G+L 7/2024
Zukunft Dorf Zukunft Dorf
20|07 24 MAGAZIN FÜR LANDSCHAFTSARCHITEKTUR UND STADTPLANUNG ZUKUNFT DORF
- Seite 2 und 3: EDITORIAL Sehnsucht nach dörfliche
- Seite 4 und 5: WOHNEN JULIA TREICHEL AUTORIN Julia
- Seite 6 und 7: LEBENSHAL- TUNGSKOSTEN Laut Statist
- Seite 8 und 9: IN EUROPAS DÖRFERN Wir haben uns u
- Seite 10 und 11: KOMMENTAR BITTE EINMAL DIE STÄDTIS
- Seite 12 und 13: SOZIALE INFRASTRUKTUR Für die Lebe
- Seite 14 und 15: REFERENZ BERGBAU - SPIELERISCH UND
20|07<br />
24<br />
MAGAZIN FÜR LANDSCHAFTSARCHITEKTUR<br />
UND STADTPLANUNG<br />
ZUKUNFT DORF
EDITORIAL<br />
Sehnsucht nach dörflicher Idylle und dem<br />
Leben auf dem Land? Die Perspektiven<br />
von Großstädter*innen auf den ländlichen<br />
Raum – und an welchen Stellen diese zu<br />
hinterfragen sind – thematisieren mehrere<br />
der Kurzkommentare ab Seite 22.<br />
In Deutschland habe das Dorf in jedem Ministerium seinen Platz,<br />
das sagte uns Klara Geywitz im Interview für dieses Heft. Die<br />
Interessen des ländlichen Raumes seien im politischen Berlin<br />
„wirklich immer präsent“, so die SPD-Bundesbauministerin. Ob man<br />
im ländlichen Raum unseres Landes diese „Präsenz“ tatsächlich<br />
wahrnimmt, ist nach den katastrophalen Ergebnissen der Ampel-<br />
Regierung in der Europawahl <strong>2024</strong> jedoch mehr als fraglich.<br />
57 Prozent der bundesdeutschen Bevölkerung lebt laut Bundesministerium<br />
für Ernährung und Landwirtschaft in ländlichen Räumen.<br />
Und die hat – ähnlich wie der Rest Deutschlands mit Ausnahme von<br />
insgesamt 15 Städten – am 9. Mai hauptsächlich die CDU/CSU in<br />
den alten Bundesländern respektive die AfD in den neuen Bundesländern<br />
gewählt.<br />
Gleichzeitig muss man Klara Geywitz lassen: Sie macht das Dorf<br />
und die Entwicklung ländlicher Räume unermüdlich immer und<br />
immer wieder zum Thema. Sie ist davon überzeugt, dass die<br />
Stärkung des ländlichen Raumes die Herausforderungen der Städte<br />
lindern kann, und setzt sich dafür ein, das Leben auf dem Land<br />
wieder einfacher zu machen – ob erfolgreich oder nicht, das<br />
werden erst die kommenden Jahre zeigen. Was der ländliche Raum<br />
jetzt wirklich braucht und ob das Land die Stadt wirklich entlasten<br />
kann, das sind die zwei großen Fragen dieser <strong>G+L</strong>.<br />
Dabei ist uns bewusst, dass es weder „das Dorf“ noch „den<br />
ländlichen Raum“ so gibt. Genau wie urbane Strukturen ist jeder<br />
rurale Ort ein Unikat und definiert sich durch eigene raumspezifische<br />
Gegebenheiten. Dennoch konnten wir mit den Schlagwörtern<br />
„Wohnen“, „Mobilität“, „Lebenshaltungskosten“, „Einkaufsverhalten“,<br />
„Energie“, „Wirtschaft“, „Soziale Infrastruktur“ und „Politisches<br />
Geschehen“ acht konkrete Herausforderungen definieren,<br />
die für die Entwicklung ländlicher Räume in Zukunft essenziell sein<br />
werden. Wo die ländlichen Räume in den einzelnen Bereichen<br />
jeweils stehen und wo große Fragezeichen herrschen, lesen Sie auf<br />
den folgenden Seiten.<br />
Apropos Europa:<br />
Was machen andere<br />
europäische Länder<br />
im ländlichen Raum?<br />
Die Redaktion stellt<br />
ab Seite 30 fünf<br />
Projekte vor.<br />
Das Interview mit<br />
Klara Geywitz lesen<br />
Sie ab Seite 16.<br />
Coverbild: Stijn te Strake via Unsplash; Illustration: Laura Celine Heinemann<br />
„Ohne Stadt kein<br />
Land“: Cem Özdemirs<br />
Kommentar auf<br />
Seite 51.<br />
Zusätzlich haben zahlreiche höchst spannende Persönlichkeiten –<br />
darunter Eva Maria Welskop-Deffaa, Lamia Messari-Becker und<br />
auch Cem Özdemir – sich die Zeit genommen, für dieses Heft eine<br />
Position zur Zukunft des ländlichen Raumes und dessen Bedeutung<br />
für die Entwicklung urbaner Räume zu verfassen. Sie alle vereint,<br />
dass unsere ländlichen Räume viel mehr Aufmerksamkeit brauchen.<br />
Hat Klara Geywitz also recht und die Interessen des ländlichen<br />
Raumes sind „wirklich immer präsent“, muss das in kurzfristiger<br />
Zukunft sichtbarer werden. Sonst verlieren Land und Stadt zusammen.<br />
THERESA RAMISCH<br />
CHEFREDAKTION<br />
t.ramisch@georg-media.de<br />
<strong>G+L</strong> 3
INHALT<br />
AKTUELLES<br />
06 SNAPSHOTS<br />
11 MOMENTAUFNAHME<br />
Gipfelglanz<br />
ZUKUNFT DORF<br />
12 WAS BRAUCHT DER LÄNDLICHE RAUM JETZT WIRKLICH?<br />
Wo die Herausforderungen und Chancen in ländlichen Regionen liegen<br />
14 WOHNEN<br />
Attraktiver Lebensraum – mit Herausforderungen<br />
16 „LAND LOHNT SICH“<br />
Bundesbauministerin Klara Geywitz im Interview<br />
20 MOBILITÄT<br />
Von privaten Pkws, Sharing-Angeboten und ÖPNV auf dem Land<br />
22 VOM TREND ZUR PERSPEKTIVE<br />
Kurzkommentar von Carola Neugebauer<br />
24 LEBENSHALTUNGSKOSTEN<br />
Welcher Faktor das Leben auf dem Land günstiger macht<br />
26 ES GILT, FLEXIBLE WOHNFORMEN VORZUDENKEN<br />
Kurzkommentar von Roland Spiller<br />
27 DIE NATUR BRAUCHT MEHR RAUM<br />
Kurzkommentar von Daniel Hoheneder<br />
28 EINKAUFEN<br />
Wie sich der tägliche Bedarf auf dem Land decken lässt<br />
30 IN EUROPAS DÖRFERN<br />
Fünf Projekte in ländlichen Räumen<br />
36 ENERGIE<br />
Die Auswirkungen der Energiewende auf den ländlichen Raum<br />
38 BITTE EINMAL DIE STÄDTISCHE BRILLE ABLEGEN!<br />
Kommentar von Lamia Messari-Becker<br />
40 WIRTSCHAFT<br />
Wie Hidden Champions lokale Wirtschaftsstrukturen prägen<br />
42 SORGENDE GESELLSCHAFT AUF DEM LAND<br />
Kurzkommentar von Eva Maria Welskop-Deffaa<br />
43 AKTIVIERT DEN GEBÄUDEBESTAND<br />
Kurzkommentar von Cornelia Haas<br />
44 SOZIALE INFRASTRUKTUR<br />
Über Ärztedichte, Pflege und die Erreichbarkeit von Kitas<br />
46 POLITIK VOM DORF HER DENKEN<br />
Kurzkommentar von Susanna Karawanskij<br />
47 GUTE IDEEN VERNETZEN<br />
Kurzkommentar von Ina Abel<br />
48 POLITISCHES GESCHEHEN<br />
Über Kommunalpolitik in der Krise und Beispiele für Lösungen<br />
50 LEERSTAND ERTÜCHTIGEN UND UMNUTZEN<br />
Kurzkommentar von Hans-Günter Henneke<br />
51 LÄNDLICHE RÄUME: VIELFÄLTIG UND STARK<br />
Kurzkommentar von Cem Özdemir<br />
Herausgeber:<br />
Deutsche Gesellschaft<br />
für Gartenkunst und<br />
Landschaftskultur e.V.<br />
(DGGL)<br />
Pariser Platz 6<br />
Allianz Forum<br />
10117 Berlin-Mitte<br />
www.dggl.org<br />
PRODUKTE<br />
52 LÖSUNGEN<br />
Spielräume<br />
60 REFERENZ<br />
Bergbau – spielerisch und virtuell<br />
RUBRIKEN<br />
62 Impressum<br />
62 Lieferquellen<br />
63 Stellenmarkt<br />
64 DGGL<br />
66 Sichtachse<br />
66 Vorschau<br />
<strong>G+L</strong> 5
WOHNEN<br />
JULIA TREICHEL<br />
AUTORIN<br />
Julia Treichel<br />
absolvierte an der<br />
TU München den<br />
Bachelor und Master<br />
in Landschaftsarchitektur<br />
und arbeitete<br />
in diversen Büros in<br />
München. Derzeit ist<br />
sie bei LAND Italia in<br />
Mailand tätig und<br />
engagiert sich auch<br />
freiberuflich in<br />
Theorie und Praxis<br />
zu sozialen und<br />
gestalterischen<br />
Fragen der Umwelt.<br />
Der sogenannte ländliche Raum bildet<br />
auch im 21. Jahrhundert eine der wichtigsten<br />
Raumkategorien in Deutschland. Laut<br />
Kategorisierung durch das Bundesinstitut<br />
für Bau-, Stadt- und Raumforschung<br />
(BBSR) entfallen in Deutschland rund<br />
70 Prozent der Flächen auf diese Kategorie.<br />
Sie prägen damit maßgeblich das<br />
Landschaftsbild Deutschlands und bieten<br />
den Menschen attraktive Lebensräume –<br />
und noch bezahlbaren Wohnraum.<br />
TRENDWENDE BEI JUNGEN FAMILIEN<br />
BEOBACHTET<br />
Laut einer Erhebung des Instituts der<br />
Deutschen Wirtschaft und des Allensbach-Instituts<br />
für den Verband der<br />
Sparda-Banken im Jahre 2023 lag der<br />
durchschnittliche Kaufpreis von Wohneigentum<br />
in Städten bei 4 180 Euro pro<br />
Quadratmeter. In den sieben größten<br />
deutschen Städten steigt der Preis im<br />
Mittel sogar auf 6 038 Euro pro Quadratmeter.<br />
Demgegenüber ermittelt<br />
die Studie auf dem Land einen durchschnittlichen<br />
Quadratmeterpreis von<br />
2 806 Euro. Der Kauf von Wohneigentum<br />
auf dem Land ist demnach fast ein<br />
Drittel günstiger als in der Stadt. Die<br />
Preise seien innerhalb der letzten zwei<br />
Jahre um rund ein Fünftel gestiegen.<br />
Die Schere zwischen teuren und günstigen<br />
Regionen klafft dabei immer weiter<br />
auseinander. So kostet eine 44 Quadratmeter<br />
große Wohnung in München<br />
genauso viel wie ein 451 Quadratmeter<br />
großes Haus im Kyffhäuserkreis in<br />
Thüringen. Während es junge Menschen<br />
unter 30 Jahren nach wie vor in die<br />
Groß- und Universitätsstädte zieht,<br />
beobachtet die Studie bei jungen Familien<br />
eine Trendwende. So verlieren alle<br />
sieben Großstädte Bevölkerung zwischen<br />
30 und 50 Jahren, vor allem Frankfurt,<br />
Stuttgart, München und Köln. Die Studie<br />
folgert, dass junge Familien eher ins<br />
Umland und aufs Land ziehen, wo<br />
Wohneigentum günstiger ist. Auch das<br />
Thünen-Institut beobachtet, dass viele<br />
ländlich geprägte Kreise zuletzt Wanderungsgewinne<br />
verzeichnen konnten.<br />
Aber nicht nur die Grundstückspreise<br />
locken wieder mehr Menschen in ländliche<br />
Regionen. Laut einer Studie des<br />
Kriminologischen Forschungsinstituts<br />
Niedersachsen aus dem Jahr 2020 ist<br />
die Kriminalitätsrate in ländlichen Regionen<br />
generell niedriger als in städtischen<br />
Gebieten. Die geringere Bevölkerungsdichte,<br />
das engere soziale Netz und<br />
die geringere Anonymität können zur<br />
Sicherheit auf dem Land beitragen. Die<br />
unmittelbare Erreichbarkeit attraktiver,<br />
naturnaher Landschaftsräume und das<br />
Gefühl sozialer Nähe sind weitere<br />
Gründe, warum Menschen der Stadt<br />
den Rücken kehren und in kleinere<br />
Gemeinden ziehen.<br />
GEMEINSCHAFTLICHE WOHNPROJEKTE<br />
WERDEN BEREITS UMGESETZT<br />
Die Vermischung unterschiedlicher<br />
Lebensstile, aber auch allgemeine gesellschaftliche<br />
Veränderungen – allen voran<br />
die demografische Entwicklung – stellen<br />
ländliche Gemeinden vor neue Herausforderungen.<br />
Darauf versucht auch die<br />
Baukultur vor Ort zunehmend Antworten<br />
zu finden. Jahrzehntelang setzten ländliche<br />
Gemeinden bei der Siedlungsentwicklung<br />
auf Einfamilienhausgebiete.<br />
Diese resultierten aus dem seit den<br />
1960er-Jahren tradierten Lebensmodell<br />
der klassischen Kleinfamilie, das heute<br />
jedoch nicht mehr der Lebenswirklichkeit<br />
entspricht. Neben der Leerstandsentwicklung<br />
in den Ortskernen sind Ein- und<br />
Zweipersonenhaushalte in viel zu großen<br />
14 <strong>G+L</strong>
ZUKUNFT DORF<br />
WOHNEN<br />
Illustration: Laura Celine Heinemann<br />
Einfamilienhäusern ein aktuelles Problem<br />
der Dorfentwicklung.<br />
Heute seien auch gemeinschaftliche<br />
Wohnvorhaben für unterschiedliche Zielgruppen<br />
erforderlich, betont die Bayerische<br />
Verwaltung für Ländliche Entwicklung.<br />
Neben veränderten Bedürfnissen<br />
sind auch die Forderung nach ressourceneffizienterem<br />
Wohnen, Nachhaltigkeit<br />
und Klimaschutz gute Gründe dafür.<br />
Konzepte für gemeinschaftliche Wohnprojekte<br />
gibt es einige. Zum Beispiel das<br />
rollierende System, bei dem die Bewohner*innen<br />
entsprechend ihrer aktuellen<br />
Lebensphase den Wohnort wechseln<br />
und dabei das gesamte Wohnungsangebot<br />
im Ortskern und in den Siedlungsgebieten<br />
nutzen. Ein anderer Ansatz ist<br />
das Mehrgenerationenwohnen, bei dem<br />
Menschen unabhängig von verwandtschaftlichen<br />
Beziehungen in einer<br />
Gemeinschaft zusammenleben. Diese<br />
Form des Zusammenlebens kann im<br />
Einfamilienhaus beginnen und bis hin<br />
zu Großprojekten reichen, bei denen<br />
beispielsweise alte Industrieanlagen oder<br />
ein alter Bauernhof umgebaut werden.<br />
Das Netzwerk Zukunftsorte unterstützt<br />
Interessierte, die sich in solche Wohnformen<br />
einbringen wollen, ebenso wie<br />
Kommunen oder Eigentümer*innen. So<br />
geschehen etwa im Gut Boltenhof in<br />
Brandenburg, wo ein Hofkomplex von<br />
circa 80 Akteur*innen durch eine<br />
Kombination aus privatem Wohnen,<br />
Ferienwohnungen und Seminarflächen<br />
sowie kleinbäuerlicher Landwirtschaft<br />
wiederbelebt wurde. Es ist ein Beispiel<br />
für eine gemeinwohlorientierte Immobilienentwicklung,<br />
die Baukultur als<br />
soziale, ökologische und ästhetische<br />
Praxis ernst nehme, betont das Netzwerk<br />
Zukunftsorte.<br />
Lange Zeit wurde Baukultur vor allem<br />
aus städtischer Perspektive betrachtet.<br />
In seinem Bericht „Baukultur in ländlichen<br />
Räumen“ betont jedoch das BBSR:<br />
„Baukultur meint nicht nur das eine oder<br />
andere schön gebaute Haus oder einen<br />
bemerkenswerten Architekturentwurf,<br />
sondern auch gut gestaltete öffentliche<br />
Räume, Infrastrukturen und Landschaften.“<br />
Baukultur ist sozusagen die Herstellung<br />
der gebauten Umwelt und der Umgang<br />
mit ihr. Der ländliche Raum mit seinen<br />
über Generationen gewachsenen<br />
Strukturen und engen sozialen Gefügen<br />
bietet dafür ein großes Potenzial.<br />
Weiter auf Seite 20<br />
<strong>G+L</strong> 15
LEBENSHAL-<br />
TUNGSKOSTEN<br />
Laut Statistischem Bundesamt liegen die<br />
monatlichen Lebenshaltungskosten in<br />
Deutschland bei 2 846 Euro. Davon<br />
entfallen durchschnittlich 36 Prozent auf<br />
Wohnen und Energie und 15 Prozent auf<br />
Nahrungsmittel, Getränke und Tabakwaren.<br />
Je nach Lebensstil und Wohnort<br />
sind die Lebensbedingungen und Ausgaben<br />
sehr unterschiedlich. Das zeigt eine<br />
Studie zum regionalen Preisindex, die<br />
das Institut der deutschen Wirtschaft (IW)<br />
und das Bundesinstitut für Bau-, Stadtund<br />
Raumforschung (BBSR) durchgeführt<br />
haben. Für die Studie wurden Preisdaten<br />
für verschiedene Waren und Dienstleistungen<br />
in 400 Kreisen über einen Zeitraum<br />
von drei Jahren ausgewertet. Im Juli 2023<br />
veröffentlichen die Autor*innen dann ihre<br />
Ergebnisse. Die Grundaussage überrascht<br />
zunächst nicht: Die Lebenshaltungskosten<br />
in Deutschland unterscheiden sich je nach<br />
Region teilweise deutlich. Und weiterhin,<br />
auf dem Land sind die Lebenshaltungskosten<br />
grundsätzlich günstiger als in der Stadt.<br />
MÜNCHEN STEHT ERWARTUNGSGE-<br />
MÄSS AN DER SPITZE<br />
Betrachtet man die Studie im Detail, wird<br />
deutlich, dass vor allem der Faktor<br />
Wohnen für die Unterschiede verantwortlich<br />
ist. Sieht man sich den Index ohne<br />
diesen Faktor an, sind die Abweichungen<br />
vom Bundesdurchschnitt deutlich<br />
geringer. Dann führt die baden-württembergische<br />
Landeshauptstadt Stuttgart mit<br />
einem Aufschlag von 4,2 Prozent auf den<br />
Bundesdurchschnitt das Ranking an. Es<br />
folgen München mit 2,1 Prozent, Aschaffenburg<br />
mit 1,8 Prozent und Freiburg mit<br />
1,6 Prozent. Auch nach unten sind die<br />
Abweichungen vom Bundesdurchschnitt<br />
insgesamt gering. Der Landkreis Leer im<br />
Nordwesten Niedersachsens liegt mit<br />
1,7 Prozent unter dem Durchschnitt am<br />
günstigsten in Deutschland. Dicht gefolgt<br />
von Ostprignitz-Ruppin und Nordhausen,<br />
beide in Thüringen, mit einer Abweichung<br />
von 1,6 Prozent.<br />
Während also die Spanne von 98,3 bis<br />
104,2 Prozent bei den Lebenshaltungskosten<br />
ohne Wohnen relativ eng beieinanderliegt,<br />
ändert sich das Bild bei<br />
Hinzunahme dieses Faktors deutlicher.<br />
Einschließlich der Wohnkosten liegt<br />
München mit einem Aufschlag von<br />
25,1 Prozent erwartungsgemäß an der<br />
Spitze. Damit ist das Leben in der bayerischen<br />
Landeshauptstadt um ein Viertel<br />
teurer als im deutschen Durchschnitt. An<br />
zweiter Stelle folgt der Landkreis München<br />
mit einem Aufschlag von immerhin<br />
noch 16,7 Prozent. Den dritten Platz<br />
belegt Frankfurt am Main mit einem<br />
Aufschlag von 15,9 Prozent, gefolgt von<br />
Stuttgart, wo das Leben immer noch<br />
14,8 Prozent teurer ist als im Durchschnitt.<br />
Demgegenüber stehen der Vogtlandkreis<br />
in Sachsen und die Stadt Greiz in<br />
Thüringen, die jeweils 9,5 Prozent unter<br />
dem Bundesdurchschnitt liegen. Knapp<br />
davor liegt die Stadt Görlitz in der Lausitz<br />
mit einer Abweichung von 9,4 Prozent.<br />
Pirmasens in Rheinland-Pfalz und der<br />
Salzlandkreis in Sachsen-Anhalt sind<br />
9,3 Prozent günstiger als der Durchschnitt.<br />
Damit beträgt die Kostendifferenz<br />
zwischen den Extremwerten 38 Prozent.<br />
AUCH EINKOMMEN ENTSCHEIDEND<br />
FÜR LEBENSVERHÄLTNISSE<br />
Neben den erheblichen regionalen<br />
Unterschieden wird auch das Stadt-Land-<br />
Gefälle deutlich. So liegen zwar Städte<br />
wie Leipzig, Dresden oder Erfurt unter<br />
dem Bundesdurchschnitt und sind damit<br />
insgesamt günstiger als viele Landkreise<br />
24 <strong>G+L</strong>
ZUKUNFT DORF<br />
LEBENSHALTUNGSKOSTEN<br />
Illustration: Laura Celine Heinemann<br />
in Baden-Württemberg oder Bayern.<br />
Im direkten Vergleich zwischen Stadt<br />
und Umland wird das Gefälle jedoch<br />
deutlich. So ermittelt die Studie für die<br />
Stadt Jena einen regionalen Preisindex<br />
von 103,1 Prozent, während der umgebende<br />
Saale-Holzland-Kreis mit einem<br />
Index von 92,8 Prozent mehr als 10 Prozent<br />
günstiger ist. Ähnlich verhält es sich<br />
in Trier. Während der Landkreis Trier-<br />
Saarburg mit 98,3 Prozent unter dem<br />
Bundesdurchschnitt liegt, ist die Stadt<br />
Trier mit 104,3 Prozent gut sechs Prozentpunkte<br />
teurer.<br />
Zur Einordnung der Zahlen und der<br />
Bewertung der realen Lebenssituation ist<br />
neben den Lebenshaltungskosten auch<br />
das Einkommen von entscheidendem<br />
Wert. Denn nur aus dem Zusammenspiel<br />
von Einkommen und Ausgaben ergibt sich<br />
schließlich, wie gut es sich insgesamt an<br />
einem Ort (über-)leben lässt. Eine Studie<br />
des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen<br />
Instituts (WSI) stellte in einer Untersuchung<br />
im Jahre 2022 zum Teil frappierende<br />
Einkommensunterschiede in den<br />
einzelnen Landkreisen Deutschlands fest.<br />
Dass die Lebensverhältnisse aufgrund der<br />
ungleichen Löhne nicht noch weiter<br />
auseinander divergieren, liege laut den<br />
Autor*innen der Studie einerseits an den<br />
Abgaben an öffentliche Dienstleistungen<br />
und der Umverteilung durch Steuern,<br />
Sozialabgaben und Transferzahlungen<br />
und andererseits am jeweiligen Preisniveau<br />
einer Region. Regionen mit hohem<br />
Einkommen haben tendenziell auch<br />
höhere Mieten und sonstige Preise.<br />
AUF DEM LAND BLEIBT MEHR VOM<br />
LOHN ÜBRIG<br />
Ähnliche Zusammenhänge hatten 2019<br />
bereits Forscher*innen des Instituts für<br />
Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB)<br />
und der Uni Trier gemacht. Aus ihrer<br />
Entwicklung des regionalen Preisindex<br />
gingen vor allem Unterschiede zwischen<br />
den Städten und den ländlichen Gebieten<br />
hervor. Laut ihrer Untersuchung verdienten<br />
Vollzeitbeschäftigte in ostdeutschen<br />
Großstädten pro Tag durchschnittlich<br />
97 Euro, auf dem Land waren es dagegen<br />
nur 79 Euro. Diese Nominallöhne<br />
glichen die Forscher*innen mit den jeweiligen<br />
Gegebenheiten vor Ort – unter<br />
anderem den Wohn- und Lebensmittelpreisen<br />
– ab. Bei diesen preisbereinigten<br />
Reallöhnen stellten sie fest, dass die<br />
Menschen auf dem Land zwar insgesamt<br />
weniger verdienten, ihnen aber von<br />
diesem Gehalt nach Abzug der Lebenshaltungskosten<br />
anteilig mehr übrigblieb<br />
als den Menschen in der Stadt.<br />
Die Forscher des WIS ergänzten 2022<br />
schließlich, dass der Nivellierungseffekt der<br />
Preisniveauunterschiede noch von jenem<br />
der staatlichen Umverteilung übertroffen<br />
werde. Im Ergebnis korrigieren beide<br />
Faktoren die Verteilung der real verfügbaren<br />
Einkommen zwischen den Regionen<br />
in erheblichem Umfang. Besorgniserregender<br />
als ein generelles Stadt-Land- oder<br />
Ost-West-Gefälle ist nach Ansicht der<br />
Autoren hingegen die Ungleichheit der<br />
personellen Einkommensverteilung mit<br />
zum Teil überdurchschnittlich hohen verfügbaren<br />
Pro-Kopf-Einkommen. Insbesondere<br />
in einigen kleineren Städten oder ländlichen<br />
Gebieten mit sehr hohen Einkommen<br />
werde der Durchschnitt durch eine überschaubare<br />
Zahl sehr reicher Haushalte<br />
beeinflusst. Für diese Gruppe dürften die<br />
Unterschiede in den Lebenshaltungskosten<br />
letztlich kaum eine Rolle spielen.<br />
Weiter auf Seite 28<br />
<strong>G+L</strong> 25
IN EUROPAS<br />
DÖRFERN<br />
Wir haben uns umgesehen, welche Projekte in kleineren Gemeinden europaweit<br />
umgesetzt wurden. Eine Auswahl – von der italienischen Küste über<br />
Hotels in den österreichischen Bergen bis hin zum Wald in Großbritannien.<br />
REDAKTION <strong>G+L</strong><br />
MARINA SAN GREGORIO, PATÙ, ITALIEN<br />
An der südöstlichen Spitze Italiens, an<br />
der Küste der Salento-Halbinsel – dem<br />
„Absatz“ des italienischen Stiefels – liegt<br />
Marina San Gregorio. Das kleine Dorf<br />
gehört zur Gemeinde Patù in der Region<br />
Apulien. Openfabric realisierte hier 2023<br />
einen neuen Platz direkt an der Küste: La<br />
Rotonda. Das Büro für Landschaftsarchitektur<br />
und Stadtplanung mit Sitzen in<br />
Rotterdam und Mailand arbeitete für<br />
das Projekt mit Dario Russo Architetto<br />
und Giuseppe Grecuccio Engineering<br />
zusammen. Eine S-förmig geschwungene<br />
Treppenanlage bietet Sitzmöglichkeiten<br />
und macht den Platz davor, im Aufbau<br />
einem Theater ähnlich, zur Bühne. Zudem<br />
gleichen die Stufen die leichten Höhenunterschiede<br />
im Gelände aus. In einem<br />
neuen Pavillon können Festlichkeiten<br />
stattfinden; einzeln gesetzte Tamarisken<br />
säumen die Mauer zur Küste. Durch die<br />
Ausrichtung mit Blick nach Westen lässt<br />
sich von hier der Sonnenuntergang<br />
über dem Mittelmeer beobachten – jetzt<br />
vor neuer Kulisse.<br />
Foto: Openfabric<br />
30 <strong>G+L</strong>
ZUKUNFT DORF<br />
IN EUROPAS DÖRFERN<br />
MONTCEL, FRANKREICH<br />
In der etwas mehr als 1000 Einwohner*innen<br />
zählenden Gemeinde<br />
Montcel im Département Savoie ist ein<br />
neuer Treffpunkt entstanden. 2023<br />
wurde dort der Square du Nid fertiggestellt,<br />
nach einem Entwurf von Atelier<br />
LJN in Zusammenarbeit mit ALP’VRD<br />
Ingénierie. Nahe den örtlichen Tennisplätzen<br />
und einer Boule-Bahn gelegen,<br />
sollte ein Platz für die Gemeinschaft<br />
entstehen, für alle Generationen und mit<br />
Spielmöglichkeiten. Das Grundstück mit<br />
Hanglage machten die Planer*innen zur<br />
Tugend: Beidseitig eines Weges, den<br />
Planer*innen zufolge als strukturierende<br />
Achse gedacht, sind Klettergriffe,<br />
Rutschen, ein Netz aus Seilen und mehr<br />
in den Hang hineingesetzt und nutzen<br />
die abschüssige Fläche so für Spielgeräte.<br />
Den Baumbestand bezogen<br />
die Planer*innen mit ein – ebenso wie<br />
einen alten asphaltierten Tennisplatz.<br />
Diesen wandelten sie in einen Parcous<br />
um, in dem Kinder nun Radfahren<br />
üben können.<br />
Foto: Christophe Lecardonnel<br />
<strong>G+L</strong> 31
KOMMENTAR<br />
BITTE EINMAL<br />
DIE STÄDTISCHE<br />
BRILLE ABLEGEN!<br />
LAMIA MESSARI-BECKER<br />
AUTORIN<br />
Lamia MessariBecker<br />
wurde in Larache<br />
(Marokko) geboren<br />
und kam nach<br />
Deutschland, um<br />
zu studieren. Nach<br />
einem Sprachkurs<br />
und dem BauingenieurwesenStudium<br />
promovierte<br />
MessariBecker zur<br />
Dr.Ing. zum Thema<br />
„CO 2<br />
Minderung im<br />
Gebäudebestand“.<br />
Seit 2014 ist<br />
sie Professorin für<br />
Gebäudetechnologie<br />
und Bauphysik an<br />
der Universität<br />
Siegen (z. Zt. beurlaubt).<br />
<strong>2024</strong> wurde<br />
sie als Vordenkerin<br />
ausgezeichnet. Seit<br />
<strong>2024</strong> ist Messari<br />
Becker Staatssekretärin<br />
im Hessischen<br />
Ministerium für<br />
Wirtschaft, Energie,<br />
Verkehr, Wohnen<br />
und ländlichen Raum.<br />
Wer ein gelungenes Dorfleben 4.0<br />
verspricht, muss die Kluft zwischen Stadt<br />
und Land bekämpfen, eine räumlich<br />
differenzierte Nachhaltigkeitspolitik<br />
betreiben, die die Belange städtischer<br />
und ländlicher Regionen gleichermaßen<br />
im Blick hat, und vor allem eins: Die<br />
städtische Brille ablegen! Das bedeutet,<br />
Stadt und Land als Partner anzuerkennen.<br />
Denn es gibt keine erfolgreichen Städte<br />
ohne erfolgreichen ländlichen Raum. Es<br />
ist wichtig, dass Orte für Menschen<br />
funktionieren, egal ob Stadt oder Land.<br />
Zwar hat jeder „Raum“ seine Stärken,<br />
etwa die kulturellen Angebote einer Stadt<br />
beziehungsweise die Erholungsräume<br />
einer ländlichen Region. Die Grundversorgung<br />
und Daseinvorsorge rund um<br />
Wohnen, Energie, Gesundheit, Bildung,<br />
Verkehr et cetera müssen aber in beiden<br />
Räumen funktionieren.<br />
Mit der teilweisen Verlagerung der<br />
Arbeitswelt ins Digitale böte sich der<br />
ländliche Raum nicht nur als günstiger<br />
Wohnort, sondern grundsätzlich auch<br />
als Arbeitsort an. Voraussetzung dafür<br />
ist eine funktionierende Infrastruktur<br />
inklusive Digitalisierung. Zur Schaffung<br />
gleichwertiger Lebensverhältnisse in<br />
Stadt und Land gehört eine Arbeits- und<br />
Industriepolitik, die weniger stadt- und<br />
metropolenzentrisch ist.<br />
Nötig ist auch eine Förderpolitik, die das<br />
Umland als Bindeglied zwischen Stadt<br />
und Land obligatorisch mitdenkt. Und nur<br />
eine gleichwertige leistungsfähige Infrastruktur<br />
hilft, ländliche Räume attraktiv für<br />
junge Menschen und Unternehmen zu<br />
machen, und zwar langfristig. Ohne diese<br />
Basis bleibt das Versprechen „gleichwertige<br />
Lebensverhältnisse“ oder auch ein<br />
Dorfleben 4.0 ein Verwalten von Mangel<br />
und Strukturschwäche.<br />
Bei der Nachhaltigkeitspolitik wird bisher<br />
zu oft eine städtische urbane Perspektive<br />
eingenommen, die logischerweise die<br />
Belange ländlichen Raums übersieht.<br />
Es gibt keine<br />
erfolgreichen Städte<br />
ohne erfolgreichen<br />
ländlichen Raum, sagt<br />
Lamia MessariBecker,<br />
Professorin und derzeit<br />
Staatssekretärin im<br />
Hessischen Ministerium<br />
für Wirtschaft, Energie,<br />
Verkehr, Wohnen und<br />
ländlichen Raum.<br />
Foto: © Astrid Eckert<br />
38 <strong>G+L</strong>
ZUKUNFT DORF<br />
KOMMENTAR LAMIA MESSARI-BECKER<br />
Einige Beispiele:<br />
So blendet eine Mobilitätswende, die nur<br />
auf E-Mobilität und ÖPNV setzt, die<br />
Lebensrealität auf dem Land aus.<br />
E-Infrastruktur und ÖPNV sind hier<br />
unzureichend ausgebaut. Auf dem Land<br />
sind viele Menschen und Betriebe auf<br />
Autos angewiesen. Ein digital vernetztes<br />
Mobilitäts angebot kann helfen, setzt<br />
aber eine flächendeckende Digitalisierung<br />
voraus. Es gibt in der Mobilitätswende<br />
nicht „die“ eine Lösung, die für<br />
alle Menschen gut funktioniert. Aber alle<br />
Menschen haben Recht auf Mobilität,<br />
egal wo sie leben. Der ländliche Raum<br />
braucht hier andere passgenaue<br />
Lösungen.<br />
Die vieldiskutierte (und abgewendete)<br />
EU-Sanierungspflicht ließ außer Acht,<br />
dass es sich bei den betroffenen Gebäuden<br />
zu 25 Prozent um ältere Einfamilienhäuser<br />
handelt, die oft im ländlichen<br />
Raum liegen. Diese Gebäude zu sanieren,<br />
überfordert viele Menschen finanziell.<br />
Hier wäre eine sozial-räumliche Ausdifferenzierung<br />
wichtig.<br />
Auch im Heizungsgesetz fehlte der Blick<br />
für räumliche Unterschiede. So verfügt<br />
der ländliche Raum nicht immer über<br />
das notwendige ausgebaute Stromnetz,<br />
aber über Potenzial für Biomasse. Der<br />
Osten Deutschlands hat zum Teil ausgebaute<br />
Fernwärmenetze. Dies verdeutlicht,<br />
von Beginn an wäre die Offenheit<br />
gegenüber unterschiedlichen Erfüllungsoptionen<br />
geboten, damit alle Menschen<br />
in ihren jeweiligen Räumen mitmachen<br />
können.<br />
Beim Ausbau erneuerbarer Energien<br />
sind große Flächen für Windparks<br />
notwendig, die es eher in ländlichen<br />
Räumen gibt – mit allen Konflikten, die<br />
dazugehören. Eine diversifizierte<br />
Energie wende, die nebst Wind- und<br />
Sonnenkraft auf weitere erneuerbare<br />
Energiequellen setzt, wie Wasserkraft<br />
oder Bioenergie in Kooperat ion mit der<br />
Landwirtschaft, würde den ländlichen<br />
Raum mitnehmen und eben auch dort<br />
Wertschöpfung generieren.<br />
In der Debatte um den ausufernden<br />
Flächenverbrauch neigen viele dazu, Einfamilienhäuser<br />
und die damit verbundene<br />
Lebensweise, oft in ländlichen Räumen, zu<br />
verurteilen. Wo war es denn während der<br />
Pandemie besser auszuhalten als in geräumigen<br />
Häusern mit Gärten?<br />
Es mag sein, dass auf dem Land mehr<br />
Wohnfläche verbraucht wird, ja. Aber<br />
Menschen auf dem Land agieren in<br />
anderen Bereichen ökologischer, etwa in<br />
Ernährung, Konsum und Reparaturen. Und<br />
der ländliche Raum bindet durch die<br />
Grünräume Unmengen an CO 2<br />
-Emissionen.<br />
Natürlich lassen sich schrittweise<br />
auch auf dem Land neue Bauweisen und<br />
mehr Wohnungsbau etablieren. Klar ist,<br />
das bedeutet eine neue Baukultur. Und<br />
Baukultur stiftet Identität. Dazu muss man<br />
die Menschen mitnehmen. Und das heißt,<br />
dieser Prozess braucht Zeit. Baukultur<br />
muss eben wachsen.<br />
Was ist<br />
Ihr nächstes<br />
Projekt?<br />
<strong>G+L</strong> 39<br />
www.berliner-seilfabrik.com
SOZIALE<br />
INFRASTRUKTUR<br />
Für die Lebensqualität in einer Region<br />
spielt die vorhandene Infrastruktur eine<br />
wesentliche Rolle. Dazu zählen sowohl<br />
die Strukturen der Daseinsvorsorge, das<br />
heißt, die als grundlegend empfundenen<br />
Dienstleistungen, die in angemessener<br />
Qualität, in zumutbarer Entfernung und zu<br />
angemessenen Preisen zur Verfügung<br />
stehen müssen. Darüber hinaus ist aber<br />
auch die soziale Infrastruktur von erheblicher<br />
Bedeutung für das Wohlbefinden<br />
am Wohnort. In ländlichen Räumen<br />
treffen Herausforderungen und Potenziale<br />
aufeinander. Einerseits nimmt in dünn<br />
besiedelten Gebieten die Infrastruktur des<br />
täglichen Bedarfs ab. Andererseits<br />
etablieren sich jedoch zum Teil kreative<br />
Lösungen, um sich den veränderten Bedingungen<br />
anzupassen. Zunächst zu den<br />
nüchternen Fakten.<br />
ENTFERNUNGEN ZU KITAS IN LÄND-<br />
LICHEN RÄUMEN GRÖSSER<br />
So ist beispielsweise die Ärztedichte auf<br />
dem Land geringer als in der Stadt. In<br />
der Studie „Zukunftschancen ländlicher<br />
Räume. Potentiale erkennen – Handlungsansätze<br />
gestalten“ von PwC erreichten<br />
dünn besiedelte ländliche Regionen nur<br />
62,4 Prozent des Versorgungsniveaus von<br />
Großstädten. Konkret bedeutete das im<br />
Jahr 2015, dass auf 100 000 Einwohner*innen<br />
131,1 Ärzte*innen kamen.<br />
Auch Krankenhäuser sind zunehmend<br />
gefährdet. Laut Bundesgesundheitsminister<br />
Karl Lauterbach sind viele Kliniken im<br />
ländlichen Raum bereits heute von der<br />
Insolvenz bedroht. Aber auch viele<br />
kleinere Kliniken sehen in der Krankenhausreform<br />
eine Gefahr. So sollen künftig<br />
vor allem große Kliniken ein breites<br />
Angebot, mehr Qualität und Spezialisierung<br />
bieten. Kleinere Krankenhäuser<br />
wären nur noch Grundversorger für<br />
überwiegend ambulante Behandlungen.<br />
Viele Krankenhausbetreiber*innen auf<br />
dem Land fordern deshalb eine Anpassung<br />
der Reform an die Bedürfnisse<br />
vor Ort.<br />
Die Untersuchung von PwC ergab<br />
außerdem, dass der ländliche Raum in<br />
der Pflege vergleichsweise gut aufgestellt<br />
ist: Bezogen auf die Bevölkerung über<br />
75 Jahre gab es dort die meisten Pflegekräfte<br />
je Einwohner*in. Eine Statistik der<br />
Plattform pflegemarkt.com ermittelte<br />
weiterhin, dass in Landgemeinden und<br />
Dörfern private Betreiber*innen einen<br />
großen Teil der vollstationären Pflege<br />
übernehmen und die Einrichtungen deutlich<br />
kleiner sind als in Großstädten.<br />
Schließlich untersuchten Forscher*innen<br />
im Rahmen des „Monitorings ländlicher<br />
Räume“ am Thünen-Institut für Ländliche<br />
Räume die Erreichbarkeit von Kindergärten.<br />
Sie stellten fest, dass sowohl die<br />
mittleren Entfernungen als auch die<br />
Wegezeiten zum nächsten Kindergarten<br />
in ländlichen Regionen mit durchschnittlich<br />
2,6 Kilometern rund einen Kilometer<br />
länger sind als in nicht-ländlichen<br />
Regionen mit durchschnittlich 1,4 Kilometern.<br />
Neben der reinen Erreichbarkeit<br />
spielen in der Realität auch die jeweiligen<br />
Betreuungskapazitäten und Betreuungszeiten<br />
der einzelnen Kindergärten<br />
eine Rolle, zu denen die Studie keine<br />
Angaben macht.<br />
EHRENAMTLICHES ENGAGEMENT HAT<br />
NACHWUCHSPROBLEME<br />
Insgesamt beschreibt der Fachbericht<br />
Soziale Dorfentwicklung des Bundesministeriums<br />
für Ernährung und Landwirtschaft,<br />
dass aus Kostengründen die<br />
Anzahl der Versorgungsangebote mit der<br />
44 <strong>G+L</strong>
ZUKUNFT DORF<br />
SOZIALE INFRASTRUKTUR<br />
Illustration: Laura Celine Heinemann<br />
Einwohnerdichte generell abnimmt. Angebote<br />
der Daseinsvorsorge und Nahversorgung<br />
sind daher im ländlichen Raum<br />
weniger verfügbar.<br />
Das Modellvorhaben „Land(auf)Schwung“<br />
des Bundesministeriums für Ernährung<br />
und Landwirtschaft erprobte deshalb<br />
von 2015 bis 2019 in 13 vom demografischen<br />
Wandel besonders betroffenen<br />
ländlichen Regionen innovative Lösungen<br />
für die Daseinsvorsorge. Dazu gehörte<br />
der Einsatz digitaler Technologien zur<br />
Verbesserung der sozialen Infrastruktur<br />
auf dem Land, etwa telemedizinische<br />
Angebote zur Verbesserung der medizinischen<br />
Versorgung oder zur Übertragung<br />
von Schulunterricht. Neben adäquaten<br />
Bandbreiten und kommunalem<br />
IT-Support sind dazu laut Thünen-Institut<br />
auch jeweils geschulte und motivierte<br />
Ärzt*innen oder Lehrer*innen unabdingbar.<br />
Denn die Technik könne zwar<br />
unterstützen, aber den menschlichen<br />
Austausch nicht ersetzen.<br />
Diese soziale Komponente ist traditionell<br />
eine Stärke dörflicher Gemeinschaften.<br />
Vieles, was in der Stadt hauptamtlich<br />
geleistet wird, liegt auf dem Land in den<br />
Händen von Ehrenamtlichen. Sei es die<br />
Feuerwehr oder das Seniorencafé. Laut<br />
Bundesanstalt für Landwirtschaft und<br />
Ernährung hat das bürgerschaftliche Engagement<br />
auf dem Land einen höheren Stellenwert<br />
als in den Städten. Das Ehrenamt<br />
und ein lebendiges Vereinsleben stifte<br />
Gemeinschaftsgefühl und Zusammenhalt<br />
und sei mit ein Grund, warum Menschen<br />
gerne im ländlichen Raum lebten, sagte<br />
Claudia Müller vom Bundesministerium für<br />
Ernährung und Landwirtschaft im vergangenen<br />
Jahr. Auch die Brauchtumspflege sei<br />
auf dem Land stärker ausgeprägt als in der<br />
Stadt. Das Engagement in den Dörfern sei<br />
daher für deren Fortbestand unverzichtbar.<br />
Aber auch auf dem Land ist das Vereinswesen<br />
auf dem Rückzug, denn das<br />
ehrenamtliche Engagement hat zunehmend<br />
Nachwuchsprobleme. Viele Ältere<br />
würden ihre Aufgaben gerne weitergeben,<br />
finden aber niemanden, der<br />
sie übernimmt. Auch die fehlende<br />
oder mangelhafte Infrastruktur sei ein<br />
Problem. Verschiedene Förderprogramme<br />
des Bundes und Institutionen<br />
wie das Netzwerk Engagierte Stadt<br />
oder das Bundesnetzwerk Bürgerschaftliches<br />
Engagement versuchen deshalb,<br />
das bürgerschaftliche Engagement<br />
wieder zu stärken. Denn nur wenn<br />
sich Menschen engagieren, wird ein<br />
Ort lebendig.<br />
Weiter auf Seite 48<br />
<strong>G+L</strong> 45
REFERENZ<br />
BERGBAU –<br />
SPIELERISCH<br />
UND VIRTUELL<br />
Der brandenburgische Spielgerätehersteller SIK-Holz hat<br />
einen Spielplatz im Niederlausitzer Bergbaudorf Welzow<br />
erbaut, der die Bergbauvergangenheit und Techniken der<br />
Zukunft miteinander verbindet. Sogar mit Dinosauriern können<br />
die Kinder hier spielen.<br />
ARIAN SCHLICHENMAYER<br />
Der neue Spielplatz im<br />
brandenburgischen<br />
Welzow greift das<br />
Thema Bergbau auf.<br />
60 <strong>G+L</strong>
PRODUKTE<br />
REFERENZ<br />
AUTOR<br />
Arian Schlichenmayer<br />
studierte Biotechnologie<br />
und ist seit<br />
Januar 2022<br />
Redakteur bei <strong>G+L</strong><br />
und topos.<br />
Welzow ist ein kleiner Ort in der Niederlausitz<br />
mit langer Bergbauhistorie. Schon<br />
im 19. Jahrhundert wurden hier die ersten<br />
Flöze in kleinem Stil abgebaut; heute<br />
fördert der Tagebau Welzow-Süd bis zu<br />
20 Millionen Tonnen Braunkohle jährlich<br />
aus dem bis zu 15 Meter dicken Vorkommen.<br />
Als deutlich sichtbares Zeichen des<br />
dort betriebenen Abbaus erstreckt sich<br />
das Areal der Grube über eine Fläche,<br />
die mittlerweile einem Vielfachen des<br />
Welzower Ortsgebiets entspricht. Bald<br />
soll der Braunkohleabbau der Vergangenheit<br />
angehören und die zerstörte Fläche<br />
renaturiert werden. Spätestens im Jahr<br />
2038, vielleicht aber auch schon früher,<br />
wird das letzte Stück Braunkohle zutage<br />
gefördert werden.<br />
Angesichts der Vergangenheit Welzows<br />
als Bergbaudorf war es naheliegend, dass<br />
auch der neue Spielplatz am Kultur- und<br />
Gemeindezentrum Alte Dorfschule das<br />
Thema des Bergbaus aufgreift. Das Fördergerüst<br />
aus grün gestrichenem Robinienholz<br />
ist dem Untertagebau zuzuordnen, der<br />
anfänglich auch in Welzow betrieben<br />
wurde. Mit seiner typischen Gestalt und<br />
dem großen Förderrad an der Spitze steht<br />
er sinnbildlich für den Bergbau. Wichtiger<br />
noch als jede Symbolik: Der Turm lässt sich<br />
hervorragend bespielen. Ihm zur Seite<br />
stehen ein Kletterfelsen, der einem Stolleneingang<br />
nachempfunden wurde, und ein<br />
überdimensionierter, gelber Bergbauhelm<br />
inklusive stilisierter Karbidlampe. Zwischendrin<br />
finden sich immer wieder Lutki –<br />
zwergenähnliche Fabelwesen aus dem<br />
sorbischen Kulturkreis, die über die Spielanlage<br />
wachen. Auch sie bestehen aus<br />
dem vom brandenburgischen Hersteller<br />
SIK-Holz exklusiv verarbeiteten Robinienholz,<br />
das aus nachhaltig bewirtschafteten<br />
Wäldern in Brandenburg stammt.<br />
Die bespielbare historische Gerätschaft<br />
wird durch moderne Technik ergänzt.<br />
Mittels QR-Codes, die sich an den Spielgeräten<br />
befinden, ist es möglich, den<br />
Spielplatz in Augmented Reality (AR) zu<br />
erkunden. Dabei erscheinen auf dem<br />
Smartphone thematisch passende Objekte<br />
in der virtuellen Realität, etwa frühere<br />
Bergbauwerkzeuge. Mithilfe der AR<br />
wollen die Planer*innen des Spielplatzes<br />
den Aufwand und die Mühe verdeutlichen,<br />
mit der die Kumpel den Bergbau<br />
früher weitgehend von Hand bewerkstelligten.<br />
Auch hier, in der augmentierten<br />
Realität, finden sich die Lutki wieder,<br />
grüßen Besucher*innen und laden zum<br />
Spielen ein. Noch weiter zurück in die<br />
Vergangenheit des Ortes entführen die<br />
Dinosaurier in der AR. Ihre teils gewaltige<br />
Größe kann auf dem Welzower Tagebaumottospielplatz<br />
per Handy nahezu hautnah<br />
erlebt werden. So wird Geschichte<br />
durch moderne Technologie greifbar.<br />
Fotos: SIK-Holz<br />
Die Spielgeräte fertigte<br />
der Hersteller SIKHolz<br />
aus Robinienholz.<br />
<strong>G+L</strong> 61