wellhotel Ausgabe 2-2024

Das Fachmagazin für Hotellerie & Gastronomie, Tourismus & Freizeit, Wellness & Beauty Das Fachmagazin für Hotellerie & Gastronomie, Tourismus & Freizeit, Wellness & Beauty

11.07.2024 Aufrufe

Hotellerie | Gastronomie | Tourismus [ Branchennews ] Foto: Witoon – stock.adobe.com Immer restriktiver werden die Passagiere angehalten, sich mit hochdifferenzierten Vorschriften zu befassen, etwa ihr Handgepäck penibel darauf abzumessen, ob es den Bestimmungen der jeweiligen Fluggesellschaft entspricht. ››› Zu dem bemerkenswerten Wandel haben besonders die Pandemiejahre beigetragen. Die Sitzplatz(aus)wahl („seat selection“) hat in dieser Zeit große Bedeutung erlangt. Virologen gaben Empfehlungen zu den geeignetsten Sitzplätzen ab (zum Beispiel lieber Fenster als Gang), um der Ausbreitung von Viren im geschlossenen Flugzeugraum entgehen zu können. Damals wurde der Wunsch nach sozialer Distanz zu einem lebenswichtigen Bedürfnis vieler Passagiere. Ein darauf abgestimmtes Angebot, das sich bis heute hält, ist der buchbare freie Mittel platz – eine technisch gesehen, geradezu genial simple und dabei ertragreiche Zusatzleistung der Anbieter. Passagiere haben laut einer IATA- Studie besonders den Wunsch nach „booking flexibility“, der Möglichkeit, nach Lust und Laune umzubuchen, was in früheren Zeiten unproblematisch war, jetzt aber nur durch hohe Zusatzkosten auf den billigen „nackten“ Tarif oder Neubuchungen erreicht werden kann. Auch dieses Motiv spielte in der Coronazeit eine wichtige Rolle. Untersuchungen zufolge sind Reiseversicherungen, die Umbuchungen erlauben, heute besonders nachgefragte Zusatzleistungen. Fantasievolle Zusatzleistungen eröffneten den Fluggesellschaften die Möglichkeiten, einen Teil der über die Coronajahre eingefahrenen Verluste zu kompensieren. Offenbar hat sich in der Bevölkerung auch die Tendenz verstärkt, überhaupt mehr für Flugreisen ausgeben zu wollen. Dem „Skyscanner Horizons 2023-2024-Report“ zufolge wollen global 76 % Befragten mehr oder gleichviel und nur 14 % weniger als im Vorjahr aufwenden. 29 % wollen mehr für gutes Essen, 26 % mehr für Extragepäck berappen. Dies und auch die Nachfrage nach etwas mehr Komfort und Luxus kann interpretiert werden als Bedürfnis der Passagiere, einerseits die als einschränkend empfundene Coronazeit zu vergessen und andererseits die jahrelang fortschreitende „Verärmlichung“ in den low fare- organisierten Flugabläufen zu beenden. 22 % der Befragten zeigten sich entschlossen, mehr für die Benutzung der (normalerweise I. Klasse-Passagieren vorbehaltenen) Airport Lounges locker zu machen. Kein kleines Geschäft, denn DELTA schaffte mit seinen „Sky clubs“ allein einen zusätzlichen Umsatz von über einer Dreiviertelmilliarde im letzten Jahr. Deshalb werden überall auf den Flughäfen neue Lounges eingerichtet. Die Reise-„lustigen“, die ja eigentlich auf ihren Geldbeutel achten wollten, übersehen, dass sie nach wie vor Kosten haben, sogar große und mehr Kosten sowohl finanzieller als auch nicht-finanzieller Art: | 1. Zeitkosten | Im Zeitalter der dynamischen Preisgestaltung brauchen Buchende, erst recht Wenigflieger, viel Zeit, um sich im Gestrüpp der Angebote und Optionen, Vorschriften und Regelungen zurechtzufinden. Das sind Zeitkosten, die zum notwendigen stunden- oder tagelangen Auswahlprozess für ein möglichst billiges Grundticket hinzukommen. All das hat wenig mit dem propagierten „bequemen“, „sorglosen“ Flug ins Ferienparadies zu tun – eben ein Mythos. | 2. Stress-„kosten“ (psychologische Zusatzkosten) | Je mehr Angebote es gibt, um so mehr wird das Fliegen komplexer, komplizierter, anstrengender, zeitraubender – obwohl die Digitalisierungsbranche ja versprochen hatte, dass alles viel einfacher und „bequemer“ erledigt werden könne. Das Gegenteil ist der Fall. Eine neue Angst ist entstanden, das Falsche, zu Teure angeklickt – und sich damit auch als ungeschickt erwiesen zu haben. In einschlägigen Medien werden „smarte“ Tipps gegeben, wie man den Extragebühren – vor allem nach Billigzielen – ausweichen kann: dadurch, dass man Kleidung doppelt und dreifach übereinander anzieht, wenn man ins Flugzeug steigt, um so auf Kofferstücke verzichten zu können, die eigentlich aufgegeben werden sollten. Das sind keine ernsthaften „Schnäppchenideen“, sondern eher Aus- 38 WellHotel

Hotellerie | Gastronomie | Tourismus [ Branchennews ] druck zunehmender Hilflosigkeit der Passagiere angesichts der psychologisch cleveren Strategien der Carriers. Denn diese machen sich die Angebote neuer touristischer Dienstleister zunutze, die mit den Mitteln der künstlichen Intelligenz auf die Persönlichkeit des Buchenden abgestimmte Angebote bereitstellen. Eine besondere Stressquelle: Immer restriktiver werden die Passagiere angehalten, sich mit hochdifferenzierten Vorschriften zu befassen, etwa ihr Handgepäck penibel darauf abzumessen, ob es den Bestimmungen der jeweiligen Fluggesellschaft entspricht – die sich laufend ändern und von Carrier zu Carrier abweichen. Falls das Handgepäck die vorgeschriebenen Größen- und Gewichtsbeschränkungen überschreitet, wird es aufgegeben und an Ort und Stelle ein Aufpreis verlangt, eine Art „erhöhtes zusätzliches Beförderungsentgelt“. Gegen solche von ihm nicht einkalkulierten Zusatzkosten von 70,- Euro hat sich im Juni 2024 am Flughafen von Palma de Mallorca ein darüber verärgerter junger Mann auf publikumswirksame Weise gewehrt, indem er bei seinem etwas zu großen Rollkoffer die Räder abgerissen hat. | 3. Finanzielle Zusatzkosten | Immer mehr früher kostenlose Leistungen werden kostenpflichtig. Schon geht der Trend zur Abschaffung des kostenlosen Handgepäcks in den Gepäckablagen für den Basistarif; erlaubt ist dann nur noch pro fliegende Person eine kleine Tasche, die unter den Sitz passen muss; alles andere ist zu bezahlen. Das hat auch seinen ökonomischen Sinn, schließlich erreichen die Zusatzeinnahmen alleine für Gepäckgebühren bei den 20 größten Gesellschaften geschätzte 33 Milliarden Dollar (mehr als Länder wie Simbabwe oder Honduras erwirtschaften). Fluggesellschaften sind ständig dabei, die einträglichen Arten der Zusatzkosten um alle möglichen Varianten zu erweitern: Als Ryanair vor anderthalb Jahren laut darüber nachdachte, die Benutzung der Flugzeugtoiletten nur noch gegen Gebühr zu gestatten, war das kein schlechter Scherz, sondern ein Probeballon, der aufzeigte, wohin die Entwicklung gehen soll. Genau wie das Anfang des Jahres angekündigte Vorhaben von Finnair, die Passagiere mitsamt dem Handgepäck wiegen zu wollen. | 4. „Datenkosten“ | Passagiere geben durch die ausgewählten Zusatzleistungen mehr und mehr persönliche Daten preis, über ihre Vorlieben und Gewohnheiten, Bezahlpräferenzen etc., die für verschiedenste Marketingzwecke der Firmen verwendet werden können. Darüber denken die „Füchse“ beim Buchen kaum nach. | Fazit | Die von vielen Anbietern propagierte Idee, Fliegen sei heutzutage sehr billig geworden, ist ein Mythos. Ganz im Gegenteil wird Fliegen immer teurer, wenn man alle damit verbundenen Auflagen und Einschränkungen miteinkalkuliert. 39 WellHotel

Hotellerie | Gastronomie | Tourismus [ Branchennews ]<br />

Foto: Witoon – stock.adobe.com<br />

Immer restriktiver werden die Passagiere angehalten, sich mit hochdifferenzierten Vorschriften zu befassen, etwa<br />

ihr Handgepäck penibel darauf abzumessen, ob es den Bestimmungen der jeweiligen Fluggesellschaft entspricht.<br />

›››<br />

Zu dem bemerkenswerten Wandel<br />

haben besonders die Pandemiejahre<br />

beigetragen.<br />

Die Sitzplatz(aus)wahl („seat<br />

selection“) hat in dieser Zeit große<br />

Bedeutung erlangt. Virologen gaben<br />

Empfehlungen zu den geeignetsten<br />

Sitzplätzen ab (zum Beispiel<br />

lieber Fenster als Gang), um<br />

der Ausbreitung von Viren im geschlossenen<br />

Flugzeugraum entgehen<br />

zu können. Damals wurde der<br />

Wunsch nach sozialer Distanz zu<br />

einem lebenswichtigen Bedürfnis<br />

vieler Passagiere. Ein darauf abgestimmtes<br />

Angebot, das sich bis<br />

heute hält, ist der buchbare freie<br />

Mittel platz – eine technisch gesehen,<br />

geradezu genial simple und dabei<br />

ertragreiche Zusatzleistung der<br />

Anbieter.<br />

Passagiere haben laut einer<br />

IATA- Studie besonders den Wunsch<br />

nach „booking flexibility“, der<br />

Möglichkeit, nach Lust und Laune<br />

umzubuchen, was in früheren<br />

Zeiten unproblematisch war, jetzt<br />

aber nur durch hohe Zusatzkosten<br />

auf den billigen „nackten“ Tarif<br />

oder Neubuchungen erreicht werden<br />

kann. Auch dieses Motiv spielte<br />

in der Coronazeit eine wichtige<br />

Rolle. Untersuchungen zufolge sind<br />

Reiseversicherungen, die Umbuchungen<br />

erlauben, heute besonders<br />

nachgefragte Zusatzleistungen.<br />

Fantasievolle Zusatzleistungen<br />

eröffneten den Fluggesellschaften<br />

die Möglichkeiten, einen Teil der<br />

über die Coronajahre eingefahrenen<br />

Verluste zu kompensieren.<br />

Offenbar hat sich in der Bevölkerung<br />

auch die Tendenz verstärkt,<br />

überhaupt mehr für Flugreisen ausgeben<br />

zu wollen. Dem „Skyscanner<br />

Horizons 2023-<strong>2024</strong>-Report“ zufolge<br />

wollen global 76 % Befragten<br />

mehr oder gleichviel und nur 14 %<br />

weniger als im Vorjahr aufwenden.<br />

29 % wollen mehr für gutes Essen,<br />

26 % mehr für Extragepäck berappen.<br />

Dies und auch die Nachfrage<br />

nach etwas mehr Komfort und Luxus<br />

kann interpretiert werden als<br />

Bedürfnis der Passagiere, einerseits<br />

die als einschränkend empfundene<br />

Coronazeit zu vergessen und andererseits<br />

die jahrelang fortschreitende<br />

„Verärmlichung“ in den low<br />

fare- organisierten Flugabläufen zu<br />

beenden.<br />

22 % der Befragten zeigten sich<br />

entschlossen, mehr für die Benutzung<br />

der (normalerweise I. Klasse-Passagieren<br />

vorbehaltenen) Airport<br />

Lounges locker zu machen.<br />

Kein kleines Geschäft, denn DELTA<br />

schaffte mit seinen „Sky clubs“ allein<br />

einen zusätzlichen Umsatz von<br />

über einer Dreiviertelmilliarde im<br />

letzten Jahr. Deshalb werden überall<br />

auf den Flughäfen neue Lounges<br />

eingerichtet.<br />

Die Reise-„lustigen“, die ja<br />

eigentlich auf ihren Geldbeutel achten<br />

wollten, übersehen, dass sie<br />

nach wie vor Kosten haben, sogar<br />

große und mehr Kosten sowohl finanzieller<br />

als auch nicht-finanzieller<br />

Art:<br />

| 1. Zeitkosten | Im Zeitalter der<br />

dynamischen Preisgestaltung brauchen<br />

Buchende, erst recht Wenigflieger,<br />

viel Zeit, um sich im Gestrüpp<br />

der Angebote und Optionen,<br />

Vorschriften und Regelungen zurechtzufinden.<br />

Das sind Zeitkosten,<br />

die zum notwendigen stunden- oder<br />

tagelangen Auswahlprozess für ein<br />

möglichst billiges Grundticket hinzukommen.<br />

All das hat wenig mit<br />

dem propagierten „bequemen“,<br />

„sorglosen“ Flug ins Ferienparadies<br />

zu tun – eben ein Mythos.<br />

| 2. Stress-„kosten“ (psychologische<br />

Zusatzkosten) | Je mehr Angebote<br />

es gibt, um so mehr wird<br />

das Fliegen komplexer, komplizierter,<br />

anstrengender, zeitraubender<br />

– obwohl die Digitalisierungsbranche<br />

ja versprochen hatte, dass alles<br />

viel einfacher und „bequemer“ erledigt<br />

werden könne. Das Gegenteil<br />

ist der Fall. Eine neue Angst ist entstanden,<br />

das Falsche, zu Teure angeklickt<br />

– und sich damit auch als<br />

ungeschickt erwiesen zu haben.<br />

In einschlägigen Medien werden<br />

„smarte“ Tipps gegeben, wie<br />

man den Extragebühren – vor allem<br />

nach Billigzielen – ausweichen<br />

kann: dadurch, dass man Kleidung<br />

doppelt und dreifach übereinander<br />

anzieht, wenn man ins Flugzeug<br />

steigt, um so auf Kofferstücke<br />

verzichten zu können, die eigentlich<br />

aufgegeben werden sollten. Das<br />

sind keine ernsthaften „Schnäppchenideen“,<br />

sondern eher Aus-<br />

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