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Kunstbulletin Juli/August 2024

Unsere Juli/August Ausgabe für 2024 mit Beiträgen zu Esther Mathis, Kunstvolle Lesetipps, Dunja Herzog, Dineo Seshee Raisibe Bopape, Ana Mendieta, u.v.m.

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Matthew Barney — Volkstümliche Oper<br />

28 Jahre nach der Retrospektive im CAPC Bordeaux tritt Matthew<br />

Barney in Paris auf. Als maskuliner «Senioren-Künstler» liefert<br />

er in der Videoarbeit ‹Secondary› einen Abgesang auf Körperkult<br />

und überzeugt mit einer selbstreferenziellen Raum-Installation,<br />

die Besuchende zu Leistungssportlern macht.<br />

Paris — Zwischen üppig wuchernden Pflanzen leuchten mannshohe Ziffern auf einem<br />

grossen schwarzen Block vor der Fondation Cartier am Boulevard Raspail. Ein<br />

Zähler, wie bei Football-Spielen. Für die grosse Sommerschau vor dem Umzug der<br />

Ausstellungsräume in die Arkaden gegenüber dem Louvre setzt der künstlerische<br />

Leiter Chris Dercon auf die sportliche Geste – historisch. Barney, das ist Neunziger.<br />

Bildmächtige hybride Körper, Geschlecht, Gewalt, Mythos holte er damals mit dem<br />

siebenstündigen Film-Epos ‹Cremaster Cycle› hollywoodesk in die Kunst. Dem queeren<br />

Formen- und Bildrepertoire stellt der 57-jährige US-Amerikaner mit ‹Secondary›<br />

nun ein unzeitgemäss maskulines Figurentheater zur Seite. Über sieben Bildschirme<br />

biegen, tanzen, keuchen, quietschen oder pfiffeln alternde Mannesmänner durch<br />

des Künstlers Atelier in der New Yorker East Side. Ihm selbst, schütteres Haar, gepflegter<br />

Vollbart, «slim, in good shape», giesst jemand flüssiges Aluminium auf den<br />

Kopf. Einem Performer läuft Vaseline von der Hand, ein anderer liegt an einer Leine,<br />

mit der er bisweilen kämpft, vollzieht spektakuläre Moves.<br />

Im Saal gegenüber könnte ein Hantelgestell aus Ton an Marie-Jo Lafontaine<br />

(*1950) und ihr Video ‹Les larmes d’acier› erinnern – 1987 wegen angeblich faschistischer<br />

Körperkult-Konnotation ein Skandal. Gestählte Männer-Bodys 2.0? Die Lektüre<br />

des aufwendigen Booklets klärt auf: Breakdancer Raphael Xavier verkörpert Jack<br />

Tatum, Verteidiger im Football-Team der Oakland Raiders. Der brachte 1978 Darryl<br />

Stingley der New England Patriots in den Rollstuhl. Barney verkörpert Ken Stabler,<br />

Ende der 1970er Quaterback der Oakland Raiders. Als einem der ersten Sportler wurde<br />

ihm eine chronische traumatische Hirnerkrankung attestiert (ETC). Es geht um<br />

die Entzauberung amerikanischen Sports, ums Altern, um Traumata. ‹Secondary› ist<br />

vor allem Publikums-Herausforderung. Auf dem bunten Teppich im Hauptsaal müssen<br />

wir zu den Bildschirmen aufblicken, bis es schmerzt. Im Keller, wo auch Teile<br />

der bereits 1987 begonnenen athletischen Zeichen-Performance-Serie ‹Drawing Restraint›<br />

zu sehen sind, zeigt ein unter der Decke befestigter Röhrenbildschirm die von<br />

Raphael Xavier ausgeführte Performance. Wir können sie sitzend auf Bänken an der<br />

Wand ansehen. Dann ist das Bild etwas klein. Oder wir stellen uns in die Mitte des<br />

Raumes. Dann sind wir exponiert – und haben Nackenschmerzen. Matthew Barney<br />

macht die Ausstellung zu einer bildhauerisch durchgestalteten Raum-Performance<br />

und bezieht das Publikum selbstreflexiv ein. J. Emil Sennewald<br />

→ ‹Matthew Barney – Secondary›, Fondation Cartier, bis 8.9. ↗ fondation.cartier.com<br />

104 <strong>Kunstbulletin</strong> 7-8/<strong>2024</strong>

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