29.06.2024 Aufrufe

Kunstbulletin Juli/August 2024

Unsere Juli/August Ausgabe für 2024 mit Beiträgen zu Esther Mathis, Kunstvolle Lesetipps, Dunja Herzog, Dineo Seshee Raisibe Bopape, Ana Mendieta, u.v.m.

Unsere Juli/August Ausgabe für 2024 mit Beiträgen zu Esther Mathis, Kunstvolle Lesetipps, Dunja Herzog, Dineo Seshee Raisibe Bopape, Ana Mendieta, u.v.m.

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

Reto Pulfer — Wachstum und Wandel<br />

Reto Pulfers Schaffen gleicht einem Rhizom: Es ist ein dicht geflochtenes<br />

System aus Materialien, Motiven und Geschichten.<br />

Mit jeder Ausstellung wächst es, transformiert sich in neue Räume<br />

und enthält immer auch frühere Zustände. Aktuell zeigt die<br />

Kunst Halle Sankt Gallen eine Einzelausstellung des Künstlers.<br />

St. Gallen — Brennnesseln sind Alleskönner. Sie dienen als Medizin, Färbemittel,<br />

Dünger, sie sind der Lebensraum vieler Arten, sie schmecken als Suppe oder Salat,<br />

sie lassen sich verarbeiten zu Textilien: Früher war Nessel das Leinen der armen<br />

Leute, und in einem Märchen Hans Christian Andersens strickt ein Mädchen sechs<br />

Brennnesselhemden, um ihre in Schwäne verwandelten Brüder zu erlösen. Bei Reto<br />

Pulfer (*1981) ist die Brennnessel selbst eine Heldin. Er hat ihr einen Roman gewidmet<br />

und lässt sie auch in seinen textilen Arbeiten als Protagonistin auftreten. Sie<br />

lächelt, sie verliebt sich und erschrickt: «Ich bin ausserhalb eines Musters!», ruft sie<br />

aus, wenn sie aus der Reihe eines wohlgeordneten Frieses tanzt, das mit feinen Linien<br />

auf ein grosses, rechteckiges Stück Stoff gezeichnet ist. Es hängt im dritten Raum<br />

der Kunst Halle Sankt Gallen und ist sowohl Einzelwerk als auch Teil einer alle Räume<br />

umfassenden Installation. Selten fügen sich Werke aus über zehn Jahren künstlerischer<br />

Arbeit mit neuen und eigens vor Ort entwickelten Installationen so organisch<br />

zusammen wie in der Ausstellung ‹Fachzustand›.<br />

Grossflächige Tücher – zusammengenäht aus vielen einzelnen Laken, Hemden,<br />

Pyjamas, Reststücken, oder vollständig aus Gardinenstoff oder aus Käseleinen bestehend<br />

– hängen von der Decke und an den Wänden der Kunsthalle. Wie Zelte und<br />

Baldachine spannen sie sich durch die ehemaligen Lagerhallen, lassen den architektonischen<br />

Rahmen verschwinden und neue, intimere Räume entstehen. Die Textilien<br />

sind fleckig, weil Pulfer sie mit Walnuss, Holunder oder Brennnessel färbt. Sie sind<br />

akkurat gestreift, monochrom oder weiss, wenn sie industriell gefärbt oder gebleicht<br />

sind. Nicht nur die unterschiedliche Oberflächengestaltung, die Texturen und Muster<br />

sorgen für ein lebendiges Bild, sondern auch die Nähte und Flicken, die Schnüre und<br />

Bänder der Aufhängung und vor allem die Notizen und Zeichnungen des Künstlers<br />

auf dem Stoff. Der gebürtige Berner hat sein reiches Werk als Autodidakt entwickelt.<br />

Er näht und webt nicht nur, sondern arbeitet mit Wort, Sound und Bildmotiv. Er lässt<br />

Pflanzen und Insekten erzählen, er zeichnet die Fauna und Flora seines Gartens als<br />

‹Erfassung der Spezien durch Individuen›, wie eine seit 2023 entstehende Arbeit<br />

heisst. Sie wird weiter wachsen wie der Garten des Künstlers und wie jener, den er<br />

vor den Fenstern der Kunsthalle angelegt hat: Alles gedeiht und wandelt sich und<br />

schreibt die Geschichte fort. Kristin Schmidt<br />

→ ‹Reto Pulfer – Fachzustand›, Kunst Halle Sankt Gallen, bis 18.8. ↗ k9000.ch<br />

108 <strong>Kunstbulletin</strong> 7-8/<strong>2024</strong>

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!