Die islamrechtliche Beurteilung der Mädchenbeschneidung

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Geld- und Gefängnisstrafen – alle anderen Beschneidungsformen blieben jedoch legal. 162 Auch diese Maßnahme erfuhr die ausdrückliche Unterstützung des Großmuftis. 163 Die su- danesische Bevölkerung nahm das Interdikt als unzulässigen Eingriff der englischen Fremdherrschaft in die eigenen Traditionen und Werte wahr, so dass Verhaftungen von He- bammen zu derartigen Unruhen führten, dass die Strafverfolgung ausgesetzt werden muss- te. 164 In einer Art kulturellem Protest wurde die pharaonische Beschneidung trotz der zahl- reichen Todesfälle weiter in der Bevölkerung praktiziert. 165 Die sich zeitgleich in den 1940er Jahren vor allem unter Akademikerinnen ansatzweise entwickelte Kritik an der traditionel- len Rolle der sudanesischen Frau erhielt in den 1970er Jahren politische Unterstützung, als die Ministerin für Soziales, Fauna ÝAbd al-MaÎmÙd, und der Direktor der sudanesischen Familienplanungsorganisation, ÝAlÐ BadrÐ, sich den Kampagnen der „Sudanesischen Frauen- union“ anschlossen. 166 1974 erklärte die seit 1956 unabhängige sudanesische Regierung in dem Artikel 284 a allein die sunna-Beschneidung als erlaubt. 167 Seit der Änderung des Ge- setzbuches 1991 fehlt jedoch der Straftatbestand der Beschneidung. Auch wenn die Artikel auf Recht der körperlichen Unversehrtheit 168 angewandt werden könnten, kam es in den letzten Jahren zu keinen Verurteilungen mehr. 169 Obwohl seit Ende der 1970er Jahre He- bammen und Ärzte die Beschneidung offiziell nicht mehr in ihrer Ausbildung erlernen und in Zusammenarbeit mit internationalen Organisationen wie der WHO kontinuierlich Auf- klärungskampagnen im Land durchgeführt werden, ist die Zahl der Beschneidungen von Mädchen nicht zurückgegangen. Sämtliche Initiativen im Sudan verblassen angesichts der großen militärischen und ökonomischen Krisen, von denen der überwiegende Teil Afrikas heimgesucht wird. 170 Anders als im Sudan zeichnete sich in Ägypten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine Diskussion über die Beschneidung auch in der männlich-intellektuellen Gesellschaft ab. Aldeeb macht in diesem Kontext als ältesten Text einen Artikel in der Zeitschrift ar-RisÁla von 1943 aus, der eine publizistische Kontroverse über die Frage, ob die Mädchenbeschneidung „isla- 162 Der Gesetzestext ist in englischer Sprache nachzulesen bei Aldeeb. Male and Female Circumcision. S. 267. 163 Atighetchi. Islamic Bioethics. S. 312; 324. Ismail/Makki. Frauen im Sudan. S. 42. 164 Bis 1948 kam es lediglich zu 15 Verurteilungen. Vgl. Aldeeb. Male and Female Circumcision S. 267. Vgl. auch Ismail/Makki. Frauen im Sudan. S. 42-43. Aldeeb. Verstümmeln im Namen Yahwes oder Allahs. S. 90. Peller. Chiffrierte Körper – Disziplinierte Körper. S. 177; 200. Atighetchi. Islamic Bioethics. S. 324-325. 165 Der Anführer der Republikanischen Brüder MaÎmÙd ÓÁhÁ nutzte den aus dem Protest gegen die Kriminalisierung der Beschneidung entspringenden Aktionismus der Bevölkerung, um seinen Widerstand gegen die englische Kolonialherrschaft – auf Kosten der Frauen, wie Aldeeb anmerkt – zu verschärfen. Vgl. Aldeeb. Male and Female Circumcision. S. 267-268. Lightfoot-Klein. Das grausame Ritual. S. 60-61. 166 Badry. Zur ‚Mädchenbeschneidung’ in islamischen Ländern. S. 222. 167 Atighetchi. Islamic Bioethics. S. 324-325. 168 Art. 20 Grundgesetz und Art. 139 Strafgesetzbuch. 169 Terre des Femmes. Schnitt in die Seele. S. 212. 170 Atighetchi. Islamic Bioethics. S. 324-325. 37

misch“ sei oder nicht, auslöste. 171 Der ägyptische Großmufti, Íasanain MuÎammad MaÌlÙf (gest. 1990), 172 verfasste im Mai 1949 eine Fatwa, in der er klarstellte, dass die Beschneidung von Frauen im Gegensatz zu der von Männern keine Pflicht und ihre Unterlassung keine Sünde im Islam darstelle. 173 Zu einem erneuten Höhepunkt der Diskussion kam es, als im Mai 1951 einige Ärzte in der medizinischen Fachzeitschrift ad-DuktÙr für ein Ende der Mädchenbeschneidung plädierten, da die islamische Position indifferent sei und mit dieser Praxis keinerlei Vorteile, sondern allenfalls seelische und körperliche Nachteile für die Frauen verbunden seien. 174 Im Folgenden waren in der Zeitschrift LiwÁÞ al-islÁm empörte Reaktionen zehn hochrangiger Azhar-Gelehrte zu lesen, die die Ernsthaftigkeit verschiedener Argumente anzweifelten und sich für die Beschneidung aussprachen. 175 ÝAlÁm NaÒÁr, Scheich an der Azhar-Universität, publizierte schließlich im Juni 1951 eine Fatwa, in der er die Mädchenbeschneidung als ein islamisches Wahrzeichen charakterisierte, das zur Mäßigung des Verhaltens von Frauen diene. Die Warnungen der Ärzte vor gesundheitlichen Schäden degradierte er als unbedeutend gegenüber dem göttlichen Wissen. 176 Die Auffassung des späteren Scheich der Azhar, MaÎmÙd ŠaltÙt (gest. 1963), 177 wie sie in der Juni-Ausgabe von LiwÁÞ al-islÁm abgedruckt wurde, zeigt hingegen eine interessante Kompromissbereitschaft: When it is proven by the precise research, and not by a temporary opinion given out to satisfy a particular tendency or to conform itself to traditions of given people, that a thing includes a damage for health or a depravity of the morals, it must be forbidden according to the religious law in order to avoid the damage or the depravity. And until this is proven concerning female circumcision, this practice will continue according to what people are accustomed in the light of the Islamic law and the knowledge of the religious scholars since the time of the prophecy [of Muhammad] until this day, i.e. that the circumcision is a makrumah, and not an obligation or sunnah. 178 171 Vgl. zu den Akteuren Aldeeb. Male and Female Circumcision. S. 262. 172 Íasanain MuÎammad MaÌlÙf wurde am 6.5.1890 in Kairo geboren. Er studierte und lehrte an der Azhar- Universität und war viele Jahre als Richter tätig. Von 1946 bis 1950 und 1952 bis 1954 war er im Amt des ägyptischen Großmuftis. Vgl. http://www.islamonline.net/english/ram2002/10/history/article29.shtml (Stand: 19.11.2007). 173 MaÌlÙf, Íasanain MuÎammad: Îukm al-ÌitÁn. In: al-fatÁwÁ al-islÁmÐya min dÁr al-iftÁÞ al-miÒrÐya. Kairo 1981. S. 449. Die Fatwa wurde 1949 verfasst, aber erst 1981 in das Fatwa-Werk aufgenommen. Vgl. auch Aldeeb. Male and Female Circumcision. S. 262. Aldeeb. Les Musulmans face aux droits de l’homme. S. 81. 174 Aldeeb. Male and Female Circumcision. S. 262. 175 „Durchaus berechtigte Kritik an der Beschneidung und an den damit verbundenen religiös verbrämten Vorstellungen weiblicher Sexualität wurden mit haltlosen Vorwürfen gegen den Islam an sich und mit dem gestiegenen Rauschgiftkonsum bei Männern verknüpft.“ Vgl. Badry. Zur ‚Mädchenbeschneidung’ in islamischen Ländern. S. 222. Vgl. auch Krawietz. Die Íurma. S. 223-224. 176 NaÒÁr, ÝAlÁm: ÌitÁn al-banÁt. Fatwa vom 23.6.1951. In: al-fatÁwÁ al-islÁmÐya min dÁr al-iftÁÞ al-miÒrÐya. Kairo 1982. S. 1985-1986. Die Fatwa von NaÒÁr wurde erst 1982 in das Fatwa-Werk aufgenommen. Vgl. auch Aldeeb. Male and Female Circumsicion. S. 262. Aldeeb. Les Musulmans face aux droits de l’homme. S. 81. 177 MaÎmÙd ŠaltÙt wurde 1893 in Minya BanÐ ManÒÙr in Unterägypten geboren. Er studierte und lehrte an der Azhar-Universität. Zwischen 1959 und 1963 war er der Scheich der Azhar-Universität. Vgl. http://www.eslam.de/ begriffe/s/schaltut.htm (Stand: 2.1.2008). 178 Zitiert nach der Übersetzung von Aldeeb. Male and Female Circumcision. S. 263. 38

Geld- und Gefängnisstrafen – alle an<strong>der</strong>en Beschneidungsformen blieben jedoch legal. 162<br />

Auch diese Maßnahme erfuhr die ausdrückliche Unterstützung des Großmuftis. 163 <strong>Die</strong> su-<br />

danesische Bevölkerung nahm das Interdikt als unzulässigen Eingriff <strong>der</strong> englischen<br />

Fremdherrschaft in die eigenen Traditionen und Werte wahr, so dass Verhaftungen von He-<br />

bammen zu <strong>der</strong>artigen Unruhen führten, dass die Strafverfolgung ausgesetzt werden muss-<br />

te. 164 In einer Art kulturellem Protest wurde die pharaonische Beschneidung trotz <strong>der</strong> zahl-<br />

reichen Todesfälle weiter in <strong>der</strong> Bevölkerung praktiziert. 165 <strong>Die</strong> sich zeitgleich in den 1940er<br />

Jahren vor allem unter Akademikerinnen ansatzweise entwickelte Kritik an <strong>der</strong> traditionel-<br />

len Rolle <strong>der</strong> sudanesischen Frau erhielt in den 1970er Jahren politische Unterstützung, als<br />

die Ministerin für Soziales, Fauna ÝAbd al-MaÎmÙd, und <strong>der</strong> Direktor <strong>der</strong> sudanesischen<br />

Familienplanungsorganisation, ÝAlÐ BadrÐ, sich den Kampagnen <strong>der</strong> „Sudanesischen Frauen-<br />

union“ anschlossen. 166 1974 erklärte die seit 1956 unabhängige sudanesische Regierung in<br />

dem Artikel 284 a allein die sunna-Beschneidung als erlaubt. 167 Seit <strong>der</strong> Än<strong>der</strong>ung des Ge-<br />

setzbuches 1991 fehlt jedoch <strong>der</strong> Straftatbestand <strong>der</strong> Beschneidung. Auch wenn die Artikel<br />

auf Recht <strong>der</strong> körperlichen Unversehrtheit 168 angewandt werden könnten, kam es in den<br />

letzten Jahren zu keinen Verurteilungen mehr. 169 Obwohl seit Ende <strong>der</strong> 1970er Jahre He-<br />

bammen und Ärzte die Beschneidung offiziell nicht mehr in ihrer Ausbildung erlernen und<br />

in Zusammenarbeit mit internationalen Organisationen wie <strong>der</strong> WHO kontinuierlich Auf-<br />

klärungskampagnen im Land durchgeführt werden, ist die Zahl <strong>der</strong> Beschneidungen von<br />

Mädchen nicht zurückgegangen. Sämtliche Initiativen im Sudan verblassen angesichts <strong>der</strong><br />

großen militärischen und ökonomischen Krisen, von denen <strong>der</strong> überwiegende Teil Afrikas<br />

heimgesucht wird. 170<br />

An<strong>der</strong>s als im Sudan zeichnete sich in Ägypten in <strong>der</strong> ersten Hälfte des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts eine<br />

Diskussion über die Beschneidung auch in <strong>der</strong> männlich-intellektuellen Gesellschaft ab. Aldeeb<br />

macht in diesem Kontext als ältesten Text einen Artikel in <strong>der</strong> Zeitschrift ar-RisÁla von 1943<br />

aus, <strong>der</strong> eine publizistische Kontroverse über die Frage, ob die <strong>Mädchenbeschneidung</strong> „isla-<br />

162<br />

Der Gesetzestext ist in englischer Sprache nachzulesen bei Aldeeb. Male and Female Circumcision. S. 267.<br />

163<br />

Atighetchi. Islamic Bioethics. S. 312; 324. Ismail/Makki. Frauen im Sudan. S. 42.<br />

164<br />

Bis 1948 kam es lediglich zu 15 Verurteilungen. Vgl. Aldeeb. Male and Female Circumcision S. 267. Vgl. auch<br />

Ismail/Makki. Frauen im Sudan. S. 42-43. Aldeeb. Verstümmeln im Namen Yahwes o<strong>der</strong> Allahs. S. 90. Peller.<br />

Chiffrierte Körper – Disziplinierte Körper. S. 177; 200. Atighetchi. Islamic Bioethics. S. 324-325.<br />

165<br />

Der Anführer <strong>der</strong> Republikanischen Brü<strong>der</strong> MaÎmÙd ÓÁhÁ nutzte den aus dem Protest gegen die Kriminalisierung<br />

<strong>der</strong> Beschneidung entspringenden Aktionismus <strong>der</strong> Bevölkerung, um seinen Wi<strong>der</strong>stand gegen die<br />

englische Kolonialherrschaft – auf Kosten <strong>der</strong> Frauen, wie Aldeeb anmerkt – zu verschärfen. Vgl. Aldeeb. Male<br />

and Female Circumcision. S. 267-268. Lightfoot-Klein. Das grausame Ritual. S. 60-61.<br />

166<br />

Badry. Zur ‚<strong>Mädchenbeschneidung</strong>’ in islamischen Län<strong>der</strong>n. S. 222.<br />

167<br />

Atighetchi. Islamic Bioethics. S. 324-325.<br />

168<br />

Art. 20 Grundgesetz und Art. 139 Strafgesetzbuch.<br />

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Terre des Femmes. Schnitt in die Seele. S. 212.<br />

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