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Kunstbulletin Juli/August 2024

Unsere Juli/August Ausgabe für 2024 mit Beiträgen zu Esther Mathis, Kunstvolle Lesetipps, Dunja Herzog, Dineo Seshee Raisibe Bopape, Ana Mendieta, u.v.m.

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Sid Iandovka / Anya Tsyrlina — Bilder wie Kometen<br />

Friart präsentiert mit Lumiar Cité in Lissabon das sibirische<br />

Experimentalfilmduo Sid Iandovka und Anya Tsyrlina in ihrer<br />

ersten Soloschau. Angereist ist das mysteriöse Paar aus seiner<br />

Wahlheimat New York gemeinsam mit seinen amerikanischen<br />

Geistesverwandten Thomas Zummer und Leslie Thornton.<br />

Fribourg — Wenig Biografisches ist bekannt über Sid Iandovka und Anya Tsyrlina,<br />

ausser dass sie sich in ihrer Geburtsstadt Novosibirsk in einer Noise Band kennengelernt<br />

haben. Sie verweigern damit ihren seit zwanzig Jahren in einem permanenten<br />

Dialog geschaffenen Filmobjekten eine identitäre Lesart, auch wenn sie nicht selten<br />

Footage aus futuristischen Fernsehserien der ehemaligen Sowjetunion verwenden.<br />

Ähnlich wie der Philosoph, Maler und Zeichner Thomas Zummer (*1954, Cherokee)<br />

und die Experimentalfilmerin Leslie Thornton (*1951, Knoxville), die sie für ihre Ausstellung<br />

mit eingeladen haben, beschäftigen sich Iandovka / Tsyrlina mit technisch<br />

produzierten und reproduzierten omnipräsenten Bildern, Kurven und Signalen, die<br />

von etwas scheinbar Existentem erzählen, das wir mit unseren Sinnen kaum in dieser<br />

Art und Weise oder gar nicht wahrnehmen würden. Natürlich aber erinnert die Ost-<br />

West-Konstellation der Schau auch daran, dass unser aller Versinken in Apparaten<br />

und den von ihnen erzeugten Aufnahmen vom Mikro- bis zum Makrokosmos nicht<br />

zuletzt durch den Kalten Krieg zwischen Amerika und Russland angeheizt worden<br />

war. Die heutige Weltlage scheint solches erneut zu begünstigen und einen Befund<br />

von Karl Marx aus dem Jahre 1852 zu bekräftigen: «Hegel bemerkt irgendwo, dass<br />

alle grossen weltgeschichtlichen Tatsachen und Personen sich so zu sagen zweimal<br />

ereignen. Er hat vergessen hinzuzufügen: das eine Mal als grosse Tragödie, das andre<br />

Mal als lumpige Farce.»<br />

Die Schau in der Kunsthalle Friart lässt uns in eine nächtliche Atmosphäre abtauchen.<br />

Aus dem Erscheinenden und Verschwindenden in den Filmprojektionen und<br />

Videos von Iandovka / Tsyrlina und Thornton geht keine Geschichte hervor. Vielmehr<br />

manifestiert sich die Ahnung einer dystopischen Welt, von Verschmutzung und Zerstörung<br />

der Natur. Wenn man sich von der Suche nach einer inhaltlichen Schlüssigkeit<br />

verabschiedet und sich auf die teils auch von grossartiger Elektro-Akustik begleiteten<br />

Rhythmen des visuellen Materials einlässt, erwacht man aus der Starre wie<br />

zu neuem Leben. Auch bei den Malereien und Zeichnungen von Zummer, in denen vieles<br />

zusammenkommt, aber alles in der Schwebe bleibt, gleitet man in ein ähnliches<br />

Sehen. Das ist wohltuend. Zwar können wir uns den technologischen Versuchen,<br />

Kontrolle über Zeit und Raum zu gewinnen, wohl nicht mehr vollständig entziehen,<br />

aber sie kreativ auf unsere Frequenz zurückholen und uns weiter vom Unbekannten<br />

verzaubern lassen. Katharina Holderegger<br />

→ ‹Sid Iandovka / Anya Tsyrlina – once in a hundred years›, Kunsthalle Friart, bis 28.7. ↗ friart.ch<br />

98 <strong>Kunstbulletin</strong> 7-8/<strong>2024</strong>

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