Kunstbulletin Juli/August 2024

Halt — Alles fliesst
Samstagern — Finden die Füsse keinen Halt,
rutscht der ganze Mensch. Gibt der Boden
nach, so verliert die Welt ihren Halt. Oder weist
der vieldeutig einsetzbare Titel ‹Halt›
der Ausstellung auf dem Biohof Froh Ussicht
von Martin Blum auf eine Pause hin, um sich
zu (be-)sammeln?
Das Kollektiv Lithic Alliance von Daniel V. Keller
(*1987) spielt mit dieser Doppeldeutigkeit und
weist mit einer intensiv grün leuchtenden LED-
Laufschrift darauf hin, dass auch Steine reden
können: ‹Steine lesen um die Zeit zu begreifen›
heisst das Werk, und wir müssen innehalten,
um die ganze Nachricht lesen zu können.
Wobei das Wort «lesen» hier doppelt besetzt
ist, denn es wird nicht nur als intellektuelle,
sondern auch als manuelle Tätigkeit verstanden:
Die Installation ist bewusst bei den «Lesesteinen»
platziert, also jenen Steinen, die in
mühsamer Handarbeit von Wiesen und Äckern
aufgelesen werden.
Zwei Installationen von Una Szeemann (*1975)
befassen sich mit der flüchtigen Materie des
Blitzes (‹Opposite Affinity›, Leuchtröhre an der
Scheunenwand) und mit der Bedeutung mittelalterlicher
Literatur zu Hexenpflanzen (‹Incantarsi
«Hedera helix»›, Bronzeguss im Hofladen).
Letztere ist eine Kombination aus Efeu und der
Chinesischen Hanfpalme, welche unter dem
Namen ‹Tessinerpalme› als invasiver Neophyt
auf der Schwarzen Liste steht. Man will ihr
so Einhalt gebieten. Kein Halten gibt es aber
bei Kindern, wenn sie Marshmallows grillen
können. Mickry3 haben mit ‹Meltingpoint› eine
Feuerstelle ganz darauf eingerichtet, diesem
Vergnügen keinen Einhalt zu gebieten.
Die Performance ‹Querbeet – Im Testfeld der
Wünsche›, ein Projekt von Tim Zulauf, wurde am
Eröffnungswochenende aufgeführt und ist als
Video per QR-Code vor Ort abrufbar. Ab nächstem
Jahr werden Carole Kambli und Sabine
Rusterholz mit Vorbereitung und Kuratorium
massgeblich an den Ausstellungen auf der Froh
Ussicht beteiligt sein.
Einzelne ältere Werke sind dem Zahn der Zeit
ausgesetzt und müssen manchmal versetzt
oder erneuert werden, wie die leuchtend roten
Wollkugeln von Marion Strunk. Die ‹wollen›
betitelte Installation fand ihre neue Heimat an
einer ‹Baumruine› in der Nähe des imposanten,
fast ganz mit Efeu geschmückten Birnbaums,
über dessen Halt bietendes Wurzelwerk man
nur mutmassen kann. Hofkatze Düsi hat sich
derweil ganz hinten im kleinen Treibhaus im
Stroh eine tiefe Schlafkuhle gebaut und überführt
den ‹Long Nap› von Pedro Wirz in einen
«Cat Nap». TS
Mickry3, ‹Meltingpoint›, 2024, Ausstellungsansicht
Froh Ussicht, Samstagern
Lithic Alliance, ‹Steine lesen um die Zeit
zu begreifen›, 2024, LED-Laufschrift, Ausstellungsansicht
Froh Ussicht, Samstagern
→ Froh Ussicht, Hof Blum, bis 27.10.
↗ frohussicht.ch
82 Kunstbulletin 7-8/2024