Kunstbulletin Juli/August 2024

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Silvia Bächli — Musikalische Partituren Seit Ende der 1970er entwickelt Silvia Bächli mit Beharrlichkeit und Konsequenz ein vielschichtiges zeichnerisches Werk, das die Möglichkeiten der Linie erkundet. Ein Zitat aus einem Gedicht der Lyrikerin Elizabeth Bishop gibt der umfassenden Ausstellung im Kunst Museum Winterthur Titel und Takt. Winterthur — Linien. Überall nichts als Linien. Sie schmiegen sich an Körper, tasten Empfindungen nach, deuten Dinge an, umreissen Architekturen, so als wollten sie in der alltäglichen Welt Halt suchen, damit sie nicht ins Bodenlose des weissen Blattes fallen und die Ungewissheit nicht aushalten müssen, die sie auf ihrer Expedition führt. Das war so in den späten 1970er-Jahren, als Silvia Bächli zu zeichnen begann. Ausgerechnet als die neoexpressive Malerei in Gefühls- und Farbexplosionen schwelgte, entschied sie sich, behutsam zu erforschen, was mit der Linie auf einem Blatt Papier möglich wäre. Von diesen Anfängen zeugt der Herzraum der fulminanten Ausstellung, die die Künstlerin im Kunst Museum Winterthur eingerichtet hat. Aus dem Konvolut an Blättern, die sie zwischen 1983 und 2003 beiseite gelegt hat, hat sie für jedes Jahr eins ausgewählt, ein Kondensat ihrer ersten zwanzig Jahre. In den Sälen um diesen Raum herum darf man erleben, wie sich die Linie emanzipiert. Die Striche und Bänder bilden Gewebe, öffnen Räume über das Blatt hinaus und finden zu ihrer eigenen Freiheit. Linie darf nun einfach Linie sein, da sein, wie die Natur da ist. Sie ist vertikal oder horizontal mit der freien Hand mit Stift, bald auch mit Pinsel gezogen. Linien legen sich nebeneinander, entfernen sich, lassen Lücken von Papierweiss, werden leicht wie Bänder im Wind, halten inne und holen Luft, um bei mehrteiligen Arbeiten auf dem nächsten Blatt neu anzusetzen. Zunehmend verbinden sie sich zu Flächen. Immer wieder werden die Blätter zu Ensembles gruppiert. Sie sind wie musikalische Partituren. Der Körper spielt dabei eine zentrale Rolle. Ob die Künstlerin am Zeichentisch sitzt oder sich über das Papier auf dem Boden beugt, ob sie den Atem anhält oder fliessen lässt, ob die Schulter gespannt ist oder die Linie aus der Hand kommt, alles spielt eine Rolle. Was als Zeichnung sichtbar wird, ist auch ein Notat dieser Bewegung. Was sie auszeichnet, ist, dass ihr eine Stille eingeschrieben ist, die aufmerksam werden lässt auf Zwischenräume und Rhythmuswechsel, auf den riesigen Raum, der nicht zu sehen ist, weil er die Fantasie besetzt. Dass er sich gelegentlich auch in Materie verdichten muss, sozusagen als mentale Hygiene, zeigt sich in den Gipsbrocken, die Silvia Bächli zu figurativen Andeutungen montiert, mit Farbakzenten versehen und auf Augenhöhe präsentiert hat. Ein Stolperstein, den wir amüsiert betrachten. Gerhard Mack → ‹Silvia Bächli – Dass eins zum andern wurde. Welches welches ist?›, Kunst Museum Winterthur | Beim Stadthaus, bis 18.8. ↗ kmw.ch → ‹Silvia Bächli – Partitura (Score)›, Centro Botín, Santander, bis 20.10. ↗ centrobotin.org 110 <strong>Kunstbulletin</strong> 7-8/<strong>2024</strong>
‹Silvia Bächli – Dass eins zum andern wurde. Welches welches ist?›, Ausstellungsansichten Kunst Museum Winterthur | Beim Stadthaus. Fotos: Reto Kaufmann BESPRECHUNGEN // WINTERTHUR 111
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Juli/Aug. 2024 Fr. 12.- / € 10.-
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