Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
6/ 3/ 2023 2024 — — 21. 22. Jahrgang<br />
Jahrgang<br />
Einzelverkaufspreis: [D] [D] 12,00 12,00 € € — — [A, [A, LUX] LUX] 13,00 13,00 € € — — [CH] [CH] 14,00 14,00 CHF CHF<br />
DAS<br />
COCKTAIL<br />
PHANTOM<br />
DER EIGENARTIGE<br />
WEG DES SPANISCHEN<br />
BRANDY<br />
’O APERITIVO MIO<br />
PLUS: Der beste Winzersekt<br />
PLUS: Die große Scotch-Analyse<br />
Vom neuen Blick auf ein altes Thema
ZEHN<br />
SONNEN<br />
SCHLUCK<br />
Der Sommer kommt nicht, der Sommer ist schon da.<br />
Damit er auf den Terrassen auch richtig Spaß macht, hat<br />
unser Autor zehn ganz unterschiedliche Produkte<br />
versammelt, die die warmen Monate anno 2024 zu einem<br />
echten Vergnügen machen könnten. Ja, mit Spaghettieis.<br />
Ciao Winter, endlich wird es wieder schöner und die Tage<br />
länger. Die ersten Tage mit langen Terrassenabenden liegen<br />
schon hinter uns, und so langsam sollten wir einmal<br />
darüber nachdenken, was wir denn in diesem Sommer so<br />
servieren möchten. Eine Kategorie, die ebenso umkämpft<br />
wie vielfältig ist, sind Aperitivi und Liköre. Im Folgenden<br />
zehn Vertreter dieser Spirituose, die dir und deinen Gästen<br />
den Sommer versüßen können.<br />
Text Marco Beier<br />
1<br />
PAMPELLE RUBY<br />
L’APÉRO<br />
Das bitterfruchtige Aroma von Grapefruits bestimmt<br />
den französischen <strong>Aperitif</strong>, dessen Aroma<br />
von Kräutern und weiteren Zitrusfrüchten geprägt<br />
ist. Neben dem obligatorischen Spritz macht er auch<br />
eine großartige Figur in Kombination mit Agavenbränden<br />
im klassischen Dreiteiler. Tequila, Himbeergeist,<br />
Pampelle und ein paar Dashes Menthe Pastille<br />
auf viel Eis serviert, geben eine Vorahnung, wie der<br />
Sommer schmecken kann.<br />
2<br />
ANNA<br />
FAMOSA<br />
Sehr fruchtig und deutlich<br />
weniger bitter geht es weiter.<br />
Heidelberg Spirits setzt<br />
auf den unwiderstehlichen<br />
Geschmack vollreifer Pfirsiche<br />
und umrahmt diese mit<br />
floralen Aromen von Rosen und<br />
kräutrigen Noten. Die Süße gilt es im Glas ein wenig<br />
zu bändigen, am besten mit der Hilfe von spritziger<br />
Kohlensäure. Zum Beispiel in Form von trockenem<br />
Winzersekt und vielleicht einem Schuss Soda.<br />
3<br />
BYRRH<br />
Über 150 Jahre Tradition und<br />
Handwerkskunst stecken in<br />
jeder Flasche dieses Wein-<br />
Apéros. Mit Rotwein als Basis,<br />
aromatisiert mit französischen<br />
Gewürzen und Kräutern,<br />
erhält dieser Likör seine<br />
bittere Note durch den Auszug von Chinarinde und<br />
gilt unter Bartendern schon länger als Geheimtipp.<br />
Als Substitut für Wermut macht er im Negroni und<br />
Boulevardier eine hervorragende Figur, eignet sich<br />
aber auch als eiskalte Erfrischung, gemischt mit<br />
einem Splash Soda und Orange.<br />
Illustrationen: Editienne<br />
14
CANONITA<br />
Ein Orangenlikör von der Lieblingsinsel<br />
der Deutschen. Aus<br />
der Taufe gehoben von deutschen<br />
Touristen, die ihre Liebe zur Insel<br />
in Flaschen gefüllt haben. Viel<br />
mehr Klischee geht kaum und<br />
man muss mit allem rechnen. Der<br />
Inhalt der hübschen Glashülle überzeugt allerdings<br />
auf ganzer Linie. Frisches und leichtes Orangenaroma,<br />
sehr dezente, unterschwellige Note verschiedener<br />
Kräuter und die volle, frische Frucht. Ich habe<br />
noch nie zuvor von Canoneta-Orangen gehört, aber<br />
möchte fortan keine anderen mehr. Canonita und<br />
ein Dry Tonic auf Eis dürfte mich gern durch den<br />
Sommer begleiten.<br />
5<br />
4<br />
RINQUINQUIN<br />
Noch einmal Pfirsich und noch<br />
einmal Chinarinde. Diesmal vereint<br />
in einer Flasche. Die Distilleries et<br />
Domaines de Provence schaffen es<br />
allerdings, beides in wundervoller<br />
Leichtigkeit zu vereinen. Der Pfirsich<br />
scheint wunderbar frisch, die<br />
Süße ist sehr dezent und perfekt<br />
balanciert, die bitteren Noten unterstreichen die<br />
Frucht und Frische auf sehr elegante Art und Weise.<br />
Man bekommt eine Idee davon, wie das sommerliche<br />
Lebensgefühl der Provence schmeckt. Funktioniert<br />
mit allem, was sprudelt, überzeugt aber auch als<br />
fruchtige Note in einer Negroni-Variante.<br />
6<br />
MERWUT<br />
Das vielleicht herrlichste Wortspiel<br />
als Name für einen Wermutwein.<br />
Der Punkt geht ganz klar an Stefan<br />
Dorst, der diese Getränkekategorie<br />
im Urlaub für sich entdeckt hat und<br />
diesen nun als Überzeugungstäter<br />
selbst produziert und vertreibt.<br />
Orange-bronzefarben glänzend, will<br />
er sich so gar nicht in die klassischen<br />
Wermutmuster einreihen,<br />
kann im Glas aber vollends überzeugen.<br />
Sehr leicht, frisch und voller<br />
Weinaromen, ist Merwut pur auf<br />
Eis ein schöner Begleiter für lange<br />
Sommernächte.<br />
7<br />
PUNT E MES<br />
APERITIVO<br />
ORIGINALE<br />
Ob die Geschichte des Piemonteser<br />
Bankiers stimmt, der Ende des 18.<br />
Jahrhunderts bei einem Mittagessen<br />
auf die Idee dieser Aromenkombination<br />
kam, werden wir nicht<br />
mehr beantworten können. Der<br />
Name wird heute auch eher mit<br />
»einem Punkt Süße und ein halber<br />
Punkt Bitter« erklärt und ergibt<br />
auch mehr Sinn. Der »Originale«<br />
mit prägnanter, bitterer Note und<br />
sehr dunklen Aromen unterscheidet sich deutlich<br />
von den anderen Vertretern seiner Art. Er eignet<br />
sich besonders für Drinks, in denen diese Komponente<br />
herausstechen soll, und natürlich für den<br />
Wermut-Tonic als Einstieg in den Abend.<br />
8<br />
ABC DE<br />
DROUIN<br />
Ein <strong>Aperitif</strong> auf Basis von Apfelbrand<br />
und Apfelwein, worauf auch<br />
der Name als Abkürzung Bezug<br />
nimmt. Die Apfelkomponente ist<br />
prägnant und klar, sehr natürlich<br />
und wird von Kräutern und Gewürzen<br />
stilvoll umrahmt. Die verbotene<br />
Frucht ist in Drinks ja grundsätzlich<br />
eher selten anzutreffen, dem gilt es<br />
aber Abhilfe zu schaffen, und das<br />
ganzjährig. Mit frischen Aromen<br />
und Kohlensäure im Sommer, im<br />
Winter eher mit dunklen Spirituosen und etwas<br />
mehr Wucht, ist ABC wirklich vielseitig einsetzbar<br />
und dürfte jede Backbar aromatisch aufpolieren.<br />
9<br />
FERDINAND’S<br />
RED<br />
Ein weiterer Wermut, allerdings<br />
mit etwas speziellerem<br />
Hintergrund. Auf Basis von<br />
Riesling wird er mit viel Frucht<br />
und regionalen Kräutern<br />
aromatisiert. Pflaume, Preiselbeere und eine<br />
besondere Kirschsorte ergeben eine tiefe, fruchtige<br />
Komplexität, die durch die typischen Noten von Mosel-Riesling<br />
und der Bitterkeit von Wermut elegant<br />
eingerahmt werden. Während klassische Cocktails<br />
eine deutlich andere Note bekommen, eignet sich<br />
Ferdinand’s Red großartig für eine fruchtig-bittere<br />
Erfrischung. Mein persönlicher Favorit: ein Americano<br />
mit einem großen Schluck Soda.<br />
10<br />
SPAGHETTI-<br />
EIS-LIKÖR<br />
Der Aufschrei erfolgt vollkommen<br />
zu Recht: Dieser cremige,<br />
hellrosa Likör ist sicher viel,<br />
aber kein <strong>Aperitif</strong>likör. Aber<br />
keine Aufzählung ohne Ausnahme<br />
und kein Sommer ohne<br />
Spaghettieis. Allerdings ist die<br />
Anzahl an Bars mit gutem Spaghettieis im Angebot<br />
wirklich sehr, sehr klein, also muss man sich ein wenig<br />
zu helfen wissen. Auf Eis serviert und in kleinen<br />
Portionen genossen, gibt es hier aber das Gefühl von<br />
Sonnenschein auch an den verregneten Tagen.<br />
15
NEUE BARS<br />
MEHR<br />
LICHT!<br />
Die einstige »Karl May Bar« in Dresden ist<br />
als »1705« wieder auferstanden. Überhaupt<br />
erwacht das altehrwürdige Taschenbergpalais<br />
zu neuem Leben zwischen Tradition<br />
und Moderne. Das liegt auch an Personen<br />
wie Thang Viet Trinh. Ein Lokaltermin.<br />
Text Martin Stein<br />
»Es ist nicht gelogen, es ist die Wahrheit – der<br />
eigentliche Berliner ist zugezogen; über einen<br />
kurzen oder einen weiten Bogen irgendwann<br />
in diese Stadt gezogen«, so sang die Band Keimzeit<br />
einst recht zutreffend. Je nach Sympathie<br />
changiert die Hauptstadt irgendwo zwischen<br />
Magnet und schwarzem Loch, und das zeigt<br />
sich insbesondere an der Barszene: Die ebenso<br />
vielen wie vielfältigen Bars ziehen magisch<br />
jene an, die die Nacht lieben, ob nun als Arbeit<br />
oder als Arbeitsvermeidung. Der Schwarzes-Loch-Charakter<br />
Berlins sorgt durch den<br />
Brain Drain dafür, dass oft nicht genug Licht<br />
nach außen dringt, selbst wenn es da Beleuchtenswertes<br />
gäbe. Ganz schwierig wird es, wenn<br />
das örtlich vorhandene Licht für die gängigen<br />
Klischees verwendet wird: Dresden, das heißt<br />
Elbflorenz, Zwinger und Frauenkirche, Stollen<br />
und Semperoper plus Grünes Gewölbe. Gut,<br />
immerhin bei Letzterem kam ja 2019 jemand<br />
aus Berlin mit etwas Licht vorbei, auch wenn<br />
es nur Taschenlampen waren.<br />
Fotos: Nastasja Rabe<br />
18
Neustart im Taschenbergpalais<br />
Aber Dresden als Barstadt? Gerade Städte mit<br />
großem touristischem Kapital stehen manchmal<br />
wenig unter Druck, das schöne Äußere<br />
auch mit qualitativem Inhalt füllen zu müssen.<br />
Wenn aber auch das toskanische Florenz so<br />
eindrucksvoll am Tresen abliefert, dann kann<br />
doch das sächsische Pendant nicht zurückstehen.<br />
Und das tut es auch nicht. Standesgemäß<br />
befindet sich ein neues Zentrum der Dresdner<br />
Cocktailkultur in einem Palast, nämlich dem<br />
Taschenbergpalais, das August der Starke<br />
1705 seiner Mätresse, der Gräfin Cosel,<br />
hat errichten lassen – ein kurzer Anreiz zur<br />
Selbstreflexion für all jene, die ihre Freundin<br />
auch beim nächsten Valentinstag mit einer<br />
Schachtel Milkaherzen abspeisen wollen.<br />
Während des Zweiten Weltkriegs wurde<br />
das Palais fast völlig zerstört, 1992 als Hotel<br />
der Kempinski-Gruppe wieder aufgebaut und<br />
aktuell erneut einer umfassenden Modernisierung<br />
unterzogen. Dazu gehört auch die vollständige<br />
Neukonzeption der Bar, die früher als<br />
Karl May Bar bekannt und beliebt war, deren<br />
damit verbundene Assoziationen aber doch ein<br />
wenig old fashioned daherkommen.<br />
Jetzt nennt sich die Bar 1705, nach der Grundsteinlegung<br />
des Palais, und schlägt so einen<br />
Bogen, der etwas weiter reicht als nur bis zur<br />
Villa Shatterhand im nahen Radebeul. Bar Manager<br />
Thang Viet Trinh sieht die Komplexität<br />
seiner Aufgabe als Herausforderung: »Es ist<br />
ein schmaler Grat, die Tradition zu ehren und<br />
dennoch nach vorne zu schreiten.« Die Vielfalt<br />
Wer sich über die Streichholz-<br />
Maus im »1705« nicht freut, der<br />
hat kein Herz<br />
der Anforderungen zwischen Bar in einem<br />
Nobelhotel, regionalem Fixpunkt und mixologischer<br />
Moderne reizen ihn aber auch, und in<br />
seiner Mission ist der umtriebige Dresdner so<br />
ganz nebenbei nicht nur der Prophet, der zum<br />
Berg kommt (und sich dabei exzellent vernetzt<br />
hat), sondern mittlerweile auch derjenige, der<br />
die Berge dazu bringt, zu ihm zu kommen.<br />
Er ist aber auch jemand, der mit Stillstand<br />
nicht gut umgehen kann. Während Corona<br />
nimmt er sich ein Beispiel an den Milk Punch<br />
Boys und verschickt Drinks – bloß mit einem<br />
eher basisdemokratischen Ansatz: Mehrfach<br />
gehen 200 (!) Sendungen quer durch die Republik<br />
auf die Reise. Mehr Liebe schafft kein<br />
Fleurop-Bote.<br />
Für seine Aufgabe als Bar Manager hat das<br />
Aufwärmtraining bestimmt nicht geschadet.<br />
Nach seiner endgültigen Renovierung wird<br />
das Taschenbergpalais über 218 Zimmer verfügen,<br />
der Room Service beinhaltet das Angebot<br />
der Bar mit, und als wäre die Bar mit ihren<br />
80 Sitzplätzen nicht schon groß genug, bespielt<br />
man auch den ziemlich großen Innenhof. Da<br />
ist Mixologie auch noch mal eine andere Hausnummer<br />
als in manch anderen renommierten<br />
Bars mit vier Drinks und zwölf Sitzplätzen.<br />
Wahre High-end-Hospitality darf sich den<br />
Stress ja nicht anmerken lassen. Vorbild der<br />
Bar ist der legendäre Oak Room in New York,<br />
und auch ein Pianist verbreitet stilvoll Stimmung.<br />
Aber dennoch muss geballert werden<br />
wie im Käfer-Zelt zur Wiesn-Eröffnung.<br />
Einer, der dem Schwarzen Loch<br />
widerstanden hat<br />
Man sieht schon: Trinh ist keiner von denen,<br />
die aus Bequemlichkeit in ihrer Stadt bleiben.<br />
Eher im Gegenteil – aus Fleiß. Seine Wissbegier<br />
ist tatsächlich eher typisch für Menschen,<br />
die nicht täglich in jeder Hinsicht mit einem<br />
Überangebot konfrontiert werden. Die Wertschätzung<br />
des Wissens sinkt leider oft mit der<br />
Zugänglichkeit – Trinh aber investierte jahrelang<br />
sein Trinkgeld in den Flixbus nach Berlin,<br />
um dort Workshops zu besuchen. Und danach<br />
auch die entsprechenden Bars. Aus rein didaktischen<br />
Gründen, versteht sich. Allerdings<br />
sieht er die Anforderungen des Berufs aus einem<br />
sehr persönlichen Blickwinkel: »Meine<br />
Eltern arbeiten sechs Tage die Woche, zwölf<br />
bis 14 Stunden am Tag, weil das ihr Laden ist<br />
und sie das müssen. Und ich bin so froh, einen<br />
Beruf gefunden zu haben, bei dem ich einfach<br />
jeden Tag gerne arbeite.«<br />
Weil aber viele Menschen ihren Beruf<br />
manchmal schlecht ausüben, selbst wenn sie<br />
das voller Freude tun, muss man sagen, dass<br />
in der Bar 1705 großartig abgeliefert wird. Die<br />
Workshops haben sich offensichtlich ausgezahlt,<br />
spielerisch gelingt der Spagat zwischen<br />
Tradition und Moderne, zwischen dem diversen<br />
Hotelpublikum und dem nicht minder<br />
anspruchsvollen Umland. Ansprechend,<br />
nicht überkomplex, mit Guilty Pleasures wie<br />
dem »Artist« aus Pisco, Sake, Limette, Matcha<br />
und Ananas, aber auch mit einer Brandy-Wermut-Limoncello-Palo-Santo-Granate,<br />
die bezeichnenderweise<br />
den Namen »Bartender«<br />
trägt. Außerdem findet sich in der Classics-Abteilung<br />
der »Naked & Famous«.<br />
Trinh ist eifrig, schießt aber nicht übers Ziel<br />
hinaus und hinterfragt sich: »Mein Geschmack<br />
ist streitbar. Würde es mir schmecken, wenn ich<br />
als zehn Jahre jüngerer Mensch reinkommen<br />
würde?« Oder als 20 Jahre älterer, könnte man<br />
hinzufügen. Seine gebildete Zurückhaltung im<br />
Hinblick auf sein Getränkeangebot könnte man<br />
generell zur Nachahmung empfehlen. Entsprechendes<br />
gilt für seine Haltung zu den Mitarbeitern:<br />
»Ich habe eine Vision, aber ich habe auch<br />
das Glück, Aufgaben an Teamkollegen weitergeben<br />
zu können, die da vielleicht talentierter<br />
sind als ich.« In der 1705 nicht nur leere Worte.<br />
Seine rechten Hände jedenfalls, Nastasja<br />
Rabe und Robin Hansen, sind mehr als bloße<br />
Erfüllungsgehilfen, sondern meinungsstarke<br />
Persönlichkeiten vor und hinter der Bar. Und<br />
ebenfalls exzellente Gastgeber.<br />
Die Dresdner Traditionslinien<br />
Seine Vorgänger, Vorbilder und Förderer vergisst<br />
er ebenfalls nicht zu erwähnen; Niko<br />
Pavlidis etwa, René Förster und Marlon<br />
Kutschke, auch den Ex-Schumann Stephan<br />
Herz, der in Dresden mittlerweile seit Jahren<br />
erfolgreich Gastronomie betreibt und wenig<br />
Heimweh nach München hat. Überhaupt könnte<br />
man im Umgang mit Thang Viet Trinh den<br />
Eindruck bekommen, dass alle anderen wichtiger<br />
sind als er selbst. Er versteht sich einfach<br />
selbst zu sehr im Kontext seiner Heimatstadt,<br />
seiner Liebe zu Dresden, in der es mehr Qualität<br />
gibt, als die Leute glauben, und die will er<br />
zeigen – am Ende des Abends, nach der Bartour,<br />
also quasi am nächsten Morgen, ist man<br />
froh, dass immerhin zwei zeigenswerte Bars<br />
nicht offen hatten. War auch so hart genug.<br />
Das einstige Tal der Ahnungslosen (weil dort<br />
West-Fernsehen nicht empfangbar war) hat jedenfalls<br />
seine eigene, ganz persönliche Wende<br />
vollbracht: Ahnungslos sind nur noch die Auswärtigen,<br />
die glauben, bartechnisch hätte diese<br />
Stadt nicht viel zu bieten.<br />
__<br />
19
SPIRITUOSE<br />
KATEGORISCHER<br />
APERITIF<br />
Die gar nicht so richtig konkret zu<br />
fassende Gattung des <strong>Aperitif</strong>s oder<br />
Aperitivo wandelt inzwischen auf<br />
Gin & Tonic-Pfaden: Jeder schreibt<br />
drüber, jeder spricht drüber, jeder<br />
lanciert neue Produkte, die im Fahrwasser<br />
mitschippern sollen – und das<br />
seit mittlerweile mehreren Jahren.<br />
Zeit für einen Blick in die Gläser, vor<br />
allem aber auf die kulturelle Welt<br />
dahinter.<br />
Text Martin Stein<br />
Fotos Jule Frommelt<br />
Drink-Design Nadine Page<br />
Ach, der <strong>Aperitif</strong>! Der schneidige, fesche Kronprinz<br />
in der royalen Euphemismus-Nomenklatur<br />
alkoholischer Rechtfertigungen! Der gebildete,<br />
wohlerzogene Verwandte all jener, die<br />
bloß den Kreislauf anregen, die Sorgen ertränken,<br />
den Kadaver wiederbeleben oder schlicht<br />
bei der Verdauung helfen sollen. Der <strong>Aperitif</strong><br />
öffnet die Tür, den Magen, den Abend und die<br />
Herzen. Nonchalant.<br />
Der <strong>Aperitif</strong> drängt sich nicht auf. Er bietet<br />
sich an. E verfügt über die zeitlose Eleganz eines<br />
Giorgio Armani, bevor Harald Glööckler<br />
die Happy Hour einläutet. Dabei passt er in<br />
die Zeit: Er ist stilvoll und, zumindest in seinen<br />
geläufigsten Ausprägungen, alkoholarm.<br />
Dergestalt transportiert sein Auftreten das<br />
Bild des reuelosen Genusses. Das Glas Spritz<br />
manifestiert in Deutschland die kulturgeschichtliche<br />
Überwindung des Mett-Igels. Es<br />
symbolisiert Bildung und Stilsicherheit. Der<br />
<strong>Aperitif</strong> ist Vorglühen für Menschen mit Studienabschluss.<br />
Mehr als 2 Euro?!<br />
Ist er wieder da? War er je weg? Zwingt uns der<br />
Klimawandel hinaus auf die Straßen und Plätze,<br />
hin zu den Ballongläsern mit orangeroten<br />
Flüssigkeiten, Hohlzylindereiswürfel umspülend?<br />
Meine Heimatstadt liefert da die typische<br />
Kulisse: Bereits im April legt Regensburg sein<br />
winterliches Suizidförderungsgesicht ab und<br />
wird wieder zur gerne beworbenen nördlichsten<br />
Stadt Italiens. Seine Bewohner verlassen<br />
die Warteschleife der Telefonseelsorge und<br />
füllen ihre Serotoninbestände draußen in der<br />
Sonne wieder auf. Mein Freund Tom Winter<br />
hat hier sogar, man höre und staune, eine Aperitivo<br />
Bar eröffnet. In Regensburg! Der Stadt,<br />
in der eine als unangemessen empfundene<br />
Getränkerechnung immer noch gerne mit dem<br />
Hinweis kommentiert wird, dass das Bier beim<br />
Postwirt in Hugeltaunerding zwei Euro koste,<br />
und das seien ja immerhin auch vier Mark.<br />
In seiner schlichten Eleganz schwebt der<br />
<strong>Aperitif</strong> über solchen Vergleichen; edle Einfalt<br />
und stille Größe: Das Motto der deutschen<br />
Klassik könnte gut von einem Getränk geklaut<br />
sein. Apropos Schlichtheit: Einen Aspekt, der<br />
in größeren Bars vielleicht eher verschwiegen<br />
wird, erwähnt Winter bereitwillig: Man<br />
braucht für den Betrieb einer Aperitivo Bar<br />
nicht zwangsläufig Slow-Shake-Artisten mit<br />
10-jähriger Berufserfahrung. Lieber setzt er auf<br />
hochwertige Grundprodukte wie einen <strong>Aperitif</strong>wein<br />
des Piemonteser Weinguts Casalone<br />
oder die Edelliköre eines Feinbrenners, der<br />
mit Nachnamen Marx heißt und mit seinen<br />
nicht wirklich günstigen Produkten vermutlich<br />
das Leid der bedrängten arbeitenden Kreatur<br />
lindern will.<br />
28
BICICLETTA<br />
adaptiert vom Odeon, Mannheim<br />
4 cl Campari<br />
5 cl Riesling Kabinett feinherb<br />
Soda<br />
Glas: Tumbler<br />
Garnitur: Orangenschnitz<br />
Zubereitung: Campari und Weißwein auf<br />
Eiswürfel ins vorgekühlte Glas geben, mit<br />
der gewünschten Menge Soda auffüllen und<br />
kurz umrühren.<br />
29
BAR<br />
Z E I T<br />
CEL<br />
ONA<br />
36<br />
STADTGESCHICHTEN<br />
Der globale Bar-Zirkus ist derzeit<br />
undenkbar ohne Barcelona.<br />
Zweimal hintereinander kam die<br />
»Beste Bar der Welt« aus der kata-<br />
lanischen Metropole. Interessant<br />
daran ist: Barcelona blickte auf<br />
jahrzehntelange Bar-Historie zu-<br />
rück, bevor es lange Zeit vom Radar<br />
verschwand. Unser Autor bringt die<br />
ver schiedenen Zeiten in Einklang.<br />
FÜR EINE<br />
Text Ferdinand Guizetti
REISE<br />
NACHT<br />
Foto: Floreria Atlantico<br />
Seit Kurzem ist die berühmte argentinische Bar Floreria Atlantico mit einem Ableger in Barcelona<br />
37
DRINK<br />
Text Roland Graf<br />
Illustrationen Elena Resko<br />
DAIQUIRI<br />
44
NATURTALENT<br />
ODER BLENDER?<br />
45
ALCHEMIST<br />
Text Reinhard Pohorec<br />
Fotos Tim Klöcker<br />
Der Saft hat es nicht leicht gehabt an der Bar:<br />
Jahrzehntelang kam er auf Konzentratbasis aus<br />
Flaschen oder Tetrapacks, danach wurde er von<br />
der Revolutions- Generation nahezu komplett<br />
verschmäht. Doch auch auf Saft wird inzwischen<br />
immer häufiger ein neuer Blick geworfen.<br />
Zu Recht. Ein Rundgang durch die aromatischen<br />
und vor allem texturellen Zaubermittel, die<br />
frisch und auf die richtige Weise erzeugter Saft<br />
an der Bar bieten kann.<br />
Mit dem Saft ist es wie mit der Mode: Es<br />
herrscht ein ständiges Kommen und Gehen,<br />
eine bewegte Geschichte voller Aufs und Abs.<br />
Jeder wohlsortierte Bobo-Haushalt hat eine<br />
Saftpresse in der Küche stehen, weil irgendwann<br />
mal Selleriesaft zum neuesten Social-<br />
Media- Jungbrunnen-Hype erklärt wurde.<br />
Nach dem altbackenen Apfel-Karotten-Gebräu<br />
mittel klassiger Hotelbuffets kräht hingegen<br />
nicht einmal mehr der Frühstückshahn. Auch<br />
im Fine-Dining-Getränkerepertoire tauchten<br />
irgendwann Unmengen von Saftbegleitungen<br />
auf, ehe die Genießer-Gemeinde – hoffentlich<br />
nicht allzu abführend und am eigenen Leibe<br />
– erkennen musste, dass sieben verschiedene<br />
Obst- und Gemüsesäfte nebst einer Mehrgang-Speisen-Orgie<br />
vielleicht doch zu viel des<br />
Guten waren. Erstaunlich tapfer hält sich dafür<br />
die Idee der dezidierten Saftbars, wenngleich<br />
eher im hip-urbanen Multi-Kosmos.<br />
Zwischen Sternstunden und<br />
Dark Ages: Saft an der Bar<br />
Womit wir schon beim Thema Saft und Bars<br />
wären: Dem geneigten Leser dieser Publikation<br />
muss das historische Näheverhältnis von<br />
Cocktails und vornehmlich aus Zitrusfrüchten<br />
gewonnenen Säften nicht näher erläutert<br />
werden. Seit es Mischgetränke gibt, sind die<br />
Themenkomplexe Bar und Saft untrennbar<br />
miteinander verwoben – wenngleich deren<br />
Verhältnis nicht immer ungetrübt war. Über<br />
58
Insbesondere die texturellen Möglichkeiten, die<br />
frischer Saft bietet, sind an der Bar noch häufig<br />
unterschätzt<br />
59