G+L 7/2024

Zukunft Dorf Zukunft Dorf

20|07<br />

24<br />

MAGAZIN FÜR LANDSCHAFTSARCHITEKTUR<br />

UND STADTPLANUNG<br />

ZUKUNFT DORF


EDITORIAL<br />

Sehnsucht nach dörflicher Idylle und dem<br />

Leben auf dem Land? Die Perspektiven<br />

von Großstädter*innen auf den ländlichen<br />

Raum – und an welchen Stellen diese zu<br />

hinterfragen sind – thematisieren mehrere<br />

der Kurzkommentare ab Seite 22.<br />

In Deutschland habe das Dorf in jedem Ministerium seinen Platz,<br />

das sagte uns Klara Geywitz im Interview für dieses Heft. Die<br />

Interessen des ländlichen Raumes seien im politischen Berlin<br />

„wirklich immer präsent“, so die SPD-Bundesbauministerin. Ob man<br />

im ländlichen Raum unseres Landes diese „Präsenz“ tatsächlich<br />

wahrnimmt, ist nach den katastrophalen Ergebnissen der Ampel-<br />

Regierung in der Europawahl <strong>2024</strong> jedoch mehr als fraglich.<br />

57 Prozent der bundesdeutschen Bevölkerung lebt laut Bundesministerium<br />

für Ernährung und Landwirtschaft in ländlichen Räumen.<br />

Und die hat – ähnlich wie der Rest Deutschlands mit Ausnahme von<br />

insgesamt 15 Städten – am 9. Mai hauptsächlich die CDU/CSU in<br />

den alten Bundesländern respektive die AfD in den neuen Bundesländern<br />

gewählt.<br />

Gleichzeitig muss man Klara Geywitz lassen: Sie macht das Dorf<br />

und die Entwicklung ländlicher Räume unermüdlich immer und<br />

immer wieder zum Thema. Sie ist davon überzeugt, dass die<br />

Stärkung des ländlichen Raumes die Herausforderungen der Städte<br />

lindern kann, und setzt sich dafür ein, das Leben auf dem Land<br />

wieder einfacher zu machen – ob erfolgreich oder nicht, das<br />

werden erst die kommenden Jahre zeigen. Was der ländliche Raum<br />

jetzt wirklich braucht und ob das Land die Stadt wirklich entlasten<br />

kann, das sind die zwei großen Fragen dieser <strong>G+L</strong>.<br />

Dabei ist uns bewusst, dass es weder „das Dorf“ noch „den<br />

ländlichen Raum“ so gibt. Genau wie urbane Strukturen ist jeder<br />

rurale Ort ein Unikat und definiert sich durch eigene raumspezifische<br />

Gegebenheiten. Dennoch konnten wir mit den Schlagwörtern<br />

„Wohnen“, „Mobilität“, „Lebenshaltungskosten“, „Einkaufsverhalten“,<br />

„Energie“, „Wirtschaft“, „Soziale Infrastruktur“ und „Politisches<br />

Geschehen“ acht konkrete Herausforderungen definieren,<br />

die für die Entwicklung ländlicher Räume in Zukunft essenziell sein<br />

werden. Wo die ländlichen Räume in den einzelnen Bereichen<br />

jeweils stehen und wo große Fragezeichen herrschen, lesen Sie auf<br />

den folgenden Seiten.<br />

Apropos Europa:<br />

Was machen andere<br />

europäische Länder<br />

im ländlichen Raum?<br />

Die Redaktion stellt<br />

ab Seite 30 fünf<br />

Projekte vor.<br />

Das Interview mit<br />

Klara Geywitz lesen<br />

Sie ab Seite 16.<br />

Coverbild: Stijn te Strake via Unsplash; Illustration: Laura Celine Heinemann<br />

„Ohne Stadt kein<br />

Land“: Cem Özdemirs<br />

Kommentar auf<br />

Seite 51.<br />

Zusätzlich haben zahlreiche höchst spannende Persönlichkeiten –<br />

darunter Eva Maria Welskop-Deffaa, Lamia Messari-Becker und<br />

auch Cem Özdemir – sich die Zeit genommen, für dieses Heft eine<br />

Position zur Zukunft des ländlichen Raumes und dessen Bedeutung<br />

für die Entwicklung urbaner Räume zu verfassen. Sie alle vereint,<br />

dass unsere ländlichen Räume viel mehr Aufmerksamkeit brauchen.<br />

Hat Klara Geywitz also recht und die Interessen des ländlichen<br />

Raumes sind „wirklich immer präsent“, muss das in kurzfristiger<br />

Zukunft sichtbarer werden. Sonst verlieren Land und Stadt zusammen.<br />

THERESA RAMISCH<br />

CHEFREDAKTION<br />

t.ramisch@georg-media.de<br />

<strong>G+L</strong> 3


INHALT<br />

AKTUELLES<br />

06 SNAPSHOTS<br />

11 MOMENTAUFNAHME<br />

Gipfelglanz<br />

ZUKUNFT DORF<br />

12 WAS BRAUCHT DER LÄNDLICHE RAUM JETZT WIRKLICH?<br />

Wo die Herausforderungen und Chancen in ländlichen Regionen liegen<br />

14 WOHNEN<br />

Attraktiver Lebensraum – mit Herausforderungen<br />

16 „LAND LOHNT SICH“<br />

Bundesbauministerin Klara Geywitz im Interview<br />

20 MOBILITÄT<br />

Von privaten Pkws, Sharing-Angeboten und ÖPNV auf dem Land<br />

22 VOM TREND ZUR PERSPEKTIVE<br />

Kurzkommentar von Carola Neugebauer<br />

24 LEBENSHALTUNGSKOSTEN<br />

Welcher Faktor das Leben auf dem Land günstiger macht<br />

26 ES GILT, FLEXIBLE WOHNFORMEN VORZUDENKEN<br />

Kurzkommentar von Roland Spiller<br />

27 DIE NATUR BRAUCHT MEHR RAUM<br />

Kurzkommentar von Daniel Hoheneder<br />

28 EINKAUFEN<br />

Wie sich der tägliche Bedarf auf dem Land decken lässt<br />

30 IN EUROPAS DÖRFERN<br />

Fünf Projekte in ländlichen Räumen<br />

36 ENERGIE<br />

Die Auswirkungen der Energiewende auf den ländlichen Raum<br />

38 BITTE EINMAL DIE STÄDTISCHE BRILLE ABLEGEN!<br />

Kommentar von Lamia Messari-Becker<br />

40 WIRTSCHAFT<br />

Wie Hidden Champions lokale Wirtschaftsstrukturen prägen<br />

42 SORGENDE GESELLSCHAFT AUF DEM LAND<br />

Kurzkommentar von Eva Maria Welskop-Deffaa<br />

43 AKTIVIERT DEN GEBÄUDEBESTAND<br />

Kurzkommentar von Cornelia Haas<br />

44 SOZIALE INFRASTRUKTUR<br />

Über Ärztedichte, Pflege und die Erreichbarkeit von Kitas<br />

46 POLITIK VOM DORF HER DENKEN<br />

Kurzkommentar von Susanna Karawanskij<br />

47 GUTE IDEEN VERNETZEN<br />

Kurzkommentar von Ina Abel<br />

48 POLITISCHES GESCHEHEN<br />

Über Kommunalpolitik in der Krise und Beispiele für Lösungen<br />

50 LEERSTAND ERTÜCHTIGEN UND UMNUTZEN<br />

Kurzkommentar von Hans-Günter Henneke<br />

51 LÄNDLICHE RÄUME: VIELFÄLTIG UND STARK<br />

Kurzkommentar von Cem Özdemir<br />

Herausgeber:<br />

Deutsche Gesellschaft<br />

für Gartenkunst und<br />

Landschaftskultur e.V.<br />

(DGGL)<br />

Pariser Platz 6<br />

Allianz Forum<br />

10117 Berlin-Mitte<br />

www.dggl.org<br />

PRODUKTE<br />

52 LÖSUNGEN<br />

Spielräume<br />

60 REFERENZ<br />

Bergbau – spielerisch und virtuell<br />

RUBRIKEN<br />

62 Impressum<br />

62 Lieferquellen<br />

63 Stellenmarkt<br />

64 DGGL<br />

66 Sichtachse<br />

66 Vorschau<br />

<strong>G+L</strong> 5


WOHNEN<br />

JULIA TREICHEL<br />

AUTORIN<br />

Julia Treichel<br />

absolvierte an der<br />

TU München den<br />

Bachelor und Master<br />

in Landschaftsarchitektur<br />

und arbeitete<br />

in diversen Büros in<br />

München. Derzeit ist<br />

sie bei LAND Italia in<br />

Mailand tätig und<br />

engagiert sich auch<br />

freiberuflich in<br />

Theorie und Praxis<br />

zu sozialen und<br />

gestalterischen<br />

Fragen der Umwelt.<br />

Der sogenannte ländliche Raum bildet<br />

auch im 21. Jahrhundert eine der wichtigsten<br />

Raumkategorien in Deutschland. Laut<br />

Kategorisierung durch das Bundesinstitut<br />

für Bau-, Stadt- und Raumforschung<br />

(BBSR) entfallen in Deutschland rund<br />

70 Prozent der Flächen auf diese Kategorie.<br />

Sie prägen damit maßgeblich das<br />

Landschaftsbild Deutschlands und bieten<br />

den Menschen attraktive Lebensräume –<br />

und noch bezahlbaren Wohnraum.<br />

TRENDWENDE BEI JUNGEN FAMILIEN<br />

BEOBACHTET<br />

Laut einer Erhebung des Instituts der<br />

Deutschen Wirtschaft und des Allensbach-Instituts<br />

für den Verband der<br />

Sparda-Banken im Jahre 2023 lag der<br />

durchschnittliche Kaufpreis von Wohneigentum<br />

in Städten bei 4 180 Euro pro<br />

Quadratmeter. In den sieben größten<br />

deutschen Städten steigt der Preis im<br />

Mittel sogar auf 6 038 Euro pro Quadratmeter.<br />

Demgegenüber ermittelt<br />

die Studie auf dem Land einen durchschnittlichen<br />

Quadratmeterpreis von<br />

2 806 Euro. Der Kauf von Wohneigentum<br />

auf dem Land ist demnach fast ein<br />

Drittel günstiger als in der Stadt. Die<br />

Preise seien innerhalb der letzten zwei<br />

Jahre um rund ein Fünftel gestiegen.<br />

Die Schere zwischen teuren und günstigen<br />

Regionen klafft dabei immer weiter<br />

auseinander. So kostet eine 44 Quadratmeter<br />

große Wohnung in München<br />

genauso viel wie ein 451 Quadratmeter<br />

großes Haus im Kyffhäuserkreis in<br />

Thüringen. Während es junge Menschen<br />

unter 30 Jahren nach wie vor in die<br />

Groß- und Universitätsstädte zieht,<br />

beobachtet die Studie bei jungen Familien<br />

eine Trendwende. So verlieren alle<br />

sieben Großstädte Bevölkerung zwischen<br />

30 und 50 Jahren, vor allem Frankfurt,<br />

Stuttgart, München und Köln. Die Studie<br />

folgert, dass junge Familien eher ins<br />

Umland und aufs Land ziehen, wo<br />

Wohneigentum günstiger ist. Auch das<br />

Thünen-Institut beobachtet, dass viele<br />

ländlich geprägte Kreise zuletzt Wanderungsgewinne<br />

verzeichnen konnten.<br />

Aber nicht nur die Grundstückspreise<br />

locken wieder mehr Menschen in ländliche<br />

Regionen. Laut einer Studie des<br />

Kriminologischen Forschungsinstituts<br />

Niedersachsen aus dem Jahr 2020 ist<br />

die Kriminalitätsrate in ländlichen Regionen<br />

generell niedriger als in städtischen<br />

Gebieten. Die geringere Bevölkerungsdichte,<br />

das engere soziale Netz und<br />

die geringere Anonymität können zur<br />

Sicherheit auf dem Land beitragen. Die<br />

unmittelbare Erreichbarkeit attraktiver,<br />

naturnaher Landschaftsräume und das<br />

Gefühl sozialer Nähe sind weitere<br />

Gründe, warum Menschen der Stadt<br />

den Rücken kehren und in kleinere<br />

Gemeinden ziehen.<br />

GEMEINSCHAFTLICHE WOHNPROJEKTE<br />

WERDEN BEREITS UMGESETZT<br />

Die Vermischung unterschiedlicher<br />

Lebensstile, aber auch allgemeine gesellschaftliche<br />

Veränderungen – allen voran<br />

die demografische Entwicklung – stellen<br />

ländliche Gemeinden vor neue Herausforderungen.<br />

Darauf versucht auch die<br />

Baukultur vor Ort zunehmend Antworten<br />

zu finden. Jahrzehntelang setzten ländliche<br />

Gemeinden bei der Siedlungsentwicklung<br />

auf Einfamilienhausgebiete.<br />

Diese resultierten aus dem seit den<br />

1960er-Jahren tradierten Lebensmodell<br />

der klassischen Kleinfamilie, das heute<br />

jedoch nicht mehr der Lebenswirklichkeit<br />

entspricht. Neben der Leerstandsentwicklung<br />

in den Ortskernen sind Ein- und<br />

Zweipersonenhaushalte in viel zu großen<br />

14 <strong>G+L</strong>


ZUKUNFT DORF<br />

WOHNEN<br />

Illustration: Laura Celine Heinemann<br />

Einfamilienhäusern ein aktuelles Problem<br />

der Dorfentwicklung.<br />

Heute seien auch gemeinschaftliche<br />

Wohnvorhaben für unterschiedliche Zielgruppen<br />

erforderlich, betont die Bayerische<br />

Verwaltung für Ländliche Entwicklung.<br />

Neben veränderten Bedürfnissen<br />

sind auch die Forderung nach ressourceneffizienterem<br />

Wohnen, Nachhaltigkeit<br />

und Klimaschutz gute Gründe dafür.<br />

Konzepte für gemeinschaftliche Wohnprojekte<br />

gibt es einige. Zum Beispiel das<br />

rollierende System, bei dem die Bewohner*innen<br />

entsprechend ihrer aktuellen<br />

Lebensphase den Wohnort wechseln<br />

und dabei das gesamte Wohnungsangebot<br />

im Ortskern und in den Siedlungsgebieten<br />

nutzen. Ein anderer Ansatz ist<br />

das Mehrgenerationenwohnen, bei dem<br />

Menschen unabhängig von verwandtschaftlichen<br />

Beziehungen in einer<br />

Gemeinschaft zusammenleben. Diese<br />

Form des Zusammenlebens kann im<br />

Einfamilienhaus beginnen und bis hin<br />

zu Großprojekten reichen, bei denen<br />

beispielsweise alte Industrieanlagen oder<br />

ein alter Bauernhof umgebaut werden.<br />

Das Netzwerk Zukunftsorte unterstützt<br />

Interessierte, die sich in solche Wohnformen<br />

einbringen wollen, ebenso wie<br />

Kommunen oder Eigentümer*innen. So<br />

geschehen etwa im Gut Boltenhof in<br />

Brandenburg, wo ein Hofkomplex von<br />

circa 80 Akteur*innen durch eine<br />

Kombination aus privatem Wohnen,<br />

Ferienwohnungen und Seminarflächen<br />

sowie kleinbäuerlicher Landwirtschaft<br />

wiederbelebt wurde. Es ist ein Beispiel<br />

für eine gemeinwohlorientierte Immobilienentwicklung,<br />

die Baukultur als<br />

soziale, ökologische und ästhetische<br />

Praxis ernst nehme, betont das Netzwerk<br />

Zukunftsorte.<br />

Lange Zeit wurde Baukultur vor allem<br />

aus städtischer Perspektive betrachtet.<br />

In seinem Bericht „Baukultur in ländlichen<br />

Räumen“ betont jedoch das BBSR:<br />

„Baukultur meint nicht nur das eine oder<br />

andere schön gebaute Haus oder einen<br />

bemerkenswerten Architekturentwurf,<br />

sondern auch gut gestaltete öffentliche<br />

Räume, Infrastrukturen und Landschaften.“<br />

Baukultur ist sozusagen die Herstellung<br />

der gebauten Umwelt und der Umgang<br />

mit ihr. Der ländliche Raum mit seinen<br />

über Generationen gewachsenen<br />

Strukturen und engen sozialen Gefügen<br />

bietet dafür ein großes Potenzial.<br />

Weiter auf Seite 20<br />

<strong>G+L</strong> 15


LEBENSHAL-<br />

TUNGSKOSTEN<br />

Laut Statistischem Bundesamt liegen die<br />

monatlichen Lebenshaltungskosten in<br />

Deutschland bei 2 846 Euro. Davon<br />

entfallen durchschnittlich 36 Prozent auf<br />

Wohnen und Energie und 15 Prozent auf<br />

Nahrungsmittel, Getränke und Tabakwaren.<br />

Je nach Lebensstil und Wohnort<br />

sind die Lebensbedingungen und Ausgaben<br />

sehr unterschiedlich. Das zeigt eine<br />

Studie zum regionalen Preisindex, die<br />

das Institut der deutschen Wirtschaft (IW)<br />

und das Bundesinstitut für Bau-, Stadtund<br />

Raumforschung (BBSR) durchgeführt<br />

haben. Für die Studie wurden Preisdaten<br />

für verschiedene Waren und Dienstleistungen<br />

in 400 Kreisen über einen Zeitraum<br />

von drei Jahren ausgewertet. Im Juli 2023<br />

veröffentlichen die Autor*innen dann ihre<br />

Ergebnisse. Die Grundaussage überrascht<br />

zunächst nicht: Die Lebenshaltungskosten<br />

in Deutschland unterscheiden sich je nach<br />

Region teilweise deutlich. Und weiterhin,<br />

auf dem Land sind die Lebenshaltungskosten<br />

grundsätzlich günstiger als in der Stadt.<br />

MÜNCHEN STEHT ERWARTUNGSGE-<br />

MÄSS AN DER SPITZE<br />

Betrachtet man die Studie im Detail, wird<br />

deutlich, dass vor allem der Faktor<br />

Wohnen für die Unterschiede verantwortlich<br />

ist. Sieht man sich den Index ohne<br />

diesen Faktor an, sind die Abweichungen<br />

vom Bundesdurchschnitt deutlich<br />

geringer. Dann führt die baden-württembergische<br />

Landeshauptstadt Stuttgart mit<br />

einem Aufschlag von 4,2 Prozent auf den<br />

Bundesdurchschnitt das Ranking an. Es<br />

folgen München mit 2,1 Prozent, Aschaffenburg<br />

mit 1,8 Prozent und Freiburg mit<br />

1,6 Prozent. Auch nach unten sind die<br />

Abweichungen vom Bundesdurchschnitt<br />

insgesamt gering. Der Landkreis Leer im<br />

Nordwesten Niedersachsens liegt mit<br />

1,7 Prozent unter dem Durchschnitt am<br />

günstigsten in Deutschland. Dicht gefolgt<br />

von Ostprignitz-Ruppin und Nordhausen,<br />

beide in Thüringen, mit einer Abweichung<br />

von 1,6 Prozent.<br />

Während also die Spanne von 98,3 bis<br />

104,2 Prozent bei den Lebenshaltungskosten<br />

ohne Wohnen relativ eng beieinanderliegt,<br />

ändert sich das Bild bei<br />

Hinzunahme dieses Faktors deutlicher.<br />

Einschließlich der Wohnkosten liegt<br />

München mit einem Aufschlag von<br />

25,1 Prozent erwartungsgemäß an der<br />

Spitze. Damit ist das Leben in der bayerischen<br />

Landeshauptstadt um ein Viertel<br />

teurer als im deutschen Durchschnitt. An<br />

zweiter Stelle folgt der Landkreis München<br />

mit einem Aufschlag von immerhin<br />

noch 16,7 Prozent. Den dritten Platz<br />

belegt Frankfurt am Main mit einem<br />

Aufschlag von 15,9 Prozent, gefolgt von<br />

Stuttgart, wo das Leben immer noch<br />

14,8 Prozent teurer ist als im Durchschnitt.<br />

Demgegenüber stehen der Vogtlandkreis<br />

in Sachsen und die Stadt Greiz in<br />

Thüringen, die jeweils 9,5 Prozent unter<br />

dem Bundesdurchschnitt liegen. Knapp<br />

davor liegt die Stadt Görlitz in der Lausitz<br />

mit einer Abweichung von 9,4 Prozent.<br />

Pirmasens in Rheinland-Pfalz und der<br />

Salzlandkreis in Sachsen-Anhalt sind<br />

9,3 Prozent günstiger als der Durchschnitt.<br />

Damit beträgt die Kostendifferenz<br />

zwischen den Extremwerten 38 Prozent.<br />

AUCH EINKOMMEN ENTSCHEIDEND<br />

FÜR LEBENSVERHÄLTNISSE<br />

Neben den erheblichen regionalen<br />

Unterschieden wird auch das Stadt-Land-<br />

Gefälle deutlich. So liegen zwar Städte<br />

wie Leipzig, Dresden oder Erfurt unter<br />

dem Bundesdurchschnitt und sind damit<br />

insgesamt günstiger als viele Landkreise<br />

24 <strong>G+L</strong>


ZUKUNFT DORF<br />

LEBENSHALTUNGSKOSTEN<br />

Illustration: Laura Celine Heinemann<br />

in Baden-Württemberg oder Bayern.<br />

Im direkten Vergleich zwischen Stadt<br />

und Umland wird das Gefälle jedoch<br />

deutlich. So ermittelt die Studie für die<br />

Stadt Jena einen regionalen Preisindex<br />

von 103,1 Prozent, während der umgebende<br />

Saale-Holzland-Kreis mit einem<br />

Index von 92,8 Prozent mehr als 10 Prozent<br />

günstiger ist. Ähnlich verhält es sich<br />

in Trier. Während der Landkreis Trier-<br />

Saarburg mit 98,3 Prozent unter dem<br />

Bundesdurchschnitt liegt, ist die Stadt<br />

Trier mit 104,3 Prozent gut sechs Prozentpunkte<br />

teurer.<br />

Zur Einordnung der Zahlen und der<br />

Bewertung der realen Lebenssituation ist<br />

neben den Lebenshaltungskosten auch<br />

das Einkommen von entscheidendem<br />

Wert. Denn nur aus dem Zusammenspiel<br />

von Einkommen und Ausgaben ergibt sich<br />

schließlich, wie gut es sich insgesamt an<br />

einem Ort (über-)leben lässt. Eine Studie<br />

des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen<br />

Instituts (WSI) stellte in einer Untersuchung<br />

im Jahre 2022 zum Teil frappierende<br />

Einkommensunterschiede in den<br />

einzelnen Landkreisen Deutschlands fest.<br />

Dass die Lebensverhältnisse aufgrund der<br />

ungleichen Löhne nicht noch weiter<br />

auseinander divergieren, liege laut den<br />

Autor*innen der Studie einerseits an den<br />

Abgaben an öffentliche Dienstleistungen<br />

und der Umverteilung durch Steuern,<br />

Sozialabgaben und Transferzahlungen<br />

und andererseits am jeweiligen Preisniveau<br />

einer Region. Regionen mit hohem<br />

Einkommen haben tendenziell auch<br />

höhere Mieten und sonstige Preise.<br />

AUF DEM LAND BLEIBT MEHR VOM<br />

LOHN ÜBRIG<br />

Ähnliche Zusammenhänge hatten 2019<br />

bereits Forscher*innen des Instituts für<br />

Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB)<br />

und der Uni Trier gemacht. Aus ihrer<br />

Entwicklung des regionalen Preisindex<br />

gingen vor allem Unterschiede zwischen<br />

den Städten und den ländlichen Gebieten<br />

hervor. Laut ihrer Untersuchung verdienten<br />

Vollzeitbeschäftigte in ostdeutschen<br />

Großstädten pro Tag durchschnittlich<br />

97 Euro, auf dem Land waren es dagegen<br />

nur 79 Euro. Diese Nominallöhne<br />

glichen die Forscher*innen mit den jeweiligen<br />

Gegebenheiten vor Ort – unter<br />

anderem den Wohn- und Lebensmittelpreisen<br />

– ab. Bei diesen preisbereinigten<br />

Reallöhnen stellten sie fest, dass die<br />

Menschen auf dem Land zwar insgesamt<br />

weniger verdienten, ihnen aber von<br />

diesem Gehalt nach Abzug der Lebenshaltungskosten<br />

anteilig mehr übrigblieb<br />

als den Menschen in der Stadt.<br />

Die Forscher des WIS ergänzten 2022<br />

schließlich, dass der Nivellierungseffekt der<br />

Preisniveauunterschiede noch von jenem<br />

der staatlichen Umverteilung übertroffen<br />

werde. Im Ergebnis korrigieren beide<br />

Faktoren die Verteilung der real verfügbaren<br />

Einkommen zwischen den Regionen<br />

in erheblichem Umfang. Besorgniserregender<br />

als ein generelles Stadt-Land- oder<br />

Ost-West-Gefälle ist nach Ansicht der<br />

Autoren hingegen die Ungleichheit der<br />

personellen Einkommensverteilung mit<br />

zum Teil überdurchschnittlich hohen verfügbaren<br />

Pro-Kopf-Einkommen. Insbesondere<br />

in einigen kleineren Städten oder ländlichen<br />

Gebieten mit sehr hohen Einkommen<br />

werde der Durchschnitt durch eine überschaubare<br />

Zahl sehr reicher Haushalte<br />

beeinflusst. Für diese Gruppe dürften die<br />

Unterschiede in den Lebenshaltungskosten<br />

letztlich kaum eine Rolle spielen.<br />

Weiter auf Seite 28<br />

<strong>G+L</strong> 25


IN EUROPAS<br />

DÖRFERN<br />

Wir haben uns umgesehen, welche Projekte in kleineren Gemeinden europaweit<br />

umgesetzt wurden. Eine Auswahl – von der italienischen Küste über<br />

Hotels in den österreichischen Bergen bis hin zum Wald in Großbritannien.<br />

REDAKTION <strong>G+L</strong><br />

MARINA SAN GREGORIO, PATÙ, ITALIEN<br />

An der südöstlichen Spitze Italiens, an<br />

der Küste der Salento-Halbinsel – dem<br />

„Absatz“ des italienischen Stiefels – liegt<br />

Marina San Gregorio. Das kleine Dorf<br />

gehört zur Gemeinde Patù in der Region<br />

Apulien. Openfabric realisierte hier 2023<br />

einen neuen Platz direkt an der Küste: La<br />

Rotonda. Das Büro für Landschaftsarchitektur<br />

und Stadtplanung mit Sitzen in<br />

Rotterdam und Mailand arbeitete für<br />

das Projekt mit Dario Russo Architetto<br />

und Giuseppe Grecuccio Engineering<br />

zusammen. Eine S-förmig geschwungene<br />

Treppenanlage bietet Sitzmöglichkeiten<br />

und macht den Platz davor, im Aufbau<br />

einem Theater ähnlich, zur Bühne. Zudem<br />

gleichen die Stufen die leichten Höhenunterschiede<br />

im Gelände aus. In einem<br />

neuen Pavillon können Festlichkeiten<br />

stattfinden; einzeln gesetzte Tamarisken<br />

säumen die Mauer zur Küste. Durch die<br />

Ausrichtung mit Blick nach Westen lässt<br />

sich von hier der Sonnenuntergang<br />

über dem Mittelmeer beobachten – jetzt<br />

vor neuer Kulisse.<br />

Foto: Openfabric<br />

30 <strong>G+L</strong>


ZUKUNFT DORF<br />

IN EUROPAS DÖRFERN<br />

MONTCEL, FRANKREICH<br />

In der etwas mehr als 1000 Einwohner*innen<br />

zählenden Gemeinde<br />

Montcel im Département Savoie ist ein<br />

neuer Treffpunkt entstanden. 2023<br />

wurde dort der Square du Nid fertiggestellt,<br />

nach einem Entwurf von Atelier<br />

LJN in Zusammenarbeit mit ALP’VRD<br />

Ingénierie. Nahe den örtlichen Tennisplätzen<br />

und einer Boule-Bahn gelegen,<br />

sollte ein Platz für die Gemeinschaft<br />

entstehen, für alle Generationen und mit<br />

Spielmöglichkeiten. Das Grundstück mit<br />

Hanglage machten die Planer*innen zur<br />

Tugend: Beidseitig eines Weges, den<br />

Planer*innen zufolge als strukturierende<br />

Achse gedacht, sind Klettergriffe,<br />

Rutschen, ein Netz aus Seilen und mehr<br />

in den Hang hineingesetzt und nutzen<br />

die abschüssige Fläche so für Spielgeräte.<br />

Den Baumbestand bezogen<br />

die Planer*innen mit ein – ebenso wie<br />

einen alten asphaltierten Tennisplatz.<br />

Diesen wandelten sie in einen Parcous<br />

um, in dem Kinder nun Radfahren<br />

üben können.<br />

Foto: Christophe Lecardonnel<br />

<strong>G+L</strong> 31


KOMMENTAR<br />

BITTE EINMAL<br />

DIE STÄDTISCHE<br />

BRILLE ABLEGEN!<br />

LAMIA MESSARI-BECKER<br />

AUTORIN<br />

Lamia Messari­Becker<br />

wurde in Larache<br />

(Marokko) geboren<br />

und kam nach<br />

Deutschland, um<br />

zu studieren. Nach<br />

einem Sprachkurs<br />

und dem Bauingenieurwesen­Studium<br />

promovierte<br />

Messari­Becker zur<br />

Dr.­Ing. zum Thema<br />

„CO 2<br />

­Minderung im<br />

Gebäudebestand“.<br />

Seit 2014 ist<br />

sie Professorin für<br />

Gebäudetechnologie<br />

und Bauphysik an<br />

der Universität<br />

Siegen (z. Zt. beurlaubt).<br />

<strong>2024</strong> wurde<br />

sie als Vordenkerin<br />

ausgezeichnet. Seit<br />

<strong>2024</strong> ist Messari­<br />

Becker Staatssekretärin<br />

im Hessischen<br />

Ministerium für<br />

Wirtschaft, Energie,<br />

Verkehr, Wohnen<br />

und ländlichen Raum.<br />

Wer ein gelungenes Dorfleben 4.0<br />

verspricht, muss die Kluft zwischen Stadt<br />

und Land bekämpfen, eine räumlich<br />

differenzierte Nachhaltigkeitspolitik<br />

betreiben, die die Belange städtischer<br />

und ländlicher Regionen gleichermaßen<br />

im Blick hat, und vor allem eins: Die<br />

städtische Brille ablegen! Das bedeutet,<br />

Stadt und Land als Partner anzuerkennen.<br />

Denn es gibt keine erfolgreichen Städte<br />

ohne erfolgreichen ländlichen Raum. Es<br />

ist wichtig, dass Orte für Menschen<br />

funktionieren, egal ob Stadt oder Land.<br />

Zwar hat jeder „Raum“ seine Stärken,<br />

etwa die kulturellen Angebote einer Stadt<br />

beziehungsweise die Erholungsräume<br />

einer ländlichen Region. Die Grundversorgung<br />

und Daseinvorsorge rund um<br />

Wohnen, Energie, Gesundheit, Bildung,<br />

Verkehr et cetera müssen aber in beiden<br />

Räumen funktionieren.<br />

Mit der teilweisen Verlagerung der<br />

Arbeitswelt ins Digitale böte sich der<br />

ländliche Raum nicht nur als günstiger<br />

Wohnort, sondern grundsätzlich auch<br />

als Arbeitsort an. Voraussetzung dafür<br />

ist eine funktionierende Infrastruktur<br />

inklusive Digitalisierung. Zur Schaffung<br />

gleichwertiger Lebensverhältnisse in<br />

Stadt und Land gehört eine Arbeits- und<br />

Industriepolitik, die weniger stadt- und<br />

metropolenzentrisch ist.<br />

Nötig ist auch eine Förderpolitik, die das<br />

Umland als Bindeglied zwischen Stadt<br />

und Land obligatorisch mitdenkt. Und nur<br />

eine gleichwertige leistungsfähige Infrastruktur<br />

hilft, ländliche Räume attraktiv für<br />

junge Menschen und Unternehmen zu<br />

machen, und zwar langfristig. Ohne diese<br />

Basis bleibt das Versprechen „gleichwertige<br />

Lebensverhältnisse“ oder auch ein<br />

Dorfleben 4.0 ein Verwalten von Mangel<br />

und Strukturschwäche.<br />

Bei der Nachhaltigkeitspolitik wird bisher<br />

zu oft eine städtische urbane Perspektive<br />

eingenommen, die logischerweise die<br />

Belange ländlichen Raums übersieht.<br />

Es gibt keine<br />

erfolgreichen Städte<br />

ohne erfolgreichen<br />

ländlichen Raum, sagt<br />

Lamia Messari­Becker,<br />

Professorin und derzeit<br />

Staatssekretärin im<br />

Hessischen Ministerium<br />

für Wirtschaft, Energie,<br />

Verkehr, Wohnen und<br />

ländlichen Raum.<br />

Foto: © Astrid Eckert<br />

38 <strong>G+L</strong>


ZUKUNFT DORF<br />

KOMMENTAR LAMIA MESSARI-BECKER<br />

Einige Beispiele:<br />

So blendet eine Mobilitätswende, die nur<br />

auf E-Mobilität und ÖPNV setzt, die<br />

Lebensrealität auf dem Land aus.<br />

E-Infrastruktur und ÖPNV sind hier<br />

unzureichend ausgebaut. Auf dem Land<br />

sind viele Menschen und Betriebe auf<br />

Autos angewiesen. Ein digital vernetztes<br />

Mobilitäts angebot kann helfen, setzt<br />

aber eine flächendeckende Digitalisierung<br />

voraus. Es gibt in der Mobilitätswende<br />

nicht „die“ eine Lösung, die für<br />

alle Menschen gut funktioniert. Aber alle<br />

Menschen haben Recht auf Mobilität,<br />

egal wo sie leben. Der ländliche Raum<br />

braucht hier andere passgenaue<br />

Lösungen.<br />

Die vieldiskutierte (und abgewendete)<br />

EU-Sanierungspflicht ließ außer Acht,<br />

dass es sich bei den betroffenen Gebäuden<br />

zu 25 Prozent um ältere Einfamilienhäuser<br />

handelt, die oft im ländlichen<br />

Raum liegen. Diese Gebäude zu sanieren,<br />

überfordert viele Menschen finanziell.<br />

Hier wäre eine sozial-räumliche Ausdifferenzierung<br />

wichtig.<br />

Auch im Heizungsgesetz fehlte der Blick<br />

für räumliche Unterschiede. So verfügt<br />

der ländliche Raum nicht immer über<br />

das notwendige ausgebaute Stromnetz,<br />

aber über Potenzial für Biomasse. Der<br />

Osten Deutschlands hat zum Teil ausgebaute<br />

Fernwärmenetze. Dies verdeutlicht,<br />

von Beginn an wäre die Offenheit<br />

gegenüber unterschiedlichen Erfüllungsoptionen<br />

geboten, damit alle Menschen<br />

in ihren jeweiligen Räumen mitmachen<br />

können.<br />

Beim Ausbau erneuerbarer Energien<br />

sind große Flächen für Windparks<br />

notwendig, die es eher in ländlichen<br />

Räumen gibt – mit allen Konflikten, die<br />

dazugehören. Eine diversifizierte<br />

Energie wende, die nebst Wind- und<br />

Sonnenkraft auf weitere erneuerbare<br />

Energiequellen setzt, wie Wasserkraft<br />

oder Bioenergie in Kooperat ion mit der<br />

Landwirtschaft, würde den ländlichen<br />

Raum mitnehmen und eben auch dort<br />

Wertschöpfung generieren.<br />

In der Debatte um den ausufernden<br />

Flächenverbrauch neigen viele dazu, Einfamilienhäuser<br />

und die damit verbundene<br />

Lebensweise, oft in ländlichen Räumen, zu<br />

verurteilen. Wo war es denn während der<br />

Pandemie besser auszuhalten als in geräumigen<br />

Häusern mit Gärten?<br />

Es mag sein, dass auf dem Land mehr<br />

Wohnfläche verbraucht wird, ja. Aber<br />

Menschen auf dem Land agieren in<br />

anderen Bereichen ökologischer, etwa in<br />

Ernährung, Konsum und Reparaturen. Und<br />

der ländliche Raum bindet durch die<br />

Grünräume Unmengen an CO 2<br />

-Emissionen.<br />

Natürlich lassen sich schrittweise<br />

auch auf dem Land neue Bauweisen und<br />

mehr Wohnungsbau etablieren. Klar ist,<br />

das bedeutet eine neue Baukultur. Und<br />

Baukultur stiftet Identität. Dazu muss man<br />

die Menschen mitnehmen. Und das heißt,<br />

dieser Prozess braucht Zeit. Baukultur<br />

muss eben wachsen.<br />

Was ist<br />

Ihr nächstes<br />

Projekt?<br />

<strong>G+L</strong> 39<br />

www.berliner-seilfabrik.com


SOZIALE<br />

INFRASTRUKTUR<br />

Für die Lebensqualität in einer Region<br />

spielt die vorhandene Infrastruktur eine<br />

wesentliche Rolle. Dazu zählen sowohl<br />

die Strukturen der Daseinsvorsorge, das<br />

heißt, die als grundlegend empfundenen<br />

Dienstleistungen, die in angemessener<br />

Qualität, in zumutbarer Entfernung und zu<br />

angemessenen Preisen zur Verfügung<br />

stehen müssen. Darüber hinaus ist aber<br />

auch die soziale Infrastruktur von erheblicher<br />

Bedeutung für das Wohlbefinden<br />

am Wohnort. In ländlichen Räumen<br />

treffen Herausforderungen und Potenziale<br />

aufeinander. Einerseits nimmt in dünn<br />

besiedelten Gebieten die Infrastruktur des<br />

täglichen Bedarfs ab. Andererseits<br />

etablieren sich jedoch zum Teil kreative<br />

Lösungen, um sich den veränderten Bedingungen<br />

anzupassen. Zunächst zu den<br />

nüchternen Fakten.<br />

ENTFERNUNGEN ZU KITAS IN LÄND-<br />

LICHEN RÄUMEN GRÖSSER<br />

So ist beispielsweise die Ärztedichte auf<br />

dem Land geringer als in der Stadt. In<br />

der Studie „Zukunftschancen ländlicher<br />

Räume. Potentiale erkennen – Handlungsansätze<br />

gestalten“ von PwC erreichten<br />

dünn besiedelte ländliche Regionen nur<br />

62,4 Prozent des Versorgungsniveaus von<br />

Großstädten. Konkret bedeutete das im<br />

Jahr 2015, dass auf 100 000 Einwohner*innen<br />

131,1 Ärzte*innen kamen.<br />

Auch Krankenhäuser sind zunehmend<br />

gefährdet. Laut Bundesgesundheitsminister<br />

Karl Lauterbach sind viele Kliniken im<br />

ländlichen Raum bereits heute von der<br />

Insolvenz bedroht. Aber auch viele<br />

kleinere Kliniken sehen in der Krankenhausreform<br />

eine Gefahr. So sollen künftig<br />

vor allem große Kliniken ein breites<br />

Angebot, mehr Qualität und Spezialisierung<br />

bieten. Kleinere Krankenhäuser<br />

wären nur noch Grundversorger für<br />

überwiegend ambulante Behandlungen.<br />

Viele Krankenhausbetreiber*innen auf<br />

dem Land fordern deshalb eine Anpassung<br />

der Reform an die Bedürfnisse<br />

vor Ort.<br />

Die Untersuchung von PwC ergab<br />

außerdem, dass der ländliche Raum in<br />

der Pflege vergleichsweise gut aufgestellt<br />

ist: Bezogen auf die Bevölkerung über<br />

75 Jahre gab es dort die meisten Pflegekräfte<br />

je Einwohner*in. Eine Statistik der<br />

Plattform pflegemarkt.com ermittelte<br />

weiterhin, dass in Landgemeinden und<br />

Dörfern private Betreiber*innen einen<br />

großen Teil der vollstationären Pflege<br />

übernehmen und die Einrichtungen deutlich<br />

kleiner sind als in Großstädten.<br />

Schließlich untersuchten Forscher*innen<br />

im Rahmen des „Monitorings ländlicher<br />

Räume“ am Thünen-Institut für Ländliche<br />

Räume die Erreichbarkeit von Kindergärten.<br />

Sie stellten fest, dass sowohl die<br />

mittleren Entfernungen als auch die<br />

Wegezeiten zum nächsten Kindergarten<br />

in ländlichen Regionen mit durchschnittlich<br />

2,6 Kilometern rund einen Kilometer<br />

länger sind als in nicht-ländlichen<br />

Regionen mit durchschnittlich 1,4 Kilometern.<br />

Neben der reinen Erreichbarkeit<br />

spielen in der Realität auch die jeweiligen<br />

Betreuungskapazitäten und Betreuungszeiten<br />

der einzelnen Kindergärten<br />

eine Rolle, zu denen die Studie keine<br />

Angaben macht.<br />

EHRENAMTLICHES ENGAGEMENT HAT<br />

NACHWUCHSPROBLEME<br />

Insgesamt beschreibt der Fachbericht<br />

Soziale Dorfentwicklung des Bundesministeriums<br />

für Ernährung und Landwirtschaft,<br />

dass aus Kostengründen die<br />

Anzahl der Versorgungsangebote mit der<br />

44 <strong>G+L</strong>


ZUKUNFT DORF<br />

SOZIALE INFRASTRUKTUR<br />

Illustration: Laura Celine Heinemann<br />

Einwohnerdichte generell abnimmt. Angebote<br />

der Daseinsvorsorge und Nahversorgung<br />

sind daher im ländlichen Raum<br />

weniger verfügbar.<br />

Das Modellvorhaben „Land(auf)Schwung“<br />

des Bundesministeriums für Ernährung<br />

und Landwirtschaft erprobte deshalb<br />

von 2015 bis 2019 in 13 vom demografischen<br />

Wandel besonders betroffenen<br />

ländlichen Regionen innovative Lösungen<br />

für die Daseinsvorsorge. Dazu gehörte<br />

der Einsatz digitaler Technologien zur<br />

Verbesserung der sozialen Infrastruktur<br />

auf dem Land, etwa telemedizinische<br />

Angebote zur Verbesserung der medizinischen<br />

Versorgung oder zur Übertragung<br />

von Schulunterricht. Neben adäquaten<br />

Bandbreiten und kommunalem<br />

IT-Support sind dazu laut Thünen-Institut<br />

auch jeweils geschulte und motivierte<br />

Ärzt*innen oder Lehrer*innen unabdingbar.<br />

Denn die Technik könne zwar<br />

unterstützen, aber den menschlichen<br />

Austausch nicht ersetzen.<br />

Diese soziale Komponente ist traditionell<br />

eine Stärke dörflicher Gemeinschaften.<br />

Vieles, was in der Stadt hauptamtlich<br />

geleistet wird, liegt auf dem Land in den<br />

Händen von Ehrenamtlichen. Sei es die<br />

Feuerwehr oder das Seniorencafé. Laut<br />

Bundesanstalt für Landwirtschaft und<br />

Ernährung hat das bürgerschaftliche Engagement<br />

auf dem Land einen höheren Stellenwert<br />

als in den Städten. Das Ehrenamt<br />

und ein lebendiges Vereinsleben stifte<br />

Gemeinschaftsgefühl und Zusammenhalt<br />

und sei mit ein Grund, warum Menschen<br />

gerne im ländlichen Raum lebten, sagte<br />

Claudia Müller vom Bundesministerium für<br />

Ernährung und Landwirtschaft im vergangenen<br />

Jahr. Auch die Brauchtumspflege sei<br />

auf dem Land stärker ausgeprägt als in der<br />

Stadt. Das Engagement in den Dörfern sei<br />

daher für deren Fortbestand unverzichtbar.<br />

Aber auch auf dem Land ist das Vereinswesen<br />

auf dem Rückzug, denn das<br />

ehrenamtliche Engagement hat zunehmend<br />

Nachwuchsprobleme. Viele Ältere<br />

würden ihre Aufgaben gerne weitergeben,<br />

finden aber niemanden, der<br />

sie übernimmt. Auch die fehlende<br />

oder mangelhafte Infrastruktur sei ein<br />

Problem. Verschiedene Förderprogramme<br />

des Bundes und Institutionen<br />

wie das Netzwerk Engagierte Stadt<br />

oder das Bundesnetzwerk Bürgerschaftliches<br />

Engagement versuchen deshalb,<br />

das bürgerschaftliche Engagement<br />

wieder zu stärken. Denn nur wenn<br />

sich Menschen engagieren, wird ein<br />

Ort lebendig.<br />

Weiter auf Seite 48<br />

<strong>G+L</strong> 45


REFERENZ<br />

BERGBAU –<br />

SPIELERISCH<br />

UND VIRTUELL<br />

Der brandenburgische Spielgerätehersteller SIK-Holz hat<br />

einen Spielplatz im Niederlausitzer Bergbaudorf Welzow<br />

erbaut, der die Bergbauvergangenheit und Techniken der<br />

Zukunft miteinander verbindet. Sogar mit Dinosauriern können<br />

die Kinder hier spielen.<br />

ARIAN SCHLICHENMAYER<br />

Der neue Spielplatz im<br />

brandenburgischen<br />

Welzow greift das<br />

Thema Bergbau auf.<br />

60 <strong>G+L</strong>


PRODUKTE<br />

REFERENZ<br />

AUTOR<br />

Arian Schlichenmayer<br />

studierte Biotechnologie<br />

und ist seit<br />

Januar 2022<br />

Redakteur bei <strong>G+L</strong><br />

und topos.<br />

Welzow ist ein kleiner Ort in der Niederlausitz<br />

mit langer Bergbauhistorie. Schon<br />

im 19. Jahrhundert wurden hier die ersten<br />

Flöze in kleinem Stil abgebaut; heute<br />

fördert der Tagebau Welzow-Süd bis zu<br />

20 Millionen Tonnen Braunkohle jährlich<br />

aus dem bis zu 15 Meter dicken Vorkommen.<br />

Als deutlich sichtbares Zeichen des<br />

dort betriebenen Abbaus erstreckt sich<br />

das Areal der Grube über eine Fläche,<br />

die mittlerweile einem Vielfachen des<br />

Welzower Ortsgebiets entspricht. Bald<br />

soll der Braunkohleabbau der Vergangenheit<br />

angehören und die zerstörte Fläche<br />

renaturiert werden. Spätestens im Jahr<br />

2038, vielleicht aber auch schon früher,<br />

wird das letzte Stück Braunkohle zutage<br />

gefördert werden.<br />

Angesichts der Vergangenheit Welzows<br />

als Bergbaudorf war es naheliegend, dass<br />

auch der neue Spielplatz am Kultur- und<br />

Gemeindezentrum Alte Dorfschule das<br />

Thema des Bergbaus aufgreift. Das Fördergerüst<br />

aus grün gestrichenem Robinienholz<br />

ist dem Untertagebau zuzuordnen, der<br />

anfänglich auch in Welzow betrieben<br />

wurde. Mit seiner typischen Gestalt und<br />

dem großen Förderrad an der Spitze steht<br />

er sinnbildlich für den Bergbau. Wichtiger<br />

noch als jede Symbolik: Der Turm lässt sich<br />

hervorragend bespielen. Ihm zur Seite<br />

stehen ein Kletterfelsen, der einem Stolleneingang<br />

nachempfunden wurde, und ein<br />

überdimensionierter, gelber Bergbauhelm<br />

inklusive stilisierter Karbidlampe. Zwischendrin<br />

finden sich immer wieder Lutki –<br />

zwergenähnliche Fabelwesen aus dem<br />

sorbischen Kulturkreis, die über die Spielanlage<br />

wachen. Auch sie bestehen aus<br />

dem vom brandenburgischen Hersteller<br />

SIK-Holz exklusiv verarbeiteten Robinienholz,<br />

das aus nachhaltig bewirtschafteten<br />

Wäldern in Brandenburg stammt.<br />

Die bespielbare historische Gerätschaft<br />

wird durch moderne Technik ergänzt.<br />

Mittels QR-Codes, die sich an den Spielgeräten<br />

befinden, ist es möglich, den<br />

Spielplatz in Augmented Reality (AR) zu<br />

erkunden. Dabei erscheinen auf dem<br />

Smartphone thematisch passende Objekte<br />

in der virtuellen Realität, etwa frühere<br />

Bergbauwerkzeuge. Mithilfe der AR<br />

wollen die Planer*innen des Spielplatzes<br />

den Aufwand und die Mühe verdeutlichen,<br />

mit der die Kumpel den Bergbau<br />

früher weitgehend von Hand bewerkstelligten.<br />

Auch hier, in der augmentierten<br />

Realität, finden sich die Lutki wieder,<br />

grüßen Besucher*innen und laden zum<br />

Spielen ein. Noch weiter zurück in die<br />

Vergangenheit des Ortes entführen die<br />

Dinosaurier in der AR. Ihre teils gewaltige<br />

Größe kann auf dem Welzower Tagebaumottospielplatz<br />

per Handy nahezu hautnah<br />

erlebt werden. So wird Geschichte<br />

durch moderne Technologie greifbar.<br />

Fotos: SIK-Holz<br />

Die Spielgeräte fertigte<br />

der Hersteller SIK­Holz<br />

aus Robinienholz.<br />

<strong>G+L</strong> 61

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