Die islamrechtliche Beurteilung der Mädchenbeschneidung

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29.12.2012 Aufrufe

zunehmen, oder die aus menschlicher Einsicht heraus gewonnene Erkenntnis, irrationale und schädliche Bräuche trotz langer Tradition aufzugeben? Von besonderem Interesse für diese Arbeit ist damit, inwiefern die islamische Rechtswissenschaft in Beziehung zur islamrechtlichen Tradition einerseits sowie der gesellschaftspolitischen Realität andererseits steht. Als Ausgangsthese wird hierbei angenommen, dass die Konferenz an der Azhar-Universität einen Bruch in der Geschichte der Rechtsbeurteilung der Mädchenbeschneidung darstellt und die Gründe hierfür in einer veränderten Wahrnehmung gesellschaftspolitischer Faktoren durch die Gelehrten liegen. An manchen Stellen kann die Erörterung dieser Fragestellung nur angerissen werden und bleibt vielleicht sogar eine klare Antwort schuldig. Dieser Umstand resultiert unter anderem aus dem mehrschichtigen Themenspektrum, das von der Problematik der Mädchenbeschneidung berührt wird. So spielt die Geschichte der Kolonialherrschaft und die damit verbundene Angst vieler Muslime bzw. Afrikaner um den Verlust ihrer kulturellen Identität ebenso eine Rolle wie die Frauenbewegung, internationale Menschenrechtsdiskurse oder medizinische Entwicklungen. Die Position der ÝulamÁÞ zur Mädchenbeschneidung, die schließlich das Thema der Frau in der muslimischen Gesellschaft im Generellen betrifft, ist unbedingt in den Kontext der Diskussionen der Zeit zu stellen und zu bewerten. Da sich Politik und Gesellschaft der islamisch geprägten Welt im 20. Jahrhundert rasant verändert haben, mutet eine Einbettung der Mädchenbeschneidung in das Spannungsfeld von Tradition, Islam und Menschenrechtsdenken möglicherweise riskant an, soll aber dennoch im 3. Kapitel dieser Arbeit versucht werden. Grund für dieses Vorgehen ist die Annahme, dass die Religions- und Rechtsgelehrten nicht ohne Einfluss von Außen – einem Vakuum gleich – ihre Rechtstheorien entwickeln. Dieser Anspruch wurde in der islamischen Rechtspraxis selbst nie gestellt, auch wenn mancherorts von einer ausschließlichen Besinnung auf die religiösen Quellen zu hören oder zu lesen ist. Die islamische Rechtsfindungspraxis war zu keinem Zeitpunkt statisch und abgeschlossen, selbst wenn offiziell das Tor der eigenständigen Rechtsfindung (bÁb al-iÊtihÁd) für lange Zeit als geschlossen galt. Seit der Frühen Neuzeit beeinflusste die Präsenz kolonialer Machthaber aus Europa die islamisch geprägte Welt und löste durch den Import neuer sozialer und politischer Systeme eine Krise in Religion und Gesellschaft aus. Mit dem gesellschaftspolitischen Wandel in einer sich zunehmend globalisierenden Welt finden sich die islamisch geprägten Länder heute in einer Rechtfertigungssituation mancher ihrer kulturell-religiösen Normen und Werte gegenüber den ehemaligen Machthabern wieder. Neue islamische Bewegungen sowie das Erstarken einer „Orthodoxie“, einhergehend mit dem Wunsch nach einer klaren Definition eigener religiöser Standpunkte aller Akteure, sind die Folge. Heute prägen zudem moderne Medien die Rechtsfindungspraxis, die multilingual und global genutzt werden 9

können. Muslime aus der ganzen Welt, selbst aus Ländern mit geringem muslimischem Bevölkerungsanteil, und auch Gläubige anderer Religionsgruppen mischen sich in Diskussionen um aktuelle Themen ein und geben der Rechtswissenschaft neue Impulse. Diese Neuerungen gehen an islamischen Gelehrten nicht spurlos vorüber, sondern beeinflussen ihre Rechtsfindungsmethodik (uÒÙl al-fiqh) wie auch die Rechtsauskunft (iftÁÞ) und geben beiden im 20. und 21. Jahrhundert einen eigenen Charakter. Sie bewirken, dass das Nachdenken über den göttlichen Willen stets situativ und aktuell bleibt. Auf die Vielzahl dieser modernen Faktoren im heutigen Recht soll als Vorbereitung in Kapitel 4 eingegangen werden, bevor in Kapitel 5 mit einer eingehenden Präsentation der Gelehrtenkonferenz an der Azhar-Universität im November 2006 und ihres Beschlusstextes die eigentliche Fragestellung nach dem Wandel der Rechtswissenschaft am Beispiel der Mädchenbeschneidung erörtert wird. Dies soll in dem letzten Teil der Arbeit durch eine Gegenüberstellung des Beschlusses der Konferenz mit früheren Gelehrtenmeinungen zur Mädchenbeschneidung erfolgen. Aus der angestrebten Kontextualisierung der Azhar-Konferenz in die gesellschaftspolitische wie islamrechtliche Debatte um die Mädchenbeschneidung ergibt sich die Zweiteilung dieser Arbeit, in deren ersten Part wie bereits angekündigt eine Auswertung offizieller Statistiken, Länderberichte und Gesetzeslagen zur aktuellen Situation der Mächenbeschneidung geschehen soll, bevor im Weiteren eine Analyse islamrechtlich relevanter Quellentexte wie insbesondere Fatwas vorgenommen wird. Während die Literaturlage zu dem ethnologischen und gesellschaftspolitischen Teil zumindest quantitativ als gut bis sehr gut zu bezeichnen ist, wurde aus islamwissenschaftlicher Sicht der Mädchenbeschneidung trotz ihrer Brisanz in der öffentlichen Diskussion und der widersprüchlichen Verankerung im islamischen Recht bisher wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Die große Mehrheit der wissenschaftlichen Arbeiten ist in den vergangenen 30 Jahren angefertigt worden und besteht aus Feldforschungen, medizinischen Studien und feministischen Abhandlungen; hinzu kommt eine Vielzahl von biographischen Schilderungen afrikanischer Frauen, in denen die Beschneidung eine wesentliche Rolle spielt. Für den ersten Teil dieser Arbeit war insbesondere die Feldforschung in Ägypten durch Asma El Dareer, die selbst von der Beschneidung betroffen ist, von besonderer Bedeutung. 15 In den 1990er Jahren verbessert sich die Literaturlage noch einmal entscheidend, werden doch insbesondere die europäischen und amerikanischen Beiträge zunehmend präziser, je mehr Feldforschungen entstehen. Weiter erfahren sie eine politische Akzentuierung, d.h. eine zumeist beigefügte Überlegung zu wirksamen Kampagnen gegen die Mädchenbeschneidung. Zu nen- 15 El Dareer, Asma: Woman, why do you weep? Circumcision and its Consequences. London 1982. 10

zunehmen, o<strong>der</strong> die aus menschlicher Einsicht heraus gewonnene Erkenntnis, irrationale<br />

und schädliche Bräuche trotz langer Tradition aufzugeben?<br />

Von beson<strong>der</strong>em Interesse für diese Arbeit ist damit, inwiefern die islamische Rechtswissenschaft<br />

in Beziehung zur <strong>islamrechtliche</strong>n Tradition einerseits sowie <strong>der</strong> gesellschaftspolitischen<br />

Realität an<strong>der</strong>erseits steht. Als Ausgangsthese wird hierbei angenommen, dass die Konferenz<br />

an <strong>der</strong> Azhar-Universität einen Bruch in <strong>der</strong> Geschichte <strong>der</strong> Rechtsbeurteilung <strong>der</strong><br />

<strong>Mädchenbeschneidung</strong> darstellt und die Gründe hierfür in einer verän<strong>der</strong>ten Wahrnehmung<br />

gesellschaftspolitischer Faktoren durch die Gelehrten liegen. An manchen Stellen kann die<br />

Erörterung dieser Fragestellung nur angerissen werden und bleibt vielleicht sogar eine klare<br />

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das von <strong>der</strong> Problematik <strong>der</strong> <strong>Mädchenbeschneidung</strong> berührt wird. So spielt<br />

die Geschichte <strong>der</strong> Kolonialherrschaft und die damit verbundene Angst vieler Muslime bzw.<br />

Afrikaner um den Verlust ihrer kulturellen Identität ebenso eine Rolle wie die Frauenbewegung,<br />

internationale Menschenrechtsdiskurse o<strong>der</strong> medizinische Entwicklungen. <strong>Die</strong> Position<br />

<strong>der</strong> ÝulamÁÞ zur <strong>Mädchenbeschneidung</strong>, die schließlich das Thema <strong>der</strong> Frau in <strong>der</strong> muslimischen<br />

Gesellschaft im Generellen betrifft, ist unbedingt in den Kontext <strong>der</strong> Diskussionen<br />

<strong>der</strong> Zeit zu stellen und zu bewerten. Da sich Politik und Gesellschaft <strong>der</strong> islamisch geprägten<br />

Welt im 20. Jahrhun<strong>der</strong>t rasant verän<strong>der</strong>t haben, mutet eine Einbettung <strong>der</strong> <strong>Mädchenbeschneidung</strong><br />

in das Spannungsfeld von Tradition, Islam und Menschenrechtsdenken<br />

möglicherweise riskant an, soll aber dennoch im 3. Kapitel dieser Arbeit versucht werden.<br />

Grund für dieses Vorgehen ist die Annahme, dass die Religions- und Rechtsgelehrten nicht<br />

ohne Einfluss von Außen – einem Vakuum gleich – ihre Rechtstheorien entwickeln. <strong>Die</strong>ser<br />

Anspruch wurde in <strong>der</strong> islamischen Rechtspraxis selbst nie gestellt, auch wenn mancherorts<br />

von einer ausschließlichen Besinnung auf die religiösen Quellen zu hören o<strong>der</strong> zu lesen ist.<br />

<strong>Die</strong> islamische Rechtsfindungspraxis war zu keinem Zeitpunkt statisch und abgeschlossen,<br />

selbst wenn offiziell das Tor <strong>der</strong> eigenständigen Rechtsfindung (bÁb al-iÊtihÁd) für lange Zeit<br />

als geschlossen galt. Seit <strong>der</strong> Frühen Neuzeit beeinflusste die Präsenz kolonialer Machthaber<br />

aus Europa die islamisch geprägte Welt und löste durch den Import neuer sozialer und politischer<br />

Systeme eine Krise in Religion und Gesellschaft aus. Mit dem gesellschaftspolitischen<br />

Wandel in einer sich zunehmend globalisierenden Welt finden sich die islamisch geprägten<br />

Län<strong>der</strong> heute in einer Rechtfertigungssituation mancher ihrer kulturell-religiösen Normen<br />

und Werte gegenüber den ehemaligen Machthabern wie<strong>der</strong>. Neue islamische Bewegungen<br />

sowie das Erstarken einer „Orthodoxie“, einhergehend mit dem Wunsch nach einer klaren<br />

Definition eigener religiöser Standpunkte aller Akteure, sind die Folge. Heute prägen zudem<br />

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