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Lio_betanien_beschnitten

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Christiane Marx


Es war wieder ein wunderschöner Tag.<br />

Die Sonne schien und keine Wolke war am Himmel zu sehen.<br />

Eine Schafherde graste auf der saftiggrünen Wiese.<br />

Es waren genau 100 Schafe … große und kleine, dicke und<br />

dünne, alte und junge.


Am Rande der Herde stand der Hirte und bewachte seine<br />

Herde. Es war ein guter Hirte, denn er sorgte sich sehr um<br />

seine 100 Schäfchen. Er führte sie zu saftigen Wiesen mit<br />

schattenspendenden Bäumen und zu Bächen mit frischem Wasser.<br />

Das war sehr wichtig, weil den Schafen mit ihrer dicken Wolle in der<br />

Sonne heiß wird und sie daher viel Wasser und Schatten brauchen.<br />

Auch beschützte der Hirte sie vor wilden Tieren. Er trug immer<br />

eine Schleuder und Steine bei sich, und in der Hand hielt er den<br />

Hirtenstock, mit dem er Wölfe, Löwen und Bären verjagen konnte.<br />

Die Schafe hatten ihren Hirten lieb, denn er war immer gut zu ihnen.<br />

Sie kannten seine Stimme ganz genau.<br />

Ihr müsst wissen: Schafe können nicht sehr gut sehen, deshalb ist es<br />

wichtig, dass sie die Stimme ihres Hirten kennen, damit sie ihm auch<br />

folgen können.


In der Herde lebte ein kleines Schaf. Es hieß <strong>Lio</strong>.<br />

<strong>Lio</strong> war weiß wie eine Schneeflocke, aber in seinem Herzen sah es<br />

anders aus. <strong>Lio</strong> hatte seine Schaffamilie und den Hirten gern, aber er<br />

fand dieses Leben auch schrecklich langweilig und sehnte sich nach<br />

Abenteuern. <strong>Lio</strong> wollte nicht immer auf den Hirten hören. Er war<br />

doch schon groß und wollte selbst entscheiden, wohin er ging und<br />

was er tat.<br />

Klar ging es ihm mit den Regeln des Hirten gut, aber immer diese<br />

Vorschriften … Er wollte endlich mal in diesen Wald, der ihm<br />

eigentlich verboten war. Was war schon Schlimmes daran?<br />

<strong>Lio</strong> sah sich um. Die anderen Schafe dösten im Schatten, schliefen<br />

oder grasten. Der Hirte stand am Bach, um seine Wasserflasche<br />

aufzufüllen.<br />

„Das ist die Gelegenheit!“, dachte sich <strong>Lio</strong> und schlich sich<br />

heimlich davon.


Ein eigenartiges Gefühl breitete sich in <strong>Lio</strong>s Herz aus. Ein<br />

großartiges, weil er endlich frei war, aber auch ein schlechtes, das<br />

ihn zurückhalten wollte. „Dummes Schaf!“, sagte <strong>Lio</strong> zu sich selbst,<br />

„jetzt gibt es kein Zurück mehr“.<br />

Mit vor Aufregung klopfendem Herzen betrat er zum ersten Mal den<br />

Wald. Schön war es hier, ganz anders als auf der Wiese. Aber auch<br />

ein bisschen unheimlich. Lauter fremde Geräusche. Hier und da<br />

raschelte es, und weil es im Wald viel dunkler war, konnte das kleine<br />

Schaf noch schlechter sehen als zuvor.<br />

„Ich glaub, ich geh’ wieder zurück zu meiner Herde“, dachte <strong>Lio</strong> und<br />

drehte sich um, um den Wald zu verlassen. Doch wo war nur der<br />

Ausgang? War er nicht hier entlang gelaufen? „Verflixt! Die Bäume<br />

sehen alle gleich aus!“<br />

<strong>Lio</strong> verspürte plötzlich Angst. Wie kam er nur aus diesem<br />

Baumlabyrinth heraus? Ach, wäre er nur nicht weggelaufen! Der<br />

Hirte würde bestimmt mit ihm schimpfen, weil er ungehorsam<br />

gewesen war. Wenn der Hirte überhaupt merkte, dass er weg war.<br />

„Er hat ja so viele Schafe. Außerdem sind ihm meine Geschwister<br />

bestimmt viel lieber als ich. Er ist bestimmt froh, wenn ich weg bin.“


Diese dummen Gedanken sausten durch <strong>Lio</strong>s kleinen Kopf, und<br />

Tränen liefen ihm aus den Augen.<br />

Auf einmal raschelte etwas neben ihm. Erschrocken drehte sich<br />

<strong>Lio</strong> um. Neben ihm stand ein Eichhörnchen, das ihn neugierig<br />

anschaute.


„Hallo!“, sagte es, „du bist ein Schaf, stimmt’s? Was machst du im<br />

Wald? Und warum weinst du?“<br />

„Ach, ich hab’ mich in diesem Wald verirrt. Ich weiß nicht, wo mein<br />

Hirte ist, und ich bin allein und ich habe Angst“, stotterte <strong>Lio</strong> leise<br />

und schaute dabei auf den Boden.<br />

Das Eichhörnchen runzelte die Stirn. „Hirte? So ein Quatsch! Du<br />

brauchst doch niemanden, der dir sagt, was du zu tun und zu lassen<br />

hast. Das kannst du doch allein entscheiden. Und außerdem: Wo ist<br />

er denn, dein Hirte? Wenn du ihm wirklich etwas bedeuten würdest,<br />

dann hätte er ja wohl nicht zugelassen, dass du dich im Wald<br />

verläufst.“<br />

<strong>Lio</strong> blickte erschrocken auf. Da war was dran! Warum hatte der Hirte<br />

ihn nicht aufgehalten? Warum hatte er das zugelassen?<br />

Ein hässlicher Zweifel begann in <strong>Lio</strong>s Herz zu nagen. Was wäre, wenn<br />

der Hirte gar nicht so gut wäre? Wenn alles, was er geglaubt hatte,<br />

eine Lüge war und das Eichhörnchen Recht hatte?


„Meinst du wirklich?“, fragte er. „Was soll ich denn dann tun?“ „Ich<br />

sag dir, was du tun musst“, antwortete das Eichhörnchen. „In dieser<br />

Welt hilft dir niemand. Du kannst nur auf dich selbst vertrauen.<br />

Wenn du ganz fest an dich glaubst, wirst du es schaffen. Dann<br />

findest du aus dem Wald heraus und nach Hause.“ Daraufhin lief es<br />

mit großen Sprüngen fort und ließ <strong>Lio</strong> allein.<br />

<strong>Lio</strong> dachte eine Weile darüber nach, was er gerade gehört hatte, und<br />

beschloss, es zu probieren. „Ich bin stark, ich bin mutig, ich schaff<br />

das ganz alleine“, blökte er leise vor sich hin und lief zielstrebig in<br />

eine Richtung, in dem festen Glauben, dies sei der rechte Weg. Als<br />

er aber eine Weile gegangen war, wurde der Wald immer dichter<br />

und <strong>Lio</strong> blieb ständig mit seinem dicken Fell an Ästen und Zweigen<br />

hängen.<br />

Das kleine Schaf war fürchterlich erschöpft und durstig. Das war<br />

nicht der richtige Weg. Das Eichhörnchen hatte Unrecht gehabt.<br />

Diese Erkenntnis traf <strong>Lio</strong> tief, und er fühlte sich allein wie nie zuvor.


Dicke Tränen kullerten aus seinen Augen. Ach, wäre doch sein Hirte<br />

da! Würde er doch nur seine liebe Stimme hören! Aber er war zu<br />

weit fort.<br />

In all’ diese düsteren Gedanken mischte sich ein flatterndes<br />

Geräusch. Eine zwitschernde Stimme sprach: „Kleines Schaf, was<br />

machst du hier im Wald und warum weinst du?“


<strong>Lio</strong> versuchte durch den Tränenschleier in seinen Augen zu<br />

erkennen, was da vor ihm saß. „Wer bist du?“, fragte er.<br />

„Ich bin ein Vogel und ich lebe hier in den Bäumen des Waldes. Aber<br />

was macht ein kleines Schaf wie du so weit weg von seiner Herde im<br />

Wald?“, wiederholte der Vogel seine Frage.<br />

„Ach, kleiner Vogel“, schluchzte <strong>Lio</strong>, „ich bin von zu Hause<br />

fortgelaufen und ich finde den Weg nicht mehr heim. In diesem<br />

schrecklichen Wald sieht alles gleich aus und aus eigener Kraft, wie<br />

das Eichhörnchen gesagt hat, klappt es nicht.“<br />

„Tschak, tschak“, klapperte der Vogel verächtlich. „Diese dummen<br />

Eichhörnchen … die haben sowieso keine Ahnung. Das einzig Wahre<br />

ist die Sonne. Die Sonne schenkt uns Wärme, sie lässt die Früchte<br />

wachsen, sie weckt den Morgen auf und lässt uns mit ihrem Licht all<br />

das Schöne sehen. Ich singe ihr jeden Morgen ein Lied vom höchsten


Baumwipfel zu, damit sie mich nicht vergisst. Das musst du auch<br />

tun, dann zeigt sie dir bestimmt den Weg nach Hause. Viel Glück!“,<br />

zwitscherte der Vogel und flog davon.<br />

<strong>Lio</strong> dachte: „Das hört sich gar nicht verkehrt an … Die Sonne kann<br />

mir vielleicht wirklich helfen.“


Das kleine Schaf rappelte sich hoch und mit neuem Mut versuchte<br />

es, einen Baum zu erklimmen. Es hielt sich mit den Zähnen an den<br />

Ästen und Zweigen fest und schwang seine kleinen Beinchen, um<br />

hinaufzugelangen.<br />

Aber so sehr <strong>Lio</strong> es auch versuchte, immer wieder rutschte er ab<br />

und fiel auf den Boden.<br />

Beim neunten Versuch stürzte <strong>Lio</strong> so unglücklich ab, dass er sich<br />

seinen Huf verletzte und nun gar nicht mehr laufen konnte … Jetzt<br />

war das kleine Schaf so erschöpft und durstig und hatte so große<br />

Schmerzen, dass es nicht mehr aus noch ein wusste.


Es wurde bereits dunkel. Wenn nun ein Wolf oder ein<br />

anderes wildes Tier käme …?<br />

<strong>Lio</strong> konnte noch nicht einmal fortlaufen. Das kleine Schaf<br />

zitterte vor Furcht und die Sehnsucht nach seinem guten<br />

Hirten war so groß wie noch nie zuvor.


<strong>Lio</strong> weinte und weinte, er konnte gar nicht mehr aufhören und er<br />

schrie immerfort nach seinem Hirten.<br />

Der gute Hirte hatte jedoch sogleich bemerkt, dass sein kleinstes<br />

Schäfchen fehlte. Er zählte seine Schafe immer und kannte auch<br />

jedes einzelne Schaf mit Namen.<br />

Er führte seine 99 anderen Schafe in eine sichere Höhle, und ging<br />

los, um sein kleinstes Schäfchen zu suchen. Er suchte überall und<br />

gönnte sich keine Pause.


Es war schon dunkel geworden … Da hörte der gute Hirte sein<br />

Schäfchen schreien.<br />

Rasch lief er zu der Stelle, von der die Schreie kamen … und da lag<br />

sein Schäfchen: verletzt, müde, hungrig und durstig. Es hatte Tränen<br />

in den Augen und ein furchtbar schlechtes Gewissen. Aber es sah in<br />

den Augen seines Hirten keinen Vorwurf, nur Liebe und Freude, dass<br />

sein Schäfchen wieder da war. Der Hirte nahm es auf den Arm und<br />

trug es nach Hause.<br />

Zu Hause feierte er ein Fest, weil sein verlorenes Schäfchen wieder<br />

da war. So sehr liebte er es.<br />

Genauso liebt uns Gott auch.<br />

Er möchte, dass wir bei ihm sind, damit es uns gut geht.<br />

Jesus Christus ist der gute Hirte.<br />

→ JOHANNES-EVANGELIUM KAPITEL 10


IMPRESSUM<br />

© Text und Bilder: Christiane Marx, 2024<br />

Layout: Sara Pieper<br />

Herausgeber: Betanien Verlag,<br />

Augustdorf · info@<strong>betanien</strong>.de<br />

Artikel-Nr. 176382 im Shop cbuch.de<br />

ISBN 978-3-945716-82-3


Das kleine Schaf <strong>Lio</strong> lebt mit seiner<br />

Herde und dem Hirten auf einer<br />

saftigen Wiese. Neben der Wiese ist ein<br />

Wald, der für <strong>Lio</strong> sehr verlockend ist. Er<br />

will unbedingt mal etwas anderes erleben.<br />

Diese Geschichte von einem verlorenen Schaf<br />

verdeutlicht Kindern, dass es wirklich einen guten<br />

Hirten gibt, der sie liebt und für sie da ist.

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