Leseprobe: Das Rad der Trauer in Bewegung von Dorothea Stockmar

There is more to life
than increasing its speed.
Mahatma Gandhi

INHALT
CONTENT
VORWORT
Dr. phil. Kerstin Volland .............6
EINFÜHRUNG ............................. 8
Trauer – ein tiefes Gefühl ................8
SYMBOLE DER TRAUER ............. 9
WAHRNEHMEN
UND VERSTEHEN ...................... 14
Trauer wird sichtbar ..................... 14
Den Verlust begreifen ................... 15
Im Haus der Trauer ....................... 16
Trauer – eine Reise
ins Ungewisse .............................. 18
Ein Trauerkoffer ............................ 19
AUS TRAUERSYMBOLEN
WERDEN
HOFFNUNGSSYMBOLE ............. 21
DAS RAD DER TRAUER ............. 25
PREFACE
Dr. phil. Kerstin Volland .............6
INTRODUCTION ......................... 8
Grief – a deep Feeling ..................... 8
SYMBOLS OF GRIEF.................... 9
PERCEIVING
AND UNDERSTANDING ............ 14
Grief becomes visible ................... 14
Understanding the loss ................ 15
In the House of Mourning ........... 16
Mourning – a Journey into
the Unknown .............................. 18
A Mourning Suitcase ................... 19
SYMBOLS OF GRIEF
BECOME SYMBOLS
OF HOPE ..................................... 21
THE WHEEL OF MOURNING ... 25
4

INHALT | CONTENT
TRAUER VERWANDELT ........... 28
Das Kleid der Trauer .................... 29
Gestaltung eines Trauerkleides ... 30
Im Garten der Trauer .................... 32
Auf dem Weg zum Haus
der Trauer ..................................... 33
Trauern und Malen ....................... 37
BOTSCHAFT DER TRAUER ...... 39
JENSEITS VON ALLEM
Trialog mit Bildern
von Jochen P. Heite ................. 40
GLOSSAR ..................................... 74
EPILOG
Dr. Margaret Brearley ............... 76
DANKSAGUNG ........................... 78
ÜBER DIE KÜNSTER*INNEN ... 80
IMPRESSUM .............................. 82
MOURNING TRANSFORMED... 28
The Dress of Mourning ................ 29
Design of a Mourning Dress ........ 30
In the Garden of Mourning ......... 32
On the Way to the House
of Mourning ................................. 33
Mourning and Painting ................ 37
MESSAGE OF MOURNING ........ 39
BEYOND ALL
Trialogue with Images
by Jochen P. Heite .................... 40
GLOSSERY .................................. 74
EPILOGUE
Dr. Margaret Brearley ............... 76
ACKNOWLAGEMENT ............... 78
ABOUT THE ARTISTS .............. 80
IMPRINT .................................... 82
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VORWORT
PREFACE
Was haben Anker, Kuh und Kompass
mit Trauer zu tun? Eine spannende
Frage.
Trauer ist die Antwort unserer
Seele auf einen tief empfundenen
Verlust. Trauer schmerzt, und doch
ist es wichtig, dass sie wahrgenommen
und durchlebt wird, damit die
Seele den Verlust bewältigen und
eine neue Balance finden kann.
Wenn Trauer verdrängt wird, wenn
sie heruntergeschluckt und nicht
zum Ausdruck gebracht wird, kann
sie versteinern und einen Menschen
verhärten. Trauer braucht einen
Ausdruck – eine Form –, damit wir
sie be- und verarbeiten können.
Aber was tun, wenn die Trauer
den Verstand übersteigt und die
Begriffe sprengt? Wie von Erschütterung
und Verzweiflung erzählen,
wenn die Trauer sprachlos macht?
Die in Celle lebende Trauerbegleiterin
Dorothea Stockmar begegnet
der Trauer auf der Ebene des
Erlebens und Fühlens. Dort findet
sie kreative, gestalterische Möglichkeiten,
die der Trauer eine individuelle
Form geben und dazu beitragen,
sich mit ihr auseinanderzusetzen.
So können, wenn die Worte fehlen,
What do anchor, cow and compass
have to do with mourning? An exciting
question.
Grief is our soul’s response to a
deeply felt loss. Grief hurts, and yet
it is important that it is acknowledged
and lived through so that the
soul can cope with the loss and find
a new balance.
If grief is repressed, if it is swallowed
and not expressed, it can petrify
and harden a person.
Grief needs an expression – a
form – so that we can process and
overcome it.
But what do we do when grief
exceeds our understanding and goes
beyond our concepts? How to tell of
shock and despair when grief renders
us speechless?
Dorothea Stockmar, a grief counsellor
living in Celle, meets grief on
the level of experiencing and feeling.
There she finds creative, creative
possibilities that give grief an individual
form and help to deal with it.
Symbols can help when words are
lacking. They are able to capture the
grief experience, which varies from
person to person and is often not
captured by words. The symbolism
6

VORWORT | PREFACE
Symbole helfen. Sie vermögen das
von Mensch zu Mensch ganz unterschiedliche
Trauererleben einzufangen,
das durch Begriffe häufig nicht
erfasst wird. Die im Buch beschriebene
Symbolik vermittelt eine Ahnung
von den unzähligen Gefühlsschattierungen
der Trauer.
Ob Anker, Kuh oder Kompass – irgendetwas
aus dem alltäglichen Leben
kann plötzlich bedeutsam werden,
da es das persönliche Befinden
genau widerspiegelt. Symbole können
die Trauer greifbar machen, sie stiften
Halt, können den Weg durch die Trauer
weisen und Hoffnung vermitteln.
Neben den Symbolen gibt es weitere
Alternativen, der Trauer Ausdruck
zu verleihen. Sie kann in Ritualen
Raum finden oder in Bildern
und Dichtungen (Sprachbildern),
man kann ihr ein Haus malen, einen
Garten anlegen oder sie in ein Gewand
kleiden.
All dies sind Möglichkeiten, der
Trauer eine Form zu geben, um mit
ihr umgehen zu können – und all
diesen Möglichkeiten wohnt Tatkraft
inne. Sie setzen dem Gefühl,
der Trauer ohnmächtig ausgeliefert
zu sein, die Chance ihrer aktiven
Gestaltung entgegen. Sie betonen
und stärken die Handlungsfähigkeit
trauernder Menschen. Damit wird
der verbreitete Begriff der Trauerarbeit
in seinem buchstäblichen und
kreativsten Sinne eingelöst.
described in the book conveys an
idea of the innumerable shades of
mourning.
Whether it is an anchor, a cow or
a compass – something from everyday
life can suddenly become significant
as it accurately reflects the
personal state of mind.
Symbols can make grief tangible,
they provide support, can show the
way through grief and convey hope.
In addition to symbols, there are
other alternatives for expressing
grief. It can find space in rituals or in
pictures and poetry (language images),
one can paint a house for it, plant
a garden or dress it in a garment.
All these are ways of giving grief
a form in order to be able to deal
with it – and all these possibilities
have an inherent energy. They counteract
the feeling of being powerless
over grief with the opportunity to
actively shape it. They emphasise
and strengthen the ability of grieving
people to act. In this way, the
widespread concept of grief work is
redeemed in its most literal and creative
sense.
Dr. phil. Kerstin Volland
Koordinatorin | Coordinator
Hospizbewegung Herford e. V.
7

EINFÜHRUNG
INTRODUCTION
TRAUER – EIN TIEFES GEFÜHL
Neben der Liebe ist Trauer das am
tiefsten empfundene Gefühl, das wir
zum Ausdruck bringen können.
Die Trauer durchdringt das tägliche
Leben. Sie ist nicht nur präsent,
wenn ein Mensch gestorben ist.
Trauer begleitet uns immer dann,
wenn wir einen großen persönlichen
Verlust betroffen sind.
• Kinder, die nicht mit Liebe erzogen
worden sind, trauern!
• Jugendliche, deren Träume sich
nicht erfüllt haben, trauern!
• Menschen, die ihren Arbeitsplatz
verloren haben oder gezwungen
sind, in den Ruhestand zu gehen,
trauern!
• Schwerkranke Menschen, die auf
Medikamente und ständige Hilfe
angewiesen sind, trauern!
• Männer und Frauen, die sich für
eine Trennung entschieden haben,
nachdem sie Zeiten der Verzweiflung
und vielleicht sogar der Demütigung
durchlebt haben, trauern!
• Menschen, die ihr Lebensziel, ihre
Pläne für die Zukunft verloren ha-
GRIEF – A DEEP FEELING
Next to love, grief is the most deeply
felt emotion we can express.
Grief permeates daily life. It is
not only present when a person has
died. Grief accompanies us whenever
we are affected by a great personal
loss.
• Children who have not been raised
with love, mourn!
• Youngsters whose dreams have not
come true mourn!
• People who have lost their jobs or
are forced to retire, mourn!
• Seriously ill people who are dependent
on medication and constant
help, mourn!!
• Men and women who have decided
to separate, after having gone
through times of despair and perhaps
even humiliation, mourn!
• People who have lost their goal in
life, their plans for the future or
who have to give up their home for
whatever reason, mourn!
• Dying people and their relatives,
who are confronted with death in
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en oder die ihre Heimat, aus welchen
Gründen auch immer, aufgeben
müssen, trauern!
• Sterbende und Angehörige, die angesichts
des geistigen und körperlichen
Verfalls mit dem Tod konfrontiert
werden, trauern lange vor
dem Eintritt des Todes!
the face of mental and physical
deterioration grieve long before
death occurs!
SYMBOLE DER TRAUER
SYMBOLS OF GRIEF
Die unmittelbare Erschütterung in
der Trauer kann an Hand von Symbolen
verdeutlicht werden. Bildhafte
Beschreibungen können helfen, das
Unaussprechliche zu erfassen.
Faden
Hinterbliebene fühlen sich von ihrem
früheren Leben getrennt wie
von einem durchtrennten Faden.
Nichts ist mehr so, wie es einmal
war.
Kompassnadel
Alles scheint ver-rückt. Ohne Ziel
und Zweck. Trauernde Menschen
wissen oft nicht, wohin sie gehen
sollen. Selbst eine Kompassnadel ist
nicht in der Lage, den Weg aus der
Trauer zu weisen.
The immediate shock of grief can be
visualised using symbols. Pictorial
descriptions can help to grasp the
inexpressible.
Thread
Bereaved people feel separated from
their former lives like a cut thread.
Nothing is as it once has been.
Compass Needle
Everything seems displaced and insane.
Grieving people often don’t
know where to go. Even a compass
needle is not able to point the way
out of grief.
9

JENSEITS VON ALLEM
– TRIALOG
BEYOND ALL
– TRIALOGUE
Text | Text: Dorothea Stockmar
Bilder | Images: Jochen P. Heite
Für | For
Jonathan Cajus Stockmar
(1991–2008)
SUCHE IN DER TRAUER
Jeder Mensch, der einen Verlust erlitten
hat, ist ein Suchender, der sich
mehr oder weniger bewusst auf die
Suche nach dem Verlorenen begibt.
Ob er es will oder nicht − alles, was
ein Trauernder hört, sieht oder fühlt,
kann die Erinnerung an einen geliebten
Menschen wachrufen.
Die Sehnsucht nach meinem verstorbenen
Kind führte mich in die
entlegensten Räume meines selbst
gezimmerten Trauerhauses. „Da wo
der Schmerz ist, geht’s lang“, hörte
ich mich immer wieder sagen.
SEARCHING IN GRIEF
Every person who has suffered a loss
is in search of what has been lost,
more or less consciously. Whether
he wants it or not − everything
a mourner hears, sees or feels can
evoke the memory of a loved one.
The longing for my deceased child
took me to the most remote rooms
of my self-made house of mourning.
“Where the pain is, that’s where it’s
going,” I kept telling myself.
40

BEYOND ALL
Denn Trauer ist die Suche nach
einer verlorenen Zeit. Eine Suche,
die nicht aufhört, die im Hier und
Jetzt erlebt werden will, in Gesten,
Gedanken oder Worten. Wo immer
Erinnerungen an meinen verstorbenen
Sohn wachgerufen wurden,
folgte ich ihnen.
In Nächten, in denen ich kaum
Schlaf fand, erfuhr ich eine andere
Form des Bewusstseins. Es war ein
klares, tiefes Eintauchen in einen
Zustand jenseits von Zeit und Raum,
welcher kein Traum war.
immer − und nie wieder −
sehe ich dich
in Zeichen, in Bildern
in Gesten − überall
Weltseele: Es war ein langer, trockener
Sommer. Regentropfen begannen,
die ausgedörrte Erde aufzuweichen.
Ein Tropfen fiel auf ein Blatt.
Ein Blatt wie ein Leben, das eben
noch am Kirschbaum hing. – Gestern
noch voller Leben, heute schon Teil
der Erde.
Dabei waren wir alle schon immer
Teil eines umfassenden Daseins,
ob im Mutterschoß oder als Blatt eines
weit verzweigten Baumes.
Keimblatt des Entstehens
und Vergehens
Durchbruch – Übergang – Pforte
am Ende eines hellen Tunnels
For grief is the search for a lost
time. A search that does not stop,
that wants to be experienced in the
Here and Now, in gestures, thoughts
or words. Wherever memories of my
deceased son were evoked, I followed
them.
On nights when I could hardly
find sleep, I experienced another
form of consciousness. It was a clear,
deep immersion into a state beyond
time and space, which was not a
dream.
always − and never again −
I see you
in signs, in pictures
in gestures − everywhere
Weltseele: It was a long, dry summer.
Raindrops began to soften the
parched earth. A drop fell on a leaf.
A leaf like a life that had just been
hanging from the cherry tree. – Yesterday
still full of life, today already
part of the earth.
Yet we all have been always
part of a comprehensive existence,
whether in the womb or as a leaf on
a widely branching tree.
seed leaf arising
and vanishing
breakthrough – transition – portal
at the end of a bright tunnel
41

JENSEITS VON ALLEM
Mutter: Welch seltsame Worte? Was
für ein Tunnel, was für ein Durchbruch?
Am Ende gibt es doch einen
Weg zu meinem verstorbenen Kind?
Sohn: Ja, hier bin ich. Wir, die Toten,
haben einen Platz unter den Lebenden.
Mutter: Du, mein Kind, hier? Du bist
am Leben?
Sohn: In einem anderen Licht darf
ich sein, was ich schon immer war
– frei.
Mutter: Darfst sein, was du schon
immer warst, wie soll ich das begreifen?
Sohn: Wie erklär ich es, damit du es
verstehst? Ach was, was sind schon
Worte? Nichts! Was hier zählt, sind
Augenblicke, Gefühle, Gedanken, die
unausgesprochen zu Herzen gehen,
ohne dass jemand etwas sagen muss.
Mutter: Gedanken, die das Herz unausgesprochen
erreichen? Wie soll
ich das verstehen?
Sohn: Nun, es gibt hier keine Zeit
und kein Festhalten an Gedanken
und an Gefühlen. Alles ist und war
schon immer da – ohne Anfang –
ohne Ende.
Mother: Which strange words?
What a tunnel? What a breakthrough?
In the end there is a way to
my deceased child after all?
Son: Yes, here I am. We, the dead,
have a place among the livings.
Mother: You, my child, here? You are
alive?
Son: In another light I could be what
I have been always – free.
Mother: You can be what you have
always been, how can I understand
that?
Son: How do I explain it so you’ll understand?
Oh, what are words? Nothing!
What counts here are moments,
feelings, thoughts that go unspoken
to the heart without anyone having
to say anything.
Mother: Thoughts that reach the
heart unspoken? How shall I understand
this?
Son: Well, there is no time here and
no clinging to thoughts and feelings.
Everything is and has always been
there – without a beginning – without
an ending.
42

BEYOND ALL
43

JENSEITS VON ALLEM
Mutter: Das geht mir zu weit! Aber
du warst mir ja schon immer eine
Nasenlänge voraus. In allem so
schnell, dass ich oft nicht hinterherkam.
Sohn: Aus meiner Sicht ist deine Einteilung
in Jahre, Tage und Stunden
völliger Unsinn. Du unterteilst ein
Bild, das du malst, auch nicht in Zeitlinien,
die beschreiben: Den Strich da
vorne habe ich um 6:30 Uhr gemalt,
den in der Mitte um 6:41 Uhr und den
Punkt in der oberen Ecke um sieben
Uhr. Für das fertige Bild spielt das
keine Rolle. Was zählt, ist das zeitlos
Allumfassende, das Ganze.
Vertraue deine Gedanken und
Gefühle der Leinwand oder einer
Seite in deinem Tagebuch an. Tu das,
was dir hilft, den Schmerz aus deinem
Kopf zu bekommen! Ich bin bei
dir, was immer du tust.
Mutter: Wie kann ich sicher sein,
dass du es wirklich bist? Es ist nicht
dein Äußeres, in dem ich dich erkenne.
Du siehst so anders aus! Vielmehr
ist es dein Wesen. Deine jugendliche
Neugier. Die Art und Weise, wie du
die Dinge angehst. Unbeschwert und
doch so voller Tiefe. Ja, darin erkenne
ich dich wieder.
Mother: That’s going too far for me!
But you’ve always been one step
ahead of me. So fast in everything
that I often couldn’t keep up with
you.
Son: From my point of view your division
into years, days and hours is
complete nonsense. You also don’t
divide a picture you paint into time
lines that describe: I painted the
line in front at 6:30, the one in the
middle at 6:41 and that point in the
upper corner at seven o’clock. That
doesn’t matter for the finished picture.
What counts is the timeless
all-embracing, the whole.
Confide your thoughts and feelings
to the canvas or a page in your
diary. Do what helps you to get the
pain out of your head! I am with you,
whatever you do.
Mother: How can I be sure it’s really
you? It’s not your appearance that I
recognize you in. You look so different!
Rather, it’s your nature. Your
youthful curiosity. The way you approach
things. Light-hearted and yet
so full of depth. Yes, I recognize you
in that.
44

BEYOND ALL
Sohn: Wie oft hast du nach dem
Sinn des Lebens gefragt. Fragen gestellt
wie: „Was ist der Tod? Gibt es
ein Leben danach?“
Mutter: Jetzt bist du es, der auf ein
Leben nach dem Tod verweist. Aber
sag mir, auf welchem Kanal kann ich
dich erreichen?
Weltseele: Wäret ihr Menschen
doch nur bereit, eine andere Wellenlänge
zu wählen, ihr könntet ganz
andere Botschaften empfangen.
Doch ihr fühlt euch hineingeworfen
in eine Welt der nackten Tatsachen,
Maßzahlen, Normen und der Aufgabe,
wählen zu müssen.
Mutter: Apropos Wahl, hatte mein
Sohn überhaupt eine? Ich weiß es
nicht. Aber eines weiß ich, sein Tod
kam zu plötzlich!
Son: How often did you ask about
the meaning of life? Asked questions
like, “What is death? Is there a life
after?“
Mother: Now it is you who refers to
life after death. But tell me, on what
channel can I reach you?
Weltseele: If only you humans were
willing to choose a different wavelength,
you could receive very different
messages. But you feel thrown
into a world of bare facts, measurements,
standards and the task of
having to choose.
Mother: Speaking of choice, did my
son have any? I don’t know. But one
thing I do know for sure, his death
came too suddenly!
45

JENSEITS VON ALLEM
Weltseele: Was soll das heißen, es
war zu plötzlich? Für euch, die Lebenden,
kommt der Tod immer zu
früh. Ihr verschließt die Augen vor
der Tatsache eures eigenen Vergehens.
Wie ein Kind, das sich die Augen
zuhält und vorgibt, nicht gesehen
zu werden.
Aber ich sage euch, ihr könnt den
Tod nicht ausklammern. Lerne auch
du zu verstehen, dass dein Sohn dem
Tod nicht entkommen konnte. Der
Tod war − bevor er überhaupt geboren
wurde − Teil seines Lebens.
Mutter: Aber warum musste er so
früh sterben?
Weltseele: Frage nicht nach dem
Warum. Frage nach dem Wozu! Nach
einer neuen Deutung. Dein Sohn ist
nie fort gewesen. Bevor er auf diese
Welt kam, war er bereits in deinem
Herzen. Und genau so ist er jetzt
noch bei dir. Auch wenn du ihn nicht
sehen kannst, ist er doch da.
Es gibt Dinge, die du noch nicht
erkennen kannst. Aber es ist keine
Frage des Sehens oder Scharfstellens.
Es ist eine Frage des Herzens.
Mit deinem Herzen wirst du fühlen
und verstehen.
Wie war es vor der Geburt, als du
deinen Sohn zum ersten Mal spürtest?
Erinnerst du dich daran, wie es
war?
Weltseele: What do you mean, it
was too sudden? For you, the living,
death is always too early. You keep
your eyes closed to the fact of your
own passing. Like a child who covers
his eye, pretending not to be seen.
But I tell you, you cannot prevent
death. Learn to understand, too, that
your son could not escape death.
Death was − before he was even born
− part of his life.
Mother: But why did he have to die
so early?
Weltseele: Don’t ask why. Ask for the
what for! For a new meaning. Your
son has never been away. Before he
came into this world, he was already
in your heart. And in the same way
he is still with you now. Even if you
cannot see him, he is still there.
There are things you can’t recognise
yet. But it is not a question of
seeing or focusing. It is a matter of
the heart. With your heart you will
feel and understand.
How was it, before birth, when
you felt your son for the first time?
Do you remember what it was like?
46

BEYOND ALL
47

JENSEITS VON ALLEM
Mutter: In meinem Herzen fühlte
ich sein Kommen schon recht früh,
noch bevor er in mir Gestalt annahm.
In ersten zarten Bewegungen
unter meinem Herzen, die immer
heftiger wurden, mit der Gewissheit
seines Werdens außerhalb meiner
Selbst.
Ein Wunder, ja, doch gezeugt und
schon erkannt in einer anderen, einer
vorbewussten Welt. Einer Welt,
aus der wir alle kommen.
Mehr denn je, quälen mich seit
seinem Fortgang Fragen, die ich mir
immer wieder stelle:
Wer sind wir? Woher kommen
wir? Wohin gehen wir?
Weltseele: Jetzt ist der Augenblick
des Erkennens gekommen, so als
würdest du Schale um Schale abwerfen,
bis der Kern deines wahren Wesens
zum Vorschein kommt.
vorgeburtlich angelegtes Sein
verlebendigt in einer Welt
des steten Wandels
am Ende eines großen Schauspiels
Ihr nennt es Leben
Sohn: Es kann sein, dass du mich
heute von einer anderen Seite kennen
lernst, denn ich bin nicht der,
der ich einmal war. Ich bin jetzt Teil
der – Weltseele –.
Ja, es gibt sie, die Weltseele, die
alles eint und bindet.
Mother: In my heart I felt his coming
quite early, even before he took
shape in me. In first tender movements
under my heart, which became
more and more violent, with
the certainty of his existence outside
of myself.
A miracle, yes, yet conceived and
already recognized in another, a preconscious
world. A world from which
we all come.
More than ever, since his departure,
I am tormented by questions
that I keep asking myself:
Who are we? Where do we come
from? Where are we going to?
Weltseele: Now the moment of recognition
has come, as if you were
shedding shell after shell until the
core of your true being emerges.
preborn existence
brought to life in a world
of constant change
at the end of a great spectacle
you call it life
Son: Today you will get to know a
completely different side of me, for I
am no longer who I once was. I am
now a part of the – Weltseele –.
Yes, it really exists: the World
Soul that unites and connects
everything.
48

BEYOND ALL
49

JENSEITS VON ALLEM
Du wusstest nicht, dass alles eins
ist? Es geht nicht um mich oder dich
– es geht um das Verbundene, das
Ganze.
Mutter: Wie soll ich das denn verstehen?
Sohn: Frag die Weltseele, die weiß es.
Weltseele: Ihr seid wie die Tropfen
im Meer, alle miteinander verbunden.
All-Eins im Ozean der unbegrenzten
Möglichkeiten. Eine Unterscheidung
zwischen Körper, Geist
und Seele, gibt es nicht, sobald du die
Pforte der Erkenntnis erreicht hast.
Mutter: Welche Pforte, welche Erkenntnis?
Soll das heißen, dass das
viele Denken und Grübeln nach dem
Tod kein Ende nimmt? Hatte gehofft,
dass es dort ruhiger zugeht. Sprachst
du nicht immer wieder von ewiger
Ruhe, ewigem Licht?
Sohn: Ja, alles, was hier geschieht,
entspringt einem lichtvollen Sein,
ohne Anfang, ohne Ende. Deshalb
ist es auch nicht nötig für mich zur
Ruhe zu kommen. Ruhe und Bewegung
sind ein und Dasselbe.
Wie in einem Meer, das von unzähligen
Wellen getragen wird,
taucht man ein, nur um im selben
Moment wieder aufzutauchen.
You didn’t know that everything
is one? It is not about me or you – it is
all about the connection, he whole.
Mother: How am I supposed to understand?
Son: Ask the Weltseele who knows
it.
Weltseele: You are like the drops
in the ocean, all connected; all-one
in the ocean of unlimited possibilities.
There is no distinction between
body, mind and soul, once you have
reached the portal of knowledge.
Mother: Which portal, which
knowledge? Do you mean that there
is no end to all the thinking and
brooding after death? I had hoped
that things would be calmer there.
Didn’t you keep talking about eternal
rest, eternal light?
Son: Yes, everything that happens
here arises from an essence full of
light, without beginning, without
end. Therefore it is also not necessary
for me to come to rest. Rest and
movement are one and the same.
Like in a sea carried by countless
waves, you dive in only to emerge
again at the same moment.
50

BEYOND ALL
Mutter: Das klingt nach Leichtigkeit,
nach Erholung!
Sohn: Ach was, das Wort Erholung
ist mir viel zu begrenzt. Die Leichtigkeit
und Erholung, die ich meine,
ist eine andere.
Während du dich immer nur abmühst,
geht hier alles viel entspannter
zu. Ohne Mühe, ohne Anstrengung.
Wann immer du magst, werde
ich dir zur Seite stehen. Vertraue deinen
Eingebungen. So sind wir uns
nah!
Mutter: Damals, als ich dich empfing,
wusste ich noch nicht, dass
hinter jeder Liebe eine unauslöschliche
Flamme brennt. Doch nun, da
ich dir von neuem nah sein darf,
wird es mir bewusst. Du hast mich
gelehrt, dass die Liebe durch nichts
zu ersetzen ist.
Weltseele: Dein Sohn hat Recht. Die
Liebe ist der Nährboden allen Seins.
Geliebt zu werden bedeutet nicht
nur, liebenswert zu sein, sondern
auch − des Lebens würdig zu sein.
In euren Kindern lebt alles weiter,
die Liebe und auch das Leid, verursacht
durch all die vielen Kriege,
die Generationen über Generationen
geführt haben. Der Schmerz, die
Angst vor Vergänglichkeit, vor Entbehrung
und schließlich vor dem
Mother: That sounds like lightness,
like recreation!
Son: Oh no, the word recreation is
much too limited for me. The ease
and relaxation I mean is another.
While you’re always struggling,
everything is much more relaxed
here. without effort, without strain.
Whenever you like, I will be at
your side. Trust your intuitions. That
way we are close!
Mother: At that time, when I received
you, I did not know that behind
every love burns an inextinguishable
flame. But now that I may
be close to you anew, I realize it. You
have taught me that there is no substitute
for love.
Weltseele: Your son is right. Love is
the breeding ground of all being. To
be loved means, not only to be lovable,
but also − to be worthy of life.
In your children everything lives
on, love and also suffering, caused by
the many wars which generations
and generations have fought. The
pain, the fear of transience, of deprivation
and finally of the loss of your
own life − all this is deeply embedded
in your souls.
51

JENSEITS VON ALLEM
Verlust des eigenen Lebens − all das
ist tief in euren Seelen verankert.
Bringt es hervor, all das Unerlöste,
Unverarbeitete. Schau es dir genau
an und finde heraus, was es dir
zu sagen hat.
Mutter: Soll das bedeuten, dass es
meine Aufgabe hier auf Erden ist,
dieses vermaledeite Schicksal anzunehmen?
Es vielleicht sogar zu lieben?
Weltseele: Du hast die Chance, dein
Leben neu zu ordnen. Bringe es auf
den Punkt, dein Leben! Lebe jetzt,
mit all deinem Schmerz; mit allen
Ausrufungszeichen und Fragezeichen!
Doch erwarte keine Antwort.
Male weiter. Vielleicht malst du dir
ein Haus.
Mutter: Ja, Das habe ich getan. Immer
wieder malte ich ein Haus. Ich
nannte es das Haus meiner Trauer.
Es ist ein Haus ohne Fenster, ohne
Türen. Noch heute frage ich mich,
wie ich dort überhaupt hineinkommen
konnte − zusammen mit dem
Tod.
Weltseele: Warst du nicht schon
immer empfängnisbereit für Tod
und für Trauer?
Gingst sogar so weit, die Trauer
auszutragen − wie bei einer Schwangerschaft?
Bring it out, all the unredeemed,
unprocessed. Look at it closely and
find out what it has to say to you.
Mother: Does that mean that it is
my task here on earth to accept this
damnable fate? Maybe even to love
it?
Weltseele: You have the chance to
rearrange your life. Bring it to the
point, your life! Live now, with all
your pain; with all the exclamation
and question marks! But do not expect
an answer.
Keep on painting. Maybe you’ll
paint yourself a house.
Mother: That’s what I did. Again and
again I painted a house. I called it the
house of my mourning. It’s a house
without windows, without doors.
Even today I wonder how I could
have gotten in there at all − together
with death.
Weltseele: Haven’t you always been
receptive to death and grief?
Didn’t you even go so far as to
carry your grief to term – like a pregnancy?
52

BEYOND ALL
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JENSEITS VON ALLEM
Mutter: Was konnte ich denn sonst
tun, als Trauer anzunehmen?
Ich hatte doch keine andere
Wahl. Schließlich war alles in meinem
Leben verrückt worden – rot
war nicht mehr rot – grün nicht
mehr grün. Ich musste lernen, neu
zu sehen − mit anderen Augen, mit
anderen Sinnen.
Mein Kind war tot, und das hat
mein Leben vollkommen auf den
Kopf gestellt.
Sohn: Hallo – übertreibst du nicht
ein bisschen? Es ist ja nicht so, dass
ich dein einziges Kind gewesen bin.
Wie muss es für Eltern sein, die ihr
einziges Kind verlieren?
Außerdem war ich doch sowieso
auf dem Weg, dich zu verlassen oder
nicht? Hast du das vergessen?
Mutter: Ja, ich weiß, es hätte so oder
so einen Abschied gegeben, da du ja
auf dem Weg warst in deine eigene
Welt. Aber dann hätte es wenigstens
Lebenszeichen von dir gegeben, die
mir sagen, dass es dir gut geht, da, wo
du bist. Oder ich hätte etwas für dich
tun können. Wir hätten miteinander
reden können.
Sohn: Aber Mama – das ist es, was
wir gerade tun – wir reden doch miteinander.
Weißt du noch, wie wir früher
durch ein Kaleidoskop geschaut ha-
Mother: What else could I do but accept
grief? I had no other choice.
After all, everything in my life
had gone insane – red was no longer
red – green was no longer green. I
had to learn to see anew − with other
eyes, with other senses.
My child was dead, and that
turned my life completely upside
down.
Son: Hello – aren’t you exaggerating
a bit? It’s not like I was your only
child. What must it be like for parents
who lose their only child?
Besides, I was on my way to leave
you anyway, wasn’t I?
Have you forgotten that?
Mother: Yes, I know there would
have been a goodbye either way, as
you were on your way to your own
world. But then at least there would
have been signs of life from you, telling
me that you’re okay where you
are. Or I could have done something
for you. We could have talked to each
other.
Son: But mom – that’s what we’re
doing right now – we’re talking to
each other.
Do you remember how we used
to look through a kaleidoscope and
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