Anthroposophie
Anthroposophie
Anthroposophie
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
die messianische Zukunft lenkten. So wie die Propheten durch ein höheres<br />
Schauen und Hören zu Verkündern des Zukünftigen geworden waren, so sollte<br />
jetzt auch der Übende dazu gelangen, Schauungen zu haben und das Wort<br />
der Gottheit unmittelbar zu vernehmen" (VII,64).<br />
Diese Argumentation ist aus mehreren Gründen unhaltbar. Erstens lassen sich<br />
die Schriftpropheten des Alten Testaments nicht mit Eingeweihten fremdreligiöser<br />
Kulte in Verbindung bringen, da ihre Botschaft nicht durch magisch-mantische<br />
Praktiken und eigenmächtiges Erkenntnisstreben zustande<br />
kommt, sondern sich als die souveräne Offenbarung Gottes an Israel darstellt<br />
(II.B.l.) und darüber hinaus den Kampf gegen Fremdkulte in Israel<br />
enthält (III.A.2.). - Zweitens zeichnen sich die Pharisäer, die sich an der<br />
Thora und den Propheten orientieren, wie diese durch eine radikale<br />
"Absonderung von allem ... Heidnischen" aus, wie Bock an anderer Stelle<br />
selber feststellt (VII,62). Esoterische Kreise innerhalb der Pharisäer, die diese<br />
Absonderung nicht streng einhielten, sondern mysterienhafte Elemente<br />
aus dem Heidentum übernahmen, sind uns nicht bekannt. Es wird pharisäische<br />
Apokalyptiker mit visionär-ekstatischer Begabung gegeben haben, aber diese<br />
hatten nichts mit den paganen Mysterien zu tun, sondern schöpften aus<br />
der jüdisch-prophetischen Tradition. 152 - Drittens schließlich wird nirgends<br />
in der Act und im Selbstzeugnis des Paulus eine Beziehung des Apostels zu<br />
"esoterischen Kreisen" innerhalb der Pharisäer erwähnt, was auch immer<br />
darunter zu verstehen sei. Und auch die Offenbarungen, die Paulus erhält<br />
(2.Kor 12,Iff), entstammen der unverfügbaren Sphäre Gottes und unterscheiden<br />
sich nach seiner eigenen Beurteilung deutlich von allen hellseherischen<br />
Bestrebungen. 153<br />
6.2.2 Die Fehldeutung von "ektröma" (1. Kor 15,8)<br />
Einen zweiten- und entscheidenden- Hinweis auf die besondere hellseherische<br />
Veranlagung des Paulus sieht die <strong>Anthroposophie</strong> in l.Kor 15,8, wo Paulus<br />
berichtet, daß der auferstandene Christus ihm als einer "ektröma " erschienen<br />
sei. Steiner übersetzt "ektröma" mit "Frühgeburt" und kommentiert: Paulus<br />
ist "nicht ausgetragen worden im mütterlichen Leibe", sondern "aus der geistigen<br />
Welt in die physische Welt heruntergestiegen, als er noch nicht völlig<br />
eingetaucht war in alle Elemente des Erdendaseins". Als jemandem, der "noch<br />
unbewußt den geistigen Mächten angehört", ist ihm "als einer Frühgeburt das<br />
geistige Auge eröffnet" worden (112,270). Weil Paulus also eine Frühgeburt<br />
"im physischen Sinne" war, konnte er als erster den Christus in der Äthersphäre<br />
erkennen (VII,70).<br />
Mit dieser Deutung liefert Steinerein klassisches Beispiel von assoziierender<br />
AUegorese durch sein "neues Wörtlichnehmen" (vgl. II.B.3.). Indem er<br />
"ektröma" wörtlich als "Frühgeburt" im leiblichen Sinne versteht, läßt er<br />
201