialen, religi-<br />
ösen und moralischen Werten zu orientieren. Die Jugendlichen sollen befä-<br />
higt werden, Verantwortung für sich selbst, Mitmenschen und Umwelt sowie<br />
die nachfolgenden Generationen zu übernehmen. Neben einem selbständi-<br />
gen Urteilsvermögen soll auch das soziale Verständnis und die Aufgeschlos-<br />
senheit gegenüber politisch, religiös und weltanschaulich an<strong>der</strong>s Denkenden<br />
geför<strong>der</strong>t werden. Letztlich soll die Teilnahme an Kultur- und Wirtschaftsle-<br />
21 AUER 2007 c, S. 13<br />
Offenheit<br />
Toleranz<br />
Friede<br />
Gerechtigkeit<br />
Demokratie<br />
Grundsätze<br />
Solidarität<br />
Humanität<br />
22
en auf allen Ebenen ebenso ermöglicht werden wie die Mitwirkung an den<br />
gemeinsamen Aufgaben <strong>der</strong> Menschheit in Freiheits- und Friedensliebe.<br />
Abb.3: Ziele des Art 14 Abs 5a B-VG 22<br />
Vergleicht man § 2 Abs 1 SchOG und Art 14 Abs 5a B-VG miteinan<strong>der</strong>, wird<br />
deutlich, dass sie sich in vielen Punkten überschneiden. Die Beson<strong>der</strong>heit<br />
liegt darin, dass Art 14 Abs 5a B-VG auf verfassungsrechtlicher Ebene fest-<br />
gelegt wurde und somit in <strong>der</strong> österreichischen Rechtsordnung viel stärker<br />
verankert ist <strong>als</strong> die einfachgesetzliche Norm des §2 Abs 1 SchOG. Wichtig<br />
für diese Arbeit ist die Tatsache, dass die Persönlichkeitsbildung, wie sie in<br />
Art 14 Abs 5a B-VG zum Ausdruck kommt, Kernelement unserer Verfassung<br />
ist und somit einen unabdingbaren Aspekt schulischer und außerschulischer<br />
Erziehung und Persönlichkeitsbildung darstellt.<br />
22 Ebd., S. 15<br />
Freiheits- und<br />
Friedensliebe<br />
Teilnahme<br />
an Kultur und<br />
Wirtschaft<br />
Verantwortung<br />
Ziele<br />
Aufgeschlossenheit<br />
gegenüber<br />
an<strong>der</strong>en<br />
Selbstständiges<br />
Urteil<br />
Soziales<br />
Verständnis<br />
23
3.3 Stufen <strong>der</strong> kognitiven und moralischen Persönlichkeitsentwicklung<br />
Im Kontext <strong>der</strong> Frage, wie sich die Persönlichkeit des Individuums auf kogni-<br />
tiver und moralischer Ebene entwickelt, ist die strukturalistische Entwick-<br />
lungstheorie von Jean Piaget (1896 – 1980) im Hinblick auf die kognitive<br />
Entwicklung sowie die von Lawrence Kohlberg (1927 – 1987) im Hinblick auf<br />
die moralische Entwicklung von Bedeutung. Die Erörterung des Verhältnis-<br />
ses von WingTsun und Persönlichkeitsbildung umfasst auch die Kenntnis <strong>der</strong><br />
angeführten Entwicklungsstufen.<br />
3.3.1 Kognitive Persönlichkeitsentwicklung nach Piaget<br />
„Unter kognitiver Entwicklung versteht man die Entwicklung all jener Funktio-<br />
nen, die dem Erkennen und Erfassen <strong>der</strong> Gegenstände und Personen <strong>der</strong><br />
Umgebung und <strong>der</strong> eigenen Person gelten. Zu diesen Funktionen gehören<br />
Intelligenz bzw. Denken, Wahrnehmung, Problemlösen, Gedächtnis, Sprache<br />
etc.“ 23 Im psychologischen Kontext ist <strong>der</strong> Begriff <strong>der</strong> „kognitiven Entwick-<br />
lung“ ein weit verbreiteter und korreliert mit den Begriffen „intellektuelle Ent-<br />
wicklung“ o<strong>der</strong> „geistige Entwicklung“. Jean Piaget postulierte 1937 eine um-<br />
fassende Theorie <strong>der</strong> Entwicklung des Denkens und <strong>der</strong> Intelligenz, die von<br />
ihm und seinen Mitarbeitern im Laufe <strong>der</strong> Jahre aufgrund zahlreicher For-<br />
schungen weiterentwickelt wurde. Nach Piaget durchläuft die „Entwicklung<br />
<strong>der</strong> logischen Strukturen menschlichen Denkens“ fünf verschiedene Stadien,<br />
die aufeinan<strong>der</strong> aufbauen und in Wechselwirkung stehen. Er postuliert auch,<br />
„dass keine spätere Phase ohne die vollständige Erlangung <strong>der</strong> früheren er-<br />
reicht werden kann“. Das Stufenmodell <strong>der</strong> kognitiven Entwicklung beruht auf<br />
<strong>der</strong> „Interaktion eines Individuums mit seiner Umwelt“, für dessen strukturelle<br />
Än<strong>der</strong>ung einer Stufe Erfahrung unabdingbar ist. 24<br />
23 PFLÜGER 2009, S. 19<br />
24 SCHNEIDER 2009, S. 5-9<br />
24
Stufe <strong>der</strong> sensomotorischen Intelligenz (0-2 Jahre)<br />
Das Zusammenspiel von Wahrnehmung und motorischer Aktivität prägt die-<br />
se Phase. Vorstellungstätigkeit und rationale Einsicht sind noch nicht vor-<br />
handen. Zwischen dem 18. und 24. Lebensmonat erfolgt eine intelligente<br />
Anpassung des Kleinkindes an die Umwelt. Diese erfolgt hauptsächlich in<br />
Form von spontanen Handlungen und Wahrnehmungseindrücken, z.B. durch<br />
das Bewegen einer Rassel. Dies ist <strong>der</strong> Beginn <strong>der</strong> Ausbildung von primären<br />
Kreisreaktionen, d.h. Handlungen, bei denen das Ergebnis positiv ist, wer-<br />
den wie<strong>der</strong>holt. Sekundäre Kreisreaktionen treten auf, wenn die Unterschei-<br />
dung zwischen Mittel und Zweck klar wird. Tertiäre Kreisreaktionen werden<br />
durch Ausprobieren entdeckt und führen zu neuen Handlungsschemata.<br />
Stufe des symbolischen o<strong>der</strong> vorbegrifflichen Denkens (2-4 Jahre)<br />
Das Kind erringt die Fähigkeit, mit Vorstellungen und Symbolen umzugehen.<br />
Es versteht, dass Symbole für ein Objekt stehen können und muss nun nicht<br />
mehr nach Dingen greifen, son<strong>der</strong>n kann darum bitten. Die Entwicklung <strong>der</strong><br />
Fähigkeit, die reale Umwelt mit sprachlichen Mitteln zu benennen, ist We-<br />
sensmerkmal dieser Stufe. Allerdings sind Kin<strong>der</strong> noch nicht fähig, zwischen<br />
belebten und unbelebten Elementen zu unterscheiden.<br />
Stufe des anschaulichen Denkens (4-8 Jahre)<br />
In dieser Phase kommt es zu einer massiven Anhäufung von Begriffen, die<br />
vereinfacht und absolut gleichermaßen gebraucht werden. Unterschiedliche<br />
Aspekte eines Objektes werden noch nicht erfasst. Das Kind konzentriert<br />
sich auf das hervorstechendste Merkmal. Piaget benennt dies <strong>als</strong> „Egozent-<br />
rismus“ des Kindes. In dieser Phase zweifelt ein Kind nicht daran, ob <strong>der</strong> Ge-<br />
sprächspartner verstanden hat, was es gesagt hat. Es weiß noch nicht, dass<br />
<strong>der</strong> an<strong>der</strong>e die Dinge vielleicht an<strong>der</strong>s sieht <strong>als</strong> es selbst. Im Laufe <strong>der</strong> Zeit<br />
gelingt es dem Kind, diesen Egozentrismus zu überwinden. Es beginnt, die<br />
Perspektive <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en zu verstehen und sich in Sprache und Handeln auf<br />
diese einzustellen.<br />
25
Stufe des konkret-operativen Denkens (7/8-11/12 Jahre)<br />
Auf dieser Stufe können unterschiedliche Aspekte von Objekten gleichzeitig<br />
und die Beziehung zueinan<strong>der</strong> erfasst werden. Das Kind kann „nun in Ge-<br />
danken mit konkreten Objekten bzw. ihren Vorstellungen operieren“. Auch<br />
die Eigenschaft zu reversiblem Denken ist schon vorhanden und ermöglicht,<br />
Operationen gedanklich umzukehren. Beim zielgerichteten konkreten Den-<br />
ken beschränkt sich das Kind auf das Faktische.<br />
Stufe des formalen Denkens (11-12 Jahre)<br />
Diese Stufe ist nach Piaget die höchste Form des logischen Denkens.<br />
Denkoperationen können mit abstrakten Inhalten durchgeführt werden und<br />
sind auch reversibel. Das Denken stützt sich nicht mehr bloß auf Objekte,<br />
son<strong>der</strong>n vorwiegend auf symbolische und verbale Elemente. Zudem wird die<br />
inhaltliche Richtigkeit von Aussagen überprüft und damit die Fähigkeit zu<br />
kritischem Denken entwickelt. 25<br />
Nach <strong>der</strong> Darlegung des kognitiven Entwicklungsmodells nach Piaget soll nur<br />
kurz darauf hingewiesen werden, dass Piaget auch Stufen <strong>der</strong> moralischen<br />
Entwicklung kennt:<br />
� Die Stufe des einfachen moralischen Realismus: Alles ist erlaubt, was<br />
nicht bestraft wird, und alles, was bestraft wird, ist verboten.<br />
� Die Stufe <strong>der</strong> heteronomen Moral (= fremdbestimmte Moral): Erlaubt ist,<br />
was an<strong>der</strong>e Personen gut heißen und vormachen; nicht erlaubt ist, was<br />
an<strong>der</strong>e nicht für gut heißen.<br />
� Die Stufe <strong>der</strong> autonomen Moral (= selbstbestimmte Moral): Piaget ver-<br />
steht darunter, unabhängig von an<strong>der</strong>en Personen, die eigenständige<br />
Beurteilung des Verhaltens. 26<br />
25 Vgl. ROTHGANG 2008, S. 54-63<br />
26 Vgl. PFLÜGER 2009, S.34 f.<br />
26
3.3.2 Moralische Persönlichkeitsentwicklung nach Kohlberg<br />
Was Piaget im Hinblick auf die moralische Entwicklung des Menschen be-<br />
gonnen hat, wurde von dessen Schüler Lawrence Kohlberg fortgeführt und<br />
weiterentwickelt. Lawrence Kohlberg entwirft, gestützt auf Piagets dreistufi-<br />
ges Modell <strong>der</strong> moralischen Entwicklung, ein Stufenmodell mit drei Niveau-<br />
ebenen und sechs Stadien moralischen Verhaltens. Er ordnet die Reaktionen<br />
von Kin<strong>der</strong>n und Jugendlichen, die in Interviews zu hypothetischen morali-<br />
schen Konfliktsituationen befragt wurden, den Stadien und Stufen zu. Be-<br />
rühmt ist das sogenannte Heinz-Dilemma geworden, durch das die Frage<br />
aufgeworfen wird, ob man ein teures Medikament stehlen darf, um den Tod<br />
seiner eigenen Frau zu verhin<strong>der</strong>n. Die Untersuchungen zeigten große Un-<br />
terschiede im Entwicklungsverlauf <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> und dass auf den einzelnen<br />
Altersstufen Urteile im Sinne verschiedener Stadien abgegeben werden.<br />
Kohlberg teilt seine Niveauebenen mit je zwei Stufen wie folgt ein 27 :<br />
Niveau A: Präkonventionelles Niveau – Autoritätsmoral<br />
Kohlberg zählt die meisten Kin<strong>der</strong> unter neun Jahren dazu. Wesensmerkmal<br />
dieser Ebene ist die heteronome Moralität, d.h., dass sich <strong>der</strong> Mensch an<br />
an<strong>der</strong>en Autoritäten orientiert. Dieses Niveau wird daher auch treffend die<br />
Ebene <strong>der</strong> Autoritätsmoral genannt.<br />
Stufe 1: Die heteronome Stufe<br />
Als gut betrachtet wird <strong>der</strong> blinde Gehorsam gegenüber Vorschriften und ge-<br />
genüber Autorität, Strafen zu vermeiden und kein körperliches Leid zu erdul-<br />
den. „Macht ist Recht!“<br />
Stufe 2: Die Stufe des Individualismus, des Zweck-Mittel-Denkens und des<br />
Austauschs<br />
27 Vgl. ROTHGANG 2008, S. 68-71<br />
27
Gut ist es, eigenen o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Bedürfnissen zu dienen und im Sinne des<br />
konkreten Austauschs fair miteinan<strong>der</strong> umzugehen. „Eine Hand wäscht die<br />
an<strong>der</strong>e.“<br />
Niveau B: Konventionelles Niveau – Gruppenmoral<br />
Kohlberg sieht die meisten Jugendlichen und Erwachsenen auf diesem Ni-<br />
veau. Wesensmerkmal dieser Ebene ist das Bewusstsein des Menschen <strong>als</strong><br />
Mitglied einer Gemeinschaft o<strong>der</strong> Gruppe, d.h., dass sich <strong>der</strong> Mensch an den<br />
Maßstäben <strong>der</strong> Gesellschaft o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Gruppe orientiert. Dieses Niveau wird<br />
daher auch Ebene <strong>der</strong> Gruppenmoral genannt.<br />
Stufe 3: Die Stufe gegenseitiger interpersoneller Erwartungen, Beziehungen<br />
und interpersoneller Konformität<br />
Gut ist es, eine gute o<strong>der</strong> nette Rolle zu spielen, sich um an<strong>der</strong>e zu küm-<br />
mern, sich Partnern gegenüber loyal und zuverlässig zu verhalten und bereit<br />
zu sein, Regeln einzuhalten und Erwartungen gerecht zu werden. „Was du<br />
nicht willst, dass man dir tu, das füg' auch keinem an<strong>der</strong>n zu.“ Die Goldene<br />
Regel, hier in <strong>der</strong> sprichwörtlich gewordenen Fassung <strong>der</strong> Lutherübersetzung<br />
von Tob 4,16 ist ein prominentes Beispiel für diese Stufe.<br />
Stufe 4: Die Stufe des sozialen Systems und des verlorenen Gewissens<br />
Gut ist es, seine Pflichten in <strong>der</strong> Gesellschaft zu erfüllen, die soziale Ordnung<br />
aufrecht zu erhalten und für die Wohlfahrt <strong>der</strong> Gesellschaft Sorge zu tra-<br />
gen. Dabei geht es darum, Pflichten und soziale Ordnung „um ihrer selbst<br />
willen“ zu erfüllen bzw. zu erhalten.<br />
Niveau C: Postkonventionelles Niveau – Grundsatzmoral<br />
Kohlberg subsumiert nur einige Erwachsene über 20 Jahren auf diese Ni-<br />
veauebene. Wesensmerkmal dieser Ebene ist das Bemühen des Menschen,<br />
moralische Werte und Prinzipien zu finden, die ihre Gültigkeit und Bedeutung<br />
unabhängig von <strong>der</strong> Autorität an<strong>der</strong>er haben, d.h., dass sich <strong>der</strong> Mensch an<br />
für gültig erachteten Prinzipien auch dann orientiert, wenn er dadurch be-<br />
28
nachteiligt wird. Dieses Niveau wird daher auch die Ebene <strong>der</strong> Grundsatzmo-<br />
ral genannt.<br />
Stufe 5: Die Stufe des Sozialvertrages o<strong>der</strong> des Nutzens für alle und <strong>der</strong><br />
Rechte des Individuums<br />
Gut ist es, die Grundrechte sowie die grundsätzlichen Werte und Verträge<br />
einer Gesellschaft zu unterstützen, auch wenn sie mit den konkreten Regeln<br />
gesellschaftlicher Gruppen kollidieren. Richtiges Handeln wird sowohl im<br />
Sinne allgemeiner <strong>als</strong> auch individueller Rechte definiert.<br />
Stufe 6: Die Stufe <strong>der</strong> universalen ethischen Prinzipien<br />
Gut ist es, ethische Prinzipien <strong>als</strong> maßgebend zu betrachten, denen die gan-<br />
ze Menschheit folgen sollte. „Handle nur nach <strong>der</strong>jenigen Maxime, durch die<br />
du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde!“ 28 Kants<br />
Kategorischer Imperativ ist nicht nur bekannter Prüfstein moralischen Han-<br />
delns, son<strong>der</strong>n auch wichtigstes Beispiel für die höchste Stufe in Kohlbergs<br />
Stufenmodell.<br />
Die Grafiken wollen das Kohlberg-Modell veranschaulichen:<br />
28 KANT 1785, S. 51<br />
29 Selbst erstelle Grafik des Autors<br />
Postkonventionelles Niveau<br />
(Grundsatzmoral)<br />
Einige Erwachsene über 20 Jahre<br />
Konventionelles Niveau<br />
(Gruppenmoral)<br />
Die meisten Jugendlichen und<br />
Erwachsenen<br />
Präkonventionelles Niveau<br />
(Autoritätsmoral)<br />
Die meisten Kin<strong>der</strong> unter 9<br />
Jahren<br />
Abb.4: Kohlbergs Niveauebenen 29<br />
29
Abb. 5: Kohlbergs Stufen des moralischen Urteils 30<br />
3.4 Persönlichkeitsbildung im Kontext von Stress- und Konfliktbewältigung<br />
Die Bewältigung von Stress- und Konfliktsituationen hängt eng mit <strong>der</strong> Per-<br />
sönlichkeit des Individuums, mit <strong>der</strong> Persönlichkeitsstruktur und somit auch<br />
mit <strong>der</strong> Persönlichkeitsentwicklung zusammen. Dabei kommt <strong>der</strong> psychologi-<br />
schen wie <strong>der</strong> medizinischen Perspektive eine große Bedeutung zu. Wer<br />
weiß, wie <strong>der</strong> Körper physiologisch in Stress- und Konfliktsituationen agiert,<br />
kann unter Berücksichtigung dieses Wissens psychologisch adäquat reagie-<br />
ren.<br />
Präkonventionelles<br />
Niveau<br />
Stufe 1:<br />
heteronome Stufe: „Macht<br />
ist Recht!“<br />
Stufe 2:<br />
Stufe des Individualismus,<br />
des Zweck-Mittel-Denkens<br />
und des Austausches „Eine<br />
Hand wäscht die an<strong>der</strong>e!“<br />
30 Selbst erstellte Grafik des Autors<br />
Konventionelles Niveau<br />
Stufe 3:<br />
Stufe gegenseitiger<br />
interpersoneller<br />
Erwartungen und<br />
Beziehungen: Goldene<br />
Regel!<br />
Stufe 4:<br />
Stufe des sozialen Systems<br />
und des verlorenen<br />
Gewissens: „Ruhe ist die<br />
erste Bürgerpflicht!“<br />
Postkonventionelles<br />
Niveau<br />
Stufe 5:<br />
Stufe des Sozialvertrages:<br />
Nutzen für alle und Rechte<br />
für Individuen („Eigentum<br />
verpflichtet!“)<br />
Stufe 6:<br />
Stufe universaler ethischer<br />
Prinzipien: Kategorischer<br />
Imperativ!<br />
30
3.4.1 Die medizinische Perspektive<br />
Der Organismus ist mit Hilfe des Stressverarbeitungssystems in <strong>der</strong> Lage,<br />
körperlichen und psychischen Belastungen zu begegnen. Schon in den ers-<br />
ten Schwangerschaftswochen beginnt die Entwicklung dieses Stressverar-<br />
beitungssystems, das aber erst am Ende des ersten Lebensjahres gut funkti-<br />
oniert. Hauptsächlich sind Hypothalamus 31 und Amygdala 32 für das Erkennen<br />
von potenziell bedrohlichen o<strong>der</strong> lebenswichtigen Situationen zuständig. Sie<br />
reagieren im Allgemeinen in zwei Schritten entlang <strong>der</strong> Hypothalamus-<br />
Hypophysen-Nebennieren-Achse (Abk.HHNA), umgangssprachlich verein-<br />
facht „Stressachse“ genannt.<br />
Die erste sehr schnelle Reaktion auf Stress wird durch eine Aktivierung von<br />
Noradrenalin im Locus coeruleus (blauer Kern) des Hirnstamms und Adrena-<br />
lin im Nebennierenmark ausgelöst. Das hat zur Folge, dass sich innerhalb<br />
des Bruchteils einer Sekunde die Aufmerksamkeit, <strong>der</strong> Muskeltonus (Körper-<br />
kraft), die Atemfrequenz, <strong>der</strong> Herzschlag und die Reaktionsbereitschaft<br />
schlagartig und signifikant erhöhen. Die Aktivierung dieser Kraftreserven<br />
dient dem überlebenssichernden Verhalten.<br />
Die zweite, langsamere Stressreaktion wird ihrerseits durch Adrenalin und<br />
Noradrenalin ausgelöst. Diese bewirken durch die Freisetzung des Corti-<br />
cotropin-Ausschüttungs-Hormons (CRF) im Hypothalamus, das von dort zum<br />
Lobus anterior <strong>der</strong> Hypophyse 33 wan<strong>der</strong>t, die Produktion des Adrenocorti-<br />
cotropen Hormons (ACTH). Dieses wie<strong>der</strong>um bewirkt seinerseits die Produk-<br />
tion von Cortisol in <strong>der</strong> Nebennierenrinde, welches über die Blutbahn in Kör-<br />
per und Gehirn vielfältige Wirkungen auslöst. Glucose- und Fettsäurespiegel<br />
im Blut werden erhöht und führen damit zu einer Ankurbelung des Stoff-<br />
wechsels. Der Körper ist nun in <strong>der</strong> Lage, erhöhte Leistungen zu vollbringen.<br />
Zudem wirkt ACTH unterdrückend auf das Immunsystem. In zu hohen Do-<br />
31 Der Hypothalamus ist Teil <strong>der</strong> Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrindenachse<br />
(HHNA) und steuert die Regulation und Ausschüttung von Hormonen.<br />
32 Corpus amygdaloideum ist <strong>der</strong> medizinische Fachbegriff für Amygdala bzw. Mandelkern,<br />
welcher zum limbischen System gerechnet wird, das für Emotionen und Triebverhalten zuständig<br />
ist. Vgl. Lexikon <strong>der</strong> Neurowissenschaft<br />
33 Hirnanhangsdrüsen-Vor<strong>der</strong>lappen<br />
31
sen führt ACTH zu einer Schwächung des Immunsystems und wird für den<br />
Körper dadurch gefährlich.<br />
Cortisol kann sich im Gehirn an zwei verschiedene Rezeptoren binden. Bei<br />
mildem Stress und wenig Cortisol werden Mineralcorticoid-Rezeptoren akti-<br />
viert. Stärkerer Stress aktiviert die Glucocorticoid-Rezeptoren. Bei starkem<br />
Stress werden jene Gehirnzentren aktiviert, die die Verhaltensweisen zur<br />
Beseitigung o<strong>der</strong> Bedrohung auslösen, z.B. Flucht, Abwehr, Kampf. 34 Hier<br />
kommt <strong>der</strong> vom amerikanischen Physiologen Walter Cannon 1915 geprägte<br />
Begriff „Fight or Flight“ ins Spiel. Gleichzeitig wird durch die Glukocorticoid-<br />
Rezeptoren die Freisetzung von CRF und ACTH gehemmt, d.h. es liegt eine<br />
negative Rückkoppelung zwischen Cortisol und den beiden vorher genann-<br />
ten Hormonen vor. Diese soll bei einer starken Stressreaktion verhin<strong>der</strong>n,<br />
dass zu viel Cortisol produziert wird.<br />
Endogene Opioide und an<strong>der</strong>e „hirneigene Drogen“ wirken unterstützend<br />
beim Abklingen stressbedingter Aufregung. Auch <strong>der</strong> im Zentralnervensys-<br />
tem angesiedelte Neurotransmitter Serotonin hat in diesem Zusammenhang<br />
eine beruhigende und angstdämpfende Wirkung.<br />
Zusammenfassend ist festzuhalten, dass für die Bewältigung von Problemen<br />
und Gefahren leichter Stress notwendig ist. Starker Stress kann kurzfristig<br />
zur Mobilisierung „ungeahnter Kräfte“ führen. Chronischer Stress führt jedoch<br />
zum Versagen <strong>der</strong> negativen Rückkoppelung <strong>der</strong> Stressachse durch Über-<br />
produktion von Cortisol. Leistungsabfall, Schlaflosigkeit, Depression, Kopf-<br />
schmerzen, Magenschmerzen, Burnout, Überreizbarkeit, Vergesslichkeit und<br />
starkes Absinken sexueller Aktivität sind bekannte Konsequenzen. „Leichter<br />
Stress hat positive, starker Stress negative Wirkungen mit einem Optimum<br />
dazwischen.“ 35<br />
34 Vgl. ROTH 2011, S. 50-52<br />
35 Vgl. ebd.<br />
32
3.4.2 Die psychologische Perspektive<br />
Stress ist in <strong>der</strong> heutigen Zeit, nicht zuletzt bedingt durch die mo<strong>der</strong>ne Leis-<br />
tungsgesellschaft, die nicht nur den Erwerbsbereich, son<strong>der</strong>n auch den <strong>der</strong><br />
Bildung umfasst, ein weit verbreitetes Phänomen. Umgangssprachlich wird<br />
<strong>der</strong> Begriff vielfältig und nicht immer zutreffend verwendet. Dennoch kann<br />
man das Phänomen nicht einfach <strong>als</strong> Modewort abtun. Stress ist, wie im vo-<br />
rangegangenen Kapitel dargelegt, Bestandteil des Lebens, und deswegen ist<br />
<strong>der</strong> Begriff keineswegs nur negativ behaftet. Stress kann uns for<strong>der</strong>n und zu<br />
sehr guten Leistungen führen. Im Übermaß kann er uns allerdings krank ma-<br />
chen. Der bekannte österreichisch-kanadische Mediziner und Stressforscher<br />
Hans Selye 36 , selbst stark beeinflusst von Walter Cannon 37 , verwendete den<br />
Begriff „Stress“ erstm<strong>als</strong> Mitte <strong>der</strong> 30er Jahre des letzten Jahrhun<strong>der</strong>ts und<br />
wird <strong>als</strong> „Vater <strong>der</strong> Stressforschung“ bezeichnet. Sein Ansatz:<br />
� Stress ist eine Reaktion auf eine Bedrohung.<br />
� Stress wird immer von einer körperlichen Reaktion begleitet. 38<br />
Es gibt unzählige <strong>Möglichkeit</strong>en im Leben, die Stress erzeugen können und<br />
<strong>als</strong> „Stressoren“ bezeichnet werden. Dazu zählen:<br />
� Einschneidende Ereignisse: Tod, Trennung, Verbrechen, Arbeitsverlust.<br />
Aber auch positive Ereignisse gehören hierher: z.B. Heirat o<strong>der</strong> die Ge-<br />
burt eines Kindes.<br />
� Kleine Stressoren des Alltags, die sich summieren und zu einer großen<br />
Belastung werden<br />
� Private Probleme: z.B. im familiären und/o<strong>der</strong> finanziellen Bereich<br />
� Probleme im Berufsleben<br />
� Versagens- und Existenzängste<br />
� Umwelteinflüsse: z.B. Lärm o<strong>der</strong> schlechte Luft<br />
� Körperliche Probleme: z.B. schwere Erkrankungen o<strong>der</strong> starkes Überge-<br />
wicht.<br />
36 Vgl. NEYLAN o.J.<br />
37 Vgl. Kapitel 3.4.1<br />
38 Vgl. Öffentliches Gesundheitsportal Österreichs, o.J.<br />
33
Hans Selye teilt den Stressbegriff in seiner 1936 publizierten wissenschaftli-<br />
chen Arbeit „A Syndrome Produced by Diverse Nocuous Agents“ in zwei Ar-<br />
ten ein:<br />
� Eustress - positiver Stress<br />
Zusammengesetzt von dem griechischen Wort „eu“, das „gut“ und „wohl“<br />
bedeutet, und dem Wort Stress. Hierher gehören Herausfor<strong>der</strong>ungen, ge-<br />
steigerte Leistungen und Kreativität. Belastungen können Eustress blei-<br />
ben, wenn <strong>der</strong> Mensch auf Hochtouren läuft, Höchstleistungen erbringt<br />
und trotzdem den Spaß an <strong>der</strong> Sache nicht verliert.<br />
� Disstress - „negativer Stress“<br />
Vom griechischen Präfix „dys“, das <strong>der</strong> deutschen Vorsilbe „miss“ o<strong>der</strong><br />
„un“ entspricht, und Stress. Hier handelt es sich um jene Situationen, die<br />
entstehen, wenn Bewältigungsmechanismen erschöpft o<strong>der</strong> Menschen<br />
überfor<strong>der</strong>t sind. Disstress ist ein unangenehmer Zustand, <strong>der</strong> auf längere<br />
Zeit negative Auswirkungen auf die Gesundheit und Leistungsfähigkeit<br />
des Menschen hat. Eustress kann sich in Disstress verwandeln.<br />
Nach Hans Selye ist <strong>der</strong> Stresszustand ein spezielles Syndrom, welches aus<br />
„unspezifischen Verän<strong>der</strong>ungen innerhalb eines biologischen Systems be-<br />
steht“. Er beschreibt ihn <strong>als</strong> generalisiertes Anpassungssyndrom, welches in<br />
drei Phasen eingeteilt werden kann: in Alarmreaktion, Wi<strong>der</strong>standsphase und<br />
Erschöpfungsphase. Bei <strong>der</strong> Alarmreaktion wird das innere Gleichgewicht<br />
gestört, und es kommt zu <strong>der</strong> im vorigen Kapitel erläuterten Aktivierung des<br />
Sympathikus. In <strong>der</strong> Wi<strong>der</strong>standsphase werden die optimalen Werte <strong>der</strong><br />
Adaption erreicht. Bei einer längeren Stresssituation kommt es aber zu ge-<br />
genregulatorischen Wirkungen. Die letzte Phase ist die Erschöpfungsphase,<br />
bei <strong>der</strong> es zu einem Energiebereitstellungsproblem kommt. Wenn die Ne-<br />
bennierenrinde nicht mehr in <strong>der</strong> Lage ist, ihre Hormone auszuschütten, weil<br />
<strong>der</strong> Vorrat zu Ende ist, kann die Aufgabe <strong>der</strong> Stressbewältigung des genera-<br />
34
lisierten Anpassungssyndroms nicht mehr erfüllt werden. Die Langzeitfolgen<br />
sind Erkrankungen. 39<br />
Da Stress von Personen unterschiedlich erlebt wird, ergeben sich auch un-<br />
terschiedliche Bewertungen von Stresssituationen. Dauer, Stärke und kon-<br />
krete Situation sind maßgebliche Determinanten. Interessant ist, dass die<br />
betroffene Person selbst zur Stressbewältigung beiträgt, je nach Einschät-<br />
zung <strong>der</strong> Lage. Bei positiver Bewertung einer Situation empfindet die Person<br />
angenehme Gefühle, während bei negativer Bewertung wie z.B. Verlust o<strong>der</strong><br />
Gefahr unangenehme Gefühle auftreten. Dieser Vorgang läuft unbewusst<br />
und in Sekundenbruchteilen ab, denn Stressreaktionen sind entwicklungsge-<br />
schichtlich sehr alt und tief verwurzelt. Bei auftretenden Gefahren mussten<br />
unsere Vorfahren entwe<strong>der</strong> kämpfen o<strong>der</strong> flüchten (fight or flight). In <strong>der</strong> heu-<br />
tigen Zeit ist jedoch das Leben überwiegend von an<strong>der</strong>en Stressoren, wie<br />
Doppelbelastungen durch Familie und Beruf, Leistungsdruck etc. gekenn-<br />
zeichnet, die auf einen längeren Zeitraum wirken. Hier kann <strong>der</strong> Mensch<br />
nicht einfach mit einer Fluchtreaktion reagieren, um den Stress abzubauen. 40<br />
Wenn bei Dauerstress keine passenden Gegenmaßnahmen gesetzt werden,<br />
wie z.B. Konfliktlösungen, Entspannungen, Glaubenssätze 41 o<strong>der</strong> Situations-<br />
än<strong>der</strong>ungen, kommt es, wie im vorigen Kapitel aus medizinischer Perspekti-<br />
ve dargelegt, zu einer Dauerausschüttung von Kortisol mit den damit verbun-<br />
denen Folgen. Daher ist Schutz vor Stress beson<strong>der</strong>s wichtig. Neben Sozial-<br />
kompetenz und Gesundheit kommt im Hinblick auf Stressresistenz <strong>der</strong> Per-<br />
sönlichkeit und <strong>der</strong> Persönlichkeitsbildung eine beson<strong>der</strong>e Bedeutung zu. In<br />
diesem Sinn umfassen die staatlichen Erziehungsziele nach Art 14 Abs 5a B-<br />
VG 42 über die Priorität einer wertbezogenen Persönlichkeitsbildung auch die<br />
Stress- und Konfliktbewältigung. Sie ist eine wesentliche Voraussetzung für<br />
Problemlösungen im Mikro-, Meso- und Makrobereich.<br />
39 Vgl. EISENMANN 2006, S. 9<br />
40 Vgl. Öffentliches Gesundheitsportal Österreichs, o.J.<br />
41 Der Begriff stammt aus <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Psychologie und bezeichnet eine tief verankerte<br />
Überzeugung eines Menschen.<br />
42 Vgl. Kapitel 3.2<br />
35
4 Aggression und Gewalt: Prävention und Deeskalation<br />
In diesem im Kontext <strong>der</strong> gegenständlichen Arbeit zentralen Kapitel wird zu-<br />
nächst versucht, das Wesen <strong>der</strong> Aggression anhand von verschiedenen Er-<br />
klärungsmodellen aus Psychologie, Soziologie und integrativen Modellen zu<br />
klären. Danach werden im Hinblick auf das Phänomen <strong>der</strong> Gewalt Möglich-<br />
keiten <strong>der</strong> Prävention im Rahmen <strong>der</strong> Schule erörtert. Einige ausgewählte<br />
aktuelle Gewaltpräventionsprogramme sollen dies verdeutlichen.<br />
4.1 Erklärungsmodelle <strong>der</strong> Aggression<br />
Die Ursachen <strong>der</strong> Aggression zu klären war und ist Wissenschaftlern schon<br />
seit langem ein Anliegen. Im Laufe <strong>der</strong> Zeit hat sich zu diesem Thema eine<br />
Fülle von Theorien angesammelt. Das theoretische Wissen um die Entste-<br />
hung von Aggression und Gewalt ist eine wichtige Voraussetzung, um in <strong>der</strong><br />
Folge geeignete Wege <strong>der</strong> Gewaltprävention o<strong>der</strong> -intervention zu finden und<br />
anzuwenden. Zunächst sind die klassischen psychologischen Erklärungsmo-<br />
delle zu nennen, die von <strong>der</strong> menschlichen Psyche im Zusammenhang mit<br />
Faktoren ausgehen, die für das jeweilige Modell charakteristisch sind. Bei<br />
den soziologischen Theorien werden die Ursachen <strong>der</strong> Gewalt im Kontext<br />
<strong>der</strong> soziokulturellen Strukturen erforscht. Die integrativen Erklärungsmodelle<br />
hingegen kombinieren Ansätze aus unterschiedlichen wissenschaftlichen<br />
Disziplinen miteinan<strong>der</strong>.<br />
4.1.1 Psychologische Theorien<br />
Die Grundannahme <strong>der</strong> Trieb- und Instinkttheorien geht davon aus, dass es<br />
im Organismus eine angeborene Quelle gibt, „die fortwährend aggressive<br />
36
Impulse produziert“. 43 Sigmund Freund und Konrad Lorenz zählen zu den<br />
bedeutendsten Vertretern dieses Denkens.<br />
4.1.1.1 Sigmund Freud und Konrad Lorenz<br />
Die Triebtheorie von Sigmund Freud ist wohl eine <strong>der</strong> bekanntesten Aggres-<br />
sionstheorien. Freud sagt, dass es zwei unterschiedliche angeborene Triebe<br />
im Menschen gibt: Erstens den Thanatos-Trieb (Todestrieb), durch den stän-<br />
dig aggressive Impulse produziert werden, die danach streben, sich zu entla-<br />
den. Zweitens den Libido-Trieb (Sexual- o<strong>der</strong> Selbsterhaltungstrieb), <strong>der</strong><br />
nicht auf den Bereich <strong>der</strong> Sexualität zu reduzieren ist, son<strong>der</strong>n auch in ande-<br />
ren Lebensbereichen, wie z.B. Kultur und Bildung, dem Todestrieb gegen-<br />
über steht. Nach Freud spielt sich das Leben im Wechselspiel dieser Ge-<br />
gensätze ab. Der Todestrieb ist „letztlich auf Selbstvernichtung gerichtet“ und<br />
wird nur durch die Libido nach außen gelenkt. 44 Konrad Lorenz geht zwar<br />
auch von einem angeborenen Trieb aus, jedoch wird dieser <strong>als</strong> ein „spezifi-<br />
scher, gegen die Artgenossen gerichteter Kampftrieb“ verstanden. In <strong>der</strong><br />
Verhaltungsforschung geht Lorenz davon aus, dass das Ritual, das den An-<br />
fang <strong>der</strong> menschlichen Kultur markiert, funktional darauf ausgelegt war,<br />
„menschliche Aggression im Zaume zu halten bzw. in an<strong>der</strong>e Bahnen zu len-<br />
ken“. 45 Im Gegensatz zu Freud besteht bei Lorenz die <strong>Möglichkeit</strong>, aggressi-<br />
ves Triebverhalten „in einer langen evolutionären Entwicklung“ zu modifizie-<br />
ren. Dadurch ist die theoretische Grundlage für eine Friedenserziehung ge-<br />
schaffen, durch die eine unschädliche Entladung o<strong>der</strong> Auslebung von Ag-<br />
gressionen möglich, z.B. im Sport o<strong>der</strong> eben auch in <strong>der</strong> <strong>Kampfkunst</strong>. 46<br />
43<br />
Vgl. SCHUBARTH 2010, S. 22<br />
44<br />
Vgl. ebd.<br />
45<br />
Vgl. ebd.<br />
46<br />
Vgl. BRUNNTHALER in BAUMGARTINGER/HABICHLER/FINK/BARONES (Hrsg) 2002,<br />
S. 393<br />
37
4.1.1.2 Frustrations-Aggressions-Theorie<br />
Das frustrationstheoretische Erklärungsmodell nach Dollard und Miller be-<br />
sagt, dass Aggression ein reaktives Verhalten auf Frustration darstellt. Sie<br />
entsteht, wenn eine zielgerichtete Aktivität, aus welchen Gründen auch im-<br />
mer, nicht erfüllt werden kann und so zu einem Verlust <strong>der</strong> dadurch erwarte-<br />
ten Befriedigung führt. Aggressionen tauchen demnach grundsätzlich <strong>als</strong><br />
Frustrationsfolge auf. Die Stärke <strong>der</strong> Aggression hängt dabei von den folgen-<br />
den Faktoren ab:<br />
� dem Grad <strong>der</strong> Neigung zu Frustrationsreaktionen,<br />
� vom Grad <strong>der</strong> Behin<strong>der</strong>ung einer Reaktion,<br />
� von <strong>der</strong> Zahl <strong>der</strong> frustrierenden Reaktionen sowie<br />
� von <strong>der</strong> Zahl gelöschter nicht-aggressiver Reaktionen.<br />
Die Aggressionen müssen sich – ähnlich wie im Triebmodell – entwe<strong>der</strong> ge-<br />
gen die Person selbst o<strong>der</strong> gegen ihre Umwelt richten. Die Frustrations-<br />
Aggressions-Theorie wurde allerdings schon früh relativiert, da sich in Folge-<br />
untersuchungen herausgestellt hat, dass Frustrierte bei gleichen Bedingun-<br />
gen signifikant unterschiedliches Verhalten gezeigt haben. Aggressive und<br />
nicht aggressive Reaktionen teilten sich im Verhältnis von 50:50 auf die Pro-<br />
banden auf. Aus diesen Untersuchungen wurde die Schlussfolgerung gezo-<br />
gen, dass noch an<strong>der</strong>e Faktoren und Bedingungen maßgeblich für die Klä-<br />
rung <strong>der</strong> Frustrations-Aggressions-Theorie sind. Folgende Frustrationstypen<br />
kristallisierten sich in den empirischen Untersuchungen dieses Erklärungs-<br />
modells heraus: Frustration durch Hin<strong>der</strong>nisse, Frustration durch Provokation<br />
und Frustration durch physische Stressoren. 47 Als pädagogische Handlungs-<br />
ansätze aus dieser Theorie sind einerseits die Bedeutung <strong>der</strong> Kenntnis <strong>der</strong><br />
Pädagoginnen und Pädagogen in Bezug auf die individuelle Frustrations-<br />
schwelle ihrer Schülerinnen und Schüler zu nennen und an<strong>der</strong>erseits die<br />
<strong>Möglichkeit</strong> <strong>der</strong> Schülerinnen und Schüler, den adäquaten Umgang mit frust-<br />
47 Vgl. STAEGLICH 2010, S.15 f.<br />
38
ierenden Situationen zu üben, indem sie Konflikte und die Begründung von<br />
Bewertungen verbalisieren lernen. 48<br />
4.1.1.3 Aggression <strong>als</strong> Folge von Lernprozessen<br />
Beim Versuch, Aggression <strong>als</strong> Folge von Lernprozessen zu erklären, wird im<br />
Gegensatz zu den in den vorangegangenen Kapiteln behandelten Theorien<br />
davon ausgegangen, dass Aggression auf Lernvorgängen beruht. „Lernen“<br />
ist hier in einem weiten Sinn zu verstehen und umfasst „Verän<strong>der</strong>ungen per-<br />
sonaler Dispositionen aufgrund von Erfahrungen“. 49 Im Kontext <strong>der</strong> Aggres-<br />
sion und ihrer Ursachen sind die Bereiche Lernen am Modell, Lernen am Er-<br />
folg bzw. Misserfolg und kognitives Lernen von Bedeutung. 50<br />
Beim Typus „Lernen am Modell“ wird durch Nachahmung gelernt. Vorbil<strong>der</strong>,<br />
die nachgeahmt werden, finden sich im engen Kreis <strong>der</strong> Familie sowie im<br />
Freundes- und Bekanntenkreis. Verhalten erscheint <strong>als</strong> umso mehr nachah-<br />
menswert, je erfolgreicher das Vorbild – das Modell – ist und je besser sich<br />
das Verhältnis zwischen Nachahmer und Modell darstellt. Die Nachahmung<br />
wird auch verstärkt, wenn die Handlung vom Modell <strong>als</strong> moralisch richtig dar-<br />
gestellt wird o<strong>der</strong> wenn die Handlung <strong>als</strong> Ausdruck von Macht erscheint.<br />
Heute, im Zeitalter <strong>der</strong> medialen und vor allem audiovisuellen Reizüberflu-<br />
tung, ist beson<strong>der</strong>s <strong>der</strong> Einfluss <strong>der</strong> Medien auf die Vorbildfunktion – im posi-<br />
tiven wie im negativen Sinn – nicht zu unterschätzen.<br />
Beim Typus „Lernen am Erfolg bzw. Misserfolg“ sind es die Konsequenzen<br />
einer Handlung, die zum Lernprozess führen. Wird aggressives Verhalten<br />
belohnt o<strong>der</strong> ist das Verhalten zumindest immer wie<strong>der</strong> erfolgreich, führt das<br />
zu einer erhöhten Wahrscheinlichkeit, auf dieses Verhaltensmuster zurück-<br />
zugreifen. Die Wahrscheinlichkeit sinkt allerdings, wenn es bei Misserfolgen<br />
o<strong>der</strong> negativen Konsequenzen für die handelnde Person bleibt. Interessant<br />
48<br />
Vgl. SCHUBARTH 2012, S. 24<br />
49<br />
Vgl. ebd.<br />
50<br />
Die folgende Darstellung <strong>der</strong> Lerntypen orientiert sich an SCHUBARTH 2010, S. 24-26.<br />
39
ist in diesem Zusammenhang, dass neue Verhaltensweisen durch Nachah-<br />
mung erlernt werden, die Erfolge aber dazu dienen, diese neuen Verhal-<br />
tensweisen einzusetzen.<br />
Beim Typus „Kognitives Lernen“ handelt es sich um ein Lernen im Sinn von<br />
Wissensbildung. Aggressionsrelevante Begriffe, z.B. das Freund-Feind-<br />
Schema, Begriffe wie Ehre und Notwehr und auch Denkmuster wie „Strafe<br />
muss sein“ o<strong>der</strong> „Wo gehobelt wird, fallen Späne“ und ähnliche mehr werden<br />
gelernt. Gefährlich werden solche Denkmuster dort, wo sie mit gezielten Ma-<br />
nipulationen verbunden werden. „Heimatliebe statt Marokkaner-Diebe“, „Da-<br />
ham statt Islam“ sind nur zwei Beispiele aus jüngster Vergangenheit. „Schuld<br />
an allem sind die Juden“, wie es das umstrittene Gedicht „Was gesagt wer-<br />
den muss“ von Günther Grass kürzlich unterstellt 51 o<strong>der</strong> „Wollt ihr ein Chris-<br />
tenclub bleiben?“ am Vorabend <strong>der</strong> Verhandlungen über den EU-Beitritt <strong>der</strong><br />
Türkei aus dem Mund des türkischen Ministerpräsidenten Recep Erdogan 52<br />
sind zwei weitere Beispiele von Denkmustern, die das Wesen <strong>der</strong> dadurch<br />
ausgelösten Aggressionen nicht erkennen bzw. gerade auf diese abzielen.<br />
Aggressive Handlungsmuster und Methoden, Denkmuster und Begriffe wer-<br />
den erlernt und beeinflussen so <strong>als</strong>o die Entstehung von Aggression ent-<br />
scheidend. Unterstellungen bzw. Zuschreibungsprozesse beeinflussen ganz<br />
wesentlich die Entstehung von Ärger und Aggressionen. Der Aggressor be-<br />
ruhigt dabei sein Gewissen durch Rationalisierungstechniken, um sich selbst<br />
zu rechtfertigen. Eine fragwürdige Vorgangsweise liegt darin, dass Aggressi-<br />
onen leichter in die Welt gesetzt werden, wenn die Personenwürde des Op-<br />
fers herabgesetzt wird, und weniger aggressives Verhalten auftritt, wenn den<br />
Aggressor Vergeltung erwartet. 53<br />
Auch im Schulalltag spielen die Lerntheorien im Kontext <strong>der</strong> Entstehung von<br />
Aggression eine große Rolle. Unbestritten haben Lehrerinnen und Lehrer<br />
eine wichtige Vorbildfunktion. Merken Schülerinnen und Schüler, dass Stö-<br />
51 Vgl. Die Presse vom 04.04.2012<br />
52 Vgl. Die Welt vom 06.04.2010<br />
53 Vgl. SCHUBARTH 2010, S. 25<br />
40
enfriede von <strong>der</strong> Lehrerin o<strong>der</strong> vom Lehrer nicht geduldet werden und es<br />
Konsequenzen gibt, kann es zu einem positiven Effekt kommen. Allerdings<br />
kann dies unbeabsichtigt auch so verstanden werden, dass den Störenfrie-<br />
den mehr Beachtung geschenkt wird <strong>als</strong> den Schülerinnen und Schülern, die<br />
gut mitarbeiten. Das kann unter Umständen zu einem negativen Effekt füh-<br />
ren, nämlich zum Kopieren des Verhaltens <strong>der</strong> Störenfriede. Ein großes<br />
Problem besteht auch darin, bei aggressivem Verhalten von Schülerinnen<br />
und Schülern nicht zu reagieren, was wie eine Duldung des Fehlverhaltens<br />
wirken kann. Derart ist es möglich, dass aggressive Schülerinnen und Schü-<br />
ler das Gefühl von noch mehr Stärke erfahren, weil niemand einschreitet.<br />
Umgekehrt kann auch die Lehrerin bzw. <strong>der</strong> Lehrer zu einem negativen Vor-<br />
bild werden, wenn sie o<strong>der</strong> er Schülerinnen und Schüler ungerecht behandelt<br />
o<strong>der</strong> verbal verletzt. Es entsteht unter Umständen <strong>der</strong> Eindruck, <strong>als</strong> sei es<br />
richtig, Aggressionen an Schwächeren auszulassen. Deshalb müssen not-<br />
wendige pädagogische Konsequenzen maßvoll gesetzt werden und in Ver-<br />
bindung zu positivem Modellverhalten stehen.<br />
4.1.2 Soziologische Theorien<br />
Wie am Anfang dieses Kapitels erwähnt, suchen die soziologischen Theorien<br />
die Ursachen <strong>der</strong> Aggression und Gewalt in den gesellschaftlichen und so-<br />
zialen Bedingungen. Angesichts <strong>der</strong> Fülle soziologischer Theorien, die den<br />
Rahmen <strong>der</strong> gegenständlichen Bachelorarbeit sprengen würde, werden im<br />
folgenden Abschnitt nur einige ausgewählte Theorien exemplarisch ange-<br />
führt.<br />
Die Anomietheorie wurde von Emile Durkheim in die Soziologie eingeführt<br />
und von Robert K. Merton verfeinert. Anomie bedeutet einen „Zustand man-<br />
geln<strong>der</strong> individueller o<strong>der</strong> kollektiver Anpassung an neue soziale Tatbestän-<br />
41
de […] durch Fehlen entsprechen<strong>der</strong> sozialer Normen“ 54 . Beson<strong>der</strong>s in Zei-<br />
ten des beschleunigten sozialen Wandels, wie er z.B. im Bereich von Wirt-<br />
schaft und Arbeit, in Technik und Computerisierung o<strong>der</strong> auch in <strong>der</strong> Urbani-<br />
sierung früherer Agrargesellschaften spürbar wird, tritt Anomie auf und äu-<br />
ßert sich „in spürbarer Zunahme abweichenden Verhaltens“. 55 Die Ano-<br />
mietheorie besagt, dass abweichendes Verhalten eine Folge <strong>der</strong> Anpassung<br />
an die wi<strong>der</strong>sprüchliche Gesellschaft und <strong>der</strong>en Sozi<strong>als</strong>truktur ist. Deviantes<br />
Verhalten entsteht dabei umso mehr, <strong>als</strong> gesellschaftlich vorgegebenen und<br />
definierten Zielen ein mehr o<strong>der</strong> weniger ausgeprägtes Unvermögen <strong>der</strong> In-<br />
dividuen gegenübersteht, diese auch zu erreichen. Wenn vor allem junge<br />
Menschen zu wenig o<strong>der</strong> keine <strong>Möglichkeit</strong>en haben, die gesellschaftlich<br />
vorgegebenen Ziele zu erreichen, kann es zu Gewaltanwendung kommen,<br />
um zumindest auf diesem Weg vermeintlich Anerkennung und Erfolg zu er-<br />
reichen.<br />
Auch die Theorien des differenziellen Lernens stellen auf die Unterscheidung<br />
zwischen konformen und abweichenden Verhaltensweisen ab. Aus dieser<br />
Unterscheidung bzw. Differenzierung resultiert die Bezeichnung „differenzi-<br />
ell“. Trotz des Lernaspekts, <strong>der</strong> den differenziellen Theorien innewohnt, wer-<br />
den sie wegen des starken soziologischen Bezugs den soziologischen Theo-<br />
rien zugezählt. Gewalt entsteht nach dieser soziologischen Theorie nicht ein-<br />
fach aus dem Nichts, son<strong>der</strong>n ist Folge einer längeren von Lernprozessen<br />
begleiteten Sozialisation. Umgekehrt sind aber auch positive Verhaltensmus-<br />
ter Ergebnis von Sozialisationsprozessen. Daher kommt den Bezugsperso-<br />
nen eine tragende Rolle zu. Weil Kin<strong>der</strong> und Jugendliche sich mit Bezugs-<br />
personen identifizieren, ist <strong>der</strong> Vorbildcharakter dieser Bezugspersonen, sei-<br />
en es nun Eltern und Lehrerinnen und Lehrer o<strong>der</strong> seien es Gleichaltrige und<br />
Peergroups, von großer Bedeutung. 56<br />
54<br />
MERTON in BROC<strong>KHA</strong>US 1986, Bd. 1, S. 607<br />
55<br />
Vgl. ebd.<br />
56<br />
Vgl. SCHUBARTH 2010, S. 37 f.<br />
42
Auch bei <strong>der</strong> Etikettierungstheorie geht es um die Unterscheidung von kon-<br />
formem und deviantem Verhalten, jedoch mit dem Unterschied, dass abwei-<br />
chendes Verhalten durch Definition und Normsetzung <strong>der</strong> Gesellschaft etiket-<br />
tiert wird, sozusagen von außen. Was „normal“ ist, bestimmt die Norm. Was<br />
die Norm ist, bestimmt, wer die Macht dazu hat. Im Hinblick auf abweichen-<br />
des Verhalten ist im Kontext <strong>der</strong> Etikettierungstheorie zu unterscheiden zwi-<br />
schen primärer und sekundärer Devianz. Primäre Devianz bezieht sich auf<br />
die Ursachen von abweichendem Verhalten, während sekundäre Devianz<br />
„allein auf <strong>der</strong> Reaktion und Rollenzuschreibung seitens <strong>der</strong> sozialen Um-<br />
welt“ beruht. Sekundäre Devianz hat insofern eine große Bedeutung, da sie<br />
Abweichung sogar för<strong>der</strong>n kann. Wenn eine Schülerin o<strong>der</strong> ein Schüler im-<br />
mer wie<strong>der</strong> negativ auffällt und von <strong>der</strong> Lehrerin o<strong>der</strong> vom Lehrer getadelt<br />
wird, kann es zu einer ungewollten Typisierung o<strong>der</strong> zu einer Stigmatisierung<br />
<strong>der</strong> Schülerin o<strong>der</strong> des Schülers kommen. Er wird etikettiert und somit in eine<br />
bestimmte Rolle hineingedrängt. Mit <strong>der</strong> Zeit verhält er sich genauso, wie es<br />
seine Umwelt von ihm erwartet. Allerdings ist dieser Prozess auch umkehr-<br />
bar. 57<br />
Weitere soziologische Theorien sind die Subkulturtheorie, die Individualisie-<br />
rungstheorie und Handlungstheorie. Vielfältig wie die Theorien sind auch die<br />
Gründe für die Entstehung von Aggression und Gewalt. Das Wissen um die<br />
Entstehung von Aggression und Gewalt sowie um <strong>der</strong>en soziokulturellen Zu-<br />
sammenhang ist für den Schulalltag von großer Bedeutung, da hier durch die<br />
Schaffung eines Miteinan<strong>der</strong> vielen Problemen positiv entgegengesteuert<br />
werden kann.<br />
4.1.3 Integrative Erklärungsmodelle<br />
Bei diesen Erklärungsmodellen handelt es sich um Theorien bzw. Ansätze,<br />
<strong>der</strong>en Elemente aus verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen kommen und<br />
57 Vgl. ebd. S. 38 f.<br />
43
miteinan<strong>der</strong> kombiniert werden. Drei dieser Ansätze werden hier kurz vorge-<br />
stellt. 58<br />
4.1.3.1 Der sozialisationstheoretische Ansatz<br />
Der sozialisationstheoretische Ansatz beinhaltet alle Theorien, die sich auf<br />
das „Wechselverhältnis von Person und Umwelt“ beziehen. Ausgangspunkt<br />
ist dabei die Annahme, dass sich die Entwicklung des Menschen durch „pro-<br />
duktive Realitätsverarbeitung“ vollzieht. Sozialisation gelingt, wenn die Hand-<br />
lungskompetenzen eines Individuums mit den gesellschaftlichen Handlungs-<br />
anfor<strong>der</strong>ungen einhergehen. Nichtübereinstimmungen können Stress erzeu-<br />
gen und zu Belastungen führen. Die Bewältigungsstrategien <strong>der</strong> Betroffenen<br />
sind sehr unterschiedlich, sogar Gewalt kann eine Folge <strong>der</strong> „produktiven<br />
Realitätsverarbeitung“ sein.<br />
Im Bereich <strong>der</strong> Familie hat man festgestellt, dass gewalttätige Menschen<br />
überdurchschnittlich oft aus schwierigen Familienverhältnissen stammen.<br />
Entwe<strong>der</strong> waren sie Opfer familiärer Gewalt o<strong>der</strong> einer Reihe begünstigen<strong>der</strong><br />
Faktoren ausgesetzt. Soziale Probleme, eheliche Probleme, fehlende Zu-<br />
wendung und beeinträchtigtes Selbstwertgefühl <strong>der</strong> Eltern, z.B. durch Ar-<br />
beitslosigkeit o<strong>der</strong> Alkoholmissbrauch, sind in diesem Kontext zu nennen.<br />
Die Schule kann zwar Fehlentwicklungen in <strong>der</strong> Familie nicht gänzlich aus-<br />
gleichen, aber sie kann erheblich zu einer positiven Persönlichkeitsentwick-<br />
lung beitragen, z.B. durch ein gutes Lehrer-Schüler-Verhältnis, eine gute<br />
Lernkultur o<strong>der</strong> auch ein gemeinschaftsorientiertes Klassenklima. Umgekehrt<br />
können Fehlentwicklungen durch Kumulation ungünstiger Faktoren verstärkt<br />
werden, wenn z.B. bei Leistungsversagen, erhöhte Elternerwartungen, sozia-<br />
le Stigmatisierung o<strong>der</strong> auch <strong>der</strong> Anschluss an deviante Peergroups zusam-<br />
mentreffen. 59<br />
58 Die folgende Darstellung <strong>der</strong> integrativen Ansätze orientiert sich an SCHUBARTH 2010,<br />
S. 46-51.<br />
59 Vgl. ebd. S. 46 f.<br />
44
Gruppen von Gleichaltrigen haben für Schülerinnen und Schüler eine beson-<br />
<strong>der</strong>e Anziehungskraft. Sie sind ein nicht zu unterschätzen<strong>der</strong> Sozialisations-<br />
faktor. Der Anschluss an solche Gruppen hat einen großen Einfluss auf die<br />
Persönlichkeitsentwicklung. Wenn die familiäre Bindung nur schwach ausge-<br />
prägt und kaum eine Kontrolle über gewalttätiges Handeln gegeben ist, ist<br />
<strong>der</strong> Anschluss an „antisoziale Subgruppen“, wo Anerkennung und emotionale<br />
Befriedigung gesucht und gefunden werden, beson<strong>der</strong>s bedenklich.<br />
Es gibt noch viele an<strong>der</strong>e Einflüsse und Faktoren, die das Gewaltrisiko erhö-<br />
hen, weswegen es notwendig ist, die Handlungskompetenzen <strong>der</strong> Betroffe-<br />
nen auf mehreren Ebenen zu för<strong>der</strong>n. Zum einen müssen betroffene Fami-<br />
lien unterstützt werden, zum an<strong>der</strong>en muss es zu einer Enttabuisierung <strong>der</strong><br />
Gewalt in <strong>der</strong> Familie kommen. Die Verpflichtung <strong>der</strong> Schule zu einer wert-<br />
orientierten und ganzheitlichen Erziehung im Sinne des Art 14 Abs 5a B-VG<br />
ist in diesem Zusammenhang von beson<strong>der</strong>er Bedeutung. 60 Grundvoraus-<br />
setzung ist eine gute Kooperation von Erziehungsberechtigten, Schülerinnen<br />
und Schülern und Lehrerinnen und Lehrern, wie es das Schulunterrichtsge-<br />
setz in seinen §§ 57a 61 , 61 62 und 62 63 normiert. Demnach sind Schülerinnen<br />
und Schüler, Erziehungsberechtigte und Lehrerinnen und Lehrer zur Zu-<br />
sammenarbeit in allen Fragen <strong>der</strong> Erziehung und des Unterrichts verpflichtet.<br />
60 Vgl. Kapitel 3.2<br />
61 § 57a SchUG: Der Schüler hat außer den sonst gesetzlich festgelegten Rechten das<br />
Recht, sich nach Maßgabe seiner Fähigkeiten im Rahmen <strong>der</strong> För<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Unterrichtsarbeit<br />
(§ 43) an <strong>der</strong> Gestaltung des Unterrichtes und <strong>der</strong> Wahl <strong>der</strong> Unterrichtsmittel zu beteiligen,<br />
ferner hat er das Recht auf Anhörung sowie auf Abgabe von Vorschlägen und Stellungnahmen.<br />
62 § 61 Abs 1 SchUG: Die Erziehungsberechtigten haben das Recht und die Pflicht, die Unterrichts-<br />
und Erziehungsarbeit <strong>der</strong> Schule zu unterstützen. Sie haben das Recht auf Anhörung<br />
sowie auf Abgabe von Vorschlägen und Stellungnahmen. Sie sind verpflichtet, die<br />
Schüler mit den erfor<strong>der</strong>lichen Unterrichtsmitteln auszustatten und auf die gewissenhafte<br />
Erfüllung <strong>der</strong> sich aus dem Schulbesuch ergebenden Pflichten des Schülers hinzuwirken<br />
sowie zur För<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Schulgemeinschaft (§ 2) beizutragen.<br />
63 § 62 Abs 1 SchUG: Lehrer und Erziehungsberechtigte haben eine möglichst enge Zusammenarbeit<br />
in allen Fragen <strong>der</strong> Erziehung und des Unterrichtes <strong>der</strong> Schüler zu pflegen.<br />
Zu diesem Zweck sind Einzelaussprachen (§ 19 Abs. 1) und gemeinsame Beratungen zwischen<br />
Lehrern und Erziehungsberechtigten über Fragen <strong>der</strong> Erziehung, den Leistungsstand,<br />
den geeignetsten Bildungsweg (§ 3 Abs. 1 des Schulorganisationsgesetzes), die Schulgesundheitspflege<br />
und den gemeinsamen Unterricht von Kin<strong>der</strong>n ohne und mit son<strong>der</strong>pädagogischem<br />
För<strong>der</strong>bedarf durchzuführen.<br />
45
4.1.3.2 Der geschlechtsspezifische Ansatz<br />
Ein weiterer Ansatz integrativer Erklärungsmodelle ist die Gewalt <strong>als</strong> Form<br />
männlicher Lebensbewältigung. Das Gewaltverhalten von Mädchen und<br />
Jungen unterscheidet sich sowohl in Ursachen <strong>als</strong> auch Erscheinungsfor-<br />
men. Mädchen richten Aggressionen und Gewalt eher nach innen und wäh-<br />
len eher indirekte Methoden an, wenn sich ihre Gewalt nach außen richtet.<br />
Kin<strong>der</strong> und Jugendliche männlichen Geschlechts richten Aggressionen stär-<br />
ker nach außen und wenden Gewalt durchaus auch demonstrativ in <strong>der</strong> Öf-<br />
fentlichkeit an. Für sie ist öffentlich zur Schau gestellte Gewalt Merkmal einer<br />
gelebten Männlichkeit. Möglicherweise lassen sich darin noch Elemente pat-<br />
riarchalischer Macht- und Herrschaftsstrukturen erkennen, welche mit einer<br />
Abwertung an<strong>der</strong>er, vor allem Frauen gegenüber, verbunden ist. So müssen<br />
<strong>als</strong> weiblich geltende Charakterzüge, zu denen aus dieser Perspektive Hilflo-<br />
sigkeit o<strong>der</strong> Angst gehören, abgewertet werden, weil sie nicht mit dem vor-<br />
herrschenden Männlichkeitsbild übereinstimmen. Männlichkeit wird durch zur<br />
Schau gestellte Kampfeslust, durch locker-lässig kompetenten Umgang mit<br />
Maschinen o<strong>der</strong> auch durch Betonung heterosexueller Potenz unterstrichen.<br />
Solche geschlechtsrollenspezifische Stereotype sind Ergebnis einer durch<br />
lange Zeit andauernden Sozialisation. Offensichtlich ist für viele Jugendliche<br />
das Zurückgreifen auf patriarchale Rollenbil<strong>der</strong> und das dominante Verhal-<br />
ten, das diesen Klischees inhärent ist, <strong>der</strong> einzige Weg, um ihr Selbstwertge-<br />
fühl zu steigern. Durch die Verän<strong>der</strong>ung alter Geschlechterrollen, die Eman-<br />
zipation <strong>der</strong> Frau und das verän<strong>der</strong>te Bewusstsein <strong>der</strong> Gesellschaft im Zu-<br />
sammenhang mit <strong>der</strong> Gleichheit von Mann und Frau ist für viele von ihnen<br />
eine Erschwernis in <strong>der</strong> Identitätsfindung verbunden. 64 Eine Besserung die-<br />
ses Phänomens kann nur eintreten, wenn alte Rollenbil<strong>der</strong> kritisch hinterfragt<br />
werden und sich eine männliche Identitätsfindung ohne Gewalt entwickelt.<br />
Der schulischen Werteerziehung und <strong>der</strong> Gleichheit von Mann und Frau, wie<br />
sie menschenrechtlich geboten und vom Verfassungsgesetzgeber <strong>als</strong> Ver-<br />
64 Vgl. SCHUBARTH 2010, 48 f.<br />
46
fassungsnorm verankert worden ist, kommt in diesem Zusammenhang eine<br />
zentrale Bedeutung zu. 65<br />
4.1.3.3 Der schulbezogene sozialökologische Ansatz<br />
Der letzte Ansatz, <strong>der</strong> im Rahmen <strong>der</strong> integrativen Erklärungsmodelle aufge-<br />
zeigt werden soll, ist jener, <strong>der</strong> die innerschulischen Determinanten wie<br />
Schul- und Lernkultur <strong>als</strong> Elemente <strong>der</strong> Persönlichkeitsentwicklung vor allem<br />
im Hinblick auf Aggression und Gewalt fokussiert. Unbestritten trägt die Insti-<br />
tution Schule maßgeblich zur Persönlichkeitsentwicklung bei. Wenn die<br />
Grundannahme stimmt, dass „Gewalt das Ergebnis <strong>der</strong> subjektiven Verarbei-<br />
tung von Wechselbeziehungen zwischen innerschulischen Umweltbedingun-<br />
gen und individuellen Personenmerkmalen ist“ 66 , können negative Faktoren<br />
wie ein schlechtes Lehrer-Schüler-Verhältnis, ein schlechtes Klassenklima<br />
o<strong>der</strong> Defizite im Lehrerhandeln zu Aggression und Gewalt führen. Die Quali-<br />
tät einer Schule wird maßgeblich durch „Schul- und Klassenatmosphäre,<br />
Schulfreude, Gewaltvorkommen, räumliche Gestaltung, außerunterrichtliches<br />
Angebot, Lehrer-Schüler-Beziehung, För<strong>der</strong>- und Integrationskompetenz <strong>der</strong><br />
Lehrer, Partizipationsmöglichkeiten, Leistungsstatus, Schulangst, Unterstüt-<br />
zung durch die Eltern“ 67 beeinflusst. Als negative Faktoren gelten ein „feh-<br />
len<strong>der</strong> Lebensweltbezug, ein <strong>als</strong> problematisch empfundener Unterrichtsver-<br />
lauf, ein niedriges pädagogisch-soziales Lehrerengagement sowie geringe<br />
Mitbestimmungsmöglichkeiten <strong>der</strong> Schüler“ 68 . Als beson<strong>der</strong>e Risikofaktoren<br />
haben sich einschränkend-disziplinierendes Erziehungsverhalten und soziale<br />
Etikettierungen herausgestellt. Demnach hat die Schule durch entsprechen-<br />
de Gestaltung des Umfelds, durch einen positiven Umgang miteinan<strong>der</strong> und<br />
65 Vgl. § 2 SchOG und Art 14 Abs 5a B-VG, zitiert in Kapitel 3.2, sowie Art 7 B-VG: (1) Alle<br />
Staatsbürger sind vor dem Gesetz gleich. Vorrechte <strong>der</strong> Geburt, des Geschlechtes, des<br />
Standes, <strong>der</strong> Klasse und des Bekenntnisses sind ausgeschlossen. … (2) Bund, Län<strong>der</strong> und<br />
Gemeinden bekennen sich zur tatsächlichen Gleichstellung von Mann und Frau. Maßnahmen<br />
zur För<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> faktischen Gleichstellung von Frauen und Männern insbeson<strong>der</strong>e<br />
durch Beseitigung tatsächlich bestehen<strong>der</strong> Ungleichheiten sind zulässig.<br />
66 SCHUBARTH 2010, S. 50<br />
67 Ebd.<br />
68 Ebd.<br />
47
durch die Professionalität des Lehrkörpers einen großen Einfluss auf Ge-<br />
waltprävention. 69<br />
Nach diesem Überblick über die verschiedensten Theorien und Erklärungs-<br />
modelle wird eines klar: Es gibt nicht nur die eine Erklärung, son<strong>der</strong>n viel-<br />
mehr eine Reihe von Erklärungen für Aggression und Gewalt. Dabei ergän-<br />
zen sich viele dieser Theorien und geben uns einen Anhaltspunkt, wie Ge-<br />
waltprävention und Gewaltintervention ablaufen können. Hierzu sind mehrere<br />
Gewaltpräventionskonzepte von Bedeutung, die zielgerichtet über einen län-<br />
geren Zeitraum angewendet werden. Schule hat hier eine großartige Mög-<br />
lichkeit, positive Persönlichkeitsentwicklung zu betreiben und zu för<strong>der</strong>n.<br />
4.2 Gewaltprävention<br />
Unter Gewaltprävention versteht man Maßnahmen, die ergriffen werden, um<br />
zukünftige aggressive o<strong>der</strong> gewaltförmige Handlungen zu verhin<strong>der</strong>n o<strong>der</strong> zu<br />
min<strong>der</strong>n. Dieses Kapitel beschäftigt sich mit dem Begriff <strong>der</strong> Gewaltpräventi-<br />
on, <strong>der</strong> für diese Bachelorarbeit zentral ist. Es geht <strong>der</strong> Frage nach, welche<br />
<strong>Möglichkeit</strong>en <strong>der</strong> Prävention im Schulbereich vorhanden sind. In diesem<br />
Kontext werden einige aktuelle Gewaltpräventionsprogramme näher betrach-<br />
tet.<br />
4.2.1 Primär-, Sekundär- und Tertiärprävention<br />
Gewaltprävention kann in drei Stufen unterteilt werden: Primärprävention,<br />
Sekundärprävention und Tertiärprävention. Primärprävention verfolgt das<br />
Ziel, die Ursachen, die Gewalttätigkeiten auslösen, zu reduzieren o<strong>der</strong> ein-<br />
zudämmen. 70 Dies geschieht unter an<strong>der</strong>em durch För<strong>der</strong>ung und Stabilisie-<br />
rung des Selbstwertgefühls. Kommunikations- und Interaktionskompetenzen<br />
69 Vgl. ebd., S. 51<br />
70 Vgl. SCHWIND 2004, S. 3 f.<br />
48
des Individuums werden ebenso geför<strong>der</strong>t wie die Verstärkung prosozialer<br />
Einstellungen. Oberstes Ziel ist die Gewaltlosigkeit.<br />
Bei <strong>der</strong> Sekundärprävention stehen <strong>der</strong> Opferschutz sowie die Abschreckung<br />
potentieller Täterinnen und Täter im Vor<strong>der</strong>grund. Während Anti-Aggressi-<br />
vitätstraining und Sozialtrainingskurse Präventionsformen sind, die für straf-<br />
fällig gewordene und potenzielle Täterinnen und Täter gedacht sind, ist Op-<br />
fern von Gewalttaten vor allem die psychologische Betreuung ein Hilfsange-<br />
bot. Potentieller Opferschutz im Bereich <strong>der</strong> Schule sind alle Maßnahmen,<br />
die Gewalt verhin<strong>der</strong>n helfe. Dazu zählen neben <strong>der</strong> grundlegenden Ver-<br />
pflichtung <strong>der</strong> Schule zur Persönlichkeitsbildung, die auch die Ächtung von<br />
Gewalt impliziert 71 , die Aufsichtspflicht durch Lehrerinnen und Lehrer, die<br />
Bestimmungen <strong>der</strong> Haus- und Schulordnungen, pädagogische Konferenzen<br />
und allenfalls technische Überwachungen des Schulhofes an Schulen mit<br />
höherer Gewaltbereitschaft. Auch Maßnahmen für einen sicheren bzw. siche-<br />
reren Schulweg gehören hierher. 72<br />
Bei <strong>der</strong> tertiären Gewaltprävention geht es um Maßnahmen, die zu einer er-<br />
folgreichen Resozialisierung führen sollen. Hierher gehören z.B. im Bereich<br />
<strong>der</strong> Jugendkriminalität Maßnahmen zur Reintegration in die Gesellschaft wie<br />
Therapien und Formen des außergerichtlichen Tatausgleichs und im Bereich<br />
<strong>der</strong> Schule die Angebote des schulpsychologischen Dienstes. Weiters sind<br />
im Bereich <strong>der</strong> tertiären Gewaltprävention Maßnahmen zu nennen, die das<br />
Nachholen von Berufs- und Schulabschlüssen unterstützen. 73 All diese die-<br />
sen Maßnahmen wollen den Rückfall in alte unerwünschte Verhaltensmuster<br />
verhin<strong>der</strong>n.<br />
71 Vgl. AUER 2007b, S. 18<br />
72 Vgl. SCHWIND 2004, S. 3 f.<br />
73 Vgl. SCHUBARTH 2010, S. 97<br />
49
4.2.2 Präventionsmöglichkeiten in <strong>der</strong> Schule<br />
Die Schule <strong>als</strong> Institution nimmt in <strong>der</strong> systemischen Gewaltprävention einen<br />
ganz beson<strong>der</strong>en Stellenwert ein. Sie kann auf vielfältige Weise zur Gewalt-<br />
prävention beitragen. Dabei spielt die Professionalität des Lehrkörpers eine<br />
große Rolle. Gewaltpräventives Handeln kann im Schulkontext auf drei ver-<br />
schiedenen Ebenen stattfinden: auf <strong>der</strong> individuellen Schülerebene, auf<br />
Klassenebene und auf Schulebene.<br />
Im Bereich <strong>der</strong> individuellen Schülerebene ist die Qualität <strong>der</strong> Lehrer-<br />
Schüler-Beziehung von zentraler Bedeutung. Sind Lehrerinnen und Lehrer<br />
professionell und sensibel genug, um Konflikte zu erkennen und mit ihnen<br />
adäquat umzugehen? Sind sie gute Ansprechpartner für die Schülerinnen<br />
und Schüler? Sind sie sich ihrer Vorbildfunktion bewusst, beson<strong>der</strong>s im Hin-<br />
blick darauf, wie sie mit Konflikten o<strong>der</strong> eigenen Fehlern umgehen? Wenn<br />
Lehrerinnen und Lehrer in ihrem persönlichen Verhalten zeigen, dass sie auf<br />
Konflikte konstruktiv und lösungsorientiert zugehen o<strong>der</strong> für eigene Fehler<br />
ohne Wenn und Aber einstehen, hat dies eine nicht zu unterschätzende Vor-<br />
bildfunktion für Schülerinnen und Schüler. Sie sollen einen akzeptablen Um-<br />
gang mit Frustrationen und ihren eigenen Gefühlen und denen an<strong>der</strong>er erler-<br />
nen. Kooperatives Lernen, entdeckendes und erfahrendes Lernen, Partner-<br />
arbeit und Projektunterricht för<strong>der</strong>n diesen Lernprozess. In Verbindung mit<br />
<strong>der</strong> positiven Verstärkung individueller Leistungs- und Lernfortschritte eignen<br />
sich handlungsorientierte Unterrichtsformen beson<strong>der</strong>s gut für die Einübung<br />
in diese Sozialkompetenz. Meinungsverschiedenheiten zu akzeptieren und<br />
Auseinan<strong>der</strong>setzungen gewaltfrei zu lösen sind ebenso wesentliche Elemen-<br />
te sozialer Kompetenz wie ein selbstkritisches Leistungs- bzw. Selbstkon-<br />
zept. Ein positives Selbstkonzept, Selbstachtung und Selbstvertrauen, wer-<br />
den durch den persönlichen Lernfortschritt in hohem Maß geschult und ge-<br />
för<strong>der</strong>t. Bei <strong>der</strong> Unterrichtsgestaltung bedarf es daher einer Flexibilität im<br />
50
Sinne eines schülerorientierten Unterrichts und einer klaren Strukturierung<br />
des Unterrichts. 74<br />
Auf <strong>der</strong> Klassenebene ist die Schaffung eines gemeinsamen Grundwerte-<br />
und Normensystems von zentraler Bedeutung. Soziale Werthaltungen und<br />
verbindliche Verhaltensnormen haben in diesem Zusammenhang einen be-<br />
son<strong>der</strong>en Stellenwert. Es ist erfor<strong>der</strong>lich, dass die Formen des sozialen Um-<br />
gangs sowie die Gewaltproblematik thematisiert und festgelegte Richtlinien<br />
im Fall von Übertretungen sanktioniert werden. Konsequenz in diesem Ablauf<br />
führt einerseits zu Schadensbegrenzung, an<strong>der</strong>erseits zu Normverdeutli-<br />
chung und Einsicht. Der Kooperation von Lehrerinnen und Lehrern, Schüle-<br />
rinnen und Schülern sowie Eltern kommt hier eine große Bedeutung zu. Die<br />
För<strong>der</strong>ung von Selbstvertrauen und Verantwortungsbewusstsein <strong>der</strong> Schüle-<br />
rinnen und Schüler ist primäres Ziel dieser Zusammenarbeit. Wenn Kin<strong>der</strong><br />
und Jugendliche feste Bezugspersonen haben und sich darüber hinaus in<br />
demokratisches Verhalten im Rahmen schulischer Interessensvertretungen<br />
o<strong>der</strong> auch in Vereinen und an<strong>der</strong>en sozialen Gruppen einüben können, ent-<br />
wickelt sich eine positive Streitkultur, in <strong>der</strong> Aggression und Gewalt keinen<br />
Platz haben. 75 Hier liegen für einen Klassenverband ungeahnte Chancen im<br />
Blick auf die Vermeidung von Gewalt und Aggression.<br />
Nach <strong>der</strong> individuellen Schülerebene und <strong>der</strong> Klassenebene bietet auch die<br />
Schulebene <strong>Möglichkeit</strong>en <strong>der</strong> Gewaltprävention. Schule dient nicht nur <strong>als</strong><br />
Lernumgebung in <strong>der</strong> Wissensvermittlung, son<strong>der</strong>n soll auch soziale Identität<br />
ermöglichen. Die kulturelle und soziale Gestaltung des Schullebens durch<br />
die aktive Beteiligung <strong>der</strong> Schülerinnen und Schüler und die Schaffung indi-<br />
vidueller Freiräume, wie sie z.B. in Lese- o<strong>der</strong> Spielecken zum Ausdruck<br />
kommt, ermöglichen und unterstützen einen gewaltfreien Umgang miteinan-<br />
<strong>der</strong>. Eine Schulordnung mit wenigen, aber klaren Regeln, eine freundliche<br />
Gestaltung <strong>der</strong> Unterrichtsräume und des Unterrichtsgebäudes tragen eben-<br />
so zu einer aggressionsfreien Atmosphäre bei. Aggressiven Kin<strong>der</strong>n kann<br />
74 Vgl. ebd., S. 101-103<br />
75 Vgl. ebd., S. 103<br />
51
durch Schulsozialarbeit und gute pädagogische Betreuung geholfen werden,<br />
sich wie<strong>der</strong> in die Klassengemeinschaft zu integrieren. Der Erziehungsauf-<br />
trag <strong>der</strong> Schule umfasst auch die Behebung o<strong>der</strong> Min<strong>der</strong>ung von Erzie-<br />
hungsdefiziten, die aus einer unzureichenden o<strong>der</strong> f<strong>als</strong>chen Erziehung in <strong>der</strong><br />
Familie resultieren. Schülerinnen und Schülern soll in <strong>der</strong> Schule die Mög-<br />
lichkeit gegeben werden, Konflikte auszutragen und zu regeln, ohne die<br />
Würde des an<strong>der</strong>en zu verletzen. Dies ist nur möglich, wenn ihnen die Ein-<br />
sicht in die Notwendigkeit von Regeln für ein besseres Miteinan<strong>der</strong> vermittelt<br />
wird. „Regeln sind wertbasierte Vereinbarungen zwischen Menschen, um die<br />
Art und Weise des Zusammenlebens zu gewährleisten.“ 76 Aufgrund <strong>der</strong> un-<br />
terschiedlichen Sozialisationsbedingungen von Kin<strong>der</strong>n und Jugendlichen<br />
sind gewisse Grundregeln vor allem im Hinblick auf Gewaltprävention und -<br />
intervention unabdingbar. Die Einführung und Einhaltung von Schulregeln<br />
kann durch ihre erzieherische und wertorientierte Funktion <strong>als</strong> Kern schuli-<br />
scher Gewaltprävention angesehen werden. Diese machen allerdings nur<br />
Sinn, wenn diese konsequent um- und durchgesetzt werden. 77 Grüner/Hilt<br />
nennen die folgenden elf „Gebote“ <strong>als</strong> Erfolgsfaktoren wertschätzen<strong>der</strong> Re-<br />
geldurchsetzung:<br />
„Wer Regeln mit Erfolg durchsetzen will - ohne zu bestrafen -,<br />
1. formuliert Regeln eindeutig und überprüfbar<br />
2. reagiert sofort bei je<strong>der</strong> Regelverletzung<br />
3. bleibt standhaft<br />
4. sorgt dafür, dass jede Regelverletzung Konsequenzen hat<br />
5. verlangt keine Einsicht<br />
6. arbeitet im Team<br />
7. verzichtet auf das Wort Strafe<br />
8. trennt zwischen Person und Verhalten<br />
9. macht Versöhnungsangebote<br />
10. reagiert auf positive Verän<strong>der</strong>ungen und<br />
11. schenket prosozialem Verhalten Aufmerksamkeit.“ 78<br />
Letztlich geht es darum, einen Ort zu schaffen, in dem sich Schülerinnen und<br />
Schüler genauso wie Lehrerinnen und Lehrer wertgeschätzt, geachtet und<br />
76 Ebd., S.104<br />
77 Vgl. ebd., S.104 f.<br />
78 GRÜNER/HILT 2005, S. 71<br />
52
akzeptiert fühlen. Je mehr dies gelingt, desto eher werden Regeln akzeptiert,<br />
desto eher kann Schule gewaltpräventiv wirken.<br />
4.2.3 Aktuelle Gewaltpräventionsprogramme<br />
Obwohl viele Schulen ohne Präventionsprogramme auskommen, ist es doch<br />
von großem Vorteil, sich mit diesen zu beschäftigen. Im Zusammenhang <strong>der</strong><br />
Gewaltprävention ist die Schulung sozialer und kommunikativer Fähigkeiten<br />
sowie die För<strong>der</strong>ung von Konfliktlösungskompetenzen von grundlegen<strong>der</strong><br />
Bedeutung und für alle Schülerinnen und Schüler ein Vorteil. Es gibt eine<br />
ganze Reihe von Präventions- und Interventionsprogrammen gegen Gewalt<br />
und Mobbing, die in den letzten Jahren entwickelt und erprobt worden sind. 79<br />
Im Folgenden sollen vier dieser Programme exemplarisch dargestellt wer-<br />
den.<br />
4.2.4.1 Programm „FAUSTLOS“<br />
Das Programm „FAUSTLOS“ ist die deutsche Version des in den USA vom<br />
Commitee for Children in Seattle entwickelten und mit Erfolg erprobten Ge-<br />
waltpräventionsprogramms „Second Step“. Nach einer internationalen Ver-<br />
breitung, vor allem in Japan, Großbritannien und Skandinavien, kam es Ende<br />
<strong>der</strong> 1990er Jahre auch nach Deutschland. Dort wurde das Programm am<br />
Heidelberger Universitätsklinikum unter <strong>der</strong> Leitung von Manfred Cierpka für<br />
die deutsche Situation adaptiert und entwickelt. Es ist für Kin<strong>der</strong>gärten und<br />
Grundschulen geeignet und soll einerseits aggressives und impulsives Ver-<br />
halten von Kin<strong>der</strong>n vermin<strong>der</strong>n, <strong>als</strong> auch an<strong>der</strong>erseits <strong>der</strong>en Sozialkompe-<br />
tenz schulen. Dabei sollen Kin<strong>der</strong> lernen, die Gefühle an<strong>der</strong>er zu erkennen<br />
und Perspektiven an<strong>der</strong>er zu übernehmen, um in <strong>der</strong> Folge empathisch rea-<br />
gieren zu können. Die Anwendung von Problemlösungsstrategien und das<br />
Einüben in prosoziales Verhalten soll impulsives und aggressives Verhalten<br />
79 Vgl. SCHUBARTH 2010, S.113<br />
53
verhin<strong>der</strong>n bzw. vermin<strong>der</strong>n. Das Programm sieht für den Kin<strong>der</strong>garten 28<br />
und für die Grundschule 51 Lektionen vor. Im Idealfall wird das Programm im<br />
Kin<strong>der</strong>garten durch Kin<strong>der</strong>gärtnerinnen und Kin<strong>der</strong>gärtner und aufbauend in<br />
<strong>der</strong> Grundschule durch Grundschullehrerinnen und Grundschullehrer unter-<br />
richtet. Die Lektionen sind alle nach dem gleichen Schema aufgebaut. Auf<br />
einer Fotokarte ist eine themenbezogene Situation abgebildet und zu dieser<br />
werden Fragen gestellt und verschiedene Meinungen diskutiert. Die Erkennt-<br />
nisse aus dieser Lernphase werden in Rollenspielen und Übungen in prakti-<br />
sche Handlungsabläufe umgesetzt. Dadurch werden Empathie, Impulskon-<br />
trolle und Umgang mit Ärger und Wut – die Kernbereiche des Programms –<br />
geför<strong>der</strong>t. 80<br />
Im Bereich <strong>der</strong> Empathieför<strong>der</strong>ung wird davon ausgegangen, dass empathi-<br />
sches Verhalten durch Übung geschult und gelernt werden kann. Kin<strong>der</strong> sol-<br />
len in Übungen lernen, Gefühle zu identifizieren und ihre Diversität und Wan-<br />
delbarkeit erkennen. Wesentlich dabei ist die Fähigkeit, Gefühle durch „Ich-<br />
Botschaften“ mitzuteilen, zuhören und Sorge und Mitgefühl für an<strong>der</strong>e aus-<br />
zudrücken zu können. 81<br />
Die Impulskontrolle zielt darauf ab, impulsives und aggressives Verhalten zu<br />
reduzieren. Oftm<strong>als</strong> ist impulsives Verhalten von Kin<strong>der</strong>n <strong>der</strong> Auslöser für<br />
aggressives Verhalten, auch wenn keine böse Absicht dahinter steckt. Kin<strong>der</strong><br />
sollen in die Lage versetzt werden, <strong>Möglichkeit</strong>en <strong>der</strong> Problemlösung kognitiv<br />
zu erkennen und adäquates soziales Verhalten zu trainieren. Das Problemlö-<br />
sungsverfahren besteht aus fünf Schritten:<br />
1. Was ist das Problem?<br />
2. Welche Lösungen gibt es?<br />
3. Fragen zu den Lösungen: Sind sie fair? Wie fühlen sich die an<strong>der</strong>en?<br />
4. Entscheidung für eine Lösung und Umsetzung.<br />
5. Kontrolle <strong>der</strong> Lösung: Funktioniert sie? Wenn nicht, welche an<strong>der</strong>en Mög-<br />
lichkeiten gibt es dann?<br />
80 Vgl. KESSLER 2009, S. 84<br />
81 Vgl. SCHUBARTH 2010, S. 121<br />
54
In Rollenspielen wird das gewünschte Verhalten trainiert, das Gelernte um-<br />
gesetzt und die Problemlösung angewandt. 82<br />
Ärger und Wut sind typische Stressphänomene und vielfach die Ursache für<br />
aggressives und gewalttätiges Verhalten. Dem entsprechend ist die Vermitt-<br />
lung von Techniken zur Stressreduktion das zentrale Element im Umgang mit<br />
Ärger und Wut. Strategien <strong>der</strong> Selbstinstruktion werden mit Beruhigungs-<br />
techniken verbunden, um Ärger und Wut konstruktiv in den Griff zu bekom-<br />
men:<br />
� „Wie fühlt sich mein Körper?<br />
� Beruhige dich: Hole dreimal Luft. Zähle langsam rückwärts. Denke<br />
an etwas Schönes. Sage: „Beruhige dich“ zu dir selbst.<br />
� Denke laut über die Lösung des Problems nach.<br />
� Denke später noch einmal darüber nach.“ 83<br />
Es wird angestrebt, dass sich die Kin<strong>der</strong> aus Kämpfen heraushalten und den<br />
gewaltfreien Umgang mit Hänseleien, Gemeinheiten usw. lernen können.<br />
Mitte <strong>der</strong> 2000er Jahre war das Programm in Deutschland in über 6000<br />
Grundschulen und Kin<strong>der</strong>gärten vertreten. Es wurde nachgewiesen, dass<br />
aggressives Verhalten und Verhaltensauffälligkeiten zurückgegangen sind<br />
und drei Viertel <strong>der</strong> Lehrkräfte das Programm im folgenden Schuljahr wie<strong>der</strong><br />
einsetzen wollten, weil es das Schul-, Klassen- und Lernklima verbessert hat.<br />
Zu den Kritikpunkten zählen <strong>der</strong> hohe zeitliche Aufwand, die Integration in<br />
den Stundenplan, <strong>der</strong> Mangel an körperbetonten Übungen, die zu kognitive<br />
Ausrichtung und die Überbetonung von Anpassung und Konditionierung. 84 In<br />
Österreich wurde in den Jahren 2008 und 2009 die Hälfte aller Volksschulen<br />
mit diesem Programm ausgestattet. 85<br />
82 Vgl. ebd.<br />
83 Ebd., S. 122<br />
84 Vgl. ebd., S.122 f.<br />
85 Vgl. KESSLER 2009, S. 84<br />
55
4.2.3.2 Anti-Mobbing-Programm nach Olweus<br />
In Norwegen entwickelte Dan Olweus ein Interventionsprogramm mit gleich-<br />
zeitig präventiver Wirkung, welches bei Gewalt an Schulen eingesetzt wer-<br />
den kann. Demnach sollen bestehende Gewalttäter-Gewaltopfer-Probleme in<br />
<strong>der</strong> Schule, aber auch außerhalb des schulischen Bereichs, reduziert bzw.<br />
beseitigt werden. Neue Gewaltvorkommnisse sollen verhin<strong>der</strong>t und eine bes-<br />
sere Schüler-Schüler-Beziehung geför<strong>der</strong>t werden. Das Programm wird in<br />
vielen Schulen <strong>der</strong> skandinavischen Län<strong>der</strong>, in Großbritannien und Deutsch-<br />
land eingesetzt. Das lerntheoretische Konzept von Olweus bezieht auch mit-<br />
telbar am Geschehen beteiligte Personen wie Zuschauerinnen und Zuschau-<br />
er, Lehrpersonen und Eltern mit ein. Mittels eines Leitfadens, <strong>der</strong> eine Reihe<br />
von Anzeichen und Symptomen auflistet, soll es ermöglicht werden, Gewalt-<br />
täterinnen und Gewalttäter sowie Gewaltopfer zu erkennen. Im Zentrum des<br />
Interesses steht <strong>als</strong>o nicht nur aggressives Verhalten, son<strong>der</strong>n auch die Vik-<br />
timisierung, d.h. <strong>der</strong> Vorgang des Opferwerdens. 86<br />
Bevor das Interventionsprogramm beginnen kann, müssen zwei Bedingun-<br />
gen erfüllt sein: „Problembewusstsein und Betroffensein“. Lehrerinnen und<br />
Lehrer <strong>als</strong> auch Eltern müssen das Gewaltproblem an <strong>der</strong> Schule erkennen<br />
und bereit sein, dieses än<strong>der</strong>n zu wollen. Olweus empfiehlt auf Schulebene<br />
eine anonyme Erhebung durch einen Gewalt-Fragebogen und die Präsenta-<br />
tion <strong>der</strong> Ergebnisse sowohl im Rahmen einer Schulkonferenz <strong>als</strong> auch bei<br />
einem Elternabend. In <strong>der</strong> Folge werden Klassenregeln gegen Gewalt unter<br />
Miteinbeziehung <strong>der</strong> Schülerinnen und Schüler erarbeitet. Bei Missachtung<br />
<strong>der</strong> Regeln sind Konsequenzen vorgesehen. Regelmäßige Gespräche mit<br />
<strong>der</strong> Klasse sollen ein entsprechendes Problembewusstsein entwickeln. Me-<br />
thodisch-didaktisch schlägt Olweus Formen kooperativen Lernens vor, um<br />
soziales Lernen zu ermöglichen und zu verstärken. Die persönliche Ebene<br />
kommt durch Gespräche mit gewalttätigen Schülerinnen und Schülern, Op-<br />
fern und Eltern zum Tragen. Auf <strong>der</strong> Ebene <strong>der</strong> Haus- und Schulordnung und<br />
<strong>der</strong> schulrechtlichen Bestimmungen kommt <strong>der</strong> Aufsichtspflicht <strong>der</strong> Lehrerin-<br />
86 Viktimisierung von lat. victima = Opfer<br />
56
nen und Lehrer, vor allem in den Pausen, eine äußerst wichtige Aufgabe zu,<br />
um Gewalttätigkeiten zu vermin<strong>der</strong>n. 87<br />
Nach zwei Jahren <strong>der</strong> Erprobung des Interventionsprogramms wurde ein<br />
deutlicher Rückgang <strong>der</strong> Gewaltprobleme verzeichnet. Es kam zu keiner Ver-<br />
lagerung des Gewaltproblems von <strong>der</strong> Schule auf den Schulweg, das Sozial-<br />
klima <strong>der</strong> Klassen verbesserte sich zusehends und die Zufriedenheit <strong>der</strong><br />
Schülerinnen und Schüler mit dem Schulleben nahm deutlich zu. 88 Als<br />
Schwächen des Programms werden folgende Aspekte angeführt: Als allge-<br />
meines Handlungsmodell ohne festes Curriculum erfor<strong>der</strong>t es ein hohes En-<br />
gagement des Kollegiums. Entwickelte Kommunikations- und Kooperations-<br />
strukturen werden <strong>als</strong> gegeben vorausgesetzt. Der Opferschutz kommt zu<br />
kurz, was vor allem daran liegt, dass es sich primär um ein Interventions- und<br />
nicht so sehr um ein Präventionsprogramm handelt. 89<br />
4.2.3.3 Die Peer-Mediation<br />
Seit Mitte <strong>der</strong> 1990er Jahre verzeichnet die Peer-Mediation in Schulen einen<br />
hohen Verbreitungsgrad. Mediation bedeutet Vermittlung. Ein unparteiischer<br />
Dritter soll zwischen den Streitparteien vermitteln. Nicht <strong>der</strong> Konflikt ist das<br />
Problem, son<strong>der</strong>n die Art und Weise, wie <strong>der</strong> Konflikt behandelt wird. Die<br />
Konflikte sollen auf kommunikativer Ebene einer Lösung zugeführt werden.<br />
Die Mediatorin o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Mediator hat die Aufgabe, den Prozess <strong>der</strong> Konflikt-<br />
bewältigung zu mo<strong>der</strong>ieren und zu strukturieren, er wirkt <strong>als</strong>o unterstützend<br />
und begleitend. Es ist die Aufgabe <strong>der</strong> Konfliktpartner, einen Lösungsweg zu<br />
finden, <strong>der</strong> für alle Parteien zufriedenstellend ist.<br />
In diesem Modell sind es entsprechend ausgebildete Lehrerinnen und Leh-<br />
rer, die Schülerinnen und Schüler zu Mediatorinnen und Mediatoren ausbil-<br />
den. Hinter diesem Programm steht das Konzept „Schüler helfen Schülern“.<br />
Zunächst erfolgt die Ausbildung <strong>der</strong> Lehrpersonen, in <strong>der</strong> sie befähigt wer-<br />
87 Vgl. KESSLER 2009, S. 82 f.<br />
88 Vgl. ebd., S.83<br />
89 Vgl. SCHUBARTH 2010, S.146<br />
57
den, ihrerseits Schülerinnen und Schüler, welche sich für die Peer-Mediation<br />
freiwillig gemeldet haben, auszubilden. Einerseits erweitern durch diese<br />
Struktur die Lehrpersonen ihre eigenen Kompetenzen in Kommunikation und<br />
Konfliktlösung. An<strong>der</strong>erseits können durch diese Lehrerinnen und Lehrer von<br />
Jahr zu Jahr neue Peer-Mediatorinnen und Peer-Mediatoren ohne besonde-<br />
ren finanziellen Mehraufwand ausgebildet und außerdem die schon vorhan-<br />
denen besser unterstützt werden. Die Ausbildung zur Peer-Mediatorin und<br />
zum Peer-Mediator umfasst in <strong>der</strong> Regel 40 bis 60 Ausbildungsstunden. Da-<br />
nach können die jungen Neomediatorinnen und Neomediatoren in Konfliktsi-<br />
tuationen ihren Mitschülerinnen und Mitschülern zur Verfügung stehen und<br />
sie bei ihren Konfliktlösungen kompetent unterstützen. 90<br />
Das Mediationsgespräch wird in einem speziell dafür eingerichteten Raum<br />
abgehalten. Die Teilnahme <strong>der</strong> Konfliktparteien und das Akzeptieren <strong>der</strong> Lö-<br />
sung unterliegen <strong>der</strong> Freiwilligkeit. Ein Gespräch dauert ca. 15-30 Minuten.<br />
Der Ablauf eines Mediationsgesprächs kann in fünf Phasen geglie<strong>der</strong>t wer-<br />
den:<br />
1. „Einleitung: Die Mediator/innen stellen sich vor und informieren<br />
über den Ablauf des Gesprächs, ihre Rolle und die Gesprächsregeln.<br />
2. Sichtweisen klären: Jede Konfliktpartei schil<strong>der</strong>t nacheinan<strong>der</strong> ihre<br />
Sichtweise des Konfliktes.<br />
3. Konflikterhellung: Die Mediator/innen fragen die Streitenden nach<br />
<strong>der</strong> Bedeutung des Konflikts für sie persönlich.<br />
4. Lösungsideen sammeln: In einem Brainstorming werden alle Lösungsideen<br />
aufgeschrieben.<br />
5. Einigung und Abschluss: Eine Lösung wird formuliert, mit <strong>der</strong> alle<br />
Streitparteien einverstanden sind.“ 91<br />
Die Peer-Mediatorinnen und -Mediatoren sorgen in dieser Zeit für die Struk-<br />
tur und mo<strong>der</strong>ieren das Gespräch nach den Gesprächsregeln in einer ag-<br />
gressionsfreien Atmosphäre. Sie sind <strong>als</strong>o Vermittler und wirken unterstüt-<br />
zend für die Gesprächsparteien, damit diese ihre Gefühle und Wünsche zum<br />
Ausdruck bringen können. Die Lösung und die Lösungsideen kommen von<br />
den Streitenden selbst. Die Mediatorinnen und Mediatoren haben auch dafür<br />
90 Vgl. KESSLER 2009, S. 87<br />
91 Ebd., S. 88<br />
58
zu sorgen, dass die getroffenen Vereinbarungen realistisch sind und Sinn<br />
ergeben. 92 Dieses Programm bietet neben seinem praktikablen und attrakti-<br />
ven Konzept eine Reihe von Vorteilen. Soziale und kommunikative Kompe-<br />
tenzen werden geför<strong>der</strong>t, den Schülerinnen und Schülern wird Verantwortung<br />
übertragen, die För<strong>der</strong>ung einer konstruktiven Konfliktkultur wirkt gewaltprä-<br />
ventiv und entlastet die Lehrkräfte. Zu den Schwächen des Modells zählen<br />
die aufwändige Implementierung, die Beteiligung vieler Schulakteure und die<br />
mangelnde Akzeptanz zwischen den Streitenden. Die ausschließlich auf<br />
Schülerinnen und Schüler begrenzte Form <strong>der</strong> Mediation kann dazu führen,<br />
dass die Peer-Mediatorinnen und –Mediatoren in ihrer Rolle nicht ausrei-<br />
chend anerkannt und zudem <strong>als</strong> „Ordnungsschüler“ abgestempelt werden. 93<br />
4.2.3.4 Das Buddy-Projekt<br />
Das Buddy-Projekt wurde 1999 von <strong>der</strong> Vodafon Stiftung Deutschland nach<br />
einer Idee des Vereins Off-Road-Kids ins Leben gerufen. Ursprünglich ge-<br />
plant, um gefährdete Kin<strong>der</strong> und Jugendliche zu unterstützen, entwickelte es<br />
sich zu einem Konzept, um sozialen Problemen in <strong>der</strong> Schule vorzubeugen.<br />
Durch die Stärkung sozialer Kompetenzen sollen Gewalt und Sucht verhin-<br />
<strong>der</strong>t und vermin<strong>der</strong>t werden. Die Idee ist, dass das Vertrauen in Gleichaltrige<br />
größer ist und diese aufeinan<strong>der</strong> aufpassen, einan<strong>der</strong> unterstützen und hel-<br />
fen, egal, ob es sich um Mobbing, Gewalt o<strong>der</strong> Probleme in <strong>der</strong> Schule han-<br />
delt. In Deutschland fand das Buddy-Projekt rasch Verbreitung, ebenso in<br />
Österreich.<br />
Das pädagogische Konzept des Projekts stützt sich auf drei Säulen, die mit-<br />
einan<strong>der</strong> verknüpft werden: Peergroup-Education, systemischen Ansatz und<br />
die Lebensweltorientierung. Wenn sich Gruppen von Gleichgestellten, Peers,<br />
gegenseitig unterstützen und Verantwortung für sich, aber auch für an<strong>der</strong>e<br />
übernehmen, spricht man von Peergroup-Education. Aufgrund des Um-<br />
stands, dass Verän<strong>der</strong>ungen innerhalb eines Systems immer auch das Sys-<br />
92 Vgl. ebd.<br />
93 Vgl. SCHUBARTH 2010, S. 120<br />
59
tem <strong>als</strong> Ganzes verän<strong>der</strong>n, folgt <strong>der</strong> systemische Charakter des Buddy-<br />
Projekts. Es ist kein Einzelprojekt, son<strong>der</strong>n steht im „Kontext von Schule,<br />
Schulentwicklung, Gruppe und <strong>der</strong> beteiligten Personen“. Lebensweltorien-<br />
tierung <strong>als</strong> dritte Säule des Projekts zielt auf die Anpassung an die tatsächli-<br />
chen Bedürfnisse <strong>der</strong> Schülerinnen und Schüler. Durch die aktive Übernah-<br />
me <strong>der</strong> projekttypischen Handlungsmuster erwerben sie Schlüsselkompeten-<br />
zen nicht nur für den aktuellen schulischen Bereich, son<strong>der</strong>n auch für ihr spä-<br />
teres Leben. 94<br />
Im zeitlichen Ablauf verläuft die Implementierung des Projekts in drei Pha-<br />
sen: In <strong>der</strong> ersten Phase werden Multiplikatoren auf Landesebene ausgebil-<br />
det. In <strong>der</strong> zweiten bieten ausgebildete Buddy-Trainerinnen und Buddy-<br />
Trainer Schulungen für Pädagoginnen und Pädagogen an, um <strong>der</strong>en soziale<br />
Handlungskompetenz zu för<strong>der</strong>n. In <strong>der</strong> dritten Phase stehen jährliche Vertie-<br />
fungs- und Praxistage für die am Projekt beteiligten Schulen auf dem Pro-<br />
gramm.<br />
Betreut wird das Buddy-Projekt neben regionalen Koordinatorinnen und Ko-<br />
ordinatoren jeweils von zwei Lehrerinnen o<strong>der</strong> Lehrern pro Schule. Jede<br />
Schule entwickelt ihre Praxisprojekte selbstständig, je nach Bedarf. Daher<br />
reicht die Bandbreite <strong>der</strong> Buddys 95 – Schülerinnen und Schüler, die <strong>als</strong><br />
Kumpel bzw. Kameradinnen und Kameraden eine „Patenschaft“ übernehmen<br />
– von Hausaufgaben-Buddys über Friedensbuddys bis zu Rollstuhl-<br />
Buddys. 96 Beispiele für Buddys ihren vielfältigen Anwendungsgebieten:<br />
� „Schüler helfen Schülern (Peer-Helping)<br />
� Schüler lernen miteinan<strong>der</strong> (Peer-Learning)<br />
� Schüler helfen lernen (Peer-Teaching)<br />
� Schüler betreuen Schüler (Peer-Coaching)<br />
� Schüler beraten Schüler (Peer-Councelling)<br />
� Schüler vermitteln in Konflikten (Peer-Mediation)<br />
� Buddy-Projekte im sozialen Umfeld (Service Learning)“ 97<br />
94 Vgl. ebd., S. 157 f.<br />
95 Buddy von amerikanisch buddy = Kamerad, Kumpel, Spezi<br />
96 Vgl. SCHUBARTH 2010, S.157 ff.<br />
97 Ebd., S. 159<br />
60
Durch die vielen <strong>Möglichkeit</strong>en ist das Buddy-Projekt ein offenes System,<br />
welches an die Bedürfnisse <strong>der</strong> jeweiligen Schule angepasst wird. Eine ge-<br />
naue Bedarfsanalyse ist daher Voraussetzung. Die Stärken des Buddy-<br />
Projekts liegen im Peer-Ansatz, <strong>als</strong>o dem Hilfs- bzw. Helfersystem, dem sys-<br />
temischen Charakter und <strong>der</strong> Lebensweltorientiertheit, <strong>als</strong>o <strong>der</strong> Orientierung<br />
an den konkreten Bedürfnissen. Kritikpunkte sind das sehr allgemeine, offe-<br />
ne Konzept, die Gefahr <strong>der</strong> Beliebigkeit, die Abhängigkeit von den Buddy-<br />
Trainerinnen und Buddy-Trainern, den Pädagoginnen und Pädagogen sowie<br />
die Nichteinbindung von Eltern und Erziehungsberechtigten. 98<br />
4.2.3.5 Funktionalität und Wirkkraft<br />
Durch die Zunahme von Gewaltpräventionsprogrammen in den letzten zwei<br />
Jahrzehnten stellt sich die Frage nach <strong>der</strong>en Funktionalität und Wirkkraft. Die<br />
vorangegangenen Abschnitte haben diesen Aspekt anhand einiger ausge-<br />
wählter Beispiele behandelt. Eine erschöpfende kritische Würdigung aller<br />
Gewaltpräventionsprogramme würde den Rahmen <strong>der</strong> gegenständlichen<br />
Bachelorarbeit sprengen. Ebenso das Erkenntnisinteresse, das die Kampf-<br />
kunst <strong>als</strong> <strong>Möglichkeit</strong> <strong>der</strong> <strong>Persönlichkeitsstärkung</strong> fokussiert und sich <strong>der</strong><br />
Prävention und Deeskalation von Gewalt im Kindesalter am Beispiel von<br />
WingTsun widmet. Dennoch sollen hier einige allgemeine Aspekte zur Wirk-<br />
kraft von Gewaltpräventionsprogrammen angeführt werden. Die Erforschung<br />
<strong>der</strong> Wirksamkeit solcher Programme kann nur mit wissenschaftlichen Metho-<br />
den und Kriterien vorgenommen werden. Die Evaluation von Gewaltpräven-<br />
tions- und Gewaltinterventionsprogrammen gilt in Deutschland und Öster-<br />
reich <strong>als</strong> unzureichend. Oft werden daher Evaluationsbefunde aus den USA<br />
herangezogen, da viele <strong>der</strong> Programme dort entwickelt worden sind. Es ist<br />
aber nicht möglich, diese eins zu eins auf die Situation in Deutschland und<br />
Österreich zu übertragen. Die in Deutschland durchgeführten Evaluationen<br />
haben größtenteils ein positives Ergebnis erbracht, wobei allerdings berück-<br />
sichtigt werden muss, dass die Evaluationen zum Teil von den Autorinnen<br />
98 Vgl. ebd.<br />
61
und Autoren <strong>der</strong> Programme selbst durchgeführt worden sind und oft nur die<br />
Einführungsphase umfassten. Insgesamt kann aber von einem Erfolg <strong>der</strong><br />
Gewaltpräventionsprogramme gesprochen werden. Die Beteiligten <strong>der</strong> Pro-<br />
gramme zeigen weniger Aggression und Gewalt <strong>als</strong> Kin<strong>der</strong> und Jugendliche,<br />
die nicht an solchen Programmen teilgenommen haben. 99 Weitere Differen-<br />
zierungen ergeben, dass bei jüngeren Teilnehmerinnen und Teilnehmern <strong>der</strong><br />
Effekt größer ist <strong>als</strong> bei älteren. Die Einbeziehung von Eltern, Schülerinnen<br />
und Schülern, Lehrkörper und Schulleitung erhöht die Implementationsquali-<br />
tät <strong>der</strong> Programme. Gezielte Präventionsmaßnahmen sind im Hinblick auf<br />
ihre Wirkung erfolgreicher <strong>als</strong> universelle Strategien. Die Beachtung <strong>der</strong> kon-<br />
kreten Lebensumstände und die Flexibilität von Gewaltpräventionsprogram-<br />
men sind weitere wesentliche Faktoren für das Gelingen. Ein Programm<br />
kann noch so gut sein, wenn es schlecht umgesetzt wird, kommt es zu keiner<br />
Besserung <strong>der</strong> Situation. Ausschlaggebend sind in diesem Zusammenhang<br />
vor allem die Professionalität des Lehrkörpers bzw. <strong>der</strong> Trainerinnen und<br />
Trainer. Zusammenfassend ist zu sagen, dass die Wirkung von Gewaltprä-<br />
ventions- und Gewaltinterventionsprogrammen von den „jeweils spezifischen<br />
Zielstellungen, Programminhalten, didaktisch-methodischen Ansätzen, Set-<br />
tings und theoretischen Bezügen“ abhängig ist sowie davon, wie sie in den<br />
Schulalltag implementiert werden. 100<br />
99 Vgl. ebd., S. 182 f.<br />
100 Vgl. ebd., S.183-185<br />
62
5 Die <strong>Kampfkunst</strong> WingTsun<br />
Um ein fundiertes Verständnis für die <strong>Kampfkunst</strong> WingTsun zu ermöglichen,<br />
werden zuerst die Entstehungsgeschichte und <strong>der</strong> philosophische Hinter-<br />
grund in Grundzügen dargelegt. In <strong>der</strong> Folge werden die Struktur dieser<br />
<strong>Kampfkunst</strong> und die Prinzipien, die diesen Stil einzigartig machen, erklärt.<br />
Ohne Kenntnis dieser Grundlagen bestünde vor allem für Laien die Gefahr,<br />
WingTsun nur auf Teilaspekte reduziert wahrzunehmen und das Potential zur<br />
Gewaltprävention und <strong>Persönlichkeitsstärkung</strong> nicht ausreichend in den Blick<br />
zu bekommen.<br />
5.1 Zur geschichtlichen Entwicklung<br />
In China haben Stammbaum und Entstehungsgeschichte eines Kung-Fu-<br />
Stils eine äußerst wichtige Bedeutung für dessen Wertschätzung. Kung-Fu<br />
bedeutet im Chinesischen „harte Arbeit“ und ist zum Überbegriff aller chine-<br />
sischen <strong>Kampfkunst</strong>-Stile geworden. „Eine Kung-Fu-Schule ist nicht einfach<br />
ein Sport-Club, son<strong>der</strong>n alle Mitglie<strong>der</strong> sind miteinan<strong>der</strong> verbunden durch<br />
gewisse Anschauungen, Lebenseinstellungen, Wertvorstellungen, Erinne-<br />
rungen und eine bestimmte Familienhierarchie, in <strong>der</strong> je<strong>der</strong> seinen Platz<br />
hat.“ 101 So werden ältere Mitglie<strong>der</strong> von den Jüngeren respektiert, ihr Rat<br />
und ihre Hilfe werden erbeten und dankend angenommen. Si-Fu 102 und To-<br />
Dai 103 sind nicht einfach Lehrer 104 und Schülerinnen und Schüler, son<strong>der</strong>n –<br />
in die Familienstruktur des Stils eingebettet – „eine kleine Welt für sich.“ Die<br />
Zahl <strong>der</strong> verschiedenen Kung-Fu-Stile beläuft sich auf weit über hun<strong>der</strong>t. Vie-<br />
le dieser Stile beziehen ihren Namen von <strong>der</strong>en Ursprungsort, <strong>der</strong>en Gründe-<br />
rinnen und Grün<strong>der</strong> o<strong>der</strong> aus einer speziellen Technik. An<strong>der</strong>e Stile wurden<br />
101<br />
KERNSPECHT 1993, S.13<br />
102<br />
Von chinesisch Si-Fu = väterlicher Lehrer. Der Begriff beinhaltet den Respekt vor dem<br />
Lehrer.<br />
103<br />
Von chinesisch To-Dai = Schüler.<br />
104<br />
Si-Fu (väterlicher Lehrer) kennt im Chinesischen und in <strong>der</strong> Fachsprache keine weibliche<br />
Form. Erst seit ein paar Jahren wird für weibliche Si-Fus <strong>der</strong> Begriff „Lady Si-Fu“ verwendet,<br />
weil bis vor kurzem keine Frauen in dieser Funktion tätig waren. Entsprechend dem Kontext<br />
wird in diesem Kapitel <strong>der</strong> Begriff „Si-Fu“ und in <strong>der</strong> Übersetzung „Lehrer“ nicht gegen<strong>der</strong>t.<br />
63
nach Namen o<strong>der</strong> Legenden ihrer Geschichte benannt. WingTsun ist die ein-<br />
zige <strong>Kampfkunst</strong>, die nicht von Männern, son<strong>der</strong>n von zwei Frauen gegrün-<br />
det und entwickelt worden ist: Ng Mui und Yim Wing Tsun. Die meisten Ent-<br />
stehungsgeschichten von Kung-Fu-Stilen beruhen auf Legenden und My-<br />
then. Entsprechend dem Charakter dieser literarischen Gattungen bleibt <strong>der</strong><br />
historische Gehalt <strong>der</strong> Entstehungsgeschichten im Dunkeln. Sallust 105 wird<br />
die Erkenntnis zugesprochen, dass ein Mythos eine Geschichte ist, die nie<br />
geschehen, aber immer wahr ist. Eine vertiefende Differenzierung ergibt sich<br />
aus <strong>der</strong> Unterscheidung von Bildhälfte und Sachhälfte einer Erzählung. Dies<br />
alles trifft auch für die Entstehung des WingTsun-Stils zu. Mit Ausnahme des<br />
Berichtes über Meister Leung Jan und dessen Nachfolger kann <strong>der</strong> Rest die-<br />
ser Erzählung „nicht <strong>als</strong> hinreichend historisch gesichert“ angesehen werden.<br />
Trotzdem ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass die Personen <strong>der</strong> Erzählung<br />
wie Ng Mui o<strong>der</strong> Yim Wing Tsun tatsächlich gelebt haben. 106 Die Legende ist<br />
auf jeden Fall lesenswert und erhellt das Verständnis für WingTsun, wie die<br />
folgenden Ausführungen zeigen.<br />
5.1.1 Die Verbrennung des Shaolin-Klosters<br />
Vor ca. 280 Jahren in <strong>der</strong> Regierungszeit von Kaiser Yongzheng (1723-1736)<br />
<strong>der</strong> Qing-Dynastie soll durch eine Belagerung durch die Soldaten <strong>der</strong> Mand-<br />
schu-Regierung das Shaolin-Kloster 107 abgebrannt worden sein. Das Shao-<br />
lin-Kloster gilt <strong>als</strong> historische Geburtsstätte des Chan-Buddhismus, dem Vor-<br />
läufer des Zen-Buddhismus. Es ist berühmt für seine <strong>Kampfkunst</strong> Shaolin-<br />
Kung-Fu, Tai-Chi und Qigong. Die <strong>Kampfkunst</strong> gilt <strong>als</strong> Teil <strong>der</strong> buddhisti-<br />
schen religiösen Praxis. Der Brand war Grundlage für zwei unterschiedliche<br />
Legenden. Eine wurde in den Kreisen <strong>der</strong> Triaden-Geheimgesellschaften, die<br />
an<strong>der</strong>e in <strong>Kampfkunst</strong>kreisen in Südchina verbreitet.<br />
105 Römischer Geschichtsschreiber, 86 v. Chr. – 35 v. Chr.<br />
106 Vgl. KERNSPECHT 1993, S.13-15<br />
107 Shaolin ist <strong>der</strong> Name eines buddhistischen Mönchsordens in China und kommt von chinesisch<br />
少 (shào) = jung bzw. Name für den Berg Shaoshi, chinesisch 林 (lín) = Wald und<br />
chinesisch 寺 (si) = Tempel. Shaolin bedeutet sohin entwe<strong>der</strong> „Tempel im jungen Wald“ o<strong>der</strong><br />
„Tempel im Wald am Berg Shao“.<br />
64
Die folgende Darstellung bezieht sich entsprechend dem Fokus dieser Arbeit<br />
auf die Geschichte <strong>der</strong> <strong>Kampfkunst</strong>kreise. Durch dieses Feuer, das durch<br />
einen Verräter im Kloster von innen gelegt wurde, kamen die meisten Mön-<br />
che und Laien ums Leben, dennoch konnten manche Kämpferinnen und<br />
Kämpfer entkommen. Unter ihnen die sogenannten „Fünf Älteren“, die <strong>als</strong><br />
Führer <strong>der</strong> fünf Shaolin-Stile gelten: die buddhistische Nonne Ng Mui, <strong>der</strong><br />
Zen-Meister und Abt des Klosters Chi Shin, die beiden taoistischen Meister<br />
Pak Mei und Fung To Tak sowie Meister Miu Hin und <strong>der</strong>en Schüler. Abt Chi<br />
Shin hatte die Überlebenden überzeugt, gegen die Mandschu-Regierung an-<br />
zukämpfen. Sie alle wurden von den Mandschus steckbrieflich gesucht und<br />
mussten sich, um nicht gefasst zu werden, voneinan<strong>der</strong> trennen und sich im<br />
ganzen Land verteilen. Meister Chi Shin selbst tauchte <strong>als</strong> Koch einer Roten<br />
Dschunke 108 unter. An<strong>der</strong>e versteckten sich, reisten umher und standen so<br />
manche Abenteuer aus, die in <strong>der</strong> Folge zu chinesischen Legenden wurden.<br />
5.1.2 Ng Mui<br />
Die buddhistische Nonne Ng Mui war die älteste <strong>der</strong> sogenannten „Fünf Älte-<br />
ren“, die einzige Frau im Shaolin-Tempel und Kung-Fu Meisterin. Nach <strong>der</strong><br />
Zerstörung des Shaolin-Tempels zog sie durch das Land und wollte sich nie<br />
wie<strong>der</strong> um weltliche Dinge kümmern. Schließlich ließ sie sich am Tai Leung-<br />
Berg im Weißen-Kranich-Tempel nie<strong>der</strong>, um sich dort <strong>der</strong> <strong>Kampfkunst</strong> und<br />
dem Zen 109 zu widmen. Sie konnte allerdings den Betrug <strong>der</strong> Verräter und<br />
den Brand des Klosters nie vergessen. Sie hatte auch Sorge, wie sie sich<br />
gegen die ebenfalls im Shaolin-Stil ausgebildeten Verräter und Mandschus<br />
schützen sollte. Ihr Können war zwar jetzt noch größer, aber in <strong>der</strong> Theorie<br />
hatte sie keinen Vorsprung. Sie fürchtete den Tag, an dem sie <strong>der</strong> Kraft ihrer<br />
Gegner unterliegen würde. Also musste sie ein neues Kampfsystem erschaf-<br />
108 Eine Rote Dschunke war eine chinesische Dschunke bestehend aus Flachboden und<br />
Segel. Sie war rot angestrichen, mit bunten Fahnen geschmückt und diente zum Transport<br />
einer Opern-Truppe. (Vgl. KERNSPECHT 1993, S. 29)<br />
109 Zen aus chinesisch 禅 (Chan) = Meditation, eine buddhistische Richtung, die während<br />
<strong>der</strong> nördlichen und südlichen Dynastien durch die Grün<strong>der</strong>figur des legendären Bodhidharma<br />
entstanden ist.<br />
65
fen, um die Shaolin-Techniken besiegen zu können. Die entscheidende In-<br />
spiration hatte Ng Mui, <strong>als</strong> sie den Kampf eines großen, wilden Kranichs mit<br />
einem Fuchs aufmerksam beobachtete. Der Fuchs versuchte, einen Angriff<br />
auf die ungeschützte Flanke des Kranichs zu landen, indem er ständig im<br />
Kreis um den Kranich herum lief. Der Kranich blieb jedoch in <strong>der</strong> Mitte des<br />
Kreises stehen und drehte sich immer mit <strong>der</strong> Brustseite dem Fuchs zu. Je-<br />
<strong>der</strong> Angriff des Fuchses wurde durch einen Flügel des Kranichs abgewehrt,<br />
<strong>der</strong> ihn gleichzeitig mit dem Schnabel attackierte. 110<br />
Ng Mui übernahm das Angriffs- und Verteidigungskonzept des Kranichs und<br />
arbeitete intensiv daran, diese Technik dem menschlichen Körper anzupas-<br />
sen. Nach Ng Muis Ansicht waren die Bewegungen des Shaolin-Kung-Fu<br />
mit seinen festgelegten Abläufen zu schwerfällig und zudem unpraktisch.<br />
Das von ihr neuentwickelte System war einfach und anpassungsfähig und<br />
unterschied sich dadurch grundsätzlich von Shaolin-Kung-Fu. Während im<br />
Shaolin-Kung-Fu zehn Formen üblich waren, die sich in erster Linie in <strong>der</strong><br />
Reihenfolge <strong>der</strong> Bewegungen unterschieden, ansonsten aber nur wenig, kam<br />
Ng Mui in ihrem neuen System mit nur vier Box-Formen und einer Doppel-<br />
messer-Methode aus. Shaolin-Kung-Fu beinhaltete eine große Anzahl an<br />
beeindruckenden Bewegungen mit attraktiven Namen, z.B. die Bewegungen<br />
„Drachen- und Phönix-Tanz“ o<strong>der</strong> „Löwe, <strong>der</strong> aus <strong>der</strong> Höhle tritt“, in <strong>der</strong> Pra-<br />
xis waren diese aber nicht wirklich anwendbar. Das neue von Ng Mui initiierte<br />
System beinhaltete nur Bewegungen, die unmittelbar in <strong>der</strong> Praxis einsetzbar<br />
waren, für die auch keine fantasievollen Namen geschaffen wurden. Ein wei-<br />
terer Unterschied zum kraftbetonten Shaolin-Kung-Fu lag darin, dass stärke-<br />
re Gegner mit Methode besiegt wurden und nicht mit Kraft. Die Bewegungen<br />
wurden „maßgeschnei<strong>der</strong>t“ an die Handlungen des Gegners angepasst und<br />
waren von daher rein reaktiv. Anpassungsfähige Handtechniken, ein flexibler<br />
Stand und schnelle Schritte waren Elemente dieser Technik. Die starken<br />
Armbewegungen des Shaolin-Kung-Fu, verbunden mit seinem schweren tie-<br />
fen Stand, konnten durch das neue System erfolgreich außer Kraft gesetzt<br />
werden. Im Gegensatz zum Front-Stance, dem von Shaolin-Kämpfern ver-<br />
110 Vgl. KERNSPECHT 1993, S. 20 f.<br />
66
wendeten Kampfstand mit Hauptgewicht auf dem vor<strong>der</strong>en Bein, kam im<br />
neuen System <strong>der</strong> sogenannte Back-Stance zum Einsatz, bei dem das<br />
Hauptgewicht auf dem hinteren Bein liegt. So konnte die Anwen<strong>der</strong>in bzw.<br />
<strong>der</strong> Anwen<strong>der</strong> des Back-Stance ohne Gewichtsverlagerung – das ist wesent-<br />
lich – eine Angreiferin o<strong>der</strong> einen Angreifer mit Front-Stance außer Gefecht<br />
setzen o<strong>der</strong> das vor<strong>der</strong>e Bein bei einem Angriff schnell in Sicherheit brin-<br />
gen. 111<br />
5.1.3 Die schöne Yim Wing Tsun<br />
Yim Wing Tsun war ein Mädchen, das in <strong>der</strong> Kwantung-Provinz geboren<br />
wurde und mit ihrem Vater Yim Lee allein lebte, da ihre Mutter verstorben<br />
war. Sie wurde schon im jungen Alter dem Jüngling und Salz-Kaufmann<br />
Leung Bok Chau versprochen. Der Vater Yim Lee, <strong>der</strong> selbst einige Shaolin-<br />
Kampftechniken beherrschte, sorgte in <strong>der</strong> Gegend bei gegebenem Anlass<br />
für Gerechtigkeit. Unglücklicherweise wurde er zu Unrecht in eine Gerichts-<br />
sache verwickelt und musste mit seiner Tochter fliehen, um einer Verhaftung<br />
zu entgehen. Sie ließen sich am Fuße des Tai Leung-Berges nie<strong>der</strong> und ver-<br />
dienten mit einem kleinen Lebensmittelstand ihren Unterhalt. Yim Wing Tsun<br />
entwickelte sich zu einem hübschen und aufgeweckten Mädchen. In dieser<br />
Gegend trieb ein notorischer Schläger namens Wong sein Unwesen und<br />
suchte ständig Streit. Da dieser ein Kung-Fu-Experte und Mitglied einer Ge-<br />
heimgesellschaft war, trauten sich die Dorfbewohner nicht gegen ihn vorzu-<br />
gehen. Auch das Gesetz konnte ihm nichts anhaben, da <strong>der</strong> Arm des Geset-<br />
zes nicht in das weit entlegene Grenzdorf reichte. Angetan von <strong>der</strong> Schönheit<br />
Wing Tsuns hielt er über einen Boten um ihre Hand an, allerdings verbunden<br />
mit <strong>der</strong> Drohung, Gewalt anzuwenden, sollte sie nicht zustimmen. Ihr Vater<br />
war mittlerweile zu alt und schwach, um sie zu beschützen und Wing Tsun<br />
selbst war auch zu schwach, um ernsthaften Wi<strong>der</strong>stand zu leisten. Beide<br />
machten sich daher große Sorgen. Es ereignete sich aber, dass die buddhis-<br />
tische Nonne Ng Mui, die zu dieser Zeit im Weißen-Kranich-Tempel am Tai<br />
111 Vgl. ebd., S. 21 f.<br />
67
Leung-Berg lebte, mehrm<strong>als</strong> im Monat auf dem Marktplatz des Dorfes Le-<br />
bensmittel einkaufte und eine regelmäßige Kundin von Yim Lee wurde.<br />
Durch dessen verän<strong>der</strong>tes Verhalten und die besorgten Blicke von Yim Wing<br />
Tsun erkundigte sich Ng Mui nach dem Grund. Ng Mui beschloss, <strong>der</strong> jungen<br />
Yim Wing Tsun zu helfen, indem sie ihr die Kunst des Kämpfens nach ihrem<br />
neuen System beibrachte. Nach drei Jahren intensiven Privatunterrichts am<br />
Tai Leung-Berg beherrschte Yim Wing Tsun diese Methoden und besiegte<br />
Wong im Kampf. Dieser, durch und durch gedemütigt durch diese unerwar-<br />
tete Nie<strong>der</strong>lage, belästigte das Mädchen nie wie<strong>der</strong>. Yim Wing Tsun setzte<br />
ihre Kampfübungen aber fort und musste <strong>der</strong> Nonne Ng Mui versprechen, die<br />
erlernten und erprobten Techniken und Methoden nur einem würdigen Nach-<br />
folger weiterzugeben. 112<br />
5.1.4 Leung Bok Chau und Leung Lan Kwai<br />
Wing Tsun heiratete ihren Verlobten Leung Bok Chau und gab die neue<br />
<strong>Kampfkunst</strong>-Methode an ihn weiter. Vorerst <strong>der</strong> Ansicht, dass eine schwache<br />
Frau einen Kung-Fu-erfahrenen Mann nie besiegen könne, wurde er eines<br />
Besseren belehrt. Aus jedem Kampf ging Yim Wing Tsun <strong>als</strong> Siegerin her-<br />
vor. Er erkannte und anerkannte, dass seine Frau eine wahre Meisterin <strong>der</strong><br />
Kampfkünste war. Aufgrund seiner Bewun<strong>der</strong>ung für ihr Können benannte er<br />
das neue Kung-Fu-System nach ihr. Von Leung Bok Chau ging das System<br />
zu Leung Lan Kwai über, <strong>der</strong> ein Kräuter- und Knochenarzt war. Dieser woll-<br />
te jedoch sein Wissen über das 詠春-System 113 (WingTsun System) für sich<br />
behalten, da er nach dem Gebot seiner Kung-Fu-Ahnen lebte: „Zeige <strong>der</strong><br />
Öffentlichkeit nie, dass du 詠春 beherrschst!“ Hätte er nicht eine Gruppe von<br />
112 Vgl. ebd., S. 23<br />
113 Um den Gesamtstil zu benennen, <strong>der</strong> zu Lebzeiten von Großmeister Yip Man noch geeint<br />
war, werden die Schriftzeichen 詠春 verwendet. Der <strong>als</strong> Marke geschützte Name „Wing<br />
Tsun“ bzw. „WT“ wird von <strong>der</strong> Leung Ting-Schule zur Unterscheidung gegenüber an<strong>der</strong>en<br />
詠春-Stilen verwendet.<br />
68
Schlägern in die Flucht geschlagen, die einen Mann verprügelten, hätte diese<br />
Geschichte nie weiter gegeben werden können. 114<br />
5.1.5 Wong Wah Bo und Leung Yee Tei<br />
Nach dem Sieg über die Schläger, die Leung Lan Kwai in die Flucht geschla-<br />
gen hatte, gab er sein Wissen an Wong Wah Bo weiter, <strong>der</strong> ein Schauspieler<br />
einer Operntruppe war und einen ehrlichen und aufrechten Charakter hatte.<br />
Die Schauspieler von Operntruppen wurden dam<strong>als</strong> alle „Jünger <strong>der</strong> roten<br />
Dschunke“ genannt, und es war auch üblich, dass diese etwas von Kampf-<br />
kunst verstanden. Durch die dicke Schminke bei den Aufführungen konnten<br />
sich die verfolgten Anhänger des Shaolin-Klosters wie Abt Chi Shin tarnen<br />
und blieben gegenüber <strong>der</strong> Mandschu-Regierung unentdeckt. So kam es,<br />
dass Abt Chi Shin einigen Jüngern <strong>der</strong> roten Dschunke, die einen großen<br />
Gerechtigkeitssinn hatten, sein Geheimnis anvertraute und sie in den Shao-<br />
lin-Kampftechniken unterrichtete. Von allen Techniken gefiel Leung Yee Tei,<br />
<strong>der</strong> das lange Ru<strong>der</strong> <strong>der</strong> roten Dschunke steuerte, die Langstocktechnik am<br />
besten. Meister Chi Shin, selbst einer <strong>der</strong> äußerst seltenen Langstockexper-<br />
ten seiner Zeit, hielt Leung Yee Tei für würdig, diese Technik von ihm zu<br />
erlernen.<br />
Wong Wah Bo, ebenfalls Mitglied in <strong>der</strong> Schauspielertruppe <strong>der</strong> roten<br />
Dschunke, die von Leung Yee Tei gesteuert wurde, bewun<strong>der</strong>te dessen<br />
Können in <strong>der</strong> Langstock-Technik. Umgekehrt bewun<strong>der</strong>te Leung Yee Tei<br />
Wong Wah Bos waffenloses 詠春-System. Beide lernten voneinan<strong>der</strong> und so<br />
wurde Leung Yee Tei Mitglied <strong>der</strong> 詠春-Familie, und das 詠春-System bekam<br />
zu seiner bestehenden Doppelmesser-Methode (Bart-Cham-Dao) noch die<br />
sogenannte „6 1/2 Punkt-Langstock-Technik“ dazu. Die Langstock-Technik<br />
wurde den Prinzipien des 詠春-Systems angepasst und von Leung Yee Tei<br />
und Wong Wah Bo verbessert. 115<br />
114 Vgl. KERNSPECHT 1993, S. 24<br />
115 Vgl. ebd., S. 24 f.<br />
69
5.1.6 Dr. Leung Jan<br />
Leung Yee Tei gab die Kunst des 詠春 an den bekannten Arzt Leung Jan in<br />
Fatshan 116 weiter. Dieser war höflich, kultiviert und freundlich und führte eine<br />
Apotheke namens Jang-Sang in <strong>der</strong> Essstäbchen-Straße. Er gab den Bür-<br />
gern aber auch guten ärztlichen Beistand, sodass er das Vertrauen <strong>der</strong> Bür-<br />
ger genoss. Seine Freizeitbeschäftigung waren die Literatur und die Kunst<br />
des Kämpfens. Allerdings konnte er sich nicht für einen Stil entscheiden, da<br />
ihm die tiefen Stellungen vieler Stile ebenso missfielen wie <strong>der</strong>en Kraftbeto-<br />
nung. Nach Jahren des Suchens traf er schließlich Leung Yee Tei, und er<br />
erlernte von ihm das 詠春-System. Bald erwarb er den Titel „Kung-Fu-König<br />
des 詠春“. Herausgefor<strong>der</strong>t von vielen ehrgeizigen Kämpfern, die Leung<br />
Jans Ruhm brechen wollten, konnte er seine Stellung <strong>als</strong> „Kung-Fu-König<br />
des 詠春“ eindrucksvoll unter Beweis stellen, indem er alle besiegte. 117<br />
5.1.7 Chan Wah Shun und seine 16 Schüler<br />
Dr. Leung Jan unterrichtete nur wenige Schüler im 詠春-System. Unter ihnen<br />
waren seine beiden Söhne Leung Tsung und Leung Bik sowie sein Nachbar<br />
Chan Wah Shun. Dieser konnte schnellere und bessere Fortschritte machen<br />
<strong>als</strong> seine Söhne und er bekam bald einen Ruf <strong>als</strong> großer Kämpfer. So wurde<br />
Chan Wah Shun <strong>der</strong> Nachfolger von Leung Jan und nicht einer seiner Söh-<br />
ne, wie man vielleicht erwartet hätte. Söhne von Großmeistern trainieren oft<br />
weniger hart wie ihre Mitschüler und sind meistens zufrieden, da sie höhere<br />
Techniken früher gezeigt bekommen, jedoch zu faul, um regelmäßig zu<br />
üben. Chan Wah Shun unterrichtete 36 Jahre und hatte in dieser Zeit nur 16<br />
Schüler. Ähnlich wie bei Dr. Leung Jan wurde auch im Fall von Chan Wah<br />
Shun nicht dessen Sohn, son<strong>der</strong>n Yip Man <strong>der</strong> Nachfolger. Und wie<strong>der</strong>um<br />
waren es nicht Yip Mans Söhne, die das 詠春-System in <strong>der</strong> Welt verbreite-<br />
116 Fatshan ist eine <strong>der</strong> berühmten vier Städte <strong>der</strong> Provinz Kwantung in Südchina, ein Ver-<br />
kehrsknotenpunkt am Perlenfluss.<br />
117 Vgl. KERNSPECHT 1993, S. 25 f.<br />
70
ten, son<strong>der</strong>n Großmeister Leung Ting, dem heutigen Oberhaupt des<br />
WingTsun-Systems. 118<br />
5.1.8 Yip Man<br />
Mit über 70 Jahren mietete Chan Wah Shun den Familientempel des Yip-<br />
Clans. Dort nahm er den 13-jährigen Yip Man <strong>als</strong> seinen sechzehnten und<br />
letzten Schüler auf. Der junge Yip Man lernte dort viel von Chan Wah Shun,<br />
aber auch von seinen Si-Hings 119 . Nach dem Tod von Chan Wah Shun ging<br />
es für das 詠春-System lange bergab, da niemand daran dachte, diese Kunst<br />
für die nächste Generation weiterzugeben. Yip Man selbst ging nach Hong-<br />
kong, wo er Leung Bik, den jüngsten Sohn Dr. Leung Jans kennenlernte. Yip<br />
Man lernte alle Geheimnisse des 詠春-Systems und kehrte mit 24 Jahren <strong>als</strong><br />
Meister des 詠春in seine Heimatstadt Fatshan zurück. Im Laufe <strong>der</strong> Zeit wur-<br />
de Yip Man in Fatshan <strong>als</strong> größter <strong>Kampfkunst</strong>-Experte bekannt. Er gründete<br />
seine eigene 詠春-Schule in Kowloon 120 . Mit <strong>der</strong> Zeit erkannte auch die Poli-<br />
zei von Hongkong den Nutzen dieser <strong>Kampfkunst</strong>, und viele Polizisten wur-<br />
den seine Schüler. 1967 gründete er <strong>als</strong> letzte För<strong>der</strong>maßnahme die „Hong<br />
Kong Ving Tsun Athletic Association“. Im Mai 1970 zog sich Yip Man vom<br />
Unterricht zurück. Seinem Lieblingsschüler Leung Ting übergab er seine<br />
Schule und seine Schüler. Bruce Lee, ein Schüler Yip Mans, wurde in dieser<br />
Zeit ein berühmter Film-Superstar, aber Yip Man rühmte sich nie damit. Am<br />
2. Dezember 1972 verstarb Großmeister Yip Man. 121 Er hatte wenig für Eitel-<br />
keiten, Ruhm und Reichtum dieser Welt übrig. „Seine Herzlichkeit, Aufrichtig-<br />
keit und Gastfreundschaft wurden in allen Handlungen offenbar. Seine Un-<br />
terhaltungen im Fatschan-Dialekt spiegelten sein sorgloses und freundliches<br />
Naturell. Man konnte ihn wahrlich <strong>als</strong> Gentleman und Gelehrten bezeich-<br />
118 Vgl. ebd., S. 26-28<br />
119 Aus chinesisch Si-Hing = großer Bru<strong>der</strong><br />
120 Aus dem Chinesischen = Neun Drachen. Kowloon ist <strong>der</strong> größte Teil <strong>der</strong> Son<strong>der</strong>verwal-<br />
tungszone Hongkong.<br />
121 Vgl. KERNSPECHT 1993, S. 28-37<br />
71
nen.“ 122 Yip Man war <strong>der</strong> letzte Großmeister des gesamten 詠春-Stils. Er war<br />
nicht nur Oberhaupt, son<strong>der</strong>n in <strong>der</strong> ganzen Kung-Fu-Welt <strong>als</strong> Großmeister<br />
anerkannt.<br />
5.1.9 Geschichte und Identität<br />
Die Geschichte einer <strong>Kampfkunst</strong> spiegelt Identität und Grundverständnis<br />
<strong>der</strong>selben wi<strong>der</strong>. Das Wissen um die Herkunft impliziert auch den Blick in die<br />
Zukunft. Die sich ständig variierenden historischen und soziokulturellen Um-<br />
stände bedingen auch eine Anpassung <strong>der</strong> <strong>Kampfkunst</strong> an die jeweils geän-<br />
<strong>der</strong>te Situation. Während aber viele Kampfkünste und Kampfsportarten bloße<br />
„Techniksammlungen“ darstellen und sich seit Jahrzehnten und sogar Jahr-<br />
hun<strong>der</strong>ten durch die Fixierung auf starre Traditionen einer Weiterentwicklung<br />
versagt haben, zeichnet sich WingTsun, das sich gerade nicht auf eine<br />
Techniksammlung reduzieren lässt, durch eine beson<strong>der</strong>e Flexibilität und<br />
Anpassung aus, wie die vorangegangene Zeitreise durch die Geschichte des<br />
WingTsun veranschaulicht. Alle bisherigen Großmeisterinnen und Großmeis-<br />
ter haben größten Wert darauf gelegt, das WingTsun-System ständig zu ver-<br />
bessern und den jeweiligen Anfor<strong>der</strong>ungen anzupassen. Dem Verhältnis von<br />
maximalem Effekt und minimalem Aufwand kommt dabei große Bedeutung<br />
zu. Diese Bemühungen haben das WingTsun <strong>der</strong> Gegenwart zum besten<br />
WingTsun aller Zeiten gemacht, was aber keineswegs die Weiterentwicklung<br />
für neue Gegebenheiten ausschließt. Trotz all dieser Än<strong>der</strong>ungen, Anpas-<br />
sungen und Entwicklungen bleibt ein Element von WingTsun immer gleich:<br />
sein Ziel. Die Selbstvervollkommnung im Dienst eines aggressionsfreien und<br />
gewaltfreien Miteinan<strong>der</strong>.<br />
122 KERNSPECHT 1993, S. 32<br />
72
5.2 Philosophische Bezugspunkte von WingTsun<br />
WingTsun versteht sich we<strong>der</strong> <strong>als</strong> Religion noch <strong>als</strong> religiöse Praxis, wiewohl<br />
es – bedingt durch die historische Genese – deutliche Bezugspunkte zu<br />
Buddhismus, Taoismus und Konfuzianismus gibt. Es sind aber fast aus-<br />
schließlich philosophische Aspekte dieser Quellen, die in WingTsun einge-<br />
flossen sind. Diese sollen im Folgenden in einer kurzen Übersicht zum bes-<br />
seren Verständnis aufgelistet werden.<br />
5.2.1 Buddhismus<br />
Der Ursprung des Buddhismus liegt in Indien und entstand durch Siddhartha<br />
Gautama. Die buddhistische Lehre kommt nicht aus göttlicher Offenbarung,<br />
son<strong>der</strong>n durch Meditation und durch Verständnis des menschlichen Geistes<br />
und <strong>der</strong> Natur. Buddha bedeutet <strong>der</strong> „Erwachte“. Im Buddhismus ist je<strong>der</strong><br />
Mensch in einem Kreislauf von Geburt und Reinkarnation gefangen. Grund-<br />
lage <strong>der</strong> Lehre sind die vier edlen Wahrheiten und <strong>der</strong> achtteilige Pfad. Durch<br />
die Einhaltung <strong>der</strong> Tugenden, durch Meditation und die Entwicklung von Mit-<br />
gefühl und Weisheit soll <strong>der</strong> Kreislauf des Lebens verlassen werden und<br />
durch Erleuchtung <strong>der</strong> Zustand des Nirvana erreicht werden. Weil es im<br />
Buddhismus die Vorstellung eines Schöpfergottes nicht gibt, meinen man-<br />
che, dass es sich im Buddhismus um keine Religion, son<strong>der</strong>n um eine Le-<br />
bensphilosophie handle. Dies wäre nach Küng eine unzulässige Reduktion,<br />
weil <strong>der</strong> Buddhismus sowohl Heilslehre <strong>als</strong> auch Heilsweg und damit Religion<br />
ist. 123<br />
In <strong>der</strong> Verbindung zwischen WingTsun und Buddhismus sind es aber vor<br />
allem die philosophischen Weisheiten, wie sie im achtfachen Pfad und in den<br />
Grundgeboten des Buddhismus enthalten sind, die in WingTsun eingeflossen<br />
sind. Die richtige Einstellung im Training wie im Leben und selbstdisziplinier-<br />
tes und engagiertes Handeln, wie sie <strong>als</strong> roter Faden im WingTsun-System<br />
immer wie<strong>der</strong> aufscheinen, entspringen dem Ethos des Buddhismus.<br />
123 Vgl. KÜNG 1999, S. 156-160<br />
73
Rechte<br />
Achtsamkeit<br />
5.2.2 Taoismus<br />
Rechtes<br />
Sichversenken<br />
Rechtes<br />
Streben,<br />
Üben<br />
Rechte<br />
Anschauung,<br />
Erkenntnis<br />
Der<br />
achtfache<br />
Pfad<br />
Rechter<br />
Lebenserwerb<br />
Abb.6: Der achtfache Pfad im Buddhismus 124<br />
Der Ursprung des Taoismus 125 liegt im 4. Jahrhun<strong>der</strong>t vor Christus. In dieser<br />
Zeit entstand die berühmte Weisheitsschrift „Tao Te King“ des legendären<br />
Weisen Laotse. Tao bedeutet Weg und steht universell für „<strong>der</strong> alles ein-<br />
schließende Weg“. Der Mensch soll im Einklang mit <strong>der</strong> Natur leben und sich<br />
<strong>als</strong> Teil des Ganzen verstehen. Te bedeutet Kraft o<strong>der</strong> Tugend und zeigt sich<br />
in allen Erscheinungsformen, ist aber dennoch nicht greifbar und „leer“. Im<br />
Leersein ahmt auch <strong>der</strong> Mensch das stille Wirken <strong>der</strong> Natur nach. Der<br />
Taoismus lehrt Gleichmütigkeit gegenüber materiellen Gütern und Befreiung<br />
124 Selbst erstellte Grafik des Autors<br />
125 Aus chinesisch 道教 (dàojiào) = Lehre des Weges<br />
Rechte<br />
Gesinnung,<br />
Absicht<br />
Rechtes<br />
Handeln<br />
Rechtes<br />
Reden<br />
74
von Leidenschaft und Begierde. Alles folgt dem Prinzip des „Wu Wei“, im<br />
Einklang mit <strong>der</strong> Natur zu leben durch „Nicht-Handeln“. 126<br />
Im WingTsun ist das „Borgen“ <strong>der</strong> gegnerischen Kraft, die an Grundhaltun-<br />
gen des Taoismus erinnert. Kraft wird nicht mit Gegenkraft begegnet, son-<br />
<strong>der</strong>n durch kluges Nachgeben, um die gegnerische Kraft gegen ihn selbst zu<br />
richten. Das Nachgeben und Umleiten und auch die Nutzung <strong>der</strong> gegneri-<br />
schen Kraft spiegeln sich in den Prinzipien und Kraftsätzen des WingTsun<br />
wi<strong>der</strong>.<br />
5.2.3 Konfuzianismus<br />
Die dritte und letzte Richtung, die Eingang in das WingTsun-System gefun-<br />
den hat, ist die Weisheitslehre des Konfuzianismus. Mit dessen Grün<strong>der</strong><br />
Konfuzius beginnt die Ära des chinesischen Humanismus. Zu den Tugenden<br />
gehören Menschlichkeit, Pflichterfüllung, das Wissen um das Rechte, gegen-<br />
seitige Rücksichtnahme, Toleranz, Ehrfurcht und Erfüllung <strong>der</strong> Kindespflich-<br />
ten. Der Mensch steht im Mittelpunkt dieser Lehre. Interessant ist die Paralle-<br />
le zum Christentum und weiteren Religionen und Weltanschauungen durch<br />
die Goldene Regel, die bei Konfuzius wie folgt lautet: „Was du selbst nicht<br />
wünschest, das tue auch nicht an<strong>der</strong>en“. 127 Die Bergpredigt Jesu formuliert<br />
die Goldene Regel ein halbes Jahrtausend später positiv: „Allen nun, was ihr<br />
wollt, das euch die Leute tun sollen, das tut ihnen auch!“ (Mt 7,12)<br />
Das respektvolle Miteinan<strong>der</strong>, wie es die die Goldene Regel impliziert, ist<br />
wesentlicher Bestandteil im WingTsun und in dessen traditionellem Familien-<br />
system. Als Programmpunkt und Thema in den WingTsun-Kursen, vor allem<br />
in den Kin<strong>der</strong>programmen, ist sie ist gefor<strong>der</strong>te und gelebte sittliche Praxis<br />
im Sinne des respektvollen Umgangs miteinan<strong>der</strong>.<br />
126 Vgl. KÜNG 1999, S.127 f.<br />
127 Vgl. ebd., S. 119-121<br />
75
xiao<br />
Ehrfurcht<br />
Erfüllung <strong>der</strong><br />
Kindespflichten<br />
shu<br />
Gegenseitige<br />
Rücksichtnahme<br />
Toleranz<br />
li<br />
Ein- und<br />
Unterordnung<br />
Tugenden<br />
Abb.7: Konfuzianische Tugenden 128<br />
5.3 Die drei Ebenen des WingTsun<br />
Auf den ersten Blick mag für den oberflächlichen Bick eines Laien das<br />
WingTsun-System nur Bewegungen, Techniken und Konzepte beinhalten,<br />
welche <strong>der</strong> effektiven Selbstverteidigung dienen. Aber hinter <strong>der</strong> komplexen<br />
<strong>Kampfkunst</strong> steckt sehr viel mehr <strong>als</strong> nur die körperliche Ebene, nämlich ein<br />
umfassen<strong>der</strong> Weg zur Selbstentfaltung, <strong>der</strong> in drei Ebenen geglie<strong>der</strong>t wird,<br />
die hier kurz und überblicksmäßig angeführt werden. 129<br />
shi<br />
Wissen um das<br />
Rechte<br />
128 Selbst erstellte Grafik des Autors<br />
129 Die Darstellung <strong>der</strong> drei Ebenen des WingTsun orientiert sich an WINGTSUN-WELT, o.J.<br />
jen<br />
(Mit-)<br />
Menschlichkeit<br />
yi<br />
Pflichterfüllung<br />
76
5.3.1 Körperliche Selbstverteidigung<br />
Die unterste und 1. Ebene des WingTsun ist die körperliche Ebene. Der Kör-<br />
per soll vor Angriffen an<strong>der</strong>er Personen geschützt werden, gewalttätige kör-<br />
perliche Auseinan<strong>der</strong>setzungen sollen erfolgreich bestanden werden. Dazu<br />
beinhaltet WingTsun eine ganze Reihe effektiver Techniken, dennoch ist<br />
WingTsun aber keine Ansammlung von vielen Techniken, son<strong>der</strong>n vielmehr<br />
ein ausgeklügeltes, intelligentes System, welches bestimmten Kampfprinzi-<br />
pien folgt, die im nächsten Kapitel erläutert werden. Ein ganz wesentliches<br />
und WingTsun-typisches Merkmal <strong>der</strong> körperlichen Ebene liegt in <strong>der</strong> spezi-<br />
ellen Bewegungsschule und im einzigartigen Gefühlssystem, dem sogenann-<br />
te Chi-Sao 130 . Die Verteidigungsbewegungen werden den gegnerischen An-<br />
griffen angepasst und von <strong>der</strong> WingTsun-Anwen<strong>der</strong>in bzw. dem WingTsun-<br />
Anwen<strong>der</strong> spontan erzeugt. Es ist <strong>als</strong>o die Gegnerin bzw. <strong>der</strong> Gegner, die<br />
bzw. <strong>der</strong> mit dem konkreten Angriff einen taktilen Reflex <strong>der</strong> WingTsun-<br />
Anwen<strong>der</strong>in bzw. des WingTsun-Anwen<strong>der</strong>s auslöst und damit die Art und<br />
Weise <strong>der</strong> Verteidigung bestimmt. Chi-Sao ist <strong>als</strong>o ein spezielles Gefühlstrai-<br />
ning, das es <strong>der</strong> WingTsun-Anwen<strong>der</strong>in und dem WingTsun-Anwen<strong>der</strong> er-<br />
möglicht, mit taktilen Reflexen auf Angriffe zu reagieren. Im praktischen Teil<br />
<strong>der</strong> Arbeit werden die unterschiedlichen Elemente <strong>der</strong> körperlichen Ebene im<br />
Detail, vor allem in Bezug auf Kin<strong>der</strong>, dargelegt. „Tatsächlich ist die körperli-<br />
che Selbstverteidigung nur die erste und niedrigste Stufe im WingTsun, aber<br />
sie ist die augenfälligste und für Nichteingeweihte am leichtesten nachzuvoll-<br />
ziehen. Dabei ist <strong>der</strong> effiziente Kampf nur ein Vehikel, ein Mittel zum<br />
Zweck.“ 131<br />
5.3.2 Strategie und Taktik<br />
Strategie und Taktik sind die mittlere o<strong>der</strong> 2. Ebene des WingTsun. Die glei-<br />
chen Prinzipien, die in <strong>der</strong> 1. Ebene zur Abwehr gewalttätiger körperlicher<br />
130 Chi-Sao aus chinesisch 黐手 (chǐshǒu) = klebende Hände<br />
131 KERNSPECHT in WINGTSUN-WELT, o.J.<br />
77
Angriffe Verwendung finden, werden auf dieser Ebene umgesetzt, um in <strong>der</strong><br />
Geisteshaltung von WingTsun das alltägliche Leben, egal ob im beruflichen,<br />
privaten o<strong>der</strong> schulischen Umfeld, erfolgreich zu bestehen. Diese Ebene<br />
vermittelt im individuellen und persönlichen Kontext die Fähigkeit, mit Erfolg<br />
und Misserfolg adäquat umzugehen. Die WingTsun-Ebene von Strategie und<br />
Taktik hat damit ganz konkrete Auswirkungen auf Erfolg in Beruf und Gesell-<br />
schaft, auf Geschäftserfolg ebenso wie auf Ansehen im privaten Bereich und<br />
auf die gesellschaftliche Stellung. Strategie und Taktik umfassen Klugheit,<br />
Geschicklichkeit und List. Sie dienen dazu, sich im Leben gegen an<strong>der</strong>e<br />
durchzusetzen. Damit steht diese Ebene in enger Konnexität mit dem Be-<br />
reich von Persönlichkeit und Persönlichkeitsbildung. Während sich viele<br />
Menschen damit zufrieden geben würden und in einer durchsetzungsfähigen<br />
Persönlichkeit ihr Ziel <strong>als</strong> erreicht sehen, ist es das Ziel von WingTsun, diese<br />
Ebene zu überwinden und ein höheres Niveau zu erreichen: das <strong>der</strong> Selbst-<br />
vervollkommnung.<br />
5.3.3 Selbstvervollkommnung<br />
Die höchste und wertvollste Ebene in WingTsun ist die 3. Ebene, die <strong>der</strong><br />
Selbstvervollkommnung. Es ist die Ebene, auf <strong>der</strong> sich idealerweise Groß-<br />
meister und hohe Meister bewegen. Hier geht es nicht mehr darum, im<br />
Kampf zu gewinnen o<strong>der</strong> sich in <strong>der</strong> Gesellschaft durchzusetzen, son<strong>der</strong>n<br />
darum, sich selbst zu besiegen. Frust, Neid, Selbstmitleid, Angst, Hass,<br />
schlechte Angewohnheiten usw. sollen besiegt werden. Ziel ist die Loslösung<br />
von mechanischen körperlichen und geistigen Haltungen, um ein besserer<br />
und friedfertiger Mensch zu werden und damit an einer besseren Welt mit-<br />
zuwirken. Ursprünglich waren es alle drei Ebenen zusammen, an denen<br />
WingTsun-Anwen<strong>der</strong>innen und WingTsun-Anwen<strong>der</strong> arbeiteten. Durch die<br />
Entwicklung von einem elitären zu einem immer mehr egalitären Umfeld<br />
drängte sich die körperliche Ebene vielfach in den Vor<strong>der</strong>grund, die zweite<br />
und dritte Ebene wurde vernachlässigt. Von WingTsun im vollen Sinn kann<br />
man aber nur bei einem Bemühen um alle drei Ebenen sprechen. Vor allem<br />
78
die höchste Ebene bringt den größten und nachhaltigsten Nutzen. Das betont<br />
auch Großmeister Kernspecht mit eindringlichen Worten.<br />
„Die Theorie des WingTsun ist durchgängig, transzendierbar und immer<br />
anwendbar, sie ist tiefste Philosophie, klarste Logik und Wissenschaft<br />
zugleich. Losgelöst vom Körperlichen und von Emotionen ist sie<br />
nicht so leicht unterrichtbar und auch nicht so wirksam wie ein „Angriff“<br />
auf allen drei Ebenen gleichzeitig. Deshalb ist eine Trennung von intellektueller,<br />
emotionaler und körperlicher Arbeit weniger effizient.“ 132<br />
Ebene 1:<br />
Körperliche<br />
Selbstverteidigung<br />
Abb.8: Die drei Ebenen des WingTsun 133<br />
5.4 Prinzipien und Kraftsätze<br />
WingTsun kennt vier Prinzipien, die die Basis für das gesamte <strong>Kampfkunst</strong>-<br />
System bilden. Sie durchziehen alle Ebenen des WingTsun. Ohne sie wäre<br />
das ganze System leer. Ergänzt werden sie durch die vier Kraftsätze, die im<br />
132 Ebd.<br />
133 Selbst erstellte Grafik des Autors<br />
Ebene 2:<br />
Strategie und<br />
Taktik<br />
Ebene 3:<br />
Selbstvervollkommnung<br />
79
Anschluss an die Prinzipien dargelegt werden. Im Folgenden werden die vier<br />
Prinzipien im Kontext <strong>der</strong> ersten körperlichen Ebene vorgestellt. 134<br />
5.4.1 Die vier Prinzipien<br />
1. Prinzip: Ist <strong>der</strong> Weg frei, stoß vor!<br />
Durch dieses Prinzip kann die WingTsun-Anwen<strong>der</strong>in bzw. <strong>der</strong> WingTsun-<br />
Anwen<strong>der</strong> direkt auf einen körperlichen Angriff reagieren. Auf das feindliche<br />
Überschreiten <strong>der</strong> Sicherheitsdistanz reagiert die WingTsun-Anwen<strong>der</strong>in<br />
bzw. <strong>der</strong> WingTsun-Anwen<strong>der</strong> oft mit <strong>der</strong> „Universallösung“, bei <strong>der</strong> die Art<br />
und Weise des Angriffs fast keine Rolle spielt. Die vor allem bei technisch<br />
noch nicht so Versierten bevorzugte Universallösung besteht im Wesentli-<br />
chen darin, dass die o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Verteidigende mit einem Fußtritt und einer Se-<br />
rie von Fauststößen nach vorne stürmt und damit den Angriff abwehrt. Die<br />
Universallösung hat für die Angreifenden einen Überraschungseffekt, <strong>der</strong> die<br />
Angreifenden schlagartig von <strong>der</strong> Angriffs- in die Verteidigerrolle zwingt. Der<br />
mit <strong>der</strong> Abwehr hergestellte Körperkontakt hat den Vorteil, auf weitere mög-<br />
liche Folgeangriffe taktil reagieren zu können, wodurch ein Schutz vor Täu-<br />
schungen gegeben ist. Der Begriff Universallösung meint damit aber nicht<br />
eine universale Lösung für alle Arten von Angriffen, son<strong>der</strong>n lediglich eine<br />
Strategie zur Abwehr von Angriffen, die vorerst nicht weiter differenziert wer-<br />
den muss.<br />
2. Prinzip: Ist <strong>der</strong> Weg nicht frei, bleib kleben!<br />
Wird die Verteidigungsaktion <strong>der</strong> WingTsun-Anwen<strong>der</strong>in bzw. des WingTsun-<br />
Anwen<strong>der</strong>s von <strong>der</strong> Angreiferin o<strong>der</strong> vom Angreifer behin<strong>der</strong>t, bleibt die<br />
WingTsun-Anwen<strong>der</strong>in bzw. <strong>der</strong> WingTsun-Anwen<strong>der</strong> an <strong>der</strong> gegnerischen<br />
Abwehr „kleben“. Das heißt, <strong>der</strong> körperliche Kontakt, <strong>der</strong> durch die Abwehr-<br />
handlung hergestellt ist, wird beibehalten, um die Kontrolle über Arme und<br />
Beine <strong>der</strong> Angreiferin bzw. des Angreifers zu haben und auf diese Weise<br />
neue Angriffspunkte für die WingTsun-Anwen<strong>der</strong>in bzw. für den WingTsun-<br />
134 Vgl. die offizielle Homepage EWTO Austria, o.J.<br />
80
Anwen<strong>der</strong> zu eröffnen. Im Gegensatz zum klassischen „Angriff-Abwehr-<br />
Konter-Spiel“, in dem die Kämpfenden – zum Teil in wechselnden Rollen –<br />
immer wie<strong>der</strong> Angriff und Abwehr aneinan<strong>der</strong>reihen, bleibt die WingTsun-<br />
Anwen<strong>der</strong>in bzw. <strong>der</strong> WingTsun-Anwen<strong>der</strong> an <strong>der</strong> Gegnerin bzw. am Geg-<br />
ner, um diese bzw. diesen durch Einschränkung <strong>der</strong> Bewegungsfähigkeit zu<br />
zermürben und kampfunfähig zu machen.<br />
3. Prinzip: Ist die Kraft des Gegners zu groß, gib nach!<br />
Wenn die Gegnerin bzw. <strong>der</strong> Gegner sich <strong>der</strong> Kontrolle bei bestehendem<br />
Körperkontakt entziehen will, indem sie o<strong>der</strong> er verstärkt Druck ausübt, gibt<br />
die WingTsun-Anwen<strong>der</strong>in bzw. <strong>der</strong> WingTsun-Anwen<strong>der</strong> weich nach. Der<br />
taktile Abwehrreflex bzw. <strong>der</strong> Chi-Sao Reflex 135 ist dabei durch den stärkeren<br />
o<strong>der</strong> schwächeren Druck <strong>der</strong> Gegnerin bzw. des Gegners bestimmt. Bei zu<br />
großem Druck wird die Angriffsenergie ins Leere geleitet. Das heißt, <strong>der</strong><br />
gegnerische Angriff läuft ins Leere.<br />
4. Prinzip: Zieht sich <strong>der</strong> Gegner zurück, folge!<br />
Das 4. Prinzip zielt darauf ab, <strong>der</strong> Gegnerin bzw. dem Gegner die <strong>Möglichkeit</strong><br />
zu nehmen, sich zurückzuziehen, um zu einem neuen Angriff auszuholen.<br />
Um dies zu erreichen, dringt die WingTsun-Anwen<strong>der</strong>in bzw. <strong>der</strong> WingTsun-<br />
Anwen<strong>der</strong> durch ständigen Vorwärtsdruck wie Wasser in jede Lücke des<br />
Gegners ein und verhin<strong>der</strong>t damit neue Angriffe. Das 4. Prinzip ist <strong>als</strong>o die<br />
Konsequenz des Vorwärtsdrucks des 1. Prinzips.<br />
Das Bewegungsrepertoire <strong>der</strong> WingTsun-Anwen<strong>der</strong> wird aus den WingTsun-<br />
Formen entnommen. Um die Fähigkeiten für das 2. und 3. Prinzip zu realisie-<br />
ren, wird das Chi-Sao-Training verwendet. Alle vier Prinzipien werden im<br />
sog. Lat-Sao 136 geübt. Dadurch wird ein freies Kampftraining zur Umsetzung<br />
aller Prinzipien ermöglicht. Durch die WingTsun-Prinzipien sind dem Bewe-<br />
gungsreichtum des WingTsun kaum Grenzen gesetzt. Fortgeschrittene<br />
WingTsun-Anwen<strong>der</strong>innen und WingTsun-Anwen<strong>der</strong> haben durch individuel-<br />
135 Vgl. Kapitel 5.3.1<br />
136 Lat-Sao aus dem Chinesischen = freie Hände.<br />
81
le Interpretation des WingTsun unzählige <strong>Möglichkeit</strong>en, sich selbst zu ver-<br />
wirklichen.<br />
5.4.2 Die vier Kraftsätze<br />
Abb.9: Die vier Prinzipien des WingTsun 137<br />
Der Umgang mit <strong>der</strong> körperlichen Kraft ist ganz grundlegend in WingTsun.<br />
Die Grundidee liegt darin, auf seine eigene Kraft zu verzichten und die Mus-<br />
keln zu entspannen. Weil Verkrampfungen die Bewegungsschnelligkeit be-<br />
hin<strong>der</strong>t und bremst, ist es für WingTsun-Praktizierende von großer Bedeu-<br />
tung, diese Form von Energieverschwendung zu verhin<strong>der</strong>n. Dadurch ent-<br />
steht durch eine neue „Körperansteuerung“ ein neues Körpergefühl. Die vier<br />
Kraftsätze sollen diesen Entwicklungsprozess unterstützen. 138<br />
137 Selbst erstellte Grafik des Autors<br />
138 Vgl. N.N. o.J.<br />
•Ist <strong>der</strong> Weg<br />
frei, stoß vor!<br />
•Zieht sich <strong>der</strong><br />
Gegner zurück,<br />
folge!<br />
1.<br />
Prinzip<br />
4.<br />
Prinzip<br />
2.<br />
Prinzip<br />
3.<br />
Prinzip<br />
•Ist <strong>der</strong> Weg<br />
nicht frei, bleib<br />
kleben!<br />
•Ist die Kraft<br />
des Gegners zu<br />
groß, gib nach!<br />
82
1. Befreie dich von deiner eigenen Kraft!<br />
Die Bewegungen und Techniken <strong>der</strong> WingTsun-Übenden sollen von unnöti-<br />
gem Krafteinsatz befreit werden. Das wird vor allem in <strong>der</strong> 1. Form des<br />
WingTsun, <strong>der</strong> sogenannten Siu-Nim-Tao-Form, geübt und praktiziert. Es<br />
sollen nur die Muskeln benutzt werden, die für die jeweilige Bewegung nötig<br />
sind, alle an<strong>der</strong>en sollen entspannt sein. Dadurch werden die Bewegungen<br />
freier.<br />
2. Befreie dich von <strong>der</strong> Kraft des Gegners!<br />
Wenn eine Angreiferin o<strong>der</strong> ein Angreifer Kraft auf WingTsun-Anwen<strong>der</strong>innen<br />
und WingTsun-Anwen<strong>der</strong> überträgt, sollen sich diese ohne viel Kraftaufwand<br />
befreien können. Dies wird vor allem durch das spezielle Gefühlstraining Chi-<br />
Sao erreicht. 139<br />
3. Nütze die Kraft des Gegners gegen ihn selbst!<br />
Dieser Kraftsatz stellt darauf ab, dass die gegnerische Angriffskraft für die<br />
WingTsun-Anwen<strong>der</strong>in bzw. den WingTsun-Anwen<strong>der</strong> nutzbar gemacht wird.<br />
Die ankommende Angriffskraft wir von <strong>der</strong> WingTsun-Anwen<strong>der</strong>in o<strong>der</strong> dem<br />
WingTsun-Anwen<strong>der</strong> absorbiert und gleichzeitig in einer Kontertechnik an die<br />
Gegnerin o<strong>der</strong> den Gegner zurückgegeben.<br />
4. Füge zur gegnerischen Kraft deine eigene hinzu!<br />
Mit diesem Kraftsatz kommt es zu einer Verstärkung <strong>der</strong> Kraft, indem zur<br />
gegnerischen Kraft, die durch WingTsun instrumentalisiert wird, noch die ei-<br />
gene gezielt hinzukommt.<br />
So einfach die Kraftsätze auf den ersten Blick wirken, so grundlegend sind<br />
sie für eine erfolgreiche Selbstverteidigung im Rahmen von WingTsun. Zu-<br />
sätzlich sind die Distanzen im Kampfgeschehen zu beachten. Die WingTsun-<br />
Prinzipien und die WingTsun-Kraftsätze können in je<strong>der</strong> Kampfdistanz um-<br />
gesetzt werden. Es werden fünf verschiedene Kampfdistanzen unterschie-<br />
139 Vgl. Kapitel 5.3.1<br />
83
den. Im Gegensatz zu vielen Kampfsportarten, die auf nur eine o<strong>der</strong> zwei<br />
Distanzen beschränkt sind, werden in WingTsun grundsätzlich alle Distanzen<br />
trainiert und praktiziert. Man unterscheidet Tritt-Distanz, Schlag-Distanz,<br />
Knie-Ellbogen-Distanz, Wurf-Distanz und Bodenkampf. Durch das Wing<br />
Tsun-Motto: „Weniger ist mehr!“ bietet diese <strong>Kampfkunst</strong> einfache und effek-<br />
tive Techniken und bleibt trotzdem in je<strong>der</strong> Situation flexibel.<br />
•Befreie dich von<br />
deiner eigenen<br />
Kraft!<br />
•Füge zur<br />
gegnerischen<br />
Kraft deine<br />
eigene hinzu!<br />
140 Selbst erstellte Grafik des Autors<br />
1.<br />
Kraftsatz<br />
4.<br />
Kraftsatz<br />
2.<br />
Kraftsatz<br />
3.<br />
Kraftsatz<br />
Abb.10: Die vier Kraftsätze von WingTsun 140<br />
•Befreie dich von<br />
<strong>der</strong> Kraft des<br />
Gegners!<br />
•Nütze die Kraft<br />
des Gegners<br />
gegen ihn selbst!<br />
84
6 Die praktische Umsetzung von WingTsun<br />
Nach <strong>der</strong> Darlegung von Entstehung, Wesen und Zielrichtung von WingTsun<br />
vor dem Hintergrund von Persönlichkeitsbildung und staatlichem Erziehungs-<br />
auftrag, Aggression und Gewalt sowie <strong>der</strong>en Prävention und Deeskalation<br />
wird WingTsun nun im Kontext <strong>der</strong> praktischen Umsetzung für Kin<strong>der</strong> darge-<br />
legt.<br />
6.1 Methodologische Überlegungen<br />
Die Themenwahl zur gegenständlichen Bachelorarbeit ist in <strong>der</strong> mittlerweile<br />
18-jährigen Erfahrung des Verfassers in <strong>der</strong> <strong>Kampfkunst</strong> und in einer acht-<br />
jährigen Praxis <strong>als</strong> Kin<strong>der</strong>trainer für WingTsun begründet. Die Erfahrung,<br />
dass <strong>Kampfkunst</strong> und Persönlichkeitsentwicklung in einem engen Zusam-<br />
menhang stehen, wird in dieser Arbeit ebenso thematisiert wie die theoreti-<br />
schen Grundlagen <strong>der</strong> <strong>Kampfkunst</strong> WingTsun und die pädagogischen Kon-<br />
texte, vor allem im Hinblick auf den Erziehungsauftrag <strong>der</strong> Schule und den<br />
Bereich von Aggression und Gewalt.<br />
Eine Durchsicht <strong>der</strong> Publikationen zu diesem Themenfeld führte zu keinem<br />
beson<strong>der</strong>s befriedigenden Ergebnis. We<strong>der</strong> gibt es einschlägige Literatur<br />
zum Erkenntnisinteresse dieser Arbeit, noch liegen diesbezüglich empirisch<br />
gesicherte Daten vor, die für diese Bachelorarbeit herangezogen werden<br />
könnten. Um empirische Daten zu erlangen, wäre aufgrund des Wesens <strong>der</strong><br />
Persönlichkeitsentwicklung und <strong>der</strong>en Einflüssen ein Forschungskonzept<br />
notwendig, das über einen Zeitraum von mindestens ein bis zwei Jahren an-<br />
gelegt ist. So ist zwar die Erfahrung des Verfassers <strong>der</strong> Ausgangspunkt die-<br />
ser wissenschaftlichen Arbeit, methodologisch ist es jedoch <strong>der</strong> hermeneuti-<br />
sche Ansatz, <strong>der</strong> am besten mit dem Erkenntnisinteresse, nämlich Kampf-<br />
kunst <strong>als</strong> <strong>Möglichkeit</strong> <strong>der</strong> <strong>Persönlichkeitsstärkung</strong> und Prävention und Dees-<br />
kalation von Gewalt im Kindesalter am Beispiel von WingTsun aufzuzeigen,<br />
korreliert.<br />
85
Hermeneutik ist die Lehre vom Verstehen und von Verstehensprozessen und<br />
meint im weiteren Sinn das „Verstehen von Sinnzusammenhängen in Le-<br />
bensäußerungen aller Art“ 141 . Auf Wilhelm Dilthey geht die Auffassung zu-<br />
rück, dass Hermeneutik darin besteht, einen Sinnzusammenhang aus einer<br />
Welt in eine an<strong>der</strong>e zu übertragen. 142 Zentral für den hermeneutischen An-<br />
satz ist <strong>als</strong>o <strong>der</strong> Sinn:<br />
„Hermeneutisches Denken bezieht sich auf Realität <strong>als</strong> menschlich gedeutete,<br />
auf sinnhafte, <strong>als</strong> Korrelat spezifisch menschlicher Lebenserfahrung<br />
angeeignete Wirklichkeit, und nur auf diese. Dadurch unterscheidet<br />
es sich vom naturalistischen Denken, das methodisch nicht vom Menschen,<br />
son<strong>der</strong>n von <strong>der</strong> Natur ausgeht.“ 143<br />
Von daher ist die hermeneutische Methode nicht so eindeutig, wie es man-<br />
che Naturwissenschaftlerinnen und Naturwissenschaftler o<strong>der</strong> Empirikerin-<br />
nen und Empiriker gerne hätten. Die Übertragung von einem Sinnverständnis<br />
auf das an<strong>der</strong>e und umgekehrt ist aber von fundamentaler erkenntnistheore-<br />
tischer Bedeutung, so auch für den Kontext dieser Arbeit, in dem das Sinn-<br />
verständnis <strong>der</strong> Welt des WingTsun mit dem Sinnverständnis <strong>der</strong> Welt des<br />
staatlichen Erziehungsauftrags zusammengeführt wird. Damit dies gelingen<br />
kann, ist ein gutes Verständnis bei<strong>der</strong> Bereiche unabdingbar.<br />
Als praktische Disziplin konstruiert Hermeneutik Regeln des Verstehens und<br />
<strong>der</strong> Verständigung, <strong>als</strong> philosophische Disziplin entwirft sie eine Theorie des<br />
Verstehens und <strong>der</strong> Verständigung, sie tritt aber auch <strong>als</strong> Brückenbauerin im<br />
interdisziplinären und interkulturellen Dialog in Erscheinung, vor allem im<br />
Hinblick auf Konflikte, Versöhnungsprozesse und Verständigungsbemühun-<br />
gen. 144 Gerade in dieser letztgenannten Funktion hat sich <strong>der</strong> hermeneuti-<br />
sche Ansatz <strong>als</strong> ideal geeignet für den interdisziplinären Bereich von Kampf-<br />
kunst und Pädagogik in dieser Arbeit erwiesen.<br />
141 BROC<strong>KHA</strong>US 1989, Bd. 9, S. 709<br />
142 Vgl. HARTENSTEIN 2004, S. 4<br />
143 JUNG 2001, S. 23<br />
144 Vgl. SEDMAK 2003, S. 97<br />
86
6.2 Allgemeine und spezielle Programminhalte<br />
Das WingTsun-Programm für Kin<strong>der</strong> besteht zunächst aus zwölf Schülergra-<br />
den, die wie<strong>der</strong>um in Grundstufe, Mittelstufe und Oberstufe mit jeweils vier<br />
Graden unterteilt sind. Prüfungen für einen Grad sind nach rund fünf bis<br />
sechs Monaten bei einem Trainingspensum von mindestens einmal in <strong>der</strong><br />
Woche möglich. Jedes Schülerprogramm hat eigene Programmziele: vor al-<br />
lem werden Fähigkeiten vermittelt, um bedrohliche Situationen registrieren<br />
und beschreiben und diesen entsprechend begegnen zu können. Theoreti-<br />
sche Grundlagen, z.B. in Bezug auf Stress, Angst o<strong>der</strong> Konflikte unterschied-<br />
licher Art, werden ebenso vermittelt wie Grundtechniken und fortgeschrittene<br />
Techniken in <strong>der</strong> Selbstverteidigung. Auch Gefühlsschulung, Lat-Sao 145 ,<br />
Schlag- und Trittkraft und körperliche Kondition stehen im Dienst von<br />
Selbstverteidigung, Gewaltprävention und Gewaltdeeskalation. Rollenspiele<br />
haben eine zentrale Stellung im Programm, um auf das richtige Verhalten in<br />
Konfliktsituationen vorzubereiten. Auch Höflichkeit und korrektes Verhalten<br />
sind pädagogische Ziele von WingTsun.<br />
Spezielle Programminhalte – im Gegensatz zu den allgemeinen Program-<br />
minhalten – reichen von <strong>der</strong> Besprechung eigener Konflikterfahrungen und<br />
<strong>der</strong> Erarbeitung von Lösungsvorschlägen durch die Kin<strong>der</strong> selbst bis hin zum<br />
richtigen Verhalten bei Verletzungen. Ein Motto des Monats gibt jeweils ein<br />
Rahmenthema vor, das in den Trainingseinheiten behandelt wird. Damit die-<br />
se Programminhalte erfolgreich umgesetzt werden können, sind von den<br />
Kin<strong>der</strong>n folgende Regeln im Unterricht zu beachten:<br />
� Wer sich zu Wort meldet, tut dies klar und deutlich.<br />
� Den Sprechenden wird aufmerksam zugehört.<br />
� Absichtliches Ärgern hat im Training nichts zu suchen.<br />
� Trainingsgeräte dürfen nur unter Anleitung verwendet werden.<br />
� Jedes Kind geht so mit den an<strong>der</strong>en um, wie es dies auch für sich selber<br />
erwartet. (Goldene Regel)<br />
145 Vgl. Fußnote 136<br />
87
6.3 Praktischer Unterrichtsaufbau<br />
Die „Kids-WT Gruppe“, wie sie in WingTsun offiziell genannt wird, soll pro<br />
Lehrerin bzw. Lehrer nicht mehr <strong>als</strong> zehn Personen umfassen, da sonst die<br />
Vermittlung <strong>der</strong> Programminhalte nicht gewährleistet ist. Übersteigt die<br />
Gruppengröße die Anzahl von zehn Kin<strong>der</strong>n, wird eine weitere Lehrperson<br />
hinzugezogen. Das Alter <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> liegt zwischen sechs und zwölf Jahren,<br />
die Trainingsdauer beträgt 60 bis 90 Minuten. Trainiert wird in <strong>der</strong> Regel am<br />
späten Nachmittag, damit die Kin<strong>der</strong> vor 18 Uhr zu Hause sein können. Die<br />
folgenden Unterrichtselemente werden im Überblick dargestellt und sollen in<br />
<strong>der</strong> Summe einen Einblick in die konkrete Unterrichtsarbeit ermöglichen. Die<br />
meisten Elemente können flexibel miteinan<strong>der</strong> ausgetauscht werden, je nach<br />
Schwerpunktsetzung in <strong>der</strong> jeweiligen Gruppe.<br />
6.3.1 Unterrichtselemente<br />
Die Siu-Nim-Tau-Form<br />
Nach <strong>der</strong> Begrüßung am Beginn eines jeden Trainigs starten die Kin<strong>der</strong> mit<br />
<strong>der</strong> „Siu-Nim-Tau“-Form, was übersetzt „Die kleine Idee“-Form heißt und die<br />
erste Form im WingTsun-System ist. Sie soll die Lernenden die Grundbewe-<br />
gungen des WingTsun-Systems üben lassen, die sie später in den Anwen-<br />
dungen brauchen. Die Entspannung <strong>der</strong> Muskulatur, entsprechend dem 1.<br />
Kraftsatz, die richtige Atmung, ein stabiler Stand und die richtige Ausführung<br />
<strong>der</strong> Bewegungen liegen im Fokus <strong>der</strong> Siu-Nim-Tau-Form. Dabei lernen die<br />
Schülerinnen und Schüler keineswegs alle Elemente auf einmal, vielmehr<br />
werden sie systematisch von Schülergrad zu Schülergrad 146 aufbauend ver-<br />
mittelt. Die Siu-Nim-Tau-Form besteht aus acht Bewegungssätzen, die vom<br />
ersten bis zum achten Schülergrad vermittelt werden.<br />
146 „Schülergrad“ ist in WingTsun ein terminus technicus und wird nicht gegen<strong>der</strong>t.<br />
88
Grundtechniken<br />
Anschließend an die Siu-Nim-Tau-Form werden Grundtechniken geübt. Die-<br />
se sind von großer Bedeutung, da die Lernenden eine gute Basis brauchen.<br />
Auf dieser Basis erfolgt im Baukastensystem die Vermittlung höherer Tech-<br />
niken. Im Rahmen <strong>der</strong> Grundtechniken werden vor allem <strong>der</strong> Vorwärtsschritt,<br />
<strong>der</strong> gerade Fauststoß, Vorwärtsschritt mit Fauststoß, Kettenfauststöße, Vor-<br />
wärtsschritte mit Kettenfauststößen und die für das Ausweichen grundlegen-<br />
de aktive Wendung vermittelt.<br />
BlitzDefence<br />
„BlitzDefence“ ist ein von Großmeister Keith R. Kernspecht eigens entwickel-<br />
tes Programm, um gefährliche Situationen zu vermeiden und sich gegen An-<br />
greiferinnen und Angreifer in verschiedensten Situationen möglichst gewalt-<br />
frei wehren zu können. 147 BlitzDefence ist die Antwort auf das geän<strong>der</strong>te Ri-<br />
tualkampfverhalten unserer Zeit, in <strong>der</strong> es keine klassischen Kampfduelle<br />
mehr gibt, son<strong>der</strong>n aggressionsgeladene und Gewalt provozierende Situatio-<br />
nen, sei es in einer Bar, in einer Disco o<strong>der</strong> einfach auf <strong>der</strong> Straße. Vor allem<br />
unter Personen männlichen Geschlechts verlaufen diese Auseinan<strong>der</strong>set-<br />
zungen nach einem bestimmten Schema ab, weswegen von Ritualkampfver-<br />
halten gesprochen wird. BlitzDefence ist darauf ausgerichtet, diesen mo<strong>der</strong>-<br />
nen Ritualkampf in seinem Wesen und in seinen Abläufen zu durchschauen<br />
und <strong>der</strong> jeweiligen Phase entsprechend zu reagieren. Daher beinhaltet Bltz-<br />
Defence zuerst verbale und nonverbale Versuche, die aggressionsgeladene<br />
Situation zu deeskalieren. Dadurch soll die Angreiferin bzw. <strong>der</strong> Angreifer<br />
beruhigt werden. Nur, wenn diese Deeskalationsversuche nicht von Erfolg<br />
gekrönt sind und die körperliche Auseinan<strong>der</strong>setzung nicht mehr abwendbar<br />
ist, werden gezielt Kampftechniken angewendet, um sich gegen die o<strong>der</strong> den<br />
Angreifenden erfolgreich zu verteidigen. Die Kampftechniken in BlitzDefence<br />
147 Vgl. KERNSPECHT 2000, S. 31-44.<br />
89
sind dabei so konzipiert auf aufgebaut, dass sie dem strafrechtlichen Not-<br />
wehrbegriff zu subsumieren sind. 148<br />
Kin<strong>der</strong> lernen in BlitzDefence, in einer Gefahrensituation zuerst die Hände<br />
schützend vor dem Körper zu halten und gleichzeitig, die Situation verbal zu<br />
deeskalieren. Sie werden in die Lage versetzt, Grenzen wahrzunehmen, zu<br />
erkennen und zu setzen. Erst bei Verletzung <strong>der</strong>selben sollen sie die ihnen<br />
vermittelten Verteidigungstechniken einsetzen.<br />
Spezielle Übungen<br />
Fühlen und Balance sind von zentraler Bedeutung in <strong>der</strong> Kategorie „spezielle<br />
Übungen“. Durch Körperschulungsspiele sollen die aktive Gewichtsverlage-<br />
rung und die damit verbundene Wendung des Körpers geübt werden. Bei <strong>der</strong><br />
Übung des Schulterdrückens soll das Kind auch bei geschlossenen Augen<br />
die Balance beibehalten. Zur weiteren Schulung des Gleichgewichts wird <strong>der</strong><br />
Stand auf einem Bein mit und ohne Festhalten an einem Gegenstand geübt.<br />
Motorik- und Kräftigungsübungen sind ebenso Teil dieser Kategorie wie z.B.<br />
Kniebeugen mit gleichzeitigem Tritt und Fauststoß. Um die Muskulatur zu<br />
kräftigen und die motorische Geschicklichkeit zu för<strong>der</strong>n, werden in <strong>der</strong> Lie-<br />
gestützposition Arme und Beine abwechselnd und gleichzeitig, parallel o<strong>der</strong><br />
diagonal, in die Höhe gebracht.<br />
Selbstverteidigungsanwendungen<br />
Selbstverteidigungstechniken werden verwendet, wenn die Gegnerin o<strong>der</strong><br />
<strong>der</strong> Gegner die Intimdistanz überschritten hat, die Verteidigerin o<strong>der</strong> den<br />
Verteidiger körperlich bedrängt o<strong>der</strong> schon eine Attacke ausführt. In jedem<br />
Schülergrad des WingTsun-Unterrichtsprogramms kommen neue Selbstver-<br />
teidigungstechniken hinzu. In den ersten Programmen lernen die Kin<strong>der</strong><br />
Selbstverteidigungstechniken gegen folgende Angriffssituationen:<br />
148 § 3 Abs 1 StGB: Nicht rechtswidrig handelt, wer sich nur <strong>der</strong> Verteidigung bedient, die<br />
notwendig ist, um einen gegenwärtigen o<strong>der</strong> unmittelbar drohenden rechtswidrigen Angriff<br />
auf Leben, Gesundheit, körperliche Unversehrtheit, Freiheit o<strong>der</strong> Vermögen von sich o<strong>der</strong><br />
einem an<strong>der</strong>en abzuwehren. Die Handlung ist jedoch nicht gerechtfertigt, wenn es offensichtlich<br />
ist, daß dem Angegriffenen bloß ein geringer Nachteil droht und die Verteidigung,<br />
insbeson<strong>der</strong>e wegen <strong>der</strong> Schwere <strong>der</strong> zur Abwehr nötigen Beeinträchtigung des Angreifers,<br />
unangemessen ist.<br />
90
� Gegnerin o<strong>der</strong> Gegner greift die Schulter parallel, diagonal o<strong>der</strong> gleichzei-<br />
tig und zieht das Kind nach hinten.<br />
� Gegnerin o<strong>der</strong> Gegner umklammert Kind von vorne, von <strong>der</strong> Seite o<strong>der</strong><br />
nimmt es am Arm.<br />
� Gegnerin o<strong>der</strong> Gegner würgt das Kind von vorne, von hinten, von <strong>der</strong> Sei-<br />
te mit einer o<strong>der</strong> beiden Händen.<br />
� Das Kind wird am H<strong>als</strong> gegen eine Wand gedrückt o<strong>der</strong> geschoben.<br />
� Gegnerin o<strong>der</strong> Gegner zieht das Kind an den Haaren.<br />
� Gegnerin o<strong>der</strong> Gegner hält das Handgelenk o<strong>der</strong> die Handgelenke des<br />
Kindes fest.<br />
� Das Kind wird im Schwitzkasten gehalten.<br />
� Das Kind wird von einem Fremden am Arm o<strong>der</strong> an Kleidungsstücken<br />
festgehalten.<br />
Diese Auflistung stellt nur einen Teil <strong>der</strong> Situationen dar, zu <strong>der</strong>en Lösung<br />
Selbstverteidigungstechniken angeboten werden. Sie zeigt aber anschaulich<br />
die Vielfalt <strong>der</strong> Angriffe, die von einer Gegnerin o<strong>der</strong> einem Gegner ausge-<br />
führt werden können, ohne dass diese o<strong>der</strong> dieser Tritte o<strong>der</strong> Schläge ver-<br />
wendet.<br />
Gewaltprävention und Rollenspiele<br />
Rollenspiele sind ein wichtiger Teil im WingTsun-Ausbildungsprogramm für<br />
Kin<strong>der</strong>. Anhand dieser lernen Kin<strong>der</strong>, mit unangenehmen Situationen besser<br />
zurecht zu kommen. Vor allem können sie Schritt für Schritt die Phasen des<br />
Ritualkampfes üben, um potentielle Gefahrensituationen zu deeskalieren<br />
und, falls nötig, entsprechende Verteidigungsaktionen zu setzen. Zur Veran-<br />
schaulichung ein Beispiel für ein Rollenspiel: Ein Kind o<strong>der</strong> Jugendlicher sitzt<br />
im Schulbus und wird durch ein an<strong>der</strong>es Kind beim Lesen gestört. In diesem<br />
Rollenspiel wird geübt, die Situation zu benennen und auszusprechen, was<br />
es will. „Hör auf, mich zu schubsen!“ in normaler Lautstärke ist <strong>der</strong> erste<br />
Schritt zur Deeskalation. Wenn dies nicht reicht, wird die Lautstärke gestei-<br />
gert und das Umfeld auf die Situation aufmerksam gemacht. Wenn das auch<br />
nicht ausreicht, um das störende Kind von seinem Verhalten abzubringen,<br />
wird die Auffor<strong>der</strong>ung, vom Stören abzulassen, noch lauter gesprochen und<br />
91
mit entsprechen<strong>der</strong> Gestik verbunden. Erst dann, wenn alle Versuche fehl-<br />
geschlagen sind, wird eine körperliche Verteidigungstechnik eingesetzt.<br />
Weitere Situationen für Rollenspiele:<br />
� Ein Kind drängelt sich vor (z. B.: Eisstand, Schwimmbad).<br />
� Ein Erwachsener drängelt sich im Geschäft vor.<br />
� Ein Kind versperrt mit seiner Hand einen Durchgang.<br />
� Zwei Kin<strong>der</strong> for<strong>der</strong>n Geld o<strong>der</strong> bedrohen ein Kind.<br />
� Jugendliche bedrohen ein Kind mit Zigarette o<strong>der</strong> Feuerzeug.<br />
� Ein Kind hat eine Tasche in <strong>der</strong> Hand und wird von einem an<strong>der</strong>en Kind<br />
bedroht.<br />
� Ein Erwachsener spricht ein Kind aus dem Auto an.<br />
� Ein Erwachsener fragt ein Kind nach dem Weg.<br />
� Ein Kind wird im fahrenden PKW von <strong>der</strong> Fahrerin o<strong>der</strong> dem Fahrer be-<br />
lästigt.<br />
� Kin<strong>der</strong> wollen ein Kind in eine Toilette einsperren.<br />
� Kin<strong>der</strong> werden im Klassenzimmer gehänselt.<br />
� Ein Kind, das allein zu Hause ist, wird von Fremden angerufen.<br />
� Ein Frem<strong>der</strong> steht an <strong>der</strong> Wohnungs- o<strong>der</strong> Haustüre.<br />
� Mehrere Kin<strong>der</strong> bedrängen ein Kind.<br />
Die Gefährlichkeit <strong>der</strong> aufgelisteten Beispiele ist sehr unterschiedlich. Aber<br />
die richtige Einschätzung <strong>der</strong> jeweiligen potentiellen Gefahrensituation ist in<br />
allen Beispielen von großer Bedeutung. Alle diese Situationen werden im<br />
Rollenspiel durchgeübt und sind daher ein ganz wesentlicher Teil, um erfolg-<br />
reich Gewaltprävention und Gewaltdeeskalation zu betreiben. Ohne Training<br />
dieser Art sind Kin<strong>der</strong> vielfach überfor<strong>der</strong>t und können Gefahrensituationen<br />
nicht so gut einschätzen. Auch mit Konfliktsituationen, die nicht in Rollenspie-<br />
len geübt worden sind, lernen Kin<strong>der</strong> durch die geübten Beispiele angemes-<br />
sen umzugehen.<br />
92
Schlag-, Tritt- und Fitnesstraining<br />
Schlag-, Tritt- und Fitnesstraining ergänzen die verschiedenen Elemente im<br />
praktischen WingTsun-Unterricht auf allen Ebenen. Dieses Training begleitet<br />
die Kin<strong>der</strong> von Anfang an und führt dazu, dass die Selbstverteidigungstech-<br />
niken effektiv beherrscht und angewendet werden. Natürlich werden Schlag-<br />
und Tritttraining nicht an den an<strong>der</strong>en Kin<strong>der</strong>n erprobt, son<strong>der</strong>n an soge-<br />
nannten Wandsäcken o<strong>der</strong> Schlagpolstern. Wesentlich in diesem Kontext ist<br />
<strong>der</strong> Umgang mit <strong>der</strong> Schlaghemmung, sodass Kin<strong>der</strong> lernen, ihre erlernten<br />
Techniken tatsächlich nur im Notfall einzusetzen. Es wäre aber ein Trug-<br />
schluss, die Bedeutung von WingTsun ausschließlich auf gewaltbesetzte Ge-<br />
fahrensituationen zu reduzieren. Vielmehr führt das Wissen darum, sich in<br />
solchen Notsituationen effektvoll verteidigen zu können, zu einer Stärkung<br />
des Selbstbewusstseins, das in allen Situationen des Alltags, <strong>als</strong>o auch in<br />
Situationen, die nicht mit Aggression und Gewalt in Verbindung stehen,<br />
spürbar wird.<br />
6.3.2 Eigene Erfahrungen<br />
Wie im Vorwort und in den methodologischen Überlegungen angeführt, steht<br />
diese Arbeit in enger Verbindung mit den persönlichen Erfahrungen des Ver-<br />
fassers <strong>als</strong> WingTsun-Lehrer. Immer wie<strong>der</strong> sind eingeschüchterte, gehän-<br />
selte und gemobbte Kin<strong>der</strong> ins Training gekommen und nach einer bestimm-<br />
ten Zeit körperlich und mental gestärkt wie<strong>der</strong> gegangen. Die geistige Hal-<br />
tung und das Knowhow <strong>der</strong> <strong>Kampfkunst</strong> führten und führen regelmäßig zu<br />
deutlich sichtbaren Verbesserungen im Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen<br />
<strong>der</strong> Kin<strong>der</strong>. Durch die in den WingTsun-Kursen erworbene Fähigkeit, Gefah-<br />
rensituationen zu erkennen und zu durchschauen, überwinden sie ihre Hilflo-<br />
sigkeit, weil sie in <strong>der</strong> Lage sind, mit den angesprochenen gefährlichen Situa-<br />
tionen umzugehen. Dieses Bewusstsein stärkt die Persönlichkeit <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong><br />
auf Dauer. Es ist aber nicht nur die geistige Fähigkeit, die die Kin<strong>der</strong> stark<br />
machen, son<strong>der</strong>n auch die <strong>Möglichkeit</strong>, körperlich mit <strong>der</strong> Situation fertig zu<br />
werden. Für den Autor war es faszinierend zu sehen, wie sehr sich das Ver-<br />
93
halten und das äußere Auftreten <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> dadurch positiv verän<strong>der</strong>t hat. In<br />
keinem Fall wurde durch die gewonnene Überlegenheit eine unangebrachte<br />
Überheblichkeit ausgelöst. Das Aussteigen aus <strong>der</strong> Opferrolle führte zu ei-<br />
nem neuen Selbstvertrauen, das sich auch in einer Stärkung <strong>der</strong> Zivilcourage<br />
zeigte.<br />
94
7 WingTsun <strong>als</strong> geeigneter Weg zur Persönlichkeitsbildung<br />
und -stärkung im Dienst des Art 14 Abs 5a B-VG<br />
Die Verfassungsnorm des Art 14 Abs 5a B-VG 149 normiert u.a., in partner-<br />
schaftlichem Zusammenwirken von Schülern, Eltern und Lehrern den „Kin-<br />
<strong>der</strong>n und Jugendlichen die bestmögliche geistige, seelische und körperliche<br />
Entwicklung zu ermöglichen“. Das entspricht einerseits einer langen österrei-<br />
chischen Tradition, wie sie vor 50 Jahren im § 2 Abs 1 SchOG 150 , dem soge-<br />
nannten Zielparagraphen, ihren Nie<strong>der</strong>schlag gefunden hat, aber auch <strong>der</strong><br />
alten chinesischen Tradition des WingTsun, wie sie in dieser Arbeit dargelegt<br />
wurde. Auch hier ist die bestmögliche geistige, seelische und körperliche<br />
Entwicklung ein zentrales Anliegen, wie die drei Ebenen des WingTsun zei-<br />
gen. Der österreichische Verfassungsgesetzgeber will, dass durch die Erzie-<br />
hung Kin<strong>der</strong> und Jugendliche „zu gesunden, selbstbewussten, glücklichen,<br />
leistungsorientierten, pflichttreuen, musischen und kreativen Menschen wer-<br />
den“. Unter Berücksichtigung <strong>der</strong> Individualität <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> und Jugendlichen,<br />
ihrer Entwicklung und ihres Bildungsstandes, sollen sie „an den sozialen,<br />
religiösen und moralischen Werten orientiert“, Verantwortung übernehmen:<br />
für sich selbst, Mitmenschen, Umwelt und spätere Generationen. 151 Auch in<br />
Bezug auf diese Zielrichtung ist ein Vergleich mit WingTsun möglich und an-<br />
gebracht. Zwar ist die Erziehung zu leistungsorientierten Menschen ein ty-<br />
pisch europäisches Element, das sich aber auch in an<strong>der</strong>en Kontinenten und<br />
Kulturen, durchaus auch in Asien, findet. In WingTsun steht die Erziehung zu<br />
gesunden, selbstbewussten, glücklichen, loyalen und kreativen Menschen<br />
ebenso an vor<strong>der</strong>ster Stelle. Leistungsverbissenheit im Sinn des mo<strong>der</strong>nen<br />
wirtschaftlich-produktiven Leistungsdenkens findet sich in dieser asiatischen<br />
Tradition aber nicht. Hingegen könnte <strong>der</strong> Aspekt <strong>der</strong> Verantwortung dem<br />
philosophischen Überbau von WingTsun entnommen worden sein. Die Er-<br />
ziehungsziele des Art 14 Abs 5a B-VG 152 , nämlich Verantwortung, selbst-<br />
ständiges Urteilsvermögen, soziales Verständnis, Aufgeschlossenheit ge-<br />
149 Vgl. den Gesetzeswortlaut in Kapitel 3.2<br />
150 Vgl. den Gesetzeswortlaut ebd.<br />
151 Vgl. Art 14 Abs 5a B-VG<br />
152 Vgl. Abb.2<br />
95
genüber an<strong>der</strong>s Denkenden, Freiheits- und Friedensliebe sowie die Fähigkeit<br />
zur Teilnahme an Kultur und Wirtschaft, setzen eine reife Persönlichkeit vo-<br />
raus, die die österreichische Schule hervorbringen soll. Diese Elemente kor-<br />
relieren wie<strong>der</strong>um stark mit den philosophischen Grundlagen von WingTsun.<br />
Jedoch nicht in <strong>der</strong> Art und Weise einer Auflistung von Erziehungszielen, die<br />
erreicht und verwirklicht werden sollen, son<strong>der</strong>n über eine Persönlichkeitsbil-<br />
dung und <strong>Persönlichkeitsstärkung</strong> über die drei Ebenen von WingTsun, von<br />
<strong>der</strong> körperlichen über die soziale Ebene hin zur Selbstvervollkommnung. 153<br />
153 Vgl. Kapitel 5.3<br />
96
8 Schlusswort<br />
Ausgehend von den Erfahrungen und Beobachtungen des Autors im Wing<br />
Tsun-Unterricht, vor allem für Kin<strong>der</strong>, wurde in dieser Arbeit <strong>der</strong> Aspekt <strong>der</strong><br />
Persönlichkeitsbildung und <strong>Persönlichkeitsstärkung</strong> durch WingTsun unter-<br />
sucht und in den Kontext von Pädagogik und Schule gestellt. Zu diesem<br />
Zweck wurden das Verhältnis von Persönlichkeit und Bildung und <strong>der</strong> staatli-<br />
che Erziehungsauftrag ebenso erörtert, wie die wichtigen Erkenntnisse <strong>der</strong><br />
kognitiven und moralischen Entwicklungsstufen des Menschen und die medi-<br />
zinische und psychologische Perspektive <strong>der</strong> Stressbewältigung dargelegt<br />
wurden. Durch dieses Setting wurde <strong>der</strong> Thematik ein Rahmen gegeben, <strong>der</strong><br />
mehrere Disziplinen umfasst. Damit wurde WingTsun <strong>als</strong> aus China stam-<br />
mende <strong>Kampfkunst</strong> nicht <strong>als</strong> fernes o<strong>der</strong> gar exotisches Thema abgehandelt,<br />
son<strong>der</strong>n <strong>als</strong> reale <strong>Möglichkeit</strong> konkreter <strong>Persönlichkeitsstärkung</strong> im Sinne<br />
des verfassungsrechtlichen Erziehungsauftrags und <strong>der</strong> österreichischen<br />
Schule. Voraussetzung dazu war die Darlegung und Vertiefung von Aggres-<br />
sion und Gewalt sowie ihrer Erklärungsmodelle und <strong>der</strong> <strong>Möglichkeit</strong>en von<br />
Prävention und Deeskalation. Aktuelle Gewaltpräventionsprogramme, die in<br />
Österreich und Deutschland mit mehr o<strong>der</strong> weniger Erfolg weit verbreitet<br />
sind, wurden <strong>der</strong> Darlegung <strong>der</strong> <strong>Kampfkunst</strong> WingTsun vorangestellt, um<br />
Vergleichsmöglichkeiten zu bieten und zugleich die beson<strong>der</strong>en Stärken von<br />
WingTsun aufzuzeigen. Wesentlich im Kontext <strong>der</strong> Bachelorarbeit ist <strong>der</strong> phi-<br />
losophische und historische Hintergrund, um einem allfälligen Missverständ-<br />
nis von WingTsun <strong>als</strong> einer bloßen Kampftechnik vorzubeugen. Sowohl die<br />
praktische Umsetzung von WingTsun im Unterricht <strong>als</strong> auch die Gegenüber-<br />
stellung <strong>der</strong> erzieherischen Anliegen in <strong>der</strong> WingTsun-Tradition einerseits<br />
und in <strong>der</strong> österreichischen Tradition an<strong>der</strong>erseits haben aufgezeigt, dass<br />
sich WingTsun auch im österreichischen Kontext zur <strong>Persönlichkeitsstärkung</strong><br />
eignet und damit im Dienst des Erziehungsauftrags stehen kann.<br />
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