Spökenkieker Nr. 489 - 07/2024
Schützenfest in Sassenberg // Schützenfest in Beelen // Schützenfest in Freckenhorst // Schützenfest Hinter den drei Brücken // Schützenfest Vohren // Schützenfest Einen // 10 Jahre Tagespflege Eichenhof in Warendorf // Triathlon am Feldmarksee // Beruf & Ausbildung // Warendorfer Weinstraße // u.v.m.
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Kriegsfolgen, die schlimmer sind als zerstörte Häuser, Autos und Fabriken<br />
Am meisten leiden immer die Menschen<br />
Natascha Chajka-Fast berichtete mit weiteren Mitstreitenden vom ersten<br />
Camp für Witwen ukrainischer Soldaten und deren minderjährige Kinder.<br />
(Foto: Rieder)<br />
Man muss nicht einmal gläubig<br />
sein, um Alex recht zu geben. „Wir<br />
brauchen Gottes Segen, um das zu<br />
verarbeiten, was wir hier hören werden”.<br />
Denn nur Minuten, nachdem<br />
er die Informationsveranstaltung<br />
zum Witwen-Camp, das die Freie<br />
Kirchengemeinde Warendorf e.V.<br />
mit Unterstützung der Aktion Kleiner<br />
Prinz durchführte, eröffnet hat, stellt<br />
sich ein Gefühl der Hilflosigkeit ein.<br />
Beklemmung, Mitleid, Trauer brechen<br />
sich Bahn, selbst beim Versuch,<br />
nur die Fakten zu erfassen,<br />
sachlich zu sein, zu begreifen.<br />
Das erweist sich als schwierig, denn<br />
ohne Empathie lässt sich nicht verstehen,<br />
was Natascha Chajka und<br />
ihre Mitstreitenden aus den Tagen<br />
berichten, die sie in den ukrainischen<br />
Karpaten mit ukrainischen<br />
Witwen und deren Kindern verbracht<br />
haben.<br />
Schon die Fakten klingen unbegreiflich,<br />
denn viele der Frauen sind auf<br />
sich allein gestellt. So sehr, dass sie<br />
teilweise zu mehreren in dunklen<br />
feuchten Kellern hausen, weil sie<br />
sich anderes nicht leisten könne.<br />
Das Wort Prostitution bleibt unausgesprochen<br />
und drängt sich doch in<br />
den Kopf. Der Grund liegt darin,<br />
dass Realität und Gesetzeslage in<br />
einigen Fällen wohl stark voneinander<br />
abweichen. Chajka berichtet von<br />
Erzählungen der Frauen, dass die<br />
Gefallenenrente mitunter nur dann<br />
greife „wenn der Mann an der Nulllinie<br />
gefallen ist und in Uniform”. Dabei<br />
betont sie das Wort „und”. Sie<br />
berichtet aus voller Überzeugung,<br />
und natürlich lassen sich diese Fakten<br />
während des Vortrags nicht verifizieren.<br />
Allerdings gewinnen sie an<br />
Glaubwürdigkeit, wenn Chajka erzählt,<br />
dass deshalb Männer im Lazarett<br />
oder Krankenhaus nach dem<br />
Tod, oder vor einem möglichen Tod,<br />
ihre Uniform wieder angezogen bekommen.<br />
Zudem, so haben es ihr<br />
viele der Witwen aus dem Camp berichtet,<br />
führe historisch gewachsenes<br />
Denken in der ukrainischen Kultur<br />
dazu, dass die Eltern der gefallenen<br />
Soldaten von der staatlichen<br />
Unterstützung bevorzugt behandelt<br />
werden. Dabei stehen vor allem die<br />
Mütter im Vordergrund. Die Kinder<br />
stehen an zweiter Stelle – und erst<br />
dann kommen die Witwen. In den<br />
Gesetzen steht anderes. Und neben<br />
der Erklärung, dass solche Dinge<br />
wegen möglicher Kriegswirren anders<br />
als im gesetzt vorgesehen gehandhabt<br />
werden, ist es jetzt das<br />
Wort Korruption, das unausgesprochen<br />
bleibt und sich doch in den<br />
Kopf drängt.<br />
Es sind solche Berichte, die einer<br />
gewissen Fassungslosigkeit den<br />
Weg ebnen. Bei ihnen und den Erzählungen<br />
aus dem Witwen-Camp,<br />
kehren die Worte von Alex ins Gedächtnis<br />
zurück. „Wir brauchen Gottes<br />
Segen, um das zu verarbeiten,<br />
was wir hier hören werden!”<br />
Und das lässt sich in seiner Vielfalt<br />
nicht beschreiben, denn jede der<br />
Witwen, die mit insgesamt 37 Kindern<br />
im Alter von einem bis zu 17<br />
Jahren der Einladung der Kirche und<br />
der Aktion Kleiner Prinz gefolgt waren,<br />
trugen ein schweres Schicksal.<br />
Von jenen, deren Männer und Väter<br />
schon früh gefallen waren, bis hin zu<br />
jener völlig verschlossenen Frau, die<br />
ihren Mann erst drei Wochen zuvor<br />
verloren hatte – was die Betreuenden<br />
erst spät erfuhren. Einige von ihnen<br />
nahmen für Aussicht auf einige<br />
Tage Abstand vom Alltag eine 17-<br />
stündige Zugfahrt pro Strecke auf<br />
sich, einige fuhren sogar zum ersten<br />
Mal mit einem Zug.<br />
Verschlossen auch die Kinder, denen<br />
es allerdings naturgemäß leichter<br />
fiel, sich zu öffnen. „Wenn man<br />
alles nicht gewusst hätte, hätte man<br />
am letzten Tag denken können, dass<br />
es ein ganz normales Camp war”, erzählt<br />
Micha, einer der neun Betreuenden,<br />
über die Kinder. Während<br />
die durch gemeinsames Spielen,<br />
Basteln, Tanzen und Singen zu einer<br />
gewissen Lockerheit finden konnten,<br />
war dies bei den Witwen<br />
schwierig. Bis auf eine ukrainische<br />
Betreuerin, selbst Kriegswitwe, bezeichneten<br />
sie sich als „Ehefrauen<br />
gefallener Helden”. Nein, habe<br />
diese Betreuerin ihnen gesagt, und<br />
sie durfte das auch: „Wir sind Witwen<br />
und müssen lernen, das zu akzeptieren”.<br />
„Bei den Workshops haben<br />
die Frauen sich geöffnet”, erinnert<br />
sich Chajka, die den Betreuenden<br />
im Nachhinein eine gewisse<br />
Blauäugigkeit testiert. „Wir wussten<br />
nicht, was uns erwartet, dass wir so<br />
eine geballte Trauer auf einem Fleck<br />
haben werden – und dann auch<br />
noch einfach so zurückkehren können<br />
in unsere heile Welt.”<br />
Ihre Berichte einzelner Schicksale<br />
berühren, die Trauer wird immer<br />
greifbarer. Sie zeigt mit dem Beamer<br />
das Gedicht der 14-jährigen Veronika<br />
Markewitz. Die Worte graben<br />
sich ein, so wie sie es in ihrem Gedicht<br />
beschreibt:<br />
„Ich möchte in Frieden leben. Ich<br />
möchte ihn noch ein einziges Mal<br />
sagen hören: Ich liebe dich, meine<br />
Tochter. Aber dazu wird es nicht<br />
mehr kommen.<br />
Ich laufe weg in meine eigene Welt.<br />
Ich will diese Sorgen nicht sehen,<br />
die wie Wunden von scharfen Winden<br />
sind. Sie graben sich ein wie<br />
Stacheldraht.”<br />
Der Krieg in der Ukraine sei mehr, als<br />
die Bilder von zerstörten Häusern<br />
und Autos, die die Nachrichten immer<br />
wieder zeigen, sagt Natascha<br />
Chajka. Zerstörtes Glück, zerstörte<br />
Träume und zerstörte Seelen lassen<br />
sich nicht fotografieren. Stattdessen<br />
prägen sich Bilder von Gesichtern<br />
ein, die ihre innere Leere nur mühsam<br />
überspielen.<br />
Sie ändern sich mit dem Verlauf des<br />
Camps und werden fröhlicher. Nur<br />
wenige Tage haben den Kindern und<br />
Frauen das Leben zurückgegeben –<br />
wenn auch nur für wenige Tage. Aber<br />
mit der Gemeinsamkeit, mit der moralischen<br />
Unterstützung, kam auch<br />
der Wunsch zurück, aufzubauen.<br />
„Nach diesem Camp will ich wieder<br />
leben”, habe eine der Frauen gesagt<br />
und damit zugleich für andere gesprochen.<br />
„Das war unser Ziel. Wenn<br />
nur eine der Frauen so etwas sagt,<br />
dann hat sich die Aktion gelohnt”,<br />
freut sich Chajka.<br />
Das Witwenprojekt der Freien Kirchengemeinde<br />
Warendorf e.V. umfasst<br />
mehr als dieses erste Camp,<br />
das bald eine Neuauflage finden<br />
könnte. Mit sogenannten Hoffnungsboxen<br />
ist es ebenfalls möglich,<br />
Frauen zu unterstützen. Zudem<br />
leistet die Kirche humanitäre Unterstützung,<br />
besonders für Witwen, die<br />
(noch) keine staatliche Unterstützung<br />
erhalten.<br />
Der direkteste und persönlichste<br />
Weg der Unterstützung sind Patenschaften,<br />
die über die Kirche durchgeführt<br />
werden. So ist sichergestellt,<br />
dass die Frauen und Kinder, neben<br />
möglicher moralischer Unterstützung<br />
durch Briefe, Handynachrichten,<br />
gezielt die ihnen zugedachten finanziellen<br />
Leistungen erhalten.<br />
Chajka ist da ganz offen: „Mit 50<br />
Euro im Monat wird das Leben in der<br />
Ukraine etwas leichter, wenn man<br />
sonst nichts hat.”<br />
Eine Kontaktaufnahme, besonders<br />
wenn eine Patenschaft erwünscht<br />
ist, ist unter<br />
fkghilftukraine@gmail.com möglich.