Leseprobe – Julia Schriefer: Guided Autobiography
Dies ist eine Leseprobe des Buches "Guided Autobiography. Ein Spaziergang durchs Leben" von Julia Schriefer. Der Erzählverlag 2024, ISBN 978-3-947831-60-9, ET: Juli 2024. Mehr Informationen unter www.erzaehlverlag.de
Dies ist eine Leseprobe des Buches "Guided Autobiography. Ein Spaziergang durchs Leben" von Julia Schriefer. Der Erzählverlag 2024, ISBN 978-3-947831-60-9, ET: Juli 2024. Mehr Informationen unter www.erzaehlverlag.de
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»Für meinen Papa <strong>–</strong> weil Geschichten uns verbinden.<br />
Für meine Mama <strong>–</strong> auf Wolken und Sternen.«<br />
Für die Inhalte von den in diesem Buch abgedruckten Internetseiten sind ausschließlich die Betreiber der<br />
jeweiligen Internetseiten verantwortlich. Der Verlag hat keinen Einfluss auf Gestaltung und Inhalte fremder<br />
Internetseiten. Zum Zeitpunkt der Verwendung waren keinerlei illegale Inhalte auf den Webseiten vorhanden.<br />
Erste Auflage | Juli 2024<br />
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte<br />
bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.<br />
© 2024 Der Erzählverlag | Reiherbeize 26 | 14169 Berlin-Zehlendorf<br />
Umschlag & Satz: Peter Amsler, Berlin<br />
Umschlaggestaltung unter Verwendung von Fotografien von Bernd <strong>Schriefer</strong> (U1) und <strong>Julia</strong> <strong>Schriefer</strong> (U4)<br />
Bildnachweise: Cheryl Svensson (S. 12), Bernd <strong>Schriefer</strong> (S. 32, 71)<br />
<strong>Julia</strong> <strong>Schriefer</strong> (S. 39), Adobe iStock-900890354 (S. 72), Fotofabrik Stuttgart (S. 82)<br />
Druck & Bindung: Alfred Nordmann Druck, Jerusalem<br />
ISBN: 978-3-947831-60-9<br />
www.erzaehlverlag.de<br />
2
<strong>Julia</strong> <strong>Schriefer</strong><br />
<strong>Guided</strong> <strong>Autobiography</strong><br />
Ein Spaziergang durchs Leben<br />
Der Erzählverlag<br />
3
»Im Bereich persönlicher Erzählungen<br />
liegt eine tiefgreifende aber oft ungenutzte Kraft<br />
<strong>–</strong> eine Kraft, die erhellt, heilt und verbindet.<br />
<strong>Julia</strong> <strong>Schriefer</strong>s Reise in die Welt der <strong>Guided</strong> <strong>Autobiography</strong><br />
ist ein Beispiel für dieses transformative Potenzial.«<br />
Cheryl Svensson<br />
The Birren Center for Autobiographical Studies<br />
4
Inhalt<br />
Vorwort von Cheryl Svensson .............................................................................. 8<br />
Lebensgeschichten, Teil 1 ................................................................................... 10<br />
Was ist <strong>Guided</strong> <strong>Autobiography</strong>? ......................................................................... 13<br />
Möglichkeiten ............................................................................................. 13<br />
Geschichte ................................................................................................... 15<br />
Entwicklung ................................................................................................. 18<br />
Ablauf ........................................................................................................... 20<br />
Studien ......................................................................................................... 25<br />
Unser Gehirn <strong>–</strong> Warum Nostalgie so wichtig ist ................................................ 33<br />
Was kommt als Nächstes? ................................................................................. 36<br />
Ihre Geschichten! Spaziergang in die Vergangenheit .......................................... 40<br />
Wurzeln<br />
Freigeist-Übung: Duftparty ....................................................................... 40<br />
Kernthema: Wurzeln ................................................................................... 41<br />
Impulsfragen ............................................................................................... 42<br />
Geschichte Lisa, 74 .................................................................................... 44<br />
Steine<br />
Freigeist-Übung: Lebenslinie .....................................................................46<br />
5
Kernthema: Steine .................................................................................... 47<br />
Impulsfragen ............................................................................................. 48<br />
Geschichte von Georg, 76 ........................................................................ 50<br />
Wellen<br />
Freigeist-Übung: Liste der 100 Dinge .....................................................53<br />
Kernthema: Wellen ....................................................................................54<br />
Impulsfragen ..............................................................................................55<br />
Geschichte von Robert, 56 ........................................................................56<br />
Sterne<br />
Freigeist-Übung: Fantasie-Beerdigung .................................................. 59<br />
Kernthema: Sterne .................................................................................... 60<br />
Impulsfragen ............................................................................................. 61<br />
Geschichte von Grete, 85 ......................................................................... 62<br />
Flügel<br />
Freigeist-Übung: Löffelliste ..................................................................... 64<br />
Kernthema: Flügel ..................................................................................... 65<br />
Impulsfragen ............................................................................................. 66<br />
Geschichte von Monika, 78 ...................................................................... 67<br />
Ideen für selbstgeschriebene Geschichten ........................................................73<br />
Ein Buch binden ......................................................................................... 74<br />
6
Ein Album erstellen .....................................................................................75<br />
Eine Schatztruhe bauen .............................................................................75<br />
Ein Hörbuch aufnehmen .............................................................................76<br />
Ein Erzählcafé organisieren ........................................................................77<br />
Ein Familienfest feiern ............................................................................... 77<br />
Die Essenz als Life Letter ............................................................................78<br />
Lebensgeschichten, Teil 2 ................................................................................... 79<br />
Dank .................................................................................................................... 81<br />
<strong>Julia</strong> <strong>Schriefer</strong> ..................................................................................................... 82<br />
Anschrift & Kontaktmöglichkeiten .................................................................... 83<br />
7
Vorwort<br />
8<br />
<strong>Guided</strong> <strong>Autobiography</strong> wurde von dem Visionär Dr. James<br />
Birren entwickelt und geht über die reine Vermittlung<br />
von Schreibtechniken hinaus. Es dient der Selbsterkenntnis<br />
und fördert die Selbstbeobachtung und das Wachstum<br />
durch den Austausch von Lebensgeschichten.<br />
Dieses Buch ist nicht nur eine Hommage an Dr. Birrens<br />
bahnbrechendes Vermächtnis, sondern unterstreicht auch<br />
den inhärenten Wert des Geschichtenerzählens in unserem<br />
Leben.<br />
Wenn sich die Teilnehmer auf den GAB-Prozess einlassen,<br />
begeben sie sich auf eine tiefgreifende Reise der<br />
Selbsterkundung. Themen und Leitfragen öffnen die Tore<br />
zu einer intensiven Reflexion, die jeden Einzelnen dazu einlädt,<br />
entscheidende Momente mit neuer Klarheit und Einsicht<br />
zu betrachten. Durch das Schreiben und Teilen ihrer<br />
Geschichten verarbeiten die Teilnehmer nicht nur vergangene<br />
Erfahrungen, sondern knüpfen auch bedeutungsvolle<br />
Verbindungen mit anderen Teilnehmern dieser erzählerischen<br />
Reise.<br />
Da ich das Privileg hatte, mehr als zwei Jahrzehnte lang<br />
eng mit Dr. Birren zusammenzuarbeiten, bewegt es mich<br />
sehr, dass sein Vermächtnis über Grenzen und Sprachen<br />
hinweg weitergegeben wird. Das Birren Center for Autobiographical<br />
Studies, eine gemeinnützige Organisation, die gegründet<br />
wurde, um die Prinzipien der GAB weltweit zu ver-
eiten, ist ein Beweis für unser Engagement, dieses unschätzbare<br />
Geschenk mit verschiedenen Gemeinschaften<br />
zu teilen.<br />
<strong>Guided</strong> <strong>Autobiography</strong> einer deutschsprachigen Bevölkerung<br />
vorzustellen, ist sowohl lobenswert als auch zeitgemäß.<br />
Indem die Autorin <strong>Julia</strong> <strong>Schriefer</strong> kulturelle Unterschiede<br />
überbrückt und den interkulturellen Dialog fördert,<br />
erweitert sie die Reichweite von Dr. Birrens Vision, bereichert<br />
das Leben ihrer Leserinnen und Leser und fördert<br />
das Verständnis über Kontinente hinweg.<br />
Allen, die sich mit diesem Buch auf die Reise mit GAB begeben,<br />
spreche ich meine aufrichtige Empfehlung und Ermutigung<br />
aus. Mögen Sie in den Geschichten, die Sie schreiben<br />
und mit anderen teilen, Trost, Weisheit und tiefe<br />
Transformation finden. Und mögen die Auswirkungen Ihrer<br />
erzählerischen Reise weit über die Grenzen dieser Seiten<br />
hinausgehen und das Leben unzähliger anderer bereichern.<br />
Cheryl Svensson, Ph.D., Director<br />
The Birren Center for Autobiographical Studies<br />
9
Lebensgeschichten<br />
Teil 1<br />
10<br />
Im Jahr 2009 starb meine Mutter. Ihr Tod hat mich umgehauen.<br />
Ich war ein Mama-Kind und dementsprechend nahe<br />
standen wir uns.<br />
Meine Mutter wusste immer, was los war. Sie hatte einen<br />
siebten Sinn. In Bezug auf mich sogar einen achten. Sie<br />
wusste Dinge schon, bevor ich sie überhaupt angestellt<br />
hatte. Sie wusste, wo ich war, selbst wenn ich gar nicht<br />
wollte, dass sie es weiß. Auch die Idee, ich solle Pilotin werden,<br />
stammte von ihr. Sie hatte immer das richtige Gespür.<br />
Sie war immer da. Bis sie es auf einmal nicht mehr war.<br />
In den darauffolgenden Jahren wurde mir mehr und<br />
mehr bewusst, was ich alles nicht von ihr weiß, welche Fragen<br />
ich nie gestellt habe, welche Geschichten sie mir nicht<br />
mehr erzählen kann, wie viele Details mit ihrem Tod für immer<br />
verloren sind. Außer kurzen Notizen und einigen Kochrezepten<br />
hat sie leider nichts aufgeschrieben. Nichts, wie<br />
sie in Erinnerung bleiben möchte. Nichts, was sie ihren Enkeln<br />
näherbringen würde. Nichts über ihre Kindheit, ihren<br />
Beruf oder ihren Glauben. Kein Wort über Meilensteine<br />
ihres Lebens, Lektionen, die sie lernen musste, oder Träume,<br />
die sie sich gerne erfüllt hätte. Für meine Fragen war es<br />
zu spät.<br />
Ich weiß: Die eigene Lebensgeschichte aufzuschreiben,<br />
klingt arbeitsreich und zeitintensiv. Dabei muss es weder<br />
das eine noch das andere sein. Sie müssen kein ganzes
Buch schreiben! Einzelne Geschichten genügen. Auszüge<br />
aus Ihrem Leben. Kurze Episoden von jeweils zwei Seiten.<br />
So entsteht eine kleine Sammlung persönlicher Essays. Mit<br />
Ihren Erkenntnissen, Erfahrungen und Erlebnissen.<br />
Meine Lieblingsmethode, um solche Geschichten zu Papier<br />
zu bringen, ist <strong>Guided</strong> <strong>Autobiography</strong>, kurz GAB.<br />
GAB ist wissenschaftlich fundiert und dennoch leicht<br />
verständlich. Es ist einfach anzuwenden und beeindruckend<br />
in der Wirkung. Auf den folgenden Seiten werde ich<br />
Ihnen alles Wissenswerte erzählen und Sie dazu ermutigen,<br />
Ihre eigenen Geschichten aufzuschreiben.<br />
Schaffen Sie Erinnerungen für Ihre Familie. Für sich<br />
selbst. Für die nächsten Generationen. Glauben Sie mir: Sie<br />
werden es Ihnen danken!<br />
Ich wünsche Ihnen viel Vergnügen beim Lesen, viel Freude<br />
beim Schreiben und viele wunderbare Erinnerungen.<br />
11
12<br />
Dr James E. Birren (1918<strong>–</strong>2016) mit Cheryl Svensson
<strong>Guided</strong> <strong>Autobiography</strong> bedeutet »angeleitetes, autobiografisches<br />
Schreiben« <strong>–</strong> ein Zungenbrecher sowohl im<br />
Original als auch in der deutschen Übersetzung. Warum<br />
sich der Begründer Dr. Birren dafür entschieden hat, kann<br />
ich Ihnen leider nicht sagen. Ich weiß nur, dass er sich<br />
selbst von langjährigen Weggefährten nicht davon hat abbringen<br />
lassen.<br />
Aber was genau ist GAB? Wer war dieser Dr. Birren? Und<br />
was kann seine Methode?<br />
Möglichkeiten<br />
Stellen Sie sich vor, Sie räumen Ihren Dachboden auf. Die<br />
alte Kommode in der Ecke soll auf den Sperrmüll. Also fangen<br />
Sie damit an. Sie ziehen eine der Schubladen auf, einen<br />
Tick zu weit und die ganze Schublade fällt auf den Boden.<br />
Überall Papiere, Fotos, alte Hefte und Zeitungsausschnitte.<br />
Und auf der Unterseite festgeklebt … ein Umschlag.<br />
Sie lösen ihn ab, klettern die Leiter hinunter zurück in<br />
die Wohnung und setzen sich an Ihren Esstisch.<br />
Der Umschlag sieht alt aus. Er riecht modrig. Sie öffnen<br />
ihn und ziehen etliche Seiten Papier heraus. Vergilbt, verknittert,<br />
pergamentartig. Altes Papier eben. Sie legen die<br />
Seiten vorsichtig auf den Tisch und fangen an zu lesen.<br />
»Mein Name ist Martha Labisch, geborene Zawierucha.<br />
Das ist meine Geschichte …«<br />
Was ist<br />
<strong>Guided</strong><br />
<strong>Autobiography</strong>?<br />
13
14<br />
Es sind Aufzeichnungen Ihrer Oma. Aufzeichnungen, in<br />
denen sie über ihr Leben schreibt. Mit feinsäuberlicher Handschrift,<br />
so als hätte sie gehofft, eines Tages würde<br />
irgendjemand ihre Texte lesen. Sie erzählt von ihrer Familie,<br />
von Wendepunkten des Lebens, von Erlebnissen, die schlimm<br />
waren, von Erfahrungen, an denen sie gewachsen ist. Sie berichtet<br />
von ihrer Arbeit und ihrer Gesundheit. Sie beschreibt<br />
ihren Glauben, ihre Werte und ihre Hoffnungen.<br />
Stellen Sie sich vor, Sie hielten ein solches Dokument in<br />
den Händen: ein Zeitzeugnis, ein Stück Familiengeschichte.<br />
Was würden Sie denken? Wären Sie beeindruckt? Begeistert?<br />
Aufgeregt?<br />
Wie ging es wohl Ihrer Großmutter, als sie diese Zeilen<br />
schrieb? War sie zufrieden? Dankbar? Beruhigt, alles, was<br />
ihr wichtig war, festgehalten zu haben?<br />
Wie wäre es ihr erst ergangen, wenn sie ihre Geschichten<br />
direkt hätte vorlesen können? Von Angesicht zu Angesicht.<br />
Jemandem, der aufrichtig zuhört. Jemandem, der<br />
Wertschätzung und Anerkennung schenkt.<br />
Und nun stellen Sie sich bitte vor, wie es Ihnen gehen<br />
wird, wenn Sie das, was für Sie von Bedeutung ist, aufgeschrieben<br />
und bewahrt wissen. Wenn Sie es mit anderen<br />
teilen. Wenn Sie hören, wie mutig, stark oder außergewöhnlich<br />
Sie sind.
Und was sagen wohl Ihre Enkel und Urenkel, wenn sie eines<br />
Tages Ihr Zeitzeugnis in den Händen halten? Ihre Geschichte.<br />
Ihre Worte. Ihre Schrift.<br />
Genau darum geht es bei GAB.<br />
Geschichte der GAB-Idee<br />
Der Schöpfer dieser Methode war der US-Amerikaner Dr.<br />
James Emmett Birren (1918<strong>–</strong>2016), ein Pionier der Gerontologie,<br />
der Lehre vom Altern. Er war Präsident der »Gerontological<br />
Society of America«, Gründungsdekan der »University<br />
of Southern California (USC) Leonard Davis School of<br />
Gerontology« in Los Angeles und Begründer des »Birren<br />
Center for Autobiographical Studies« in Laguna Woods, Kalifornien.<br />
Mit über 250 Publikationen zählte er zu den renommiertesten<br />
Wissenschaftlern im Bereich der Altersforschung<br />
der letzten Jahrzehnte.<br />
Als er 1918 in Chicago, Illinois, geboren wurde, deutete<br />
nichts auf seinen wissenschaftlichen Werdegang hin. Das<br />
Fachgebiet »Gerontologie« gab es zu dieser Zeit noch gar<br />
nicht. Das gerontologische Forschungsprogramm des<br />
»National Institutes of Health« (NIH), so etwas wie ein<br />
medizinisches Forschungsinstitut des US-amerikanischen<br />
Gesundheitsministeriums, wurde erst 1940 ins Leben<br />
gerufen, zwei Jahre nach Birrens Abschluss am Junior College<br />
im Jahr 1938. Damals wollte er noch Ingenieur<br />
15
16<br />
werden, doch die Jobs in dieser Branche waren spärlich<br />
gesät. Deshalb schlug er eine völlig neue Richtung ein und<br />
wechselte ans »Chicago Teachers College«, um dort seinen<br />
Bachelor zu machen und Lehrer zu werden. 1941 schrieb er<br />
sich für ein Aufbaustudium in Psychologie ein, als sein Einberufungsbescheid<br />
kam. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg<br />
kehrte er nach Chicago zurück, wo er an der Northwestern<br />
University seine Promotion abschloss. Mit dem Doktortitel<br />
in der Tasche bekam er 1947 eine Anstellung in der gerontologischen<br />
Abteilung des NIH, die zu diesem Zeitpunkt<br />
immer noch in den Kinderschuhen steckte.<br />
Dr. Birren war ein Forscher, wie man sich ihn vorstellt:<br />
weißer Kittel, Labor, Experimente. Er beschäftigte sich mit<br />
Ursachen und Folgen einer verlangsamten Informationsverarbeitung<br />
im alternden Nervensystem. Er untersuchte<br />
die Auswirkungen des Alters auf Entscheidungsprozesse<br />
und schrieb mehrere Bücher über Psychologie. Darunter<br />
das erste Buch über die Psychologie des Alterns (1964).<br />
Aber wie kam er auf die Idee, <strong>Guided</strong> <strong>Autobiography</strong> ins<br />
Leben zu rufen?<br />
Anfang der Siebzigerjahre verbrachte Dr. Birren ein Forschungsjahr<br />
in Honolulu. Er unterrichtete an der University<br />
of Hawaii und seine Klassen waren bunt gemischt, von jung<br />
bis alt, mit Studenten und Rentnern. Eine dieser Gruppen<br />
kam nicht so recht in die Gänge. Die Teilnehmer redeten
nicht miteinander, saßen desinteressiert herum und zeigten<br />
keinerlei Motivation. Später beschrieb er sie als »glanzlos,<br />
langweilig und unangenehm«. Und doch brachten<br />
genau diese Menschen ihn auf eine Idee, die sein Lebenswerk<br />
werden sollte.<br />
Nach einer besonders zähen Vorlesung mit jenen Schülern<br />
klappte er seine Mappe zu, schickte sie nach Hause und<br />
sagte: »Bis morgen schreibt jeder von euch zwei Seiten<br />
über einen Wendepunkt in seinem Leben. Den Text bringt<br />
ihr bitte mit und lest ihn vor!«<br />
Am nächsten Tag saßen sie wieder gemeinsam im Hörsaal.<br />
Alle lasen ihre Aufsätze vor. Mit jeder Geschichte veränderte<br />
sich die Atmosphäre im Raum: Die Gruppe<br />
erwachte zum Leben. Die jungen Studenten waren beeindruckt<br />
von den Erfahrungen der alten Menschen. Die Senioren<br />
wollten mehr über das Leben der Jungen wissen. Alle<br />
redeten miteinander, interessierten sich füreinander und<br />
hörten einander zu. Aus einzelnen Teilnehmern wurde endlich<br />
eine richtige Gruppe. Im Laufe der nächsten Vorlesungen<br />
entstanden Freundschaften, die weit über das Semester<br />
hinaus andauerten.<br />
Dr. Birrens Interesse war geweckt: Geschichten<br />
schienen unterschiedlichste Menschen miteinander zu<br />
verbinden. Sobald man Details aus dem Leben des<br />
Gegenübers kennt, fühlt man sich ihm offenbar näher. Er<br />
17
wusste instinktiv, dass er auf etwas Großes gestoßen<br />
war. Er konnte nur noch nicht genau sagen, worauf.<br />
Entwicklung<br />
Von Hawaii ging es zurück auf seinen Posten als Dekan der<br />
University of Southern California (USC) nach Los Angeles.<br />
Doch das, was er in Honolulu erlebt hatte, ließ ihn nicht los.<br />
Er wollte mehr wissen. Er wollte verstehen, warum sich die<br />
Gruppendynamik derart verändert hatte und welche Rolle<br />
das Geschichtenerzählen dabei spielte.<br />
Sein Forschergeist gewann Oberhand und er beschloss,<br />
Untersuchungen anzustellen, wie Schreiben, Vorlesen und<br />
Gruppendynamik zusammenhängen. Also versammelte er<br />
seine Studenten und gemeinsam begannen sie zu forschen:<br />
über die Historie der Biografie und der Biografiearbeit,<br />
über das Programm des »Expressiven Schreibens«<br />
des Pioniers in der Schreibtherapie, Prof. Dr. James Pennebaker,<br />
sowie über Kleingruppenprozesse.<br />
Gefesselt von diesen Forschungen verlagerte sich sein<br />
Fokus weg von wissenschaftlich messbaren Aspekten des<br />
Alterns hin zu weniger definierten qualitativen Merkmalen<br />
mit einem besonderen Augenmerk auf autobiografischen<br />
Studien und Lebensgeschichten. Er forschte, untersuchte<br />
und testete.<br />
18
Mitte der Siebzigerjahre, damals war er bereits Gründungsdekan<br />
der »Davis School of Gerontology« an der USC,<br />
wurde aus all seinen Ergebnissen die Methode <strong>Guided</strong> <strong>Autobiography</strong>,<br />
kurz: GAB.<br />
1976 gab er seinen ersten offiziellen GAB-Kurs. Das<br />
war der Startschuss für den Siegeszug seiner Methode.<br />
GAB wurde zu seiner Lebensaufgabe. Bis zu seinem Tod<br />
2016 hielt er Kurse, arbeitete an der Verbreitung seiner<br />
Idee und setzte seine Forschungen fort. Er untersuchte die<br />
Auswirkungen des GAB-Prozesses auf die Teilnehmer, analysierte<br />
die Bedeutung des Schreibens und Teilens von<br />
Lebensgeschichten und schrieb drei Bücher über seine<br />
Ergebnisse. 2003 gründete er zusammen mit Dr. Cheryl<br />
Svensson das »Birren Center for Autobiographical Studies«.<br />
Sein Ziel war es, GAB weit bekannt zu machen. So viele<br />
Menschen wie möglich sollten von der »GAB-Magie« profitieren.<br />
Und da Beharrlichkeit einer der wichtigsten Wesenszüge<br />
eines Wissenschaftlers ist und er reichlich davon<br />
besaß, verwirklichte er seine Träume: Heute gehört GAB<br />
zum festen Repertoire vieler sozialer Einrichtungen, Schulungszentren<br />
und Seniorenwohnheimen in Nordamerika.<br />
Neben den USA und Kanada sind die Kurse vor allem in<br />
Südamerika, Taiwan, Singapur, England, Australien und<br />
Griechenland präsent. Auch in Deutschland werden die<br />
19
Kursangebote immer mehr. Nicht zuletzt dieses Buch<br />
möchte die Entwicklung von GAB im deutschsprachigen<br />
Raum weiter fördern. Aktuell gibt es über 650 »GAB-Instructors«<br />
in 32 Ländern dieser Erde.<br />
James Birren sagte, die Teilnahme an den Kursen sowie<br />
das Hören der Lebensgeschichten anderer Menschen gehörte<br />
zu den bedeutsamsten Dingen, die er in seiner ganzen<br />
Karriere getan habe.¹<br />
¹ Nach Dr. Birrens Aussagen,<br />
mündlich validiert von Cheryl<br />
Svensson im Jahr 2024.<br />
Ablauf<br />
GAB ist vergleichbar mit einem Spaziergang <strong>–</strong> einem Spaziergang<br />
in die Vergangenheit, quer durch die eigene Lebensgeschichte.<br />
Einem Streifzug mit interessanten Erkenntnissen<br />
und neuen Weggefährten. Jedes Leben ist viel mehr als nur<br />
die chronologische Aneinanderreihung loser Begebenheiten.<br />
Es ist eine Matrix aus Erlebnissen, Begegnungen, Emotionen<br />
und Erfahrungen. Alles gehört zusammen. Das hat<br />
Dr. Birren schon sehr früh erkannt.<br />
In der ursprünglichen Variante treffen sich sechs bis<br />
acht Kursteilnehmer einmal wöchentlich über einen Zeitraum<br />
von zehn Wochen. Jede Woche wird über ein anderes<br />
Lebensthema gesprochen, also über einen wichtigen<br />
Bereich des Lebens, zu dem jeder Mensch etwas sagen<br />
kann, in welcher Form auch immer.<br />
20
Zu Hause schreiben alle Teilnehmer die Gedanken und<br />
Geschichten auf, die ihnen zum jeweiligen Thema einfallen.<br />
Geschrieben wird ganz bewusst zu Hause: in Ruhe, im eigenen<br />
Tempo, ohne Zeitdruck oder Gruppenzwang. Grammatik<br />
und Schreibstil sind unbedeutend. Wichtig ist einzig<br />
und allein das Zu-Papier-Bringen der eigenen Erinnerungen.<br />
Beim nächsten Treffen lesen alle aus der Gruppe zwei<br />
Seiten ihres selbstverfassten Textes vor. Die anderen<br />
hören aufmerksam zu und geben im Anschluss wertschätzendes,<br />
positives Feedback.<br />
Wieso ausgerechnet zwei Seiten? Dr. Birrens Hausaufgabe<br />
»Schreibt zwei Seiten über Wendepunkte und bringt<br />
sie morgen mit« war eine spontane Äußerung. Das hat er<br />
immer wieder betont. Offensichtlich lag ihm die Wissenschaft<br />
so im Blut, dass er instinktiv das Richtige tat. Selbst<br />
im Laufe der vielen Jahre und all seiner Studien blieb die<br />
Anzahl der Seiten gleich.<br />
Das liegt zum einen an der zeitlichen Komponente des<br />
Vorlesens während der Treffen. Zum anderen <strong>–</strong> und das ist<br />
der Hauptgrund <strong>–</strong> an der Überschaubarkeit. Denn das Vorhaben,<br />
die eigene Geschichte aufzuschreiben, wirkt häufig<br />
einschüchternd, so sehr, dass man es gerne immer wieder<br />
aufschiebt. Teilt man dieses Vorhaben jedoch in kleine<br />
Schritte von jeweils zwei Seiten, wird es leichter, über-<br />
21
22<br />
schaubarer. Zwei Seiten überfordern nicht, sie sind für<br />
jedermann machbar.<br />
Über das Leben zu schreiben, bedeutet, das Leben zu<br />
reflektieren. Die Auswahl zweier Seiten, die man jede<br />
Woche mit der Gruppe teilen möchte, bedeutet Fokussierung.<br />
In dem man sich entscheiden muss, was man vorliest,<br />
entscheidet man gleichzeitig, was im Leben wirklich<br />
von Bedeutung war. Somit blicken die Teilnehmer eines<br />
GAB-Kurses nicht einfach nur auf ihr Leben zurück, sondern<br />
sie sortieren, strukturieren und priorisieren ihre Erinnerungen.<br />
Das laute Vorlesen ist der Deal im GAB-Kurs. Ich weiß,<br />
das klingt herausfordernd. Und ich werde auch nicht<br />
schwindeln, indem ich sage, es wäre einfach. Es kostet<br />
Überwindung. Definitiv. Persönliche Dinge, in eigenen<br />
Worten formuliert, vor mehr oder weniger fremden Menschen<br />
vorzutragen, benötigt Mut. Aber ich versichere<br />
Ihnen, dieser Mut lohnt sich. Der Dank sind aufmerksame<br />
Zuhörer, wertschätzendes Feedback und die Chance, das<br />
eigene Leben durch die Brille anderer Menschen zu sehen.<br />
Die Erkenntnisse, die man dadurch bekommen kann, sind<br />
es auf jeden Fall wert, über den eigenen Schatten zu springen!<br />
Vorlesen und Zuhören sind zwei Hauptmerkmale der<br />
GAB-Methode:
Vorlesen und Rückmeldung bekommen<br />
Durch Ihr Vorlesen in der kleinen Gruppe gewähren Sie<br />
anderen Menschen Einblicke in Ihr Leben. Durch deren<br />
Rückmeldung erfahren Sie Wertschätzung, Würdigung<br />
und nicht selten einen völlig neuen Blickwinkel. Ich erzähle<br />
Ihnen dazu eine kleine Episode aus einem Kurs:<br />
Eine ältere Dame, etwas über 80 Jahre alt, las ihre<br />
Geschichte zum Thema »Beruf« vor. Sie war Ärztin und<br />
berichtete, wie hart dieser Werdegang in den Sechzigern<br />
war. Sie hat in den USA studiert und wurde von Universitäten<br />
abgewiesen, weil sie bereits verheiratet war. Man<br />
wollte sie nicht promovieren lassen, weil sie bereits ein<br />
Kind hatte <strong>–</strong> heute undenkbar, damals für Frauen Alltag. In<br />
der Feedbackrunde bedankte sich eine jüngere Frau für<br />
ihre Stärke und ihr Durchhaltevermögen: »Weißt du,<br />
wegen Frauen wie dir dürfen Frauen heute das machen,<br />
was sie wollen. Wegen Frauen wie dir können Frauen heute<br />
Ingenieurin, Polizistin oder Astronautin werden. Ich<br />
möchte mich im Namen all dieser Frauen bei dir bedanken.<br />
Für deine Stärke, deinen Mut und für deine Beharrlichkeit.<br />
Dafür, dass du gekämpft hast, dass du durchgehalten<br />
hast. Dafür, dass du eine Vorreiterin sowie ein Vorbild für<br />
alle nachfolgenden Generationen bist!« Der pensionierten<br />
Ärztin fehlten die Worte. Dieser starken Dame sind Tränen<br />
der Rührung über die Wangen gelaufen. Bis zu diesem Tag<br />
23
hatte sie sich niemals als Vorbild gesehen. Sie hatte ihre<br />
Beharrlichkeit nie als etwas Besonderes oder gar Wegweisendes<br />
betrachtet, sondern lediglich als Notwendigkeit. In<br />
diesem Moment hat sie ihr Leben durch die Augen einer<br />
anderen Person betrachtet. Und zum ersten Mal erkannt,<br />
was sie wirklich geleistet hat!<br />
² James E. Birren, Cheryl Svensson:<br />
Reminiscence, Life Review, and<br />
<strong>Autobiography</strong>: Emergence of a<br />
New Era, 2013. Von der Webseite<br />
des International Journal of Reminiscence<br />
and Life Review (IJRLR)<br />
abgerufen am 4.05.2024 als pdf-<br />
Datei<br />
https://qrco.de/bf22k3<br />
Zuhören und erkennen<br />
Richtiges Zuhören ist leider selten geworden. Doch es lässt<br />
sich lernen und es lohnt sich: Das Hören anderer Geschichten<br />
regt die eigene Erinnerung an. Experten sprechen bei<br />
diesem Prozess von »Memory Priming«. Das bedeutet,<br />
dass ein Stichwort genügt, um sich an etwas zu erinnern,<br />
was wir früher einmal gewusst, im Laufe der Zeit aber verdrängt<br />
und scheinbar vergessen haben. Im Klartext heißt<br />
das: Wenn wir hören, wie unser Gegenüber von Erlebnissen<br />
seiner Jugendzeit spricht, dann fallen uns wahrscheinlich<br />
ähnliche oder vergleichbare Erlebnisse aus dieser Zeit ein<br />
<strong>–</strong> selbst wenn wir schon Jahre nicht mehr daran gedacht<br />
oder es vermeintlich vergessen haben.²<br />
24
Studien<br />
Natürlich gibt es zahlreiche Studien, die nachweisen, wie<br />
wichtig es ist, zu schreiben <strong>–</strong> am besten mit der Hand <strong>–</strong>,<br />
das eigene Wissen weiterzugeben, kreativ zu sein und<br />
einen GAB-Kurs zu besuchen.<br />
Schreiben <strong>–</strong> am besten mit der Hand<br />
Schreiben ist gesund. Es fördert kognitive Fähigkeiten und<br />
verbessert die Feinmotorik. Benutzen wir die Hand zum<br />
Schreiben, sind zwölf Gehirnareale aktiv³ und es arbeiten<br />
mehr als dreißig Muskeln und siebzehn Gelenke zusammen.⁴<br />
Es ist ein Training für Körper und Gehirn.<br />
Das, was wir schreiben, muss erst zusammengesetzt<br />
werden: Striche, Bögen und Punkte werden zu Buchstaben.<br />
Buchstaben werden zu Worten. Worte werden zu Sätzen.<br />
All das muss unser Gehirn verarbeiten und verstehen. Wir<br />
selektieren, was wir schreiben möchten, was uns wichtig<br />
genug erscheint, um es festzuhalten. Eine solche Auswahl<br />
erfordert laut dem Neurowissenschaftler Henning Beck<br />
sowohl Konzentration als auch Verständnis. 5<br />
Prof. Dr. Virginia Berninger von der University of Washington<br />
hat die Auswirkung der Handschrift auf unser Gehirn<br />
untersucht. Ihre Studienergebnisse besagen, dass je nach<br />
Verwendung von Schreibschrift, Druckschrift oder Tastatur<br />
verwandte, aber verschiedene Hirnfunktionen benutzt<br />
³ Ludger Fittkau: Schreiben statt<br />
Tippen <strong>–</strong> gut fürs Hirn.<br />
Veröffentlicht im Deutschlandfunk<br />
am 10.11.2017, abgerufen am<br />
24.04.2024<br />
https://qrco.de/bf21My<br />
⁴ ZDF logo! erklärt: Deshalb ist mit<br />
der Hand schreiben sinnvoll. Im ZDF<br />
veröffentlicht am 11.07.2022, abgerufen<br />
am 24.04.2024<br />
http://q-r.to/bf21Qh<br />
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