Anthroposophie
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In diesem Zusammenhang entfaltet Steiner seine Begründung für das Nicht- Schauen-Können: "Sehen Sie, Sie alle waren einmal hellsehend in uralten Zeiten. Denn alle Menschen waren hellsehend, und zwar gab es Zeiten, in denen die Menschen zurückgesehen haben weit, weit in der Zeitenwende. Und nun können Sie fragen: Ja, warum erinnern wir uns nicht an unsere früheren Inkarnationen, wenn wir doch schon in der Zeitenwende rückwärtsschauen konnten?... Die Frage ist außerordentlich wichtig. Es erinnern sich so viele nicht an ihre früheren Inkarnationen, obwohl sie in höherem oder geringerem Maße hellsichtig waren in früheren Zeiten, weil sie damals nicht ausgebildet hatten diejenigen Fähigkeiten, die gerade die Fähigkeiten des Selbstes, des Ichs sind" (117,78f). Betrachten wir diese Argumentation genauer: Steiner stellt fest, daß viele trotz "inbrünstiger Sehnsucht" nicht in der Lage sind, hellseherische Schauungen zu erlangen. Der Grund hierfür wird in der Vergangenheit gesehen: Sie haben "die Fähigkeiten des Selbstes, des Ichs" nicht ausgebildet (wir treffen hier auf die Steinerschen Lehren von den verschiedenen Leibern und der Reinkarnation; s. I. A.2.2). Diese Argumentation dreht sich im Kreis. Die Steinerschen Lehren von der Reinkarnation und den verschiedenen Leibern werden benutzt, um den Steinerschen Erkenntnisweg zu stützen. Diese Lehren ihrerseits aber wurden auf dem Erkenntnisweg gewonnen. Der Erkenntnisweg liefert die Weltanschauung, die Weltanschauung stützt den Erkenntnisweg. Die Steinersche Argumentation ist ein Zirkelschluß, und sie ist systemimmanent. Sie ist nur innerhalb des anthroposophischen Systems logisch, außerhalb nicht. Wir verstehen nun, warum sich Steiner gegen eine kritischdistanzierte Beurteilung seines Systems von außen wehrt: "Wer diesen Weg [sc. den Erkenntnisweg] wirklich durchschreitet, hat auch schon das Beweisende erlebt; es kann nichts durch einen von außen hinzugefügten Beweis geleistet werden" (601,32f; HddV). Das doppelte Problem, welches sich stellt, ist aber, daß nicht nur die Beurteilung von außen versagt, sondern daß auch keiner (außer Steiner selber) den Erkenntnisweg bis zum Ende durchschritten hat, so daß der Beweis für die Richtigkeit seiner Schauungen bis heute aussteht. Wie verhält es sich nun mit der "gesunden Urteilskraft", dem "Denken" oder der "Vernunft", deren Gebrauch Steiner immer wieder fordert? Auch sie werden systemimmanent gebraucht. Ihre Anwendung beschränkt sich darauf, die von Steiner mitgeteilten Schauungen zu verstehen und zu prüfen, ob die eigenen Erkenntnisse damit übereinstimmen. Steiner schreibt: "Man kann ohne [sc. anthroposophische] Schulung nicht in der höheren Welt forschen; man kann darin nicht selbst Beobachtungen machen; aber man kann ohne die höhere Schulung alles verstehen, was die Forscher aus derselben mitteilen ... Dadurch, daß man sich unablässig zum Eigentum macht, was die Geistesforschung sagt, 68
gewöhnt man sich an ein Denken, das nicht aus den sinnlichen Beobachtungen schöpft" (601,252f; HddV). Und an anderer Stelle: "Was mitgeteilt wird auf rechtmäßige Weise, das kann - und das ist ja oft gesagt worden - erforscht werden nur durch das hellseherische Bewußtsein. Ist es aber, und meinetwillen auch nur von einem einzigen, erforscht, ist es einmal geschaut und wird es mitgeteilt, dann kann es jeder einsehen durch seine unbefangene Vernunft" (117,74; HddV). Wie wir gesehen haben, ist es in der Tat nur ein einziger, der angeblich alle Stufen des Erkenntnisweges erstiegen und die "höheren Welten" erforscht hat: Rudolf Steiner selber. Seine Erkenntnisse gelten als normativ. An sie hat sich das Denken zu "gewöhnen", indem es sich "unablässig zum Eigentum macht, was die Geistesforschung sagt". Hier wird der (auto)suggestive Charakter der anthroposophischen Schauungen besonders deutlich. Nun bleibt die Frage: Sind nicht die von Steiner häufig gebrauchten Analogien zwischen sinnlicher und übersinnlicher Welt ein Beweis für die Existenz der letzteren? Keinesfalls, denn Steiner gebraucht fast durchweg die "analogia proportionalitatis", die nicht ein Verhältnis zwischen zwei Dingen, sondern "ein Verhältnis zwischen zwei Verhältnissen" 15 als analog bezeichnet: a:b = c:d Die Paare links und rechts vom Gleichheitszeichen haben keinen inhaltlichen Berührungspunkt, sondern nur eine formale Entsprechung, so daß aus der Existenz von a und b (hier: sinnliche Welt) die Existenz von c und d (hier: übersinnliche Welt) keineswegs zwingend folgen muß. Auf diesen Sachverhalt macht der Systematiker und Philosoph Eberhard Jüngel aufmerksam. Er schreibt, daß "die Proportionalitätsanalogie von den Proportionen selber nichts fordert als ihre Entsprechung" und daß sie "die schlechthinnige Verschiedenheit der Größen wahrt, die in Beziehung gesetzt werden" 16 . Zwei Beispiele bei Steiner: "Wie nun der physische Leib in die physische Welt eingebettet ist, zu der er gehört, so ist der Astralleib zu der seinigen gehörig" (601,66). Physischer Leib: physische Welt = Astralleib: Astralwelt "Wie dem physischen Leibe zum Beispiel die Nahrungsmittel aus seiner Umgebung zukommen, so kommen dem Astralleib während des Schlafzustandes die Bilder der ihn umgebenden Welt zu" (ebd; HiO). Physischer Leib : Nahrung = Astralleib : Bilder 69
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In diesem Zusammenhang entfaltet Steiner seine Begründung für das Nicht-<br />
Schauen-Können:<br />
"Sehen Sie, Sie alle waren einmal hellsehend in uralten Zeiten. Denn alle Menschen<br />
waren hellsehend, und zwar gab es Zeiten, in denen die Menschen zurückgesehen<br />
haben weit, weit in der Zeitenwende. Und nun können Sie fragen: Ja, warum erinnern<br />
wir uns nicht an unsere früheren Inkarnationen, wenn wir doch schon in der Zeitenwende<br />
rückwärtsschauen konnten?... Die Frage ist außerordentlich wichtig. Es erinnern<br />
sich so viele nicht an ihre früheren Inkarnationen, obwohl sie in höherem oder<br />
geringerem Maße hellsichtig waren in früheren Zeiten, weil sie damals nicht ausgebildet<br />
hatten diejenigen Fähigkeiten, die gerade die Fähigkeiten des Selbstes, des<br />
Ichs sind" (117,78f).<br />
Betrachten wir diese Argumentation genauer: Steiner stellt fest, daß viele<br />
trotz "inbrünstiger Sehnsucht" nicht in der Lage sind, hellseherische<br />
Schauungen zu erlangen. Der Grund hierfür wird in der Vergangenheit<br />
gesehen: Sie haben "die Fähigkeiten des Selbstes, des Ichs" nicht ausgebildet<br />
(wir treffen hier auf die Steinerschen Lehren von den verschiedenen Leibern<br />
und der Reinkarnation; s. I. A.2.2). Diese Argumentation dreht sich im Kreis.<br />
Die Steinerschen Lehren von der Reinkarnation und den verschiedenen Leibern<br />
werden benutzt, um den Steinerschen Erkenntnisweg zu stützen. Diese<br />
Lehren ihrerseits aber wurden auf dem Erkenntnisweg gewonnen. Der<br />
Erkenntnisweg liefert die Weltanschauung, die Weltanschauung stützt den<br />
Erkenntnisweg.<br />
Die Steinersche Argumentation ist ein Zirkelschluß, und sie ist systemimmanent.<br />
Sie ist nur innerhalb des anthroposophischen Systems logisch,<br />
außerhalb nicht. Wir verstehen nun, warum sich Steiner gegen eine kritischdistanzierte<br />
Beurteilung seines Systems von außen wehrt: "Wer diesen Weg<br />
[sc. den Erkenntnisweg] wirklich durchschreitet, hat auch schon das Beweisende<br />
erlebt; es kann nichts durch einen von außen hinzugefügten Beweis<br />
geleistet werden" (601,32f; HddV). Das doppelte Problem, welches sich stellt,<br />
ist aber, daß nicht nur die Beurteilung von außen versagt, sondern daß auch<br />
keiner (außer Steiner selber) den Erkenntnisweg bis zum Ende durchschritten<br />
hat, so daß der Beweis für die Richtigkeit seiner Schauungen bis heute aussteht.<br />
Wie verhält es sich nun mit der "gesunden Urteilskraft", dem "Denken"<br />
oder der "Vernunft", deren Gebrauch Steiner immer wieder fordert? Auch<br />
sie werden systemimmanent gebraucht. Ihre Anwendung beschränkt sich<br />
darauf, die von Steiner mitgeteilten Schauungen zu verstehen und zu prüfen,<br />
ob die eigenen Erkenntnisse damit übereinstimmen. Steiner schreibt:<br />
"Man kann ohne [sc. anthroposophische] Schulung nicht in der höheren Welt forschen;<br />
man kann darin nicht selbst Beobachtungen machen; aber man kann ohne die<br />
höhere Schulung alles verstehen, was die Forscher aus derselben mitteilen ... Dadurch,<br />
daß man sich unablässig zum Eigentum macht, was die Geistesforschung sagt,<br />
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