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Lio, das verlorene Schaf

Die Geschichte von einem verirrtem Schaf und dem guten Hirten, der es findet.

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<strong>Lio</strong><br />

<strong>das</strong> <strong>verlorene</strong> <strong>Schaf</strong><br />

von Christiane Marx


Es war wieder ein wunderschöner Tag.<br />

Die Sonne schien und keine Wolke war am Himmel zu sehen.<br />

Eine <strong>Schaf</strong>herde graste auf der saftig grünen Wiese.<br />

Es waren genau 100 <strong>Schaf</strong>e … große und kleine, dicke und dünne,<br />

alte und junge.<br />

Private Produktion mit freundlicher Unterstützung des Betanien Verlags, Augustdorf<br />

für den Tag der offenen Tür der christlichen Gemeinde Bielefeld am 22. Juni 2024, Osningstraße 87, christen-bielefeld.de<br />

© Text und Bilder: Christiane Marx.


Am Rande der Herde stand der Hirte und bewachte seine<br />

Herde. Es war ein guter Hirte, denn er sorgte sich sehr um seine<br />

100 Schäfchen. Er führte sie zu saftigen Wiesen mit schattenspendenden<br />

Bäumen, zu Bächen mit frischem Wasser. Das war sehr<br />

wichtig, weil den <strong>Schaf</strong>en mit ihrer dicken Wolle in der Sonnenhitze<br />

heiß wird und sie daher viel Wasser und Schatten brauchten.<br />

Auch beschützte der Hirte sie vor wilden Tieren. Er trug immer<br />

eine Schleuder und Steine bei sich, und in der Hand hielt er den<br />

Hirtenstock mit dem er Wölfe, Löwen und Bären verjagen konnte.<br />

Die <strong>Schaf</strong>e hatten ihren Hirten lieb, denn er war immer gut zu<br />

ihnen. Sie kannten seine Stimme ganz genau.<br />

Ihr müsst wissen: <strong>Schaf</strong>e können nicht sehr gut sehen, deshalb ist<br />

es wichtig, <strong>das</strong>s sie die Stimme ihres Hirten kennen, damit sie ihm<br />

auch folgen können.


In der Herde lebte ein kleines <strong>Schaf</strong>.<br />

Es hieß <strong>Lio</strong>.<br />

<strong>Lio</strong> war weiß wie eine Schneeflocke, aber in seinem Herzen sah es<br />

anders aus. <strong>Lio</strong> hatte seine <strong>Schaf</strong>familie und den Hirten gern, aber<br />

er fand dieses Leben auch schrecklich langweilig und sehnte sich<br />

nach Abenteuern. Er wollte nicht immer auf den Hirten hören.<br />

Er war doch schon groß und wollte selbst entscheiden, wohin er<br />

ging und was er tat.<br />

Klar ging es ihm mit den Regeln des Hirten gut, aber immer diese<br />

Vorschriften … Er wollte endlich mal in diesen Wald, der ihm<br />

eigentlich verboten war. Was war schon Schlimmes daran?<br />

<strong>Lio</strong> sah sich um. Die anderen <strong>Schaf</strong>e dösten im Schatten, schliefen<br />

oder grasten. Der Hirte stand am Bach, um seine Wasserflasche<br />

aufzufüllen.<br />

»Das ist die Gelegenheit!«, dachte sich <strong>Lio</strong> und schlich sich heimlich<br />

davon.


Ein eigenartiges Gefühl breitete sich in <strong>Lio</strong>s Herz aus.<br />

Ein großartiges, weil er endlich frei war, aber auch ein schlechtes,<br />

<strong>das</strong> ihn zurückhalten wollte. »Dummes <strong>Schaf</strong>!«, dachte <strong>Lio</strong> zu sich<br />

selbst, »jetzt gibt es kein Zurück mehr«.<br />

Mit vor Aufregung klopfendem Herzen betrat er zum ersten Mal<br />

den Wald. Schön war es hier, ganz anders als auf der Wiese.<br />

Aber auch ein bisschen unheimlich. Lauter fremde Geräusche.<br />

Hier und da raschelte es, und weil es im Wald viel dunkler war,<br />

konnte <strong>das</strong> kleine <strong>Schaf</strong> noch schlechter sehen als zuvor.<br />

»Ich glaub, ich geh’ wieder zurück zu meiner Herde«, dachte <strong>Lio</strong><br />

und drehte sich um, um den Wald zu verlassen.<br />

Doch wo war nur der Ausgang? War er nicht hier entlanggelaufen?<br />

»Verflixt! Die Bäume sehen alle gleich aus!«<br />

<strong>Lio</strong> verspürte plötzlich Angst. Wie kam er nur aus diesem Baumlabyrinth<br />

heraus? Ach, wäre er nur nicht weggelaufen! Der Hirte<br />

wird bestimmt mit ihm schimpfen, weil er ungehorsam gewesen<br />

ist. Wenn der Hirte überhaupt merkte, <strong>das</strong>s er weg war.<br />

»Er hat ja so viele <strong>Schaf</strong>e. Außerdem sind ihm meine<br />

Geschwister bestimmt viel lieber als ich. Er ist bestimmt froh,<br />

wenn ich weg bin.«


Diese dummen Gedanken sausten durch <strong>Lio</strong>s kleinen Kopf,<br />

und Tränen liefen ihm aus den Augen.<br />

Auf einmal raschelte etwas neben ihm. Erschrocken drehte sich<br />

<strong>Lio</strong> um. Neben ihm stand ein Eichhörnchen, <strong>das</strong> ihn neugierig<br />

anschaute.


»Hallo!«, sagte es, »du bist ein <strong>Schaf</strong>, stimmt’s? Was machst du<br />

im Wald? Und warum weinst du?«<br />

»Ach, ich hab mich in diesem Wald verirrt. Ich weiß nicht, wo<br />

mein Hirte ist, und ich bin allein und ich habe Angst«, stotterte <strong>Lio</strong><br />

leise und schaute dabei auf den Boden.<br />

Das Eichhörnchen runzelte die Stirn. »Hirte? So ein Quatsch! Du<br />

brauchst doch niemanden, der dir sagt, was du zu tun und zu lassen<br />

hast. Das kannst du doch allein entscheiden. Und außerdem:<br />

Wo ist er denn, dein Hirte? Wenn du ihm wirklich etwas bedeuten<br />

würdest, dann hätte er ja wohl nicht zugelassen, <strong>das</strong>s du dich im<br />

Wald verläufst.«<br />

<strong>Lio</strong> blickte erschrocken auf. Da war was dran! Warum hatte der<br />

Hirte ihn nicht aufgehalten? Warum hatte er <strong>das</strong> zugelassen?<br />

Ein hässlicher Zweifel begann in <strong>Lio</strong>s Herz zu nagen. Was wäre,<br />

wenn der Hirte gar nicht so gut wäre? Wenn alles, was er geglaubt<br />

hatte, eine Lüge war, und <strong>das</strong> Eichhörnchen Recht hatte?<br />

»Meinst du wirklich?«, fragte er. »Was soll ich denn dann tun?«<br />

»Ich sag dir, was du tun musst«, antwortet <strong>das</strong> Eichhörnchen. »In<br />

dieser Welt hilft dir niemand. Du kannst nur auf dich selbst vertrauen.<br />

Wenn du ganz fest an dich glaubst, wirst du es schaffen.


Dann findest du aus dem Wald heraus und nach Hause.«<br />

Dann lief es mit großen Sprüngen fort und ließ <strong>Lio</strong> allein.<br />

Das kleine <strong>Schaf</strong> dachte eine Weile darüber nach, was es gerade<br />

gehört hatte, und beschloss, es zu probieren. »Ich bin stark, ich<br />

bin mutig, ich schaff <strong>das</strong> ganz alleine«, blökte es leise vor sich hin<br />

und lief zielstrebig in eine Richtung, mit dem festen Glauben, dies<br />

sei der rechte Weg. Als es aber eine Weile gegangen war, wurde<br />

der Wald immer dichter und <strong>Lio</strong> blieb ständig mit seinem dicken<br />

Fell an Ästen und Zweigen hängen.<br />

Das kleine <strong>Schaf</strong> war fürchterlich erschöpft und durstig. Das war<br />

nicht der richtige Weg. Das Eichhörnchen hatte Unrecht gehabt.<br />

Diese Erkenntnis traf <strong>Lio</strong> tief, und er fühlte sich allein wie nie zuvor.<br />

Dicke Tränen kullerten aus seinen Augen. Ach, wäre doch sein<br />

Hirte da! Würde er doch nur seine liebe Stimme hören!<br />

Aber er war zu weit fort.<br />

In all diese düstern Gedanken mischte sich ein flatterndes<br />

Geräusch und eine zwitschernde Stimme sprach: »Kleines <strong>Schaf</strong>,<br />

was machst du hier im Wald und warum weinst du?«<br />

<strong>Lio</strong> versuchte durch den Tränenschleier in seinen Augen zu erkennen,<br />

was da vor ihm saß. »Wer bist du?«, fragte er.


»Ich bin ein Vogel und ich lebe hier in den Bäumen des Waldes.<br />

Aber was macht ein kleines <strong>Schaf</strong> wie du so weit weg von seiner<br />

Herde im Wald?«, wiederholte der Vogel seine Frage.<br />

»Ach, kleiner Vogel«, schluchzte <strong>Lio</strong>, »ich bin von zu Hause fortgelaufen<br />

und ich finde den Weg nicht mehr heim. In diesem


schrecklichen Wald sieht alles gleich aus und aus eigener Kraft,<br />

wie <strong>das</strong> Eichhörnchen gesagt hat, klappt es nicht.«<br />

»Tschak …«, klapperte der Vogel verächtlich »… diese dummen<br />

Eichhörnchen … die haben sowieso keine Ahnung. Das einzig<br />

Wahre ist die Sonne. Die Sonne schenkt uns Wärme; sie lässt die<br />

Früchte wachsen; sie weckt den Morgen auf und lässt uns mit<br />

ihrem Licht all <strong>das</strong> Schöne sehen. Ich singe ihr jeden Morgen ein<br />

Lied vom höchsten Baumwipfel zu, damit sie mich nicht vergisst.<br />

Das musst du auch tun, dann zeigt sie dir bestimmt den Weg nach<br />

Hause. Viel Glück!«, zwitscherte der Vogel und flog davon.<br />

<strong>Lio</strong> dachte, <strong>das</strong> hört sich gar nicht verkehrt an … Die Sonne kann<br />

mir vielleicht wirklich helfen.


Das kleine <strong>Schaf</strong> rappelte sich hoch und mit neuem Mut<br />

versuchte es, einen Baum zu erklimmen.<br />

Es hielt sich mit den Zähnen an den Ästen und Zweigen fest und<br />

schwang seine kleinen Beinchen, um hinaufzugelangen.<br />

Aber so sehr es auch versuchte … immer wieder rutschte es ab<br />

und fiel auf den Boden.<br />

Beim neunten Versuch stürzte <strong>Lio</strong> so unglücklich ab, <strong>das</strong>s er sich<br />

seinen Huf verletzte und nun gar nicht mehr laufen konnte …<br />

Jetzt war <strong>das</strong> kleine <strong>Schaf</strong> so erschöpft, durstig und hatte so große<br />

Schmerzen, <strong>das</strong>s es nicht mehr aus noch ein wusste.


Es wurde bereits dunkel. Wenn nun ein Wolf oder ein anderes<br />

wildes Tier käme …?<br />

<strong>Lio</strong> konnte noch nicht einmal fortlaufen. Das kleine <strong>Schaf</strong> zitterte<br />

vor Furcht und die Sehnsucht nach seinem guten Hirten war so<br />

groß wie noch nie zuvor.


<strong>Lio</strong> weinte und weinte, er konnte gar nicht mehr aufhören und er<br />

schrie immerfort nach seinem Hirten.<br />

Der gute Hirte hatte jedoch sogleich bemerkt, <strong>das</strong>s sein kleinstes<br />

Schäfchen fehlte.<br />

Er zählte seine <strong>Schaf</strong>e immer und kannte auch jedes einzelne<br />

<strong>Schaf</strong> mit Namen.<br />

Er führte seine 99 anderen <strong>Schaf</strong>e in eine sichere Höhle,<br />

und ging los, um sein kleinstes Schäfchen zu suchen.<br />

Er suchte überall und gönnte sich keine Pause.


Es war schon dunkel geworden …<br />

Da hörte der gute Hirte sein Schäfchen schreien.<br />

Rasch lief er zu der Stelle, von der die Schreie kamen …<br />

und da lag sein Schäfchen: verletzt, müde, hungrig und durstig.<br />

Es hatte Tränen in den Augen und ein furchtbar schlechtes<br />

Gewissen. Aber es sah in den Augen seines Hirten keinen<br />

Vorwurf, nur Liebe und Freude, <strong>das</strong>s sein Schäfchen wieder da<br />

war. Er nahm es auf den Arm und trug es nach Hause.<br />

Zu Hause feierte er ein Fest, weil sein <strong>verlorene</strong>s Schäfchen<br />

wieder da war. So sehr liebte er es.<br />

Genauso liebt uns Gott auch.<br />

Er möchte, <strong>das</strong>s wir bei ihm sind, damit es uns gut geht.<br />

Jesus Christus ist der gute Hirte (Johannes-Evangelium Kapitel 10).

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