Die islamrechtliche Beurteilung der Mädchenbeschneidung
Die islamrechtliche Beurteilung der Mädchenbeschneidung Die islamrechtliche Beurteilung der Mädchenbeschneidung
ischen und kulturellen Wandel vor allem in Europa, dem die beiden großen christlichen Kirchen nach langen Vorbehalten gegen die als Produkt der Säkularisierung verstandenen Menschenrechte erst nach dem zweiten Weltkrieg folgten. Heute entwickeln sie jedoch eigene sozialethische Verkündigungen und deklarieren die Menschenrechte als aus der christlichen Lehre entspringende Doktrin des friedlichen Zusammenlebens aller Menschen. 230 In der islamisch geprägten Welt werden die Menschenrechtserklärungen von Kritikern oft als in jüdisch-christlicher Tradition stehend wahrgenommen und mit dem Verweis auf den moralischen Verfall der westlichen Gesellschaft abgelehnt. Auch Nichtmuslime in Afrika begreifen häufig den imperialistischen Westen als im Kleide der Menschenrechte daherkommend und die Authentizität der eigenen Kultur bedrohend. 231 Seit einigen Jahrzehnten werden daher alternative Menschenrechtskonzeptionen erstellt, die explizit nicht westlich, sondern genuin kulturell oder religiös sind. An dieser Stelle sei auf die These Bielefeldts verwiesen, nach der die Betonung von Menschenrechten generell als „eine politisch-rechtliche Antwort auf (…) insbesondere strukturelle Unrechtserfahrungen in der Entwicklung moderner Gesellschaften“ zu verstehen ist. 232 Im Gegensatz zu anderen Erklärungsmodellen ist diese Definition auch im Kontext nichtwestlicher Kulturen anwendbar, denn generell ist zu bemerken, dass Menschenrechte weder als inhärenter Bestandteil einer ungebrochenen europäischen Kulturtradition noch in abstrakter Entgegensetzung zu dieser Tradition verstanden werden können. (…) Vielmehr meint der „westliche“ Ursprung der Menschenrechte zunächst das schlichte Faktum, daß die Idee universaler Freiheitsrechte, soweit wir wissen, erstmals in Europa und Nordamerika politisch-rechtlich wirksam geworden ist. 233 Viele Muslime empfinden ihre Religion als in einer tiefen Krise befindlich und begreifen die westliche säkular geprägte kulturelle Ordnung in der postkolonialen Zeit als gefährliche Gottlosigkeit, der man sich durch Rückkehr zum Islam und Zusammenhalt in der muslimischen Gemeinschaft (umma) erwehrt. Insbesondere unter Islamisten tritt zu der pauschalen Ablehnungshaltung gegenüber dem Westen zunehmend der Versuch einer Überbietung durch den Islam, der zu einer Art Wettkampf um die Errungenschaften in der neueren Zeit geführt hat, hinzu. 234 Jener zeigt sich unter anderem bei der Frage, wer die Menschenrechte 230 Bielefeldt. Philosophie der Menschenrechte. S. 3-4; 29-34; 126-128. Müller. Islam und Menschenrechte. S. 60. 231 Der Kulturpluralismus in der Welt war auch im Westen seit der Erklärung der Menschenrechte 1948 ein Thema. Lévi-Strauss (1951) und nach ihm Adamatia Pollis und Peter Schwab (1979) kritisierten die Erklärung als „menschenrechtlichen Kulturimperialismus“ und betonten, dass die Vorstellung von Menschenrechten im Westen nicht prinzipiell auf andere Kulturen und Religionen übertragbar sei. Vgl. Bielefeldt. Philosophie der Menschenrechte. S. 12-13; 115-117. 232 Ibid. S. 202. 233 Ibid. S. 129. 234 Krämer spricht von einem „Kulturkampf“. Krämer, Gudrun: Gottes Staat als Republik. Reflexionen zeitgenössischer Muslime zu Islam, Menschenrechten und Demokratie. Baden-Baden 1999. S. 147. 47
„erfunden“ hat. Dem zugrunde liegt die Annahme, dass der Islam als reine und vollkommene Lehre für den Gläubigen alle Vorzüge des Lebens bereithalte. Da heute viele verschiedene Akteure für sich den Anspruch erheben, „den wahren Islam“ zu vertreten, existieren im Grunde eine Vielzahl von „Islamen“. Dies spiegelt sich auch in den seit den 1980er Jahren konzipierten Versuchen, eine genuin islamische Menschenrechtserklärung zu verfassen, wider. Die Vielzahl von Menschenrechtserklärungen ist nicht nur Ausdruck eines vielfältigen Islam, sondern eines sich verstärkenden Kulturdissenses in der Welt. Bielefeldt sieht die Universalität der Menschenrechte aufgrund ihres Missbrauchs als „ideologische Waffe“ als gefährdet an, 235 obwohl die Muslime in ihrer Mehrheit – im Gegensatz zu einigen ihrer religiösen und politischen Sprechern zu diesem Thema – nicht allein unter Bezugnahme auf islamische Rechtsquellen über Menschenrechte zu reden vermögen, sondern sich durchaus an internationalen Standards orientieren. Der heute gerne auf beiden ideologisierenden Seiten provozierten prinzipiellen Blockbildung zwischen „dem (säkularen) Westen“ und „dem (religiösen) Islam“ ist also mit großer Vorsicht zu begegnen. Die Auffassung, eine Vereinbarkeit von Islam und Menschenrechten sei deswegen ausgeschlossen, weil ein Bezug auf Gott dem Menschenrechtskonzept grundsätzlich widerspreche, muss mit Nachdruck dementiert werden. 236 In den letzten Jahren entstand zu diesem Thema umfangreiche Literatur, nach deren sehr differenzierter Betrachtungsweise von einer generellen Unvereinbarkeit zwischen „dem Islam“ und „den Menschenrechten“ als solche nicht mehr die Rede ist. Müller hält fest, dass die Religion wie das Naturrecht allein den „ideologischen Hintergrund“ stelle und eher die Frage im Vordergrund stünde, „ob bestimmte Inhalte einer Religion dem Menschenrechtsgedanken widersprechen“. 237 Tatsächlich bietet das islamische Recht unterschiedliche Auslegungsmöglichkeiten, so dass bei der Frage nach der Rezeption von Menschenrechtsrechtsprinzipien das Augenmerk insbesondere auf den muslimischen Akteuren liegen sollte. Müller unterteilt in seiner Analyse des Verhältnisses Islam – Menschenrechte den Islam in einen „islamistischen Islam“, „islamischen Säkularismus“ und „modernistischen Islam“. Den Islamismus – auch in seiner aufgeklärten Form – betrachtet Lorenz als am weitesten von einer Kompatibilität des Islam mit dem westlichen Menschenrechtsverständnis entfernt. 238 Denker des islamistischen Spektrums begreifen die Würde des Menschen und damit auch die Menschenrechte als von Gott gegeben und im 7. Jahrhundert in Seiner Offenbarung vollständig formuliert 235 Bielefeldt. Philosophie der Menschenrechte. S. 117. 236 Diese Auffassung vertritt beispielsweise Tibi, Bassam: Im Schatten Allahs. Der Islam und die Menschenrechte. München/Zürich 1994.Vgl. hierzu auch Lorenz. Islam und Menschenrechte. S. 101. 237 Lorenz. Islam und Menschenrechte. S. 102-103. 238 Vgl. im Folgenden zum (aufgeklärten) Islamismus ibid. S. 111-210. 48
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ischen und kulturellen Wandel vor allem in Europa, dem die beiden großen christlichen<br />
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In <strong>der</strong> islamisch geprägten Welt werden die Menschenrechtserklärungen von Kritikern oft<br />
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Viele Muslime empfinden ihre Religion als in einer tiefen Krise befindlich und begreifen die<br />
westliche säkular geprägte kulturelle Ordnung in <strong>der</strong> postkolonialen Zeit als gefährliche<br />
Gottlosigkeit, <strong>der</strong> man sich durch Rückkehr zum Islam und Zusammenhalt in <strong>der</strong> muslimischen<br />
Gemeinschaft (umma) erwehrt. Insbeson<strong>der</strong>e unter Islamisten tritt zu <strong>der</strong> pauschalen<br />
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Bielefeldt. Philosophie <strong>der</strong> Menschenrechte. S. 3-4; 29-34; 126-128. Müller. Islam und Menschenrechte. S. 60.<br />
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Der Kulturpluralismus in <strong>der</strong> Welt war auch im Westen seit <strong>der</strong> Erklärung <strong>der</strong> Menschenrechte 1948 ein<br />
Thema. Lévi-Strauss (1951) und nach ihm Adamatia Pollis und Peter Schwab (1979) kritisierten die Erklärung als<br />
„menschenrechtlichen Kulturimperialismus“ und betonten, dass die Vorstellung von Menschenrechten im<br />
Westen nicht prinzipiell auf an<strong>der</strong>e Kulturen und Religionen übertragbar sei. Vgl. Bielefeldt. Philosophie <strong>der</strong><br />
Menschenrechte. S. 12-13; 115-117.<br />
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Ibid. S. 202.<br />
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Krämer spricht von einem „Kulturkampf“. Krämer, Gudrun: Gottes Staat als Republik. Reflexionen zeitgenössischer<br />
Muslime zu Islam, Menschenrechten und Demokratie. Baden-Baden 1999. S. 147.<br />
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