Kunstbulletin Juli/August 2024

in ihren Töpfen ein unsicheres Dasein fristen:
Natur, das zeigt sich, ist ungemein reglementiert.
Hannah Weinbergers Intervention ‹Flower
Power› lässt auf einem Bänkli mit Aussicht
Lieder ertönen, welche die Natur verklären. Die
Arbeit, die einen nochmals neuen Kommentar
zum Thema abgibt, liest sich fast als Gegenstück
zur ‹Menschenscheuche›, doch resümiert
stellvertretend für die Mehrheit der gezeigten
Werke den (leider) fast utopischen Wunsch
einer Symbiose. AD
Isabelle Krieg und Marianne Engel, ‹Menschenscheuche›,
2024 (Teilansicht), Naturmaterialien,
Naturfarben, Ansicht Aussenraum,
Laufenburg © ProLitteris. Foto: Gina Folly
Stefan Strumbel, ‹Bäume selbst pflanzen›,
2024, 50 Tannen, bedrucktes Banner, Zeitung,
Ausstellungsansicht Rehmann-Museum,
Laufenburg © ProLitteris. Foto: Gina Folly
→ Rehmann-Museum, bis 27.9.; Sommerpause
Museum bis 11.8., Freilichtausstellung durchgehend
geöffnet
↗ rehmann-museum.ch
↗ schimelrych.ch
Alfredo Aceto
Lausanne — Duchamp’sche Appropriationsstragien
sind definierend für das System
zeitgenössischer Kunst geworden. Was Alfredo
Aceto (*1991) darin auszeichnet, ist die Wiederbelebung
der obsessiven, erotischen Seite des
Vaters der Konzeptkunst. Dies erlaubt dem
ehemaligen ECAL-Studenten, der heute an der
HEAD lehrt, aktualisierte Verbindungen zwischen
Intimem und Politischem. Seine frühen
Arbeiten drehten sich um die Erzeugung einer
künstlerischen Identität. In seiner von Matthias
Sohr kuratierten Soloschau im Circuit steht
nun die Auseinandersetzung mit der in seiner
Geburtsstadt Turin krass erlebten Deindustrialisierung
im Zentrum.
Ähnlich wie bei einem frühen Werkstrang, der
sich Sophie Calle (*1953) intim annäherte, ist
auch die Schau ‹Full Moon Sergio› das Ergebnis
jahrelanger Beschäftigung mit einer emblematischen
Figur. Sergio Marchionne (1952–2018)
war ein Manager, der 2014 Fiat und Chrysler
fusionierte und die Produktion in Entwicklungsländer
verlagerte – ohne Rücksicht auf
die wirtschaftlichen Folgen für die Lombardei
und Michigan. Alfredo Aceto kaufte an allen
von Marchionne frequentierten Orten schwarze
Sweatshirts, wie sie dieser als Markenzeichen
trug. Deren Raglanärmel erinnerten ihn an
steinzeitliche Statuen von Frauen, die meist
ohne Arme dargestellt und um eine Matriarchin
herum gruppiert wurden, welche die
damalige Ökonomie (von gr. «oikos» Haus und
«nomos» Gesetz) im etymologischen Sinne von
«Hauswirtschaft» beherrschten. Am Eingang
des Circuit hängt nun ein Flickenteppich aus
Sweatshirt-Rümpfen; gegenüber formen die
Ärmel als blasses Wand-Aquarell einen geisterhaften
Kreis.
Der Zenit, den die finanzgetriebene Ökonomie
erreicht hat, wird auch in Gelatinedrucken von
aufgebrochenen Spinden thematisiert. Darauf
sind teils Abgüsse von Zungen zu erkennen.
Zusammen mit einem Arrangement aus Auberginen
im offenen Lagerraum verweisen sie
kritisch auf die beinahe erotische Ausstrahlung
bilanzsteigernder Wirtschaftskapitäne. Abge-
76 Kunstbulletin 7-8/2024