06.06.2024 Aufrufe

Sanitätshaus 2024

Die Fachzeitschrift ORTHOPÄDIE TECHNIK ist die maßgebliche Publikation für das OT-Handwerk und ein wichtiger Kompass für die gesamte Hilfsmittelbranche.

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ORTHOPÄDIE<br />

TECHNIK<br />

<strong>Sanitätshaus</strong><br />

Sonderausgabe <strong>2024</strong><br />

AktiVen ® Intense<br />

Medizinische Kompressionsstrümpfe<br />

Neu: BORT AktiVen® Intense<br />

Kompressionsversorgungen<br />

für die Therapie von Lip- und<br />

Lymphödemen.<br />

Jetzt vormerken:<br />

Besuchen Sie uns auf der<br />

OT World:<br />

Halle 1, C22 / D21<br />

OTWorld-Workshops:<br />

Praxisnaher<br />

Erfahrungsaustausch<br />

Brustversorgung:<br />

Beratung mit Empathie<br />

und Expertise<br />

Ladenbau und -gestaltung:<br />

Wie der Einkauf zum<br />

Erlebnis wird<br />

Peer-Review<br />

Offizielles Fachorgan des Bundesinnungsverbandes für Orthopädie-Technik<br />

Offizielles Fachorgan der ISPO Deutschland e. V.


BIV Café<br />

Kaffee und Faktensnacks<br />

im BIV Café auf der<br />

OTWorld<br />

Genießen<br />

und informieren<br />

in Halle 3<br />

Stand D20/E21<br />

Wir laden ein zu Kaffeegenuss<br />

und Informationshäppchen,<br />

präsentiert von den Experten<br />

des deutschen Spitzenverbandes<br />

der Orthopädie-Technik,<br />

die über die heißen<br />

Themen der<br />

Branche<br />

berichten.<br />

Telematik<br />

Kalkulationsdatenbank<br />

E-Verordnung<br />

Hilfsmittelreform<br />

Zulassung<br />

Online-Versorgung<br />

Präqualifizierung Hilfsmittelverzeichnis<br />

Absetzung vermeiden<br />

Digitalisierung<br />

Herzlich willkommen im BIV Café<br />

auf der OTWorld <strong>2024</strong>.


Editorial<br />

Mit Herz und Verstand<br />

Für einen ersten Eindruck braucht es nur eine Zehntelsekunde.<br />

Zu wenig Zeit, um mit handwerklichen Fähigkeiten<br />

oder Fachwissen überzeugen zu können. Aber<br />

genug Zeit, um die Wohlfühlatmosphäre beim Betreten<br />

des Geschäfts wahrzunehmen oder das freundliche Lächeln<br />

der Mitarbeiter:innen am Empfang. Mehr und<br />

mehr Sanitätshäusern werden diese Mechanismen heutzutage<br />

bewusst. Sie trennen sich von ihrem angestaubten<br />

Image und hauchen den Räumlichkeiten neues Leben<br />

ein. Und: Sie investieren in das Gesicht ihres Betriebs –<br />

in die Fortbildung ihrer Fachkräfte. Dazu gehören in den<br />

Werkstätten die Techniker:innen und im Verkaufsraum<br />

die <strong>Sanitätshaus</strong>fachangestellten.<br />

Auch die OTWorld hat diese Zielgruppe für sich erkannt<br />

und bietet innerhalb des Kongressprogramms<br />

<strong>2024</strong> erstmals Workshops an, die sich speziell an die<br />

Mitarbeiter:innen im <strong>Sanitätshaus</strong> richten. Für alle relevanten<br />

Berufsgruppen in der Branche ist damit ein Programm<br />

konzipiert worden, das aus dem Versorgungsalltag<br />

heraus entstanden ist und praxisnah umgesetzt<br />

wird. Petra Menkel, Vorstandsmitglied des Bundesinnungsverbandes<br />

für Orthopädie-Technik (BIV-OT), und<br />

Prof. Dr. Gerd Lulay, Chefarzt der Chirurgischen Klinik II<br />

am Klinikum Rheine, haben als Chairs sieben verschiedene<br />

Workshops erarbeitet und Referent:innen mit hoher<br />

Fachexpertise im Gepäck. Einen Einblick in das, was<br />

die Teilnehmenden erwartet, geben die beiden ab Seite<br />

6. Auf den folgenden Seiten haben wir zudem eine<br />

Übersicht mit allen Workshops zusammengestellt. Wir<br />

hoffen, diese bietet Ihnen eine gute Orientierungs- und<br />

Entscheidungshilfe. Über ein sehr sensibles (Workshop-)<br />

Thema, das neben viel Fachwissen vor allem auch Empathie<br />

benötigt, haben wir mit Petra Menkel ausführlicher<br />

gesprochen. Lesen Sie im Interview ab Seite 10, welche<br />

Herausforderungen die Brustversorgung an das Versorgerteam<br />

stellt.<br />

Eine Frau, die ebenfalls weiß, worauf es dabei ankommt,<br />

ist Anke Prüstel. Und das aus gleich zwei Perspektiven.<br />

In Berlin hatte sie ein auf Brustversorgung<br />

spezialisiertes Geschäft. Vor einigen Jahren erhielt sie<br />

selbst die Diagnose Brustkrebs. Im Gespräch mit der OT-<br />

Redaktion (ab Seite 12) erläutert Prüstel, welche Voraussetzungen<br />

ein <strong>Sanitätshaus</strong> erfüllen muss, damit sich<br />

Brustkrebspatientinnen wohl fühlen, und warum man in<br />

diesem Beruf in mehrere Rollen schlüpfen muss – in die<br />

als Psycholog:in, Krankenpfleger:in und Modeberater:in.<br />

Wohlfühlen ist auch ein wichtiges Stichwort für Ladenbauer<br />

Christoph Hafemeister und Raumplanerin Elke<br />

Park. Die beiden unterstützen Sanitätshäuser dabei, einen<br />

Ort zu erschaffen, in dem sich die Kund:innen gut aufgehoben<br />

fühlen und in dem zugleich auch die Kompetenzen<br />

des Hauses nach außen sichtbar werden. Welche gestalterischen<br />

Elemente können genutzt werden? Wie steht es um<br />

das Thema Digitalisierung? Und in welche Fallen können<br />

Inhaber:innen bei der Umgestaltung tappen? Antworten<br />

auf diese und weitere Fragen geben Christoph Hafemeister<br />

ab Seite 38 und Elke Park ab Seite 40.<br />

Gute Gesprächsführung ist eine Kunst – und die will<br />

gelernt sein. Denn so schön es auch wäre: Nicht immer<br />

sind die Kund:innen zufrieden oder sprechen dieselbe<br />

Sprache wie die Mitarbeiter:innen. Was also tun, wenn<br />

ein Gespräch zu scheitern droht, der Kunde oder die Kundin<br />

womöglich frustriert von dannen zieht? Coach Michael<br />

Gischnewski weiß Rat und verrät, wie erfolgreiche<br />

Gesprächsführung gelingen kann. Ab Seite 15 öffnet er<br />

seinen Werkzeugkoffer.<br />

Mit Herz und Verstand – wer die vorliegende Sonderausgabe<br />

liest, wird feststellen, dass es genau das ist, was<br />

es für die Arbeit im <strong>Sanitätshaus</strong> braucht. Das klingt<br />

vielleicht etwas kitschig oder wie der Titel einer altbackenen<br />

Frauenzeitschrift auf dem Tisch eines Wartezimmers,<br />

macht es aber nicht weniger wahr. Außen und<br />

Innen(einrichtung) müssen gemeinsam überzeugen.<br />

Und das ab der ersten Zehntelsekunde. Die <strong>Sanitätshaus</strong>fachangestellten<br />

sind die ersten, auf die die Kund:innen<br />

treffen, wenn sich die Ladentür öffnet. Und die letzten,<br />

wenn sich die Tür wieder schließt. Was bleibt, ist der erste<br />

Eindruck – und ein Abschied mit hoffentlich baldigem<br />

Wiedersehen.<br />

Wir wünschen Ihnen viel Spaß beim Lesen!<br />

Pia Engelbrecht,<br />

Redakteurin<br />

Foto: BIV-OT/Engelbrecht<br />

Offizielles Fachorgan des Bundesinnungs -<br />

verbandes für Orthopädie-Technik<br />

Offizielles Fachorgan der ISPO<br />

Deutschland e. V. 3


Inhalt<br />

Editorial<br />

3 Mit Herz und Verstand<br />

40<br />

OTWorld<br />

6 Workshops bieten Raum für offenen Erfahrungsaustausch<br />

8 <strong>Sanitätshaus</strong>fachangestellte im Fokus: Workshops auf der OTWorld<br />

10 Beratung erfordert hohes Maß an Empathie<br />

Interview mit Petra Menkel<br />

10<br />

38<br />

Brustversorgung<br />

12 Diagnose Brustkrebs – und dann?<br />

Interview mit Anke Prüstel<br />

Beratung und Verkauf<br />

15 Das Leid mit der Verständigung<br />

Interview mit Michael Gischnewski<br />

Fachartikel<br />

Kompression<br />

18 Therapie mittels IPK plus definierte Polsterungen (IPK+) bei<br />

posttraumatischen bzw. postoperativen Ödemen unter Berücksichtigung<br />

der biochemischen und biophysikalischen Eigenschaften<br />

M. Morand<br />

26 Anwendung von Kompression gegen Müdigkeit, Übelkeit und<br />

Erbrechen in der Frühschwangerschaft<br />

E. Mendoza<br />

32 Selbstmanagement in der Lymphologie<br />

H. Schulze<br />

Ladenbau und -gestaltung<br />

38 Was Sanitätshäuser für einen modernen Auftritt beachten müssen<br />

Interview mit Christoph Hafemeister<br />

40 Kompetenzen sichtbar machen<br />

Interview mit Elke Park<br />

42 Abstracts<br />

FOLGEN SIE UNS<br />

AUCH AUF:<br />

8


NFC TECHNIK<br />

DIGITAL SIGNAGE<br />

KOMPRESSION<br />

GANGANALYSE<br />

FUßSCANNER<br />

EINLAGEN<br />

ROLLATOREN<br />

HALLE 3, STAND B10<br />

STOREDESIGN & NETZWERKPARTNER LIVE ERLEBEN! WIR FREUEN UNS!<br />

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FULL-SERVICE LADENBAU<br />

IMPRESSUM<br />

ORTHOPÄDIE TECHNIK:<br />

Offizielles Fachorgan des Bundesinnungsverbandes<br />

für Orthopädie-Technik und<br />

des ISPO Deutschland e. V.<br />

ISSN 0340-5591<br />

Herausgeber:<br />

Bundesinnungsverband<br />

für Orthopädie-Technik<br />

Postfach 10 06 51, 44006 Dortmund<br />

Reinoldistraße 7-9, 44135 Dortmund<br />

Phone +49 231 55 70 50-0, Fax -40<br />

www.biv-ot.org<br />

Geschäftsführung: Georg Blome<br />

Verleger:<br />

Verlag Orthopädie-Technik<br />

Postfach 10 06 51, 44006 Dortmund<br />

Reinoldistraße 7-9, 44135 Dortmund<br />

Phone +49 231 55 70 50-50, Fax -70<br />

info@biv-ot.org, www.360-ot.de<br />

Verlagsleitung:<br />

Susanne Böttcher,<br />

Michael Blatt (Programmleitung; V. i. S. d. P.)<br />

Redaktion:<br />

Pia Engelbrecht (Leitung), Anja Knies,<br />

Brigitte Siegmund<br />

Gestaltung:<br />

Miriam Klobes, Marcus Linnartz<br />

Druckvorstufe/Druck:<br />

Silber Druck oHG<br />

Otto-Hahn-Straße 25<br />

D - 34253 Lohfelden<br />

www.silberdruck.de


OTWorld<br />

Atmosphäre wie im <strong>Sanitätshaus</strong> – Workshops<br />

bieten Raum für offenen Erfahrungsaustausch<br />

Theorie ist gut – und mit zusätzlicher Praxis noch besser. Das<br />

gilt nicht nur in der Werkstatt, sondern auch im <strong>Sanitätshaus</strong>.<br />

Täglich treffen die Fachangestellten auf Kund:innen<br />

mit unterschiedlichen Bedürfnissen und Wünschen. Und<br />

die gilt es bestmöglich zu erfüllen. Wie das gelingen kann,<br />

möchte die OTWorld aufzeigen. <strong>2024</strong> richten sich erstmals<br />

Workshops gezielt an <strong>Sanitätshaus</strong>fachangestellte.<br />

Nach der vergangenen Ausgabe im Jahr 2022 haben sich<br />

die Initiatoren auf die Fahne geschrieben, die OTWorld<br />

künftig noch praxisorientierter zu gestalten. Der Grund:<br />

Eine von den Veranstaltern durchgeführte Branchenumfrage<br />

zeigt, dass Grundlagenwissen und Praxisinformationen<br />

zu den gefragtesten Inhalten des Weltkongresses<br />

zählen. Das ist in das Konzept <strong>2024</strong> eingeflossen. „Diese<br />

Workshops sind in der Planung und Durchführung natürlich<br />

sehr aufwendig und werden in der Regel auf Kongressen<br />

weniger angeboten, aber wir haben uns entschieden,<br />

dass gerade dieser Erfahrungsaustausch einen entscheidenden<br />

Unterschied macht“, betont Antje Feldmann, Projektleiterin<br />

der für die Kongressorganisation zuständigen<br />

Confairmed GmbH. Und: Die Workshops haben ab diesem<br />

Jahr ein neues Zuhause: Erstmals sind sie unter dem Dach<br />

des Weltkongresses vereint.<br />

In den knapp 30 Workshops bekommen Besucher:innen<br />

aus Handwerk, Medizin, Therapie und <strong>Sanitätshaus</strong> die Gelegenheit,<br />

vom Wissen der Referent:innen zu profitieren,<br />

selbst Hand anzulegen und diese Erfahrungen in ihren<br />

Berufsalltag zu integrieren. Für die Programmgestaltung<br />

zeichnet das Workshopkomitee verantwortlich, bestehend<br />

aus Vertreter:innen der Orthopädie-Technik und Orthopädie-Schuhtechnik,<br />

der Medizin und des Sanitätsfachhandels.<br />

Seit März 2023 trafen sich die Mitglieder regelmäßig<br />

und tauschten sich aus, um Workshops zu den verschiedensten<br />

Themen und mit namenhaften Expert:innen auf<br />

die Beine zu stellen. Diese Verbindung der Professionen<br />

macht das Programm zu dem, was es ist: vielfältig, aktuell<br />

und nah am Versorgungsalltag.<br />

Fortbildung für alle Berufsgruppen<br />

Für die <strong>Sanitätshaus</strong>fachangestellten gibt es sieben thematisch<br />

unterschiedliche Workshops, die das breite Spektrum<br />

der Versorgung aufzeigen. Schwerpunkte bilden die<br />

Themen Brustversorgung, Schlaganfall, Lymphödem und<br />

die Abgrenzung zwischen konfektionierter Versorgung<br />

und Maßanfertigung. „In einem eigenen Raum schaffen<br />

wir die Atmosphäre wie in einem <strong>Sanitätshaus</strong>. Hier steht<br />

das gesamte Sortiment der Hilfsmittel bereit, das dann in<br />

der <strong>Sanitätshaus</strong>-Kulisse für die Demonstration der Versorgung<br />

an den Patient:innen in die Hand genommen werden<br />

kann“, berichtet Feldmann.<br />

Die Mitarbeiter:innen im <strong>Sanitätshaus</strong> haben bei vielen<br />

Versorgungen den ersten Kontakt zu den Patient:innen,<br />

wenn diese mit einer Verordnung das Geschäft betreten.<br />

„Eine gute Fortbildung ist bei ihnen daher ebenso unerlässlich<br />

wie bei Gesell:innen und Meister:innen“, betont<br />

Feldmann. Die Erweiterung des Kongressprogramms um<br />

spezielle Workshops für <strong>Sanitätshaus</strong>fachangestellte sei<br />

eine logische Folge dieser Branchenentwicklung, die schon<br />

sehr lange von einem starken Fachkräftemangel geprägt<br />

ist. „In Leipzig sollen alle Berufsgruppen der Hilfsmittelversorgung<br />

Erkenntnisse für den beruflichen Alltag gewinnen,<br />

aber auch Motivation und Tatendrang für die Umsetzung<br />

erhalten. Schließlich sichert eine zielgerichtete Fortbildung<br />

die Versorgungsqualität und sorgt ganz nebenbei<br />

für zufriedene Mitarbeitende.“<br />

Interdisziplinäre Zusammenarbeit<br />

Nie müde wird die Branche zu betonen, dass interdisziplinäre<br />

Zusammenarbeit für eine erfolgreiche Versorgung<br />

von Nöten ist. Aus diesem Grund sind bei den Workshops<br />

Expert:innen aus Medizin, Technik, Physiotherapie und<br />

Fachhandel vor Ort, die ihr Wissen vereinen und aufzeigen,<br />

wie das Ineinandergreifen der Professionen aussehen kann<br />

und sollte. Fragen und Diskussionen sind bei diesem Format<br />

nicht nur erlaubt, sondern erwünscht. „Zur OTWorld<br />

schaffen wir im Workshop – ähnlich wie im Beratungszimmer<br />

im <strong>Sanitätshaus</strong> – einen Raum für einen offenen Erfahrungsaustausch“,<br />

betont Petra Menkel, Geschäftsführerin<br />

und Bandagistenmeisterin der Paul Schulze Orthopädie &<br />

Bandagen GmbH sowie Vorstandsmitglied des Bundesinnungsverbandes<br />

für Orthopädie-Technik (BIV-OT), die als<br />

Chair dreier Workshops fungiert. „Hier können und sollen<br />

die Teilnehmenden auch über Versorgungen sprechen,<br />

die nicht so optimal gelaufen sind. Insbesondere von diesen<br />

Fällen können wir am meisten lernen.“ Und nicht nur<br />

fachliches Wissen ist im Alltag der <strong>Sanitätshaus</strong>fachange-<br />

6<br />

<strong>Sanitätshaus</strong> <strong>2024</strong>


OTWorld<br />

Foto: Lulay<br />

Prof. Dr. Gerd Lulay,<br />

Klinikum Rheine, widmet<br />

sich als Chair von vier<br />

Workshops dem Thema<br />

Lymph versorgung.<br />

Foto: BIV-OT / Ebbert<br />

Antje Feldmann, Projektleiterin<br />

der Confairmed<br />

GmbH, freut sich, bei der<br />

OTWorld <strong>2024</strong> ein<br />

Programm für alle Berufsgruppen<br />

der Hilfsmittelversorgung,<br />

inklusive der<br />

<strong>Sanitätshaus</strong>fachangestellten,<br />

anbieten zu<br />

können.<br />

stellten gefragt. Ebenso kommt es auf den richtigen Umgang<br />

mit den Patient:innen an. „Jede Patientin ist anders<br />

und geht auch anders mit ihrer Erkrankung um. Hier ist ein<br />

hohes Maß an Empathie unserer Mitarbeitenden gefragt“,<br />

findet Menkel, insbesondere mit Blick auf den Workshop<br />

rund ums Thema Brustversorgung.<br />

Was genau geht im Körper vor sich? Warum zählt jede<br />

Minute? Antworten auf diese und weitere Fragen geben die<br />

Referent:innen in ihren Vorträgen zum Thema Schlaganfall.<br />

Zudem lernen die Teilnehmer:innen die wichtigsten<br />

Hilfsmittel kennen, die einige Folgen des Schlaganfalls abmildern.<br />

Bei einem weiteren Workshop werden anhand<br />

von Fallbeispielen die Möglichkeiten und Grenzen einer<br />

konfektionierten Versorgung aufgezeigt.<br />

Fokus Lymphversorgung<br />

Prof. Dr. med. Gerd Lulay, Chefarzt der Chirurgischen Klinik<br />

II: Gefäß- und Endovaskularchirurgie am Klinikum<br />

Rheine, hat für die OTWorld vier Workshops konzipiert,<br />

die die wichtigsten Fragestellungen und Herausforderungen<br />

im Bereich der Lymphversorgung abbilden. Während<br />

ein Workshop die Besonderheiten bei der Behandlung des<br />

sekundären Lymphödems – genauer gesagt des onkologischen<br />

tumor-assoziierten Lymphödems – in den Blick<br />

nimmt, widmet sich ein weiterer der Versorgung des primären,<br />

also angeborenen Lymphödems. Offene Beine<br />

und Wundrosen sind Gegenstand des dritten Workshops.<br />

„Noch werden diese nur in der Phlebologie verortet, dabei<br />

muss es das zunehmend auch in der Lymphologie“, findet<br />

Lulay. „Wenn die beiden Fachgesellschaften schon zusammengewachsen<br />

sind, so müssen die Krankheitsentitäten<br />

auch zusammengefasst und differentialdiagnostisch voneinander<br />

getrennt abgebildet werden.“<br />

Der vierte Workshop greift den Zusammenhang von<br />

Adipositas und Lymphödemen auf. „Das ist ein riesiges Thema,<br />

das uns demnächst erschlagen wird, wenn wir keine<br />

Konzepte entwickeln, wie wir dieser Zivilisationskrankheit<br />

Herr werden können“, betont Lulay. „Bis vor ein paar Jahren<br />

war das Thema noch nicht en vogue. Jetzt müssen wir<br />

es in den Fokus nehmen und uns positionieren.“ Sowohl<br />

für Ernährungsberater:innen als auch für Internist:innen,<br />

die sich mit den Komorbiditäten auseinandersetzen müssen,<br />

sowie für Orthopäd:innen und Lympholog:innen<br />

werde die Adipositas mehr und mehr zur Herausforderung.<br />

Und auch für die Mitarbeiter:innen im <strong>Sanitätshaus</strong>.<br />

„Adipositas stellt besondere Anforderungen an das<br />

Personal“, sagt Lulay. Die Kompressionsstrümpfe müssen<br />

immensen Druck aushalten, dadurch seien allein schon<br />

die Materialien zunehmend gefordert. Die Bestrumpfung<br />

selbst stelle dann oftmals ein „halbes Kunstwerk“ für die<br />

Mitarbeiter:innen dar. „Es wird sich ein großer Markt eröffnen.<br />

Wobei ich diesen Ausdruck ungern benutze, denn<br />

auf diesen Markt kann man wirklich verzichten.“ Am Rande<br />

und im Vergleich zum Lymphödem wird im Workshop<br />

auch das Thema Lipödem gestreift – insbesondere die Abgrenzung<br />

bei der Diagnose.<br />

Interdisziplinäre Zusammenarbeit erachtet Lulay als<br />

dringend notwendig in der Behandlung und blickt daher<br />

wehmütig auf die Jahre zurück, als genau diese innerhalb<br />

seiner Lymphklinik in Ochtrup gelebt wurde. Und nicht<br />

nur das: „In den zwölf Jahren, in denen wir die Klinik betrieben<br />

haben, mussten wir feststellen, dass sich überall in<br />

Deutschland Netzwerke bildeten, die Therapeuten, Ärzte<br />

und Sanitätshäuser zusammengefasst haben“, berichtet<br />

Lulay. Der Vorteil: Die Wege waren kürzer, die Ziele konnten<br />

gemeinsam definiert und die Behandlungspfade besser<br />

eingehalten werden. „Denn wenn die einzelnen Player<br />

nicht ausreichend miteinander kommunizieren, ist die<br />

Gefahr groß, dass in der Folge Behandlungskonzepte unzureichend<br />

oder falsch durchgeführt werden“, so der Mediziner.<br />

Heutzutage seien solche Lymph-Netzwerke nur noch<br />

vereinzelt in Deutschland zu finden. „Die Krankenkassen<br />

haben es hinbekommen, die Strukturen im Keim zu ersticken“,<br />

erklärt Lulay, mit der Folge, dass in Deutschland eine<br />

Versorgungslücke entstanden sei. „Umso wichtiger ist eine<br />

Messe wie die OTWorld, die diese Situation in das Bewusstsein<br />

aller Beteiligten rückt.“<br />

Take-Home-Message zur<br />

Vor- und Nachbereitung<br />

Zu jedem Workshop haben die Referent:innen eine Take-<br />

Home-Message verfasst – eine Neuerung bei der OTWorld<br />

<strong>2024</strong>. Das soll einerseits eine Entscheidungshilfe bei der<br />

Vorbereitung bieten und andererseits dabei unterstützen,<br />

im Nachgang die Essenz des Gelernten im Kopf zu<br />

verankern und mit nach Hause zu nehmen.<br />

<strong>Sanitätshaus</strong> <strong>2024</strong><br />

7


OTWorld<br />

<strong>Sanitätshaus</strong>fachangestellte im Fokus:<br />

Workshops auf der<br />

Während der OTWorld <strong>2024</strong> haben <strong>Sanitätshaus</strong>fachangestellte<br />

an allen Tagen die Möglichkeit, sich praxisnah<br />

weiterzubilden. Sieben verschiedene Workshops bilden<br />

das breite Spektrum der Versorgungsmöglichkeiten im<br />

<strong>Sanitätshaus</strong> ab. Besonderes Augenmerk liegt auf der<br />

lymphologischen Versorgung. In Kooperation mit der<br />

Deutschen Gesellschaft für Phlebologie und Lymphologie<br />

(DGPL) werden täglich zwei Workshops angeboten,<br />

die sich mit der leitliniengerechten Versorgung im Team<br />

mit Ärzt:innen und Therapeut:innen beschäftigen. Drei<br />

weitere Workshops widmen sich den Themen Brustprothetik,<br />

Maßanfertigung und Schlaganfall. Auf einen Blick<br />

finden Sie hier das Programm.<br />

Onkologische tumor-assoziierte<br />

Lymp hödeme mit Beteiligung der<br />

unteren Extremitäten<br />

Chair: Prof. Dr. Gerd Lulay<br />

Diagnose Lymphödem – Welche Verfahren werden<br />

in der Medizin eingesetzt? Was sind mögliche<br />

Differenzialdiagnosen?<br />

Referent: Peter Nolte<br />

Die Grundzüge der manuellen Lymphdrainage bei<br />

Lymphödemen. Vorstellung und Durchführung von<br />

physiotherapeutischen Maßnahmen am Patienten<br />

Referent: Henry Schulze<br />

Wirkungsvolle und qualifizierte orthopädietechnische<br />

Kompressionsversorgung – Beratung und<br />

Behandlungs empfehlung, Ausmessen, Kompressionsdruck<br />

und -materialien, Zusatzprodukte, Tipps und<br />

Tricks<br />

Referent:innen: Petra Menkel / Stephan Klör<br />

Datum: 14.05.<strong>2024</strong>, 10:30 bis 11:30 Uhr<br />

15.05.<strong>2024</strong>, 15:15 bis 16:15 Uhr<br />

Ort: Saal 5<br />

Adipositas und Lymphödem<br />

Chair: Prof. Dr. Gerd Lulay<br />

Diagnose Lymphödem – Welche Verfahren werden<br />

in der Medizin eingesetzt? Was sind mögliche<br />

Differenzialdiagnosen?<br />

Referentin: Dr. med. Gabriele Färber<br />

Die Grundzüge der manuellen Lymphdrainage bei<br />

Lymphödemen. Vorstellung und Durchführung von<br />

physiotherapeutischen Maßnahmen am Patienten<br />

Referent: Henry Schulze<br />

Wirkungsvolle und qualifizierte orthopädietechnische<br />

Kompressionsversorgung – Beratung und Behandlungsempfehlung,<br />

Ausmessen, Kompressionsdruck und<br />

-materialien, Zusatzprodukte, Tipps und Tricks<br />

Referent:innen: Petra Menkel / Stephan Klör<br />

Datum: 14.05.<strong>2024</strong>, 13:15 bis 14:15 Uhr<br />

15.05.<strong>2024</strong>, 10:30 bis 11:30 Uhr<br />

Ort: Saal 5<br />

Wenn einen der Schlag trifft – Eine Einführung<br />

in das Krankheitsbild, physiotherapeutische<br />

Frühbehandlung und die orthopädietechnische<br />

Versorgung der Folgen<br />

Chair: Petra Menkel<br />

Medizinische Einführung in das Thema<br />

Referent: Dr. Rupert Sandbrink<br />

Physiotherapeutische Frührehabilitation bei<br />

Schlaganfall-Patienten<br />

Referentin: Fabienne Grugel<br />

Anwendung in der Praxis: Welche Hilfsmittel gibt es?<br />

Wo liegen ihre Grenzen? Was ist die Maximalversorgung?<br />

Referentin: Fabienne Grugel<br />

Datum: 15.05.<strong>2024</strong>, 14 bis 15 Uhr<br />

Ort: Saal 5<br />

8<br />

Illustration: freepik /<br />

vectorjuice<br />

Hier geht es zum Ticket-Shop:<br />

www.ot-world.com/de/tickets-preise<br />

<strong>Sanitätshaus</strong> <strong>2024</strong>


OTWorld<br />

Brustprothesen im Spannungsfeld<br />

zwischen Diagnose Krebs, Kostendruck und<br />

psychischer Belastung aller Beteiligten<br />

Chair: Petra Menkel<br />

Lymphödem und Ulcera crurum –<br />

offene Beine und Wundrosen<br />

Chair: Prof. Dr. Gerd Lulay<br />

Medizinische Einführung in das Thema:<br />

Fakten zum Brustkrebs, aktuelle OP-Methoden<br />

Referent:in: N.N.<br />

Welche Hersteller gibt es? Wo liegen die<br />

Unterschiede? Wo sind die Grenzen einer vorgefertigten<br />

prothetischen Versorgung? Ab wann müssen<br />

Maßprothesen hergestellt werden?<br />

Referentin: Kristina Böhm<br />

Psychoonkologischer Einblick in beide Seiten der<br />

Versorgung: Patientin und <strong>Sanitätshaus</strong>angestellte<br />

Referent:in: N.N.<br />

Datum: 16.05.<strong>2024</strong>, 9:15 bis 10:15 Uhr<br />

Ort: Saal 5<br />

Primäres Lymphödem<br />

Chair: Prof. Dr. Gerd Lulay<br />

Diagnose Lymphödem – Welche Verfahren<br />

werden in der Medizin eingesetzt? Was sind mögliche<br />

Differenzialdiagnosen?<br />

Referentin: Dr. med. Erika Mendoza<br />

Die Grundzüge der manuellen Lymphdrainage<br />

bei Lymphödemen. Vorstellung und Durchführung<br />

von physiotherapeutischen Maßnahmen am<br />

Patienten<br />

Referent: Henry Schulze<br />

Wirkungsvolle und qualifizierte orthopädietechnische<br />

Kompressionsversorgung – Beratung<br />

und Behandlungsempfehlung, Ausmessen,<br />

Kompressionsdruck und -materialien, Zusatzprodukte,<br />

Tipps und Tricks<br />

Referent:innen: Stephan Klör / Petra Menkel<br />

Datum: 16.05.<strong>2024</strong>, 13:30 bis 14:30 Uhr<br />

17.05.<strong>2024</strong>, 10:30 bis 11:30 Uhr<br />

Ort: Saal 5<br />

Diagnose Lymphödem – Welche Verfahren werden in<br />

der Medizin eingesetzt? Was sind mögliche Differenzialdiagnosen?<br />

Referent: Dr. Dr. René Hägerling<br />

Die Grundzüge der manuellen Lymphdrainage bei<br />

Lymphödemen. Vorstellung und Durchführung von<br />

physiotherapeutischen Maßnahmen am Patienten<br />

Referent: Henry Schulze<br />

Wirkungsvolle und qualifizierte orthopädietechnische<br />

Kompressionsversorgung – Beratung und Behandlungsempfehlung,<br />

Ausmessen, Kompressionsdruck und -materialien,<br />

Zusatzprodukte, Tipps und Tricks<br />

Referent:innen: Stephan Klör / Petra Menkel<br />

Datum: 16.05.<strong>2024</strong>, 10:30 bis 11:30 Uhr<br />

17.05.<strong>2024</strong>, 12 bis 13 Uhr<br />

Ort: Saal 5<br />

Wie erkenne ich die Grenzen<br />

einer Versorgung mit konfektionierten<br />

Orthesen und ab wann geht nur noch<br />

Maßanfertigung?<br />

Chair: Petra Menkel<br />

Vorgefertigte Orthopädie-Technik: Grenzen und<br />

Möglichkeiten<br />

Referent: Stephan Schildhauer<br />

Fallbeispiel: Versorgung eines Patienten mit<br />

Multipler Sklerose<br />

Referent:innen: Stephan Schildhauer / Annette Küntzel<br />

Datum: 17.05.<strong>2024</strong>, 9:15 bis 10:15 Uhr<br />

Ort: Saal 5<br />

<strong>Sanitätshaus</strong> <strong>2024</strong><br />

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OTWorld<br />

Beratung erfordert hohes Maß an Empathie<br />

Foto: BIV-OT<br />

<strong>Sanitätshaus</strong>fachangestellte werden bei der OTWorld<br />

<strong>2024</strong> erstmals gesondert angesprochen – und zwar mit<br />

eigens für diese Zielgruppe konzipierten Workshops.<br />

Petra Menkel, Geschäftsführerin und Bandagistenmeisterin<br />

der Paul Schulze Orthopädie & Bandagen GmbH<br />

und Mitglied im Vorstand des Bundesinnungsverbandes<br />

für Orthopädie-Technik (BIV-OT), wird sich in einem dieser<br />

Workshops u. a. dem Thema Brustversorgung widmen.<br />

Im Gespräch mit der OT-Redaktion verrät sie, was<br />

die Teilnehmenden erwartet und warum dieses Thema<br />

– auch für sie persönlich – Aufmerksamkeit verdient.<br />

OT: Sie bieten bei der OTWorld einen Workshop zum Thema<br />

Brustversorgung explizit für <strong>Sanitätshaus</strong>fachangestellte an.<br />

Warum ist Ihnen das Thema ein besonderes Anliegen?<br />

Petra Menkel: Als Frau lebe ich in dem Bewusstsein, dass die<br />

Wahrscheinlichkeit, an Brustkrebs zu erkranken, bei 1 zu 8<br />

liegt. Das heißt, jede achte Frau bekommt im Laufe ihres<br />

Lebens Brustkrebs. Wenn ich nur in unsere Firma schaue,<br />

bedeutet das, dass zwei Kolleginnen erkranken. Erweitert<br />

man den Kreis auf Freunde und Bekannte, dann kennt jeder<br />

jemanden mit dieser Diagnose. Auch ich könnte dazu<br />

gehören. Deshalb betrifft mich dieses Thema selbst ganz<br />

direkt. Daher ist es mir wichtig, im Workshop die Sensibilität<br />

nicht nur für unsere Kundinnen, sondern auch für<br />

uns selbst zu entwickeln und eine Lanze für die Vorsorge<br />

zu brechen. Wird ein Brustkrebs im Stadium I entdeckt,<br />

liegt die Heilungsquote statistisch bei 100 Prozent. Das<br />

sollte doch jede Frau zur Selbstvorsorge treiben. Auf der<br />

OTWorld sprechen wir aber gezielt <strong>Sanitätshaus</strong>fachangestellte<br />

an, weil die betroffenen Frauen in der Regel für<br />

eine fachgerechte Beratung in ein <strong>Sanitätshaus</strong> gehen und<br />

dort auf die <strong>Sanitätshaus</strong>fachangestellten treffen. Die Kolleginnen<br />

aus der Werkstatt sind ja bei der Beratung nach<br />

einer Brust-Operation seltener involviert. Im Gegensatz<br />

zu den vielen Weiterbildungsmöglichkeiten einzelner<br />

Hersteller möchten wir in Leipzig firmenübergreifend informieren.<br />

So können wir uns ganz auf die Notwendigkeiten<br />

des Versorgungsalltags jenseits eines besonderen<br />

Produkts konzentrieren. Denn ein Problem hat viele Lösungswege<br />

und diese wollen wir aufzeigen. Wir wollen<br />

aber auch für mehr Aufmerksamkeit für diesen wichtigen<br />

Bereich sorgen.<br />

OT: In Deutschland erhalten jedes Jahr 69.000 Frauen die<br />

Diagnose Brustkrebs, von denen 27 Prozent eine Mastektomie<br />

benötigen. Im <strong>Sanitätshaus</strong> ist die Versorgung also Alltag – und<br />

dennoch kein alltägliches Thema, oder?<br />

Veranstaltet bei der OTWorld einen<br />

Workshop rund ums Thema Brustversorgung:<br />

Petra Menkel.<br />

Menkel: Die Mastektomie ist auf dem Rückzug. Es wird immer<br />

mehr brusterhaltend operiert. Das ist auf der einen Seite<br />

für die Betroffenen tröstlicher, weil noch ein Stück ihres<br />

eigenen Gewebes erhalten bleibt. Auf der anderen Seite<br />

birgt es viele andere Probleme: ungleich große Seiten, „verrutschtes“<br />

Dekolleté, Narben, Beulen, empfindliche Stellen<br />

– um nur einige Beispiele zu nennen. Wenn die Brust ganz<br />

entfernt wurde, ist die Versorgung einfacher. In dem Fall<br />

ermitteln wir die Größe anhand der erhaltenen Seite, suchen<br />

eine passende Form und den bestsitzenden BH sowie<br />

– wenn möglich – eine Haftepithese aus. Bei einer brusterhaltenden<br />

Versorgung ist der Beratungsaufwand hingegen<br />

deutlich höher. Hier müssen wir, wie gerade gesagt, viel<br />

mehr Faktoren beachten. In jedem Fall beinhaltet die Beratung<br />

auch die Besprechung psychologischer Probleme der<br />

Patientinnen. Auch vor diesem Hintergrund glaube ich,<br />

dass jede Fachkraft, die Brustkrebspatientinnen betreut,<br />

zwar professioneller im Umgang und in der Versorgung<br />

wird, aber Alltag wird es für sie nie.<br />

OT: Essenziell ist bei der Versorgung eine ganzheitliche Betrachtung.<br />

Was genau bedeutet für Sie ganzheitlich?<br />

Menkel: Jede Patientin ist anders und geht auch anders<br />

mit ihrer Erkrankung um. Hier ist ein hohes Maß an Empathie<br />

unserer Mitarbeitenden gefragt. Wo steht die Kundin?<br />

Ist sie schon gut über ihren Arzt informiert, oder hat<br />

Dr. Google die Beratung übernommen? Ist sie über Spätfolgen<br />

wie lymphatische Probleme in Kenntnis gesetzt, oder<br />

sollten wir hier Hinweise geben? Wir müssen zudem rausfinden,<br />

was der Bedarf der Kundin ist. Geht es um einen<br />

kosmetischen Ausgleich oder um Funktionalität? Wird die<br />

Epithese zum Sport oder zum Ausgehen genutzt? Soll die<br />

Epithese dauerhaft getragen werden oder nicht? Fragen<br />

über Fragen, die wir aber oft nicht direkt stellen können.<br />

Daher müssen wir nicht selten zwischen den Zeilen lesen,<br />

um kundenbezogen zu versorgen. Im Workshop legen wir<br />

zudem einen Fokus auf die Selbstfürsorge der Versorgenden,<br />

denn die mentalen Belastungen sind doch sehr groß.<br />

Zumal sie zwischen den Stühlen stehen. Zeit ist Geld und<br />

Regelversorgungen sind nicht immer die beste Lösung.<br />

OT: Im Umgang mit den Kundinnen ist besondere Sensibilität<br />

und Empathie gefragt. Wie spiegelt sich das in der Atmosphäre<br />

und den Inhalten des Workshops wider?<br />

10<br />

<strong>Sanitätshaus</strong> <strong>2024</strong>


OTWorld<br />

Menkel: Zur OTWorld schaffen wir im Workshop – ähnlich<br />

wie im Beratungszimmer im <strong>Sanitätshaus</strong> – einen Raum für<br />

einen offenen Erfahrungsaustausch. Hier können und sollen<br />

die Teilnehmenden auch über Versorgungen sprechen,<br />

die nicht so optimal gelaufen sind. Insbesondere von diesen<br />

Fällen können wir am meisten lernen.<br />

OT: Ein Workshop verfolgt den Anspruch, praxisnah<br />

gestaltet zu sein. Die Teilnehmer:innen sollen in<br />

Interaktion mit den Patientinnen kommen.<br />

Wie kann das bei einem solch sen siblen Thema wie der<br />

Brustversorgung gelingen?<br />

Menkel: Für den Workshop stehen uns hoch motivierte betroffene<br />

Patientinnen als Models zur Verfügung. Unseren<br />

Models ist es ein Anliegen, über Brustkrebs und die Folgen<br />

zu informieren. Infolgedessen sind sie die Öffentlichkeit<br />

gewohnt und können mit ihnen unbekannten Menschen<br />

offen über ihre Versorgung und ihre Erkrankung sprechen.<br />

Zugleich ist unser Workshop mit einer begrenzten Anzahl<br />

von Teilnehmenden ein geschützter Raum.<br />

OT: Bis zu 20 Prozent aller Frauen entwickeln nach einer Brustkrebsbehandlung<br />

ein Arm-Lymphödem. Welche Rolle kommt<br />

hier im Speziellen der Komplexen Physikalischen Entstauungstherapie<br />

(KPE) zu?<br />

Menkel: Die komplexe Entstauungstherapie ist ein wichtiges<br />

Thema, welches leider von vielen Ärzten nicht<br />

grundsätzlich besprochen wird. Ich würde mir wünschen,<br />

dass es zur Grundberatung eines Arztbesuches gehört,<br />

auf die Möglichkeit der Entwicklung eines Lymphödems<br />

nach Brustoperationen hinzuweisen. Dieses kann<br />

auch Jahre nach der Operation noch auftreten und wird<br />

dann oftmals nicht in Zusammenhang mit der Grunderkrankung<br />

gesetzt. Die Kundinnen kommen dann zu<br />

uns und wissen gar nicht, warum der Arm plötzlich dick<br />

wird. Gemeinsam mit unseren Kollegen aus der Physiotherapie<br />

können wie den Frauen mithilfe der KPE zum<br />

Glück helfen.<br />

OT: Wird dem Thema Brustversorgung bereits in der<br />

Aus bildung genug Aufmerksamkeit geschenkt?<br />

Menkel: Hier ist in jedem Fall noch Luft nach oben. In der<br />

Ausbildung zum Orthopädietechnik-Mechaniker wird das<br />

Thema zwar behandelt, aber nicht sehr tiefgehend. Was die<br />

<strong>Sanitätshaus</strong>fachverkäufer betrifft, sieht es noch düsterer<br />

aus, in der Berufsschule wird das Thema in Berlin zumindest<br />

nur gestreift. Die gesamte fachliche Ausbildung liegt<br />

also im <strong>Sanitätshaus</strong>, und wenn eine Firma keine Brustprothetik<br />

anbietet, fehlt das Thema völlig. Auch deshalb<br />

wünsche ich mir, dass die Ausbildung zum Fachverkäufer<br />

dem Handwerk angegliedert wird – aber das bleibt wohl ein<br />

Wunsch.<br />

OT: Erinnern Sie sich noch an Ihre erste Kundin, die Sie in<br />

diesem Bereich versorgt haben? Was wissen Sie heute, was Sie<br />

damals schon gern gewusst hätten?<br />

Menkel: Oh je. Meine erste Versorgung in diesem Bereich<br />

war ehrlich gesagt eine „volle Katastrophe“. Damals war<br />

ich noch sehr jung, aber mit viel Enthusiasmus ausgestattet<br />

und im festen Glauben, in meiner Ausbildung richtig<br />

viel gelernt zu haben. Gleichzeitig war meine Kundin psychisch<br />

labil. Kein Wunder, denn die Amputation war bei<br />

ihr sehr radikal mit Narbengewebe bis weit in die Achsel<br />

durchgeführt. Da trafen zwei Menschen aufeinander, die<br />

beide nicht wussten, ob das gut geht. Aber: Wir haben uns<br />

aufeinander eingelassen und die Versorgung ist gut geworden.<br />

Allerdings hätte ich mir eine bessere Vorbereitung<br />

in der Ausbildung auf die psychologischen Fallstricke einer<br />

Brustversorgung gewünscht. Ein unbedachtes Wort<br />

oder ein missverständlicher Blick hätten große emotionale<br />

Wellen schlagen können, mit denen ich damals nicht<br />

hätte umgehen konnen. Hinzu kam, dass ich nur die Epithesen<br />

kannte, die wir in unserer Firma vorrätig hatten.<br />

Wenn man sich einmal für eine Sortimentsauswahl entschieden<br />

hat, verliert man nach einer gewissen Zeit den<br />

Überblick über neue Entwicklungen. Dass jeder Hersteller<br />

aber seine Besonderheiten hat und diese auch weiterentwickelt,<br />

muss man sich immer wieder aktiv vor Augen<br />

führen. Ich kann mich auch daran erinnern, dass es mir<br />

sehr unangenehm war, anzusprechen, dass die Krankenkasse<br />

gemäß Wirtschaftlichkeitsgebot nur die Kosten für<br />

eine ausreichende und zweckmäßige Versorgung erstattet<br />

– es allerdings so viel mehr an höherwertigen Versorgungen<br />

gibt, die die Frauen allerdings aus eigener Tasche<br />

zahlen müssen. Nicht jede Frau kann sich das leisten. Das<br />

war schon schwer. Damals wie heute wäre zum Einstieg in<br />

das Thema eine Brustversorgung gemeinsam mit einer erfahrenden<br />

Kollegin toll. Dann könnten Berufseinsteiger<br />

und eine erfahrene Fachkraft gemeinsam die Versorgung<br />

besprechen. Einsteiger könnten sich etwas vom Verhalten<br />

der Kolleginnen abschauen und dennoch ihren eigenen<br />

Weg ausprobieren.<br />

OT: Zum ersten Mal verfassen die Referent:innen zu jedem<br />

Workshop auf der OTWorld eine „Take-Home-Message“.<br />

Worüber sollten sich Interessierte bereits im Vorfeld Gedanken<br />

machen, um sich proaktiv mit Fragen oder Ideen in den<br />

Workshop einzubringen?<br />

Menkel: Ich würde mich freuen, wenn die Teilnehmenden<br />

von ihren Erfahrungen berichten, schwierige Versorgungen<br />

inklusive Fotos mit in den Workshop bringen und dort<br />

unter anderem erzählen, was bei einzelnen Versorgungen<br />

nicht geklappt hat. Mich interessiert: Wie gehen sie mit<br />

den Emotionen der Kundinnen und mit den eigenen um?<br />

Was tun sie, wenn die Krankenkasse die Versorgung ablehnt?<br />

Wie kriegen sie den Spagat zwischen optimaler Versorgung<br />

und Wirtschaftlichkeit hin? Der Workshop soll<br />

für uns alle eine Chance sein, voneinander und miteinander<br />

zu lernen. Beides gilt übrigens auch für meine anderen<br />

Workshopthemen: Lymphatische Versorgungen, Abgrenzung<br />

Standard- und Maßversorgung sowie Versorgungen<br />

bei Schlaganfall.<br />

Die Fragen stellte Pia Engelbrecht.<br />

<strong>Sanitätshaus</strong> <strong>2024</strong><br />

11


Brustversorgung<br />

Diagnose Brustkrebs – und dann?<br />

69.000 Frauen erhalten jährlich in Deutschland die Diagnose<br />

Brustkrebs. Das sind so viele Menschen, wie zum<br />

Beispiel Fulda, Landshut oder Tübingen Einwohner:innen<br />

haben. Damit ist Brustkrebs die mit Abstand häufigste<br />

Krebserkrankung in der Bundesrepublik. Neben Operationen<br />

und Therapie steht meist auch eine Hilfsmittelversorgung<br />

für die betroffenen Frauen an. Eine Versorgung<br />

mit Brustprothesen bzw. entsprechender Wäsche<br />

steht den Frauen nach PG 37 alle zwei Jahre zu. Neben<br />

der technischen Versorgung besteht bei den Frauen<br />

auch der Wunsch nach einem entsprechenden Versorgungsumfeld,<br />

das ihre spezielle Situation berücksichtigt.<br />

Aus diesem Grund hatte sich Anke Prüstel mit ihrem<br />

<strong>Sanitätshaus</strong> auf die Versorgung von Brustkrebspatientinnen<br />

spezialisiert. Eine Entscheidung, die aus der<br />

eigenen Erfahrung als Brustkrebsbetroffene resultierte<br />

und aus dem Ansporn, es besser zu machen. Aus privaten<br />

Gründen musste sie ihr Geschäft übergeben, die<br />

Leidenschaft, für die Versorgung von Brustkrebspatientinnen<br />

zu streiten, ist geblieben. Im Gespräch mit der<br />

OT-Redaktion berichtet sie von ihren Erfahrungen, darüber,<br />

was Sanitätshäuser beachten sollten und wo ihr die<br />

Perspektive als Brustkrebspatientin geholfen hat, nicht<br />

nur eine gute Versorgung zu leisten, sondern das Leben<br />

ihrer Kundinnen besser zu machen.<br />

Anke Prüstel hatte in Berlin ein<br />

auf Brustversorgung spezialisiertes<br />

Geschäft. Ihre Erfahrungen<br />

hat sie im Gespräch mit<br />

der OT-Redaktion geteilt.<br />

OT: Frau Prüstel, jedes Jahr erkrankt eine Kleinstadt voller<br />

Frauen an Brustkrebs. Da müsste man davon ausgehen, dass<br />

die Versorgung derer ein Schwerpunkt in jedem <strong>Sanitätshaus</strong><br />

ist. Wie sind Ihre Erfahrungen?<br />

Anke Prüstel: Versorgung nach Brustkrebs ist, nach meiner<br />

Erfahrung, bundesweit eher Teil des Vollsortiments.<br />

Es haben sich bei mir Frauen aus nah und fern gemeldet<br />

und sich über mangelnde Auswahl oder das Bestellen aus<br />

Katalogen mit Abnahmepflicht, mangelnde Fachberatung<br />

und leider fehlende Empathie oder zumindest Verständnis,<br />

dass es sich nicht um eine Kniebandage handelt, beklagt.<br />

Außerdem war es für viele Frauen eine große Hürde,<br />

ihr Anliegen in einem mit Kundinnen und Kunden gut besuchten<br />

<strong>Sanitätshaus</strong> vorzutragen, da die notwendige Diskretion<br />

für diese sensible Versorgung nicht gegeben war.<br />

Es gibt natürlich auch positive Beispiele, bei denen sich ein<br />

<strong>Sanitätshaus</strong> spezialisiert hat, so wie es bei mir selbst auch<br />

der Fall war.<br />

OT: Sie haben vor mehr als einem Jahrzehnt selbst die Diagnose<br />

Brustkrebs erhalten. Wie haben Sie die Versorgung im <strong>Sanitätshaus</strong><br />

erlebt?<br />

Prüstel: Ich habe zu dieser Zeit im <strong>Sanitätshaus</strong> und auch<br />

viel mit Brustkrebskundinnen gearbeitet, deshalb war ich<br />

schon etwas besser vorbereitet. Allerdings traf es mich<br />

hinterher mit Wucht, dass ich meine so geliebten bunten,<br />

farblich passenden Spitzensets nicht mehr tragen konnte<br />

und dass es nur sehr wenig und für mich als nicht optimal<br />

empfundene Alternativen gab. Ich habe dann angefangen<br />

selbst Dessous und Bademode zu nähen und letztlich<br />

war das auch mein Antrieb zu meinem Geschäft. Mein<br />

erster Armstrumpf war zudem hautfarben, was ich als sehr<br />

furchtbar empfunden habe. Heute trage ich wieder schöne<br />

bunte Wäsche, eine relativ angenehme Teilprothese und<br />

ausschließlich bunte Armstrümpfe. Ich konnte stets mitbestimmen,<br />

das wird vielen Frauen nach der Operation einfach<br />

verwehrt.<br />

Sich in die Rolle der Patientin einfühlen<br />

OT: Welche Voraussetzungen muss man als <strong>Sanitätshaus</strong><br />

mindestens schaffen, damit Brustkrebspatientinnen sich wohlfühlen<br />

und auch versorgen lassen?<br />

Foto: Prüstel<br />

Prüstel: Auch da kann ich nur bitten, sich in die Kundinnen<br />

hineinzuversetzen und nachzudenken: Ich muss jetzt<br />

in diesen Laden – da stehen Rollatoren und Bandagen, alles<br />

ist so steril und dann ist da auch noch ein Herr hinter<br />

dem Tresen. Die fast schon logische Konsequenz ist es, dass<br />

sich die Frauen umdrehen und unversorgt das <strong>Sanitätshaus</strong><br />

12<br />

<strong>Sanitätshaus</strong> <strong>2024</strong>


Brustversorgung<br />

verlassen. Die Frauen brauchen: Diskretion – also im besten<br />

Fall einen abgetrennten Eingang oder zumindest eine<br />

sichtbare Einladung, dass ich als Frau mit Brustkrebs willkommen<br />

bin, also z. B. durch entsprechende Deko. Zudem<br />

wäre es wichtig, dass sich eine empathische, fachkundige<br />

und geschulte <strong>Sanitätshaus</strong>mitarbeiterin um die Frauen<br />

kümmert und diese in ihrer Situation nicht mit Besserwisserei<br />

belehrt werden. Wichtig sind auch ausreichend Zeit<br />

bei der Beratung und eine wirkliche Auswahl vor Ort. Auch<br />

wenn die passende Größe nicht da ist, nimmt es den Betroffenen<br />

die Angst, die Brustprothesen und die Wäsche in die<br />

Hand zu nehmen. Es reicht nicht nur das Versprechen auf<br />

der Homepage, eine empathische Versorgung zu gewährleisten.<br />

OT: Sind Ihnen Beispiele Ihrer Patientinnen bekannt, die sich<br />

in anderen Sanitätshäusern falsch verstanden oder nicht gut<br />

beraten gefühlt haben und deshalb eher auf eine Versorgung<br />

verzichten würden, statt noch einmal in ein <strong>Sanitätshaus</strong> zu<br />

gehen?<br />

Prüstel: Leider sehr viele. Ich hatte mir den Ruf bei Ärzten<br />

erarbeitet, eine sehr gute Versorgung anzubieten. Das hatte<br />

zur Folge, dass ich sehr viele Kundinnen hatte, die sich<br />

für eine Erstversorgung zu mir trauten – Jahre nach der<br />

eigentlichen Erkrankung. Es kamen aber auch Kundinnen,<br />

die nach einem einmaligen Schockerlebnis im <strong>Sanitätshaus</strong><br />

bei mir nach Jahren wieder eine Versorgung erhalten<br />

haben. Die Gründe dafür habe ich im Prinzip schon genannt:<br />

Katalogbestellung, Wäsche zwischen den anderen<br />

<strong>Sanitätshaus</strong>artikeln, meist in einer Ecke, sowie Mitarbeiterinnen<br />

mit wenig Interesse. Es war für mich immer toll<br />

zu erleben, wie Kundinnen mit ängstlichem Gesicht und<br />

Aura mein Geschäft betreten und mit lächelndem Gesicht<br />

wieder verlassen haben. Durch meinen Onlineshop kamen<br />

solche Kundinnen aus ganz Deutschland.<br />

Eigener Raum für die nötige<br />

Privatsphäre<br />

OT: Nach den Mindestanforderungen haben wir Sie schon<br />

gefragt. Wie sieht es am anderen Ende der Anforderungsskala<br />

aus – sprich: Wie sieht das „optimale“ <strong>Sanitätshaus</strong> für eine<br />

Versorgung von Brustkrebspatientinnen aus?<br />

Prüstel: Als Grundvoraussetzung gilt ein extra Ladenraum<br />

bzw. Geschäft. Dann kann ich mich nur immer wiederholen:<br />

gut geschulte Mitarbeiterinnen, die Lust auf diese<br />

Arbeit haben und ohne Fingerzeig auf Zeitoptimierung arbeiten<br />

können, weil eine BH-Beratung auch mal eine Stunde<br />

oder länger dauern kann und die Marge dann nicht ausreichend<br />

ist, aber der Mehrwert durch Empfehlung und<br />

zeitlich schnellere Folgegeschäfte gegeben ist. Sowie eine<br />

gute Auswahl an Brustprothesen, Wäsche und Bademode.<br />

Da sind auch die Hersteller in meinen Augen mehr gefordert,<br />

Konzepte zu entwickeln, um den Warenbestand optimal<br />

zu gestalten. Konkret meine ich z. B. bessere Rücknahmemöglichkeiten,<br />

mehr NOS (Never out of stock – ständig<br />

auf Lager, Anm. d. Red.) auch im modischen Bereich. Leider<br />

ist es so, dass überall Personalmangel herrscht und es deswegen<br />

insgesamt schwierig ist, sich zusätzlich noch zu spezialisieren.<br />

Allerdings denke ich, da in diesem Bereich eine<br />

engagierte Verkäuferin mehr Sinn ergibt als eine klassische<br />

<strong>Sanitätshaus</strong>mitarbeiterin, kann das auch eine Chance<br />

sein.<br />

OT: Können Sie eine Entwicklung in den Anforderungen der<br />

Patientinnen erkennen?<br />

Prüstel: Die Weiterentwicklung der OP-Techniken verlangt<br />

immer speziellere Versorgungen. Einige Hersteller sind darin<br />

sehr fortschrittlich, bei anderen hat man das Gefühl,<br />

noch zehn Jahre zurück zu sein. Ich persönlich glaube an<br />

mehr individuelle Lösungen, d. h. Maßprothesen. Die Patientinnen<br />

kommen auch öfters besser informiert, das<br />

heißt, ich muss mitreden können. Nichts ist kundenfeindlicher<br />

als das Gefühl, dass die Kundin besser informiert ist<br />

über z. B. die Kollektionen oder in Social Media beworbene<br />

Produkte wie Brustprothesen.<br />

OT: Wie hat die Corona-Pandemie die Arbeit verändert?<br />

Prüstel: Corona hatte zur Folge, dass die Betreuungsleistungen<br />

im Rahmen der Behandlungen abnahmen und<br />

ich dafür viele offene Fragen rund um das Thema Brustkrebs<br />

beantworten musste. Nicht zu vergessen ist dabei,<br />

dass auch die psychologische Behandlung nicht mehr so<br />

war bzw. ist wie vorher. Die Frauen sind noch ängstlicher<br />

und leiden unter Ungewissheit zum Beispiel über die Folgen<br />

einer Coronainfektion während der Chemotherapie.<br />

Dies alles führte dazu, dass mein Arbeitspensum immer<br />

mehr stieg, da sich die Frauen auch nach Feierabend<br />

und am Wochenende an mich wandten und meinen Rat<br />

suchten. Die Grenze zwischen Freizeit und Arbeit verschwimmt<br />

mehr.<br />

OT: Die Frauen, die zu Ihnen kommen, haben ja auch eine<br />

Lebens- und Leidensgeschichte hinter sich. Welche Rolle spielt<br />

das bei der Versorgung?<br />

Prüstel: Da kann ich aus eigener Erfahrung berichten.<br />

Nachfragen und Interesse zeigen ist genauso wichtig wie<br />

eine gute Versorgung abzuliefern. Sich auf dieser Ebene<br />

zu engagieren, hat den Vorteil, dass sich die Patientinnen<br />

auf den nächsten Termin bereits freuen und mit einem<br />

positiven Gefühl zu mir in den Laden kommen. Ich wiederum<br />

habe viel von den Frauen gelernt, habe von den mir<br />

berichteten Erfahrungen profitiert und konnte das Wissen<br />

auch an andere Frauen weitergeben. Eine – wie sagt man<br />

so schön – Win-win-Situation. Außerdem spricht sich eine<br />

gute Atmosphäre bei der Versorgung bei Ärzten und Patientinnen<br />

schnell rum und sorgt in der Folge für weitere Aufträge<br />

– eine gute und preiswerte Werbung.<br />

<strong>Sanitätshaus</strong> <strong>2024</strong><br />

13


Brustversorgung<br />

Mit Herzblut und Leidenschaft engagiert sich<br />

Anke Prüstel auch heute noch – nach ihrer<br />

Geschäftsaufgabe – für Brustkrebspatientinnen.<br />

„Ich stehe – trotz meines Engagements im<br />

Unternehmen meines Mannes – immer noch<br />

mit Rat und Tat parat“, so Prüstel.<br />

Psychologin, Krankenschwester<br />

und Modeberaterin<br />

OT: Vom Versorger werden verschiedene Kompetenzen<br />

erwartet, die über die technische Expertise hinausgehen.<br />

In welche Rollen mussten Sie in Ihrer Berufslaufbahn schon<br />

schlüpfen während einer Versorgung?<br />

Prüstel: Allen voran als – ungelernte – Psychologin, auch<br />

mit der Aufgabe, evtl. geduldig darauf hinzuweisen, Hilfe<br />

zu holen. Als Krankenschwester, also um auch mal ein<br />

neues Pflaster anzubringen oder den Hinweis zu geben<br />

evtl. zum Arzt zu gehen, wenn mir etwas aufgefallen ist.<br />

Und meine Lieblingsrolle – als modische Beraterin und<br />

Tipp geberin. Ich habe immer gesagt, ich habe die beste<br />

Rolle bei der Versorgung, ich darf den Frauen mit Brustprothesen,<br />

Wäsche und Bademode ein bisschen Lebensqualität<br />

zurückgeben. Ich habe mich immer sehr für die<br />

Kundin interessiert, das hatte viele schöne Erlebnisse zur<br />

Folge. Darunter waren Betreuungen in der Schwangerschaft/Stillzeit<br />

mit einer Brust, Beratung zum Brautkleid<br />

oder wenn eine Kundin mit einer Brust einen Partner gefunden<br />

hat. Es gab auch die Schattenseiten: Wenn eine<br />

Kundin gestorben ist, dann habe ich z. B. die Entsorgung<br />

der Brustprothesen angeboten und oft nicht einfache Gespräche<br />

führen müssen.<br />

OT: Wie haben Sie sich fortgebildet?<br />

Prüstel: Durch Schulungen der Hersteller. Darüber hinaus<br />

habe ich immer das Gespräch mit Ärzten und Krankenschwestern<br />

gesucht und nicht zu vergessen durch die<br />

tägliche Arbeit. Ärztekongresse sind auch eine sehr gute<br />

Möglichkeit zur Weiterbildung sowie die Lektüre zu den<br />

Themen Verkauf, Warenpräsentation, Kataloge und Homepages<br />

der Hersteller. Außerdem sollte man immer im Blick<br />

behalten, was es bei „normalen“ BH-Herstellern gibt. Ich<br />

habe mich und mein Geschäft immer wieder hinterfragt<br />

und überlegt, ob die Versorgung ausreichend war.<br />

OT: Fühlten Sie sich mit den Aus- und Fortbildungsmaßnahmen<br />

gut informiert oder hätten Sie sich da mehr gewünscht?<br />

Prüstel: Von den Herstellern hätte ich mir mehr gewünscht.<br />

Letztlich war es immer mehr oder weniger dasselbe. Dabei<br />

ist das Thema sehr umfassend. Persönlich habe ich die psychologischen<br />

Aspekte bei der Versorgung als unzureichend<br />

empfunden. Bei Schulungen, die nicht aus dem Brustkrebsbereich<br />

kamen, gab es mehr Tipps. Und es geht außerdem<br />

in meinen Augen viel zu wenig konkret um die Hilfe für<br />

den eigentlichen Verkauf/Zusatzverkauf.<br />

OT: Stichwort Kosten. Welche Erfahrungen haben Sie mit<br />

Kostenträgern gemacht und sehen Sie die Beratungsleistung<br />

von Brustkrebspatientinnen in den verhandelten Verträgen<br />

angemessen abgebildet?<br />

Prüstel: Ein klares Nein! Wie schon angeführt ist eine Beratung<br />

für zwei Prothesenhalterungen mit dem Zuschuss<br />

deutlich unterbezahlt, es sollte bei jeder Versorgung eine<br />

pauschale Stundenvergütung mit dabei sein. Des Weiteren<br />

der tägliche Kampf mit den Kostenträgern, allen voran<br />

um die Maßprothesen. Dabei habe ich mich gefragt: „Warum<br />

darf ein Kostenträger oder der Medizinische Dienst<br />

entscheiden, wie die optimale Versorgung für die Brustkrebspatientinnen<br />

aussieht, aus der Ferne, eben ohne Ahnung<br />

von dem Leben und der Leidensgeschichte sowie<br />

ohne ausreichende Produktkenntnis?“. Oder die Frage<br />

nach der Schwimmprothese. Welche Mitarbeiterin eines<br />

Kostenträgers würde sich z. B. am öffentlichen Strand mit<br />

Kindern ohne Kabinen beim Umziehen mit einer Brust zeigen<br />

wollen? Und dann die noch feuchte Prothese wieder<br />

vor allen anderen in den BH fummeln?<br />

OT: Wenn Sie drei Ratschläge an andere <strong>Sanitätshaus</strong>inhaber:innen<br />

geben dürften bezüglich der Versorgung von<br />

Brustkrebspatientinnen, welche wären das?<br />

Prüstel: Mut, die Aufgabe anzugehen. Gut geschulte Mitarbeiterinnen<br />

in diesem Bereich, die Lust darauf haben<br />

und in anderen Bereichen entlastet werden. Es ist etwas<br />

völlig anderes, einen BH oder eine Brustprothese zu verkaufen.<br />

Es hat in meinen Augen nichts mit dem klassischen<br />

<strong>Sanitätshaus</strong> zu tun. Das zu verstehen, ist der Weg zum Erfolg.<br />

Und das Wichtigste: Mitarbeiterinnen gut zu bezahlen<br />

und für ein gutes Arbeitsklima zu sorgen und nicht zu<br />

vergessen, dass es belastend sein kann, mit krebskranken<br />

Menschen zu arbeiten.<br />

Die Fragen stellte Heiko Cordes.<br />

Foto: Prüstel<br />

14<br />

<strong>Sanitätshaus</strong> <strong>2024</strong>


Beratung und Verkauf<br />

Gespräche erfolgreich führen – eine<br />

Kunst, die Coach Michael Gischnewski<br />

<strong>Sanitätshaus</strong>-Mitarbeitenden<br />

vermittelt.<br />

Das Leid mit der Verständigung<br />

Foto: privat<br />

Welche Zutaten braucht ein gutes (Kunden-)Gespräch?<br />

Dieser Frage geht Personal- und Business-Coach sowie<br />

Hypno-Master-Coach Michael Gischnewski im Gespräch<br />

mit der OT-Redaktion nach. Denn schon viele Mitarbeitende<br />

im <strong>Sanitätshaus</strong> haben die Erfahrung gemacht,<br />

dass sowohl Versorger:innen als auch Kund:innen aus<br />

einem Gespräch gekommen sind und vor allem eins gefühlt<br />

haben: Frust. Darüber, nicht verstanden worden zu<br />

sein, dass man aneinander vorbeigeredet hat, oder dass<br />

die Zeit nicht sinnvoll für die Versorgung genutzt wurde.<br />

Alles Erfahrungen, die nicht vollständig verhindert,<br />

aber mit den richtigen Werkzeugen für eine erfolgreiche<br />

Gesprächsführung in vielen Fällen doch vermieden<br />

werden können.<br />

OT: Herr Gischnewski, schön, dass Sie heute Zeit für<br />

uns haben. Würden Sie sich bitte kurz vorstellen?<br />

Michael Gischnewski: Michael Gischnewski, 58 Jahre alt,<br />

gebürtiger Schwabe und seit zwölf Jahren wohnhaft in Kassel.<br />

Ich bin ausgebildeter Personal- und Business-Coach,<br />

Hypno-Master-Coach und psychologischer Berater; außerdem<br />

bin ich ehrenamtlich im Team der Krisenintervention<br />

im Rettungsdienst tätig. Ich habe über 25 Jahre Erfahrung<br />

im Vertrieb und Verkauf, davon 22 Jahre als Trainer und<br />

Coach. Seit über neun Jahren bin ich nun als Sales Coach<br />

und Kommunikationstrainer bei Topro Mobility und biete<br />

Kommunikations- und Verkaufstrainings im gesamten<br />

DACH-Raum für Mitarbeiter:innen ausschließlich im Sanitätsfachhandel<br />

für den Innen- und Außendienst sowie im<br />

Verkauf. Über 7.500 erfolgreiche Teilnehmer:innen haben<br />

bereits von meinen Trainings und Coachings profitiert.<br />

OT: Sie sind also seit fast einem Jahrzehnt Personal- und<br />

Business-Coach und einer von wenigen, vielleicht sogar der<br />

Einzige, der sich mit den besonderen Situationen im<br />

Umgang mit eher schwierigen Kund:innen speziell im <strong>Sanitätshaus</strong><br />

auseinandersetzt. Nehmen Sie uns mal mit: Was macht<br />

Ihren Job aus und wieso ist aus Ihrer Sicht ein Coaching für<br />

Mitarbeitende im <strong>Sanitätshaus</strong> besonders wertvoll?<br />

Gischnewski: Es ist eine große Herausforderung – und deshalb<br />

auch eine sehr schöne Aufgabe –, mit den vielfältigen<br />

Anforderungen des Sanitätsfachhandels umzugehen. Dies<br />

gilt für die umfangreichen Aufgaben des Personals glei-<br />

chermaßen wie für den professionellen Umgang mit den<br />

nicht immer einfachen Kunden. Ich habe mir am Anfang<br />

als Laie auch überlegt: <strong>Sanitätshaus</strong>, da gibt es Windeln, da<br />

gibt es komische Strümpfe, alles Sachen, die nicht so toll<br />

sind, und da muss man mit Rezept hin – was soll ich denn<br />

da als Trainer machen? Und dann habe ich relativ schnell<br />

festgestellt: Es ist ein riesiger Bedarf da. Weil das Personal<br />

nicht nur fachlich fit sein muss, sondern auch Fähigkeiten<br />

benötigt, mit den unterschiedlichsten Situationen professionell<br />

umgehen zu können. Das fängt bei der Begrüßung<br />

an, geht über empathisches Verhalten sowie die eigene Kritikfähigkeit,<br />

über eine lösungsorientierte Beratung bis hin<br />

zum erfolgreichen Verkaufsabschluss und der gewinnbringenden<br />

Verabschiedung. Und genau aufgrund dieser vielfältigen<br />

Anforderungen ist ein motivierendes Coaching<br />

gepaart mit spezifischen Trainings und einem erarbeiteten<br />

Gesprächsleitfaden aus der Praxis für die Praxis so wichtig<br />

und wertvoll.<br />

OT: Wir wollen uns heute besonders auf den Umgang mit<br />

den eher „schwierigen“ Kund:innen konzentrieren. Die<br />

Fachberater:innen im <strong>Sanitätshaus</strong> treffen ja oft auf das<br />

sprichwörtliche Ende des Geduldsfadens. Sind Kund:innen im<br />

<strong>Sanitätshaus</strong> Ihrer Meinung nach generell weniger geduldig?<br />

Oder beobachten Sie allgemein einen Rückgang der Geduld?<br />

Gischnewski: Es ist ja so, dass uns Kund:innen im <strong>Sanitätshaus</strong><br />

in den meisten Fällen aufgrund einer Diagnose und<br />

daraus resultierend mit einem entsprechenden Rezept für<br />

ein Hilfsmittel aufsuchen. Das heißt, sie sind in den seltensten<br />

Fällen freiwillig da, sondern wurden „geschickt“.<br />

Mangelhafte Informationen und auch die fehlende ausführliche<br />

Aufklärung der Patienten bzgl. der Diagnose tun<br />

oft ihr Übriges dazu. Und das löst immer Unsicherheit und<br />

Unwohlsein beim Kunden aus. Dazu kommt dann noch<br />

die Ungeduld, weil die meisten Menschen das <strong>Sanitätshaus</strong><br />

eher schnell wieder verlassen wollen. Hier treffen also<br />

gleich mehrere ungünstige Faktoren zusammen. Ich beobachte<br />

allerdings darüber hinaus tatsächlich seit der Coronapandemie<br />

einen allgemein merklichen Rückgang der<br />

Geduld. Diese Zeit hat sehr viele Menschen verändert.<br />

OT: Was sollten Fachberater:innen grundsätzlich mitbringen,<br />

um dieser – manchmal sicherlich auch verständlichen –<br />

Ungeduld zu begegnen?<br />

<strong>Sanitätshaus</strong> <strong>2024</strong><br />

15


Beratung und Verkauf<br />

Gischnewski: Ein gesundes Selbstbewusstsein wie auch<br />

Selbstsicherheit sind wichtige Standbeine, um ungeduldigen<br />

Kunden freundlich begegnen zu können. Von großer<br />

Bedeutung ist auch das eigene Grundverständnis für die Situation<br />

sowie für das Verhalten des Kunden, die Empathie<br />

eben. Und eine intrinsische Motivation. Das heißt, aus echter<br />

Neugierde und der Bereitschaft, neue Herausforderungen<br />

anzunehmen, zu handeln und mit dem Willen, Menschen<br />

gerade in schwierigen Lebenslagen hilfreich zur Seite<br />

stehen zu wollen.<br />

OT: Spannend. Das heißt, wenn ich meinem Gegenüber von<br />

Anfang an mit dieser Haltung begegne, kann ich ihn/sie schon<br />

abholen, bevor es zum Riss des Geduldsfadens kommt?<br />

Wieso funktioniert das?<br />

Gischnewski: Eine empathische Grundeinstellung,<br />

Freundlichkeit, Kritikfähigkeit, Ehrlichkeit und lösungsorientiertes<br />

Handeln sind ganz elementare Faktoren für<br />

eine deeskalierende Handlung. Wenn man den Menschen<br />

auf dieser Ebene begegnet und den Sachverhalt erklärt,<br />

dann verstehen es die meisten auch. Auf eine Kommunikation<br />

„auf Augenhöhe“ zu achten, das ist wertschätzend und<br />

verständnisvoll zugleich.<br />

OT: Und ist das etwas, das man hat oder eben nicht?<br />

Oder kann das jede:r lernen?<br />

Gischnewski: Der eine hat’s – mehr oder weniger –, der<br />

andere nicht. Allerdings können diese Fähigkeiten durch<br />

gezieltes Coaching und definierte Trainings gut erlernt<br />

und ausgebaut werden. Wer die Werkzeuge professioneller<br />

Kommunikation kennt und diese auch situativ anzuwenden<br />

weiß, der wird auch selbstbewusster in herausfordernden<br />

Situationen und gewinnt hierdurch automatisch mehr<br />

Selbstsicherheit.<br />

OT: Man hat als Mensch so eine Art Radar – auch schon beim<br />

ersten Kontakt. Ein Gefühl dafür, wie denn der oder die andere<br />

gerade gestimmt ist. Kann ich ihm oder ihr vielleicht erst einmal<br />

mit einem Scherz begegnen, oder sind schon Alarm und<br />

Habachtstellung von vornherein angebracht? Wie kann ich in<br />

einem Gespräch Klippen umschiffen und tatsächlich deeskalieren,<br />

bevor es eskaliert, wenn ich den Eindruck habe, dass mir<br />

hier jemand mit kurzer Zündschnur gegenübersteht?<br />

Gischnewski: Ja, das ist eine große Herausforderung. Man<br />

muss sich halt immer mal in die Situation des Gegenübers<br />

hineinversetzen und sich überlegen: Wie würde es<br />

mir denn jetzt gehen? Ich habe Schwierigkeiten, ich habe<br />

Schmerzen, ich muss zum Arzt. Das ist grundsätzlich<br />

keine angenehme Situation. Und dann bekommen Sie –<br />

überspitzt gesagt – irgendeine Diagnose um die Ohren gehauen,<br />

ein paar Rezepte in die Hand gedrückt und das war<br />

es. In dem Moment fühlen sich diese Menschen oft sehr<br />

allein gelassen mit einer Diagnose, die sie vielleicht gar<br />

nicht verstehen. Da kommt dann der psychologische Aspekt<br />

ins Spiel, der unheimlich wichtig ist: Was mache ich<br />

jetzt daraus? Was bedeutet das für mein künftiges Leben?<br />

Was bedeutet das für mein Umfeld, für meine Familie?<br />

Alles, was eben auf einen einstürzt. Und dann habe ich<br />

maximal 28 Tage Zeit, das irgendwie auch nur annähernd<br />

zu verarbeiten und anzunehmen. Anschließend stehe ich<br />

bei Ihnen im Geschäft und wir schauen uns an. Ich mit<br />

meinem Rezept in der Hand und im ersten Kontakt bereits<br />

auf 180.<br />

Was ich den Leuten immer versuche beizubringen, ist:<br />

Schau, der, der dich da anbrüllt, ist nicht nur wütend und<br />

ungeduldig, sondern auch in höchstem Maße verunsichert.<br />

Und jeder Mensch zeigt seine Verunsicherung auf<br />

eine andere Art und Weise. Der eine wird halt leise, der<br />

andere wird laut, wieder ein anderer fängt vielleicht an zu<br />

weinen. Es ist sehr individuell, wie die Menschen in einer<br />

belastenden Situation reagieren. Aber ich finde auch, das<br />

ist ein bisschen das Salz in der Suppe. Wenn ich meinen<br />

Job richtig verstehe und erkenne: Ich habe eine sehr große<br />

Verantwortung diesem Menschen gegenüber und ich<br />

habe jetzt 10, 20 vielleicht 30 Minuten Zeit, mich intensiv<br />

um genau diesen Menschen zu kümmern. Mit all meinem<br />

Fachwissen, mit all meinem sozialen Tun.<br />

OT: Gibt es vielleicht eine Art Strategie oder einen Kniff, um<br />

der Ungeduld direkt den Wind aus den Segeln zu nehmen?<br />

Angenommen, ich stehe hinter dem Tresen, mir wird ein Rezept<br />

gereicht und ich weiß direkt: Das muss ich erst bestellen. Oder<br />

(noch schlimmer) das Rezept ist so nicht richtig ausgestellt.<br />

Dann weiß ich als Fachberater:in schon im ersten Augenblick,<br />

diesem Kunden oder dieser Kundin kann ich nicht sofort helfen.<br />

Wie kann ich das von vornherein deeskalierend transportieren?<br />

Gischnewski: Die eigene innere Einstellung muss passen.<br />

Wenn eine Situation so ist, wie sie ist, und ich es partout<br />

nicht ändern kann, dann muss ich das erstmal selbst genau<br />

so akzeptieren. Und jetzt ist eine ungezwungene, offene<br />

Ehrlichkeit dem Kunden gegenüber sehr wichtig.<br />

Wenn ich hier unsicher agiere, biete ich dem aufgebrachten,<br />

ungeduldigen Kunden nur eine unnötige Angriffsfläche.<br />

Selbstbewusst die Fakten nennen und – wenn möglich<br />

– Lösungsvorschläge anbieten, dabei freundlich und<br />

ehrlich lächeln, Punkt. Es ist nämlich ein Phänomen, das<br />

ich in den gesamten neun Jahren meiner Tätigkeit in der<br />

<strong>Sanitätshaus</strong>-Branche beobachten darf, dass die Kunden<br />

ihrer Verärgerung und Ungeduld oft freien Lauf lassen.<br />

Überall werden mittlerweile lange Wartezeiten akzeptiert,<br />

wie z. B. beim Arzt oder beim Handwerkertermin<br />

zu Hause. Nur im <strong>Sanitätshaus</strong>, da darf es keine Wartezeiten<br />

geben. Dieses Verhalten vieler Kunden hat vielfältige<br />

Gründe, die es eben zu verstehen und professionell damit<br />

umzugehen gilt. Ja, ich möchte sogar behaupten, dass wir<br />

hier unsere Kunden auch ein wenig erziehen müssen. Das<br />

ist erlern- und trainierbar und funktioniert tatsächlich<br />

auch.<br />

16<br />

<strong>Sanitätshaus</strong> <strong>2024</strong>


Beratung und Verkauf<br />

OT: Und wie lernt man das?<br />

Gischnewski: Bei mir sind das immer modular aufgebaute<br />

Ganztagsschulungen. Es gibt zunächst ein Basistraining,<br />

da lernen die Teilnehmer:innen wirklich von der Begrüßung<br />

bis zur Verabschiedung anhand eines Verkaufsleitfadens,<br />

den ich über die Jahre erarbeitet habe, die verschiedenen<br />

Phasen direkt mit dem Kunden gemeinsam durchzugehen.<br />

Bis hin zur Bedarfsermittlung, um festzustellen, wie<br />

sieht denn der Alltag meines Kunden aus? Was wünscht er<br />

oder sie sich denn? Wo gibt es Bedenken, was fällt im Moment<br />

schwer? Damit der Kunde überhaupt erstmal bereit<br />

ist, sich einem fremden Menschen gegenüber zu öffnen.<br />

Dafür bedarf es hochkomplexer Prozesse. Da muss ich Empathie<br />

entwickeln und brauche die innere Motivation: „Ja.<br />

Mein Job ist wichtig und ich möchte den Menschen helfen,<br />

und es geht nicht darum, den Leuten das teuerste Produkt<br />

zu verkaufen, sondern wirklich um bedarfsgerechte Beratung.“<br />

Dann findet auch automatisch ein Verkauf statt.<br />

OT: Jetzt kann ich mir vorstellen, dass man als Prellbock für<br />

Ungeduld und Ärger auch selbst in eine emotionale und<br />

defensive Haltung gerät. Was kann mir in diesem Fall helfen,<br />

selbst auf der sachlichen Ebene zu bleiben?<br />

Gischnewski: Um auf der sachlichen Ebene zu bleiben, weil<br />

man vielleicht gerade selbst sehr gereizt oder gestresst ist,<br />

kann es sehr hilfreich sein, sich mal eben selbst zu reflektieren.<br />

Da kann ein kleiner Trick sehr hilfreich sein: einfach<br />

ganz kurz die Helikopter-Position einnehmen. Das bedeutet,<br />

sich vorzustellen, man schwebt in einem Helikopter<br />

über der Situation und schaut von oben auf sich und den<br />

Kunden. Das sorgt für einen wertvollen Perspektivwechsel.<br />

Währenddessen ein-, zweimal ganz tief in den Bauch<br />

atmen und lange ausatmen, das sorgt für (Sauerstoff-)Power<br />

im Gehirn, dauert übrigens nur wenige Sekunden und<br />

wird vom Kunden nicht wirklich bemerkt.<br />

OT: Mal angenommen, das Kind ist schon in den Brunnen<br />

gefallen. Der Frust bricht sich Bahn und das Gespräch wechselt<br />

von der sachlichen auf die emotionale Ebene – wie sollte ich<br />

mich jetzt verhalten? Welche Tipps geben Sie Ihren Trainees<br />

dazu?<br />

Gischnewski: Es hört sich jetzt vielleicht etwas seltsam an,<br />

aber wenn ich es verstehe, mich gekonnt auf der emotionalen<br />

Ebene zu bewegen, dann habe ich wesentlich größere<br />

Chancen, den Kunden abzuholen und gegenseitiges<br />

Verständnis aufzubauen, als wenn ich mich ausschließlich<br />

auf der sachlichen Ebene bewege. Schließlich verlaufen<br />

rund 80 Prozent der zwischenmenschlichen Kommunikation<br />

auf der emotionalen Ebene. Mein Tipp in einer<br />

solchen Situation ist, mit „guten“ Fragen zu arbeiten. Also<br />

offene Fragen, sogenannte „W“-Fragen, stellen sowie aktiv<br />

zuhören und so das Gespräch gekonnt steuern. Eine<br />

wertvolle Regel: Reagiere auf eine Äußerung nicht mit<br />

ebenso einer Äußerung, also im Stile Argument – Gegenargument,<br />

sondern reagiere mit einer gut gestellten „W“-<br />

Frage. Das will gut gelernt sein und muss permanent trainiert<br />

werden.<br />

OT: Okay. Und gibt es eine Art „Notfallplan“, falls ich merke,<br />

dass ich trotz allem gerade ebenfalls die Geduld verliere?<br />

Das kann uns allen ja passieren, je nachdem, welche Knöpfe<br />

man bei uns drückt. Ist es in Ordnung, eine Diskussion dann<br />

auch zu verlassen oder an eine vielleicht gerade weniger<br />

involvierte Person zu übergeben?<br />

Gischnewski: Ein Gespräch kann durchaus auch mal scheitern<br />

und zum Abbruch führen. Ein solcher Gesprächsabbruch<br />

sollte aber niemals das Ende der Kundenbeziehung<br />

sein. Wenn es tatsächlich nicht anders zu lösen sein sollte,<br />

dann ist die Übergabe des Gesprächs an eine Kollegin oder<br />

einen Kollegen denkbar. Es sollte allerdings das allerletzte<br />

Mittel sein, quasi der Notausgang.<br />

OT: Sollte man sich dazu im Team abstimmen? Also vielleicht<br />

eine Art Zeichen vereinbaren, an dem die Kolleg:innen merken,<br />

okay, bei dem Tanz ist jetzt ein Partnerwechsel angesagt?<br />

Gischnewski: Eine verabredete Geste kann die Übergabe<br />

erleichtern, muss allerdings sicher kommuniziert und<br />

verlässlich umsetzbar sein. Schließlich soll der Kunde auf<br />

keinen Fall das Gefühl bekommen, „weitergeschoben“ zu<br />

werden.<br />

OT: Abschließende Frage – gibt es eine Art Faustformel, an der<br />

man sich in schwierigen Situationen orientieren kann?<br />

Gischnewski: Erstens: gut und aktiv zuhören. Dem Kunden<br />

deutlich signalisieren, dass man echtes Interesse an seinem<br />

Anliegen hat. Zweitens: mit dem Kunden mitfühlen und<br />

Verständnis zeigen. Drittens: immer davon ausgehen, dass<br />

man beobachtet wird. Andere Kunden im <strong>Sanitätshaus</strong> hören<br />

sich Konfliktgespräche sehr gerne mit an. Immer auch<br />

an die Außenwirkung denken. Viertens: langsam und mit<br />

leicht gesenkter Stimme reden. Fünftens: nur Versprechungen<br />

machen, die man auch tatsächlich einhalten kann. Das<br />

ist Ehrlichkeit. Sechstens: Beschwerden niemals persönlich<br />

nehmen. Siebtens: schwierige Kunden als potenzielle Gelegenheiten<br />

betrachten. Achtens: das Gespräch immer positiv<br />

beenden. So kann man neben dem eigenen Ausdruck<br />

für das Verständnis der Verärgerung des Kunden auch anbieten,<br />

in Zukunft persönlich für den Kunden da zu sein.<br />

Neuntens: wissen, wann es genug ist. Grenzen ziehen und<br />

wenn nötig, diese dem Kunden auch aufzeigen. Achtung:<br />

das eigene Ego beiseite lassen.<br />

OT: Vielen Dank für dieses interessante Gespräch und<br />

Ihre Zeit.<br />

Die Fragen stellte Alexandra Klein.<br />

<strong>Sanitätshaus</strong> <strong>2024</strong><br />

17


Kompression<br />

M. Morand<br />

Therapie mittels IPK plus<br />

definierte Polsterungen (IPK+)<br />

bei posttraumatischen bzw.<br />

postoperativen Ödemen unter<br />

Berücksichtigung der bio chemischen<br />

und biophysikalischen<br />

Eigenschaften<br />

Treatment with IPC Plus Defined Pads (IPC+) for Post-Traumatic<br />

or Postoperative Oedema, Taking into Account Biochemical and<br />

Biophysical Properties<br />

Hintergrund: Auch innerhalb der<br />

Sportphysiotherapie kommt der<br />

kombinierten Entstauungstherapie<br />

(KET) eine bedeutende Rolle zu.<br />

Längst wurden die Vorteile erkannt,<br />

die es ab bestimmten Schweregraden<br />

sinnvoll erscheinen lassen, ein<br />

posttraumatisches Ödem zu behandeln.<br />

Der Einsatz der Intermittierenden<br />

Pneumatischen Kompressionstherapie<br />

(IPK) als ein wichtiges<br />

Modul neben anderen Maßnahmen<br />

kann dabei als etabliert angesehen<br />

werden. Vorgestellt wird das von<br />

dem Autor entwickelte IPK+-Verfahren,<br />

bei dem additiv definierte Multifunktionspolsterungen<br />

unter der IPK<br />

mit zum Einsatz kommen [1, 2]. Nach<br />

mehreren Jahren bereits veröffentlichter<br />

Erfahrung in der praktischen<br />

Anwendung der IPK+-Therapie zeigen<br />

nun auch Ergebnisse einer klinischen<br />

Studie aus der Universitätsmedizin<br />

in Greifswald die Überlegenheit<br />

der IPK+ gegenüber der IPK in traditioneller<br />

Anwendung [1, 3].<br />

Einleitung: Bei der Behandlung<br />

posttraumatischer Ödeme erreicht<br />

man über entödematisierende Therapien<br />

eine Verbesserung der Weichteilheilung<br />

und Schmerzhaftigkeit<br />

[4]. Weiterhin wird das Risiko des<br />

Entstehens möglicher Komplikationen<br />

reduziert. Darüber hinaus nutzen<br />

Sportler:innen solche Behandlungsangebote<br />

zur Regeneration.<br />

Sehr gut lässt sich damit in Verbindung<br />

mit anderen Maßnahmen wie<br />

Luftsprudelbädern, Kältetherapie<br />

(z. B. Eisbäder) und Ruhehalten etc.<br />

ein „Muskelkater“ und die damit<br />

häufig einhergehenden „schweren<br />

Beine“ therapieren [5], eine gute Indikation<br />

für die KET.<br />

Zielsetzung: Neu ist eine interdisziplinäre<br />

Herangehensweise bei<br />

der Betrachtung rheologischer Eigenschaften<br />

proteinreicher Ödemflüssigkeiten,<br />

aus deren Verständnis<br />

sich in Zukunft innovative Therapiemodelle<br />

entwickeln lassen könnten.<br />

Daher macht es Sinn, zunächst eine<br />

Betrachtung zu Ursache, Entstehung<br />

und den physikalischen Eigenschaften<br />

entzündungsbedingter Schwellungen<br />

vorwegzunehmen.<br />

Schlüsselwörter: proteinreiche<br />

Ödeme, Viskosität, IPK+-Therapie,<br />

Scherkraft, nicht Newton‘sche Fluide<br />

mit strukturviskosem Fließverhalten<br />

Background: Combined decongestive<br />

therapy (CDT) also plays an important<br />

part in sports physiotherapy.<br />

The benefits have long been recognised,<br />

suggesting it could be useful<br />

for treating post-traumatic oedema<br />

above certain levels of severity. The<br />

use of intermittent pneumatic compression<br />

(IPC) as an important module<br />

in addition to other measures<br />

is considered to be an established<br />

therapy. The article presents the IPC+<br />

method developed by the author, in<br />

which defined multifunctional pads<br />

are used in addition to IPC [1, 2].<br />

Following several years of published<br />

experience in the practical use of<br />

IPC+ therapy, results of a clinical trial<br />

conducted at Greifswald University<br />

Hospital now show the superiority<br />

of IPC+ compared with conventional<br />

IPC [1, 3].<br />

Introduction: In post-traumatic<br />

oedema treatment, oedema-reducing<br />

therapies lead to improved soft<br />

tissue healing and pain relief [4]. The<br />

risk of developing potential complications<br />

is also reduced. Furthermore,<br />

athletes utilise such treatment programmes<br />

for regeneration. Along<br />

with other measures such as air<br />

bubble baths, cold therapy (e.g. ice<br />

baths), rest and the like, muscle soreness<br />

and the often associated “heavy<br />

legs” can be treated very well [5], a<br />

good indication for CDT.<br />

Objective: This is a new interdisciplinary<br />

approach to viewing the<br />

rheological characteristics of protein-rich<br />

oedema fluids, the understanding<br />

of which could lead to the<br />

development of new therapy models<br />

in the future. It is therefore useful to<br />

18<br />

Erschienen in: ORTHOPÄDIE TECHNIK 11/23


Kompression<br />

first observe the cause, development,<br />

and physical properties of swelling<br />

due to inflammation.<br />

Key words: protein-rich oedema,<br />

viscosity, IPC+ therapy, shearing force,<br />

non-Newtonian fluids with shear<br />

thinning flow behaviour<br />

Das Ödem der akuten<br />

Entzündung<br />

Kommt es als Folge von Überbeanspruchung<br />

zu Mikroläsionen in der<br />

Muskulatur, einem sogenannten<br />

„Muskelkater“, oder haben wir es mit<br />

Verletzungen bzw. mit postoperativen<br />

Zuständen zu tun, wird die monotone<br />

Antwort des Organismus auf jegliche<br />

Zellschädigung die Ingangsetzung<br />

einer akuten Entzündungsreaktion<br />

sein. So kommt es unter dem Einfluss<br />

von Entzündungsmediatoren zu Erweiterungen<br />

von Blutkapillaren mit<br />

einem erhöhten Flüssigkeitsaustritt.<br />

Die Permeabilität der Blutkapillaren<br />

ist erhöht, sodass entgegen der Norm<br />

vermehrt biologische Polymere wie<br />

Proteine etc. die Endstrombahn verlassen.<br />

Wiederum andere Fraktionen<br />

von Entzündungsmediatoren sind für<br />

begleitende Schmerzzustände mitverantwortlich<br />

[6].<br />

Eine weitere Schmerzursache erklärt<br />

sich durch schnell entstandene<br />

Schwellungen, bei denen die Gewebe<br />

der raschen Volumenzunahme nur<br />

unzureichend folgen können; hierbei<br />

kommt es zu Druck- und Spannungsentwicklungen,<br />

unter welche die Gewebe<br />

geraten [7].<br />

Im Normalfall sollte das Lymphgefäßsystem<br />

(LGS) einer Ödembildung<br />

über eine Steigerung der Lymphangiomotorik<br />

entgegenwirken (Sicherheitsventilfunktion<br />

des LGS). Eine Hemmung<br />

der Lymphgefäßbewegung erklärt<br />

sich durch das Wirken von sofort<br />

ausgeschütteten Gewebemediatoren<br />

und durch Schmerzen verursachende<br />

Spasmen in den Wandungen der<br />

Lymphgefäße [8]. Nach Traumen können<br />

aber auch Lymphgefäße lokal und<br />

auf Zeit verletzungsbedingt geschädigt<br />

sein und somit ihre Aufgaben<br />

nicht ausreichend erfüllen. Sehen wir<br />

nach den oben dargestellten Szenarien<br />

Schwellungen, sind dies Ödeme<br />

der akuten Entzündung, wobei noch<br />

nicht erwähnt wurde, dass als Folge<br />

von Traumen in aller Regel auch Hämatome<br />

nach Blutgefäßzerreißungen<br />

mit in Betracht gezogen werden müssen.<br />

In einem solchen „Entzündungscocktail“<br />

befinden sich dann die oben<br />

bereits genannten Biopolymere und<br />

Entzündungsmediatoren und zusätzlich<br />

wässrige Bestandteile, die in diesem<br />

Kontext als Lösungsmittel betrachtet<br />

werden. Die Veränderungen<br />

sind zum einen Voraussetzung für<br />

eine Regeneration geschädigter Gewebestrukturen,<br />

die aber auch in Form<br />

von überschießenden Reaktionen<br />

entgleiten können und somit als eine<br />

Ursache für ein Voranschreiten weiterer<br />

Komplikationen gesehen werden.<br />

In einem solchen Fall spricht man von<br />

einem Circulus vitiosus, der in eine<br />

folgenreiche Abwärtsspirale münden<br />

kann. Ein vermeidlich harmloser<br />

„Muskelkater“, in erster Linie als Folge<br />

von Mikroläsionen, sollte zwar nicht<br />

zu den eben beschriebenen Komplikationen<br />

führen; wenn aber vor nicht<br />

ausreichender Regeneration weitere<br />

Belastungen stattfinden, besteht die<br />

Gefahr einer erhöhten Verletzungsanfälligkeit<br />

und eines Leistungsabfalls<br />

bis hin zu einem vorübergehenden<br />

Unvermögen, weiter Leistungen<br />

erbringen zu können [9]. Sofern man<br />

die soeben genannten Schilderungen<br />

berücksichtigt, ist es nicht verwunderlich,<br />

dass den pathophysiologischen<br />

Prozessen über ödemreduzierende<br />

Maßnahmen und damit der Reduktion<br />

von Protein, Zelltrümmern,<br />

Entzündungsmediatoren und weiteren<br />

exsudativen Stoffen gut entgegnet<br />

werden kann [10]. Da der Schmerz für<br />

sich alleine schon als Auslöser für eine<br />

akute Entzündungsreaktion gesehen<br />

wird, sind alle Maßnahmen, die den<br />

Schmerz senken, von beträchtlichem<br />

therapeutischem Wert.<br />

Therapie und deren Ziele<br />

Gemäß der Leitlinie der Deutschen<br />

Gesellschaft für Phlebologie und Lymphologie<br />

wird speziell über eine Ödemreduktion<br />

bei posttraumatischen<br />

Ödemen mittels Manueller Lymphdrainage<br />

(MLD) – gegebenenfalls in<br />

Kombination mit leichter Kompression<br />

– der Heilungsverlauf beschleunigt<br />

und die Häufigkeit von Komplikationen<br />

wie Lymphozelen, Seromen und<br />

Keloidnarben reduziert. Der über die<br />

Therapie erlangten Schmerzreduktion<br />

wird eine gewichtige Rolle bei der<br />

Unterstützung des Heilungsprozesses<br />

zugeschrieben [11]. Tierexperimentelle<br />

Untersuchungen zeigten, dass nach<br />

Traumen über einen frühen 3-wöchigen<br />

Einsatz von MLD-Behandlungen<br />

eine vermehrte Regeneration von<br />

Lymphgefäßen im Narbengebiet erreicht<br />

wurde [12]. Gestützt wird diese<br />

Erkenntnis auch durch jüngere prospektiv<br />

randomisierte Studien, bei denen<br />

ein signifikanter Vorteil bzgl. der<br />

Prävention sekundärer Lymphödeme<br />

nachgewiesen wurde, nachdem zeitnah<br />

nach Brustkrebs-Operationen<br />

über 3 Wochen MLD-Behandlungen<br />

erfolgten [13].<br />

Therapieregime: Nach Erste-Hilfe-<br />

Maßnahmen wie Hochlagerung, Kühlung<br />

und leichter Kompression sollte<br />

mit einer KET möglichst frühzeitig ca.<br />

3 Stunden nach Stillstand etwaiger<br />

Blutungen begonnen werden. Zuvor<br />

erfolgt eine ärztliche Untersuchung.<br />

Zu Beginn der Therapie erfolgt diese<br />

in der Entzündungsphase über 7 Tage<br />

hochdosiert mit bis zu 4 Anwendungen<br />

täglich. Vom 7. bis zum 15. Tag,<br />

d. h. in der Proliferationsphase, werden<br />

3 Anwendungen pro Woche als<br />

ausreichend angesehen. Pritschow et<br />

al. empfehlen eine Durchführung der<br />

KET mittels MLD und Kompression [7].<br />

Auf die Darstellung der Kombination<br />

mit anderen begleitenden therapeutischen<br />

Maßnahmen wird in dieser Abhandlung<br />

verzichtet.<br />

Kommentar: Die positive Wirkung<br />

einer hochdosierten Anwendung<br />

ist nicht von der Hand zu weisen,<br />

allerdings dürften Patienten im<br />

Normalfall kaum in den Genuss einer<br />

solchen Zuwendung gelangen, wenn<br />

solche Leistungen nur durch speziell<br />

ausgebildetes Personal erbracht werden<br />

können. Abgesehen davon ist –<br />

global und wirtschaftlich betrachtet<br />

– eine nicht gerade kostengünstige,<br />

qualitätsgesicherte MLD und Komplexe<br />

Physikalische Entstauungstherapie<br />

(KPE) weltweit nur einer sehr kleinen<br />

Minderheit zugänglich, und noch geringer<br />

ist die Zahl derjenigen, welche<br />

die Kosten dafür von einer Krankenversicherung<br />

erstattet bekommen.<br />

Als ein möglicher Beitrag zur Verbesserung<br />

dieser Probleme wird nun das<br />

von dem Autor entwickelte, klinisch<br />

erprobte IPK+-Verfahren vorgestellt,<br />

das hochwirksam, wenig personalintensiv,<br />

kostengünstig und auch<br />

von Laien nach umfassender Aufklärung<br />

und Schulung durch dafür ausgebildetes<br />

medizinisches Personal<br />

anwendbar ist. Nach Ausschluss von<br />

Erschienen in: ORTHOPÄDIE TECHNIK 11/23<br />

19


Kompression<br />

Abb. 1 Zu der IPK+-<br />

Methode gehörige Polsterung<br />

mit einer Wandstärke<br />

von mind. 7 cm;<br />

rundum können Extremitäten<br />

mittels solcher<br />

Muffen versorgt werden.<br />

Kontraindikationen, beschwerdefreier<br />

Durchführung sowie korrekter Geräteanwendung<br />

handelt es sich sowohl<br />

bei der IPK wie auch der IPK+ um<br />

eine sichere Therapiemaßnahme [14].<br />

Arbeitsweise der mit definierten<br />

Multifunktionspolsterungen<br />

durchgeführten<br />

Form der<br />

IPK = IPK+-Methode<br />

Bei der erstmals 2018 veröffentlichten<br />

apparativen IPK+-Methode verwendet<br />

man handelsübliches IPK-Equipment,<br />

d. h. mit einer Vielzahl von<br />

Kammern aus Kunststoff ausgestatteten<br />

Manschetten, die steuerbar von<br />

Geräten mit Druckluft befüllt werden.<br />

Die Manschetten liegen, über Reißverschlüsse<br />

verschlossen, rund um die zu<br />

behandelnden Körperregionen. Die<br />

Drücke, die auf den Hautmantel wirken,<br />

nehmen von Zelle zu Zelle ab, um<br />

so die im Gewebe krankhaft angesammelte<br />

Ödemflüssigkeit abzudrainieren.<br />

Diese schon lange bekannte Behandlungsmethode<br />

wird im Weiteren<br />

als Intermittierende Pneumatische<br />

Kompressionstherapie in traditioneller<br />

Arbeitsweise (IPK itA) bezeichnet.<br />

Bei der IPK+-Methode werden zu dem<br />

soeben beschriebenen Prozedere unter<br />

den Manschetten reichlich mit 0,5<br />

bis 1 cm großen Schaumstoffwürfeln<br />

gefüllte Polsterungen in Form von<br />

Kissen oder Rundumversorgungen<br />

der Extremitäten mittels Muffen mitverwendet,<br />

deren Wandstärke mindestens<br />

7 cm beträgt [2] (Abb. 1). Gut<br />

gepflegt halten solche Polsterungen,<br />

die auch einer Kochwäsche standhalten,<br />

selbst bei täglicher Anwendung<br />

bis zu ca. 3 Jahre. Durch jahrelanges<br />

Experimentieren mit verschiedenen<br />

Materialien festigte sich bei dem<br />

Anwender die Erkenntnis, dass mit<br />

Stoffen, die elektrostatische Eigenschaften<br />

aufweisen, signifikant bessere<br />

Resultate erzielt werden als mit<br />

antistatischen. Die Gründe für diese<br />

unterschiedlichen Reaktionsweisen<br />

sind bislang nicht geklärt [15]. Bei der<br />

Durchführung einer IPK+-Anwendung<br />

wird die untenliegende Würfelschicht<br />

unter Druck in den epifaszialen<br />

Gewebezylinder mobilisiert, während<br />

nachfolgende Würfel der darüber<br />

befindlichen Ebenen dehnend in<br />

viele verschiedene Richtungen wirken.<br />

Nach erfolgten Anwendungen<br />

sehen wir ein typisches Hautbild, das<br />

vorübergehend eine Unzahl an kleinen<br />

Vertiefungen aufweist. Hieraus<br />

kann u. a. auf eine Vergrößerung der<br />

Behandlungsfläche um mindestens<br />

das Doppelte geschlossen werden<br />

(Abb. 2). Sofern vor solchen auch gewebemobilisierenden<br />

Anwendungen<br />

palpatorisch ein indurierter Zustand<br />

bestand, kann zum Ende der Therapie<br />

eine deutliche Lockerung festgestellt<br />

werden.<br />

Erst über das Unterpolstern mit<br />

dickwandigen, elastischen und unebenen<br />

Oberflächen werden Effekte<br />

ermöglicht, über die sich Scherkräfte<br />

induzieren lassen. Hingegen werden<br />

solche Wirkungen nicht erzielt,<br />

wenn wie bei der IPK itA im luftgefüllten<br />

Zustand feste, glatte Flächen<br />

auf den epifaszialen Hautmantel<br />

treffen. Gut verträglich kann IPK+<br />

bei posttraumatischen Zuständen<br />

angewendet werden. Freiäugig und<br />

palpatorisch kann schon nach einer<br />

Anwendung eine außergewöhnlich<br />

starke ödemverdrängende Wirkung<br />

festgestellt werden; teilweise ist es<br />

möglich, Schwellungen innerhalb einer<br />

Sitzung vollständig zu eliminieren.<br />

Expert:innen aus dem Bereich<br />

der Gefäßmedizin, denen die Wirkung<br />

an Patient:innen demonstriert<br />

wurde, bestätigen dies ausnahmslos.<br />

Möglicherweise finden sich über bisher<br />

noch nicht ausreichend beachtete<br />

wissenschaftliche Erkenntnisse Erklärungen.<br />

Abb. 2 Nach einer IPK+-Anwendung erkennt man vorübergehend ein Hautbild,<br />

das unzählige kleine Vertiefungen aufweist.<br />

20<br />

Erschienen in: ORTHOPÄDIE TECHNIK 11/23


Kompression<br />

Quelle: Thermo Fisher Scientific<br />

Rheologische Grundlagen:<br />

chemische und<br />

physikalische Eigenschaften<br />

nicht Newton‘scher<br />

Fluide<br />

a. b.<br />

a. b.<br />

Fließkurven<br />

Rheologie – dieser aus dem Griechischen<br />

stammende Begriff bedeutet<br />

„die Lehre des Fließens“ [16]. Als Teil<br />

der Wissenschaft beschäftigt sie sich<br />

mit der Gestaltveränderung und dem<br />

Fließverhalten von Stoffen. Dieses bereits<br />

sehr alte Fachgebiet wurde als eigenständige<br />

Disziplin um 1930 von<br />

E. C. Bingham und M. Reiner in Easten<br />

(USA) begründet [17]. Umfangreiche<br />

Recherchen des Autors ergaben,<br />

dass vor ihm wohl noch nie eine Verbindung<br />

zwischen Lymphologie und<br />

Rheologie hergestellt wurde. Dies erscheint<br />

insofern interessant, als proteinreiche<br />

Ödeme eine den Abtransport<br />

hemmende Viskosität (Zähigkeit)<br />

aufweisen; je geringer diese ist, desto<br />

dünnflüssiger und daher fließfähiger<br />

wird ein Fluid. Da der bereits beschriebene<br />

„Entzündungscocktail“ reichlich<br />

biologische Polymere enthält, ist<br />

es naheliegend, dass eine solche Flüssigkeit<br />

sich in Bezug auf das Fließverhalten<br />

anders als ein Newton‘sches<br />

Fluid wie z. B. Wasser verhält [18]. In<br />

der Rheologie bezeichnet man eine<br />

solche als ein nicht Newton‘sches Fluid<br />

mit einem strukturviskosen Fließverhalten.<br />

Dies bedeutet: Wird die<br />

Flüssigkeit Scherkräften ausgesetzt,<br />

verringert sich deren Viskosität, synonymhaft<br />

spricht man dann von<br />

Strukturviskosität oder „pseudoplastic“<br />

[25]. Scherkräfte, die z. B. durch<br />

Rühren oder ein Durchwalken herbeigeführt<br />

werden, führen zu Veränderungen<br />

in solchen dann aufgebrochenen<br />

Strukturen. Polymere bestehen<br />

aus langkettigen Molekülen, die<br />

unter Ruhebedingungen eine knäuelartige<br />

Struktur einnehmen. In einer<br />

Strömung werden die Polymerketten<br />

orientiert, und die Anzahl der Verschlaufungen<br />

kann reduziert werden.<br />

Über einen solchen Vorgang erklärt<br />

sich letztlich die Reduktion der Viskosität<br />

[18] (Abb. 3). Ausgehend von der<br />

Erkenntnis, dass die Viskosität eines<br />

Fluides hauptsächlich von der inneren<br />

Reibung zwischen den Molekülen<br />

abhängt, spielen auch thermische<br />

Einflüsse eine gewichtige Rolle. Wärme<br />

verringert die Zähigkeit und führt<br />

darüber hinaus zu einer erhöhten Kinetik<br />

der Moleküle [19]. Zum Ende<br />

dieser Betrachtung muss noch festgestellt<br />

werden, dass sich unser Fluid<br />

unter Ruhebedingungen allmählich<br />

wieder in den ursprünglichen Zustand<br />

zurückbewegt, diesen Vorgang<br />

bezeichnet man in der Rheologie als<br />

Thixotropie [25]. Noch erwähnt sei,<br />

Abb. 3a – b Verzweigte oder ineinander verschlungene Molekülketten nach Schramm<br />

2004 [25], a) vor der Scherung, b) während der Scherung.<br />

Schubspannung<br />

Geschwindigkeitsgefälle<br />

➊ Newtonsche<br />

Flüssigkeit<br />

➌<br />

➊<br />

➍<br />

➋<br />

Viskosität η<br />

➋ Strukturviskose Flüssigkeit<br />

➌ Dilatante Flüssigkeit<br />

➍ Strukturviskose Flüssigkeit mit<br />

Fließgrenze = plastisches Fluid<br />

Viskositätskurven<br />

Geschwindigkeitsgefälle<br />

}<br />

➌<br />

➊<br />

➍<br />

dass es nicht Newton‘sche Fluide gibt,<br />

die gänzlich andere Reaktionsmuster<br />

aufzeigen, so z.B. dilatante Fluide,<br />

die sich unter dem Einfluss von Scherung<br />

verfestigen. Im Kontext dieser<br />

Abhandlung spielen diese aber keine<br />

Rolle [26] (Abb. 4).<br />

Nach Betrachtung der theoretischen<br />

Grundlagen erfolgt nun der Versuch,<br />

diese auf die Praxis zu übertragen,<br />

denn aus der Erfahrung heraus lassen<br />

sich weiche Ödeme immer deutlich<br />

schneller beseitigen als schwer dellbare,<br />

d. h. feste Schwellungen.<br />

Die Ödemreduktion unter Zuhilfenahme<br />

von IPK+: Betrachtet<br />

man, was unter einer Ödemtherapie<br />

mittels IPK+ geschieht, zeigt sich zunächst,<br />

dass unter einer Unzahl von<br />

fortlaufend auf den Hautmantel treffenden<br />

Schaumstoffwürfeln Scherkräfte<br />

induziert werden. Unter dieser<br />

dickwandigen Polsterung wird zudem<br />

Körperwärme zurückgehalten, die der<br />

Ödemflüssigkeit zugeführt wird. Der<br />

unter den Manschetten nach zentralwärts<br />

abnehmende Druck bewirkt<br />

eine starke, kontinuierliche Verdrängung<br />

der Ödemflüssigkeit, in deren<br />

Strömung es zur Streckung und Orientierung<br />

der Kettenmoleküle, verbunden<br />

mit reichlich Reibung zwischen<br />

diesen, kommt. Der Weg führt<br />

dabei durch die im lockeren Bindegewebe<br />

befindlichen Interzellularräume,<br />

die extrem enge Spalten aufwei-<br />

Nicht-Newtonsche<br />

Flüssigkeit<br />

Abb. 4 Fließ- und Viskositätskurve nach Schramm 2004 [25]. Newtonsche (links) und<br />

zum Vergleich (rechts) nicht-Newtonsche Flüssigkeiten mit strukturviskosem Fließverhalten.<br />

Für Geschwindigkeitsgefälle wird auch der Begriff Schergeschwindigkeit verwendet.<br />

Das Verhalten dilatanter Flüssigkeiten (3) und plastischer Flüssigkeiten (4)<br />

kann im Kontext dieser Abhandlung vernachlässigt werden.<br />

➋<br />

Quelle: Thermo Fisher Scientific<br />

Erschienen in: ORTHOPÄDIE TECHNIK 11/23<br />

21


Kompression<br />

sen [20, 21]. Beim Hindurchzwängen<br />

kommt es abermals zur Scherung,<br />

und Abrisse in den Molekularketten<br />

wären durchaus denkbar. Die Summe<br />

all dieser Faktoren sollte somit zu<br />

verbesserten Fließeigenschaften der<br />

Ödemflüssigkeit beitragen und solange<br />

das Fluid unter der Anwendung<br />

gewärmt und im Fluss gehalten wird,<br />

wird sich kein thixotropes Verhalten<br />

ergeben [25]. In therapeutisch sinnvoller<br />

Weise wird das Ödem zu Körperbereichen<br />

mit intakten Lymphgefäßen<br />

geführt, wodurch dort die Sicherheitsventilfunktion<br />

des Lymphgefäßsystems<br />

(LGS) aktiviert wird.<br />

Schlussendlich verläuft dadurch die<br />

Drainage über aktivierte Lymphgefäße<br />

bis hin zum Ziel einer nahegelegenen<br />

regionären Lymphknotengruppe<br />

[8]. IPK+ unterstützt dabei insofern,<br />

als die Manschetten möglichst nahe<br />

an die anzusteuernde Lymphknotengruppe<br />

heranreichen oder diese im<br />

Optimalfall miteinschließen. Somit<br />

kann z. B. mittels einer entsprechend<br />

unterpolsterten Hosenmanschette,<br />

die bis über den Bauchnabel reicht,<br />

nicht nur auf die inguinalen Lymphknoten<br />

eingewirkt werden, sondern<br />

auch Ödemflüssigkeit aus der unteren<br />

Körperhälfte in das Tributargebiet der<br />

axillären Lymphknoten verschoben<br />

werden (Abb. 5).<br />

Weitere Vorteile der IPK+ bestehen<br />

darin, dass über Polsterungen<br />

anatomische Strukturen bewusst<br />

morphologisch verändert werden,<br />

da anwendende Personen nur so Einfluss<br />

auf die Druckübertragung von<br />

der luftgefüllten Manschette auf die<br />

Haut nehmen können. Über diesen<br />

Weg lassen sich dann Regionen behandeln,<br />

die ansonsten mit der klassischen<br />

IPK nicht erreicht werden. Bekannte<br />

Schwachstellen in der Knieund<br />

Leistenregion [22] sowie der unteren<br />

Rumpfquadrante, die ebenfalls<br />

von der IPK itA nur schlecht erfasst<br />

werden, sind hingegen durch Polsterungen<br />

gut in den Griff zu bekommen<br />

[1, 23]. Veröffentlicht wurden über<br />

Handmessungen und Fotografien gewonnene<br />

Ergebnisse aus Praxistests<br />

des Autors und seines Teams. Bei Patienten<br />

mit Lymphödemen an den Extremitäten<br />

wurden dabei nach 60-minütigen<br />

IPK-itA- und IPK+-Anwendungen<br />

gewonnene Entstauungsergebnisse<br />

verglichen. Auffällig waren<br />

milde Ödemzunahmen im Kniebereich<br />

und proximal am Oberschenkel.<br />

Abb. 5 IPK+-Anwendung in einer entsprechend unterpolsterten Hosenmanschette, die<br />

bis über den Bauchnabel reicht. So kann nicht nur auf die inguinalen Lymphknoten eingewirkt<br />

werden, sondern auch Ödemflüssigkeit aus der gesamten unteren Körperhälfte in<br />

das Tributargebiet der axillären Lymphknoten verschoben werden, siehe auch [24].<br />

Hingegen war die ödemverdrängende<br />

Wirkung unter IPK+ weitaus stärker<br />

und auch durchgängig feststellbar. In<br />

einer im Dezember 2022 veröffentlichten<br />

Studie der Universitätsmedizin<br />

Greifswald wird dies bestätigt [1].<br />

In dieser Studie waren 18 Patienten<br />

mit Lymphödemen der Beine eingeschlossen<br />

und erfuhren eine Komplexe<br />

Physikalische Entstauungstherapie<br />

bis zu einem Volumenminimum<br />

und einer nachweisbaren Ödemreduktion.<br />

Hierfür wurden die Patienten<br />

täglich mit Hilfe 3D-gestützter<br />

Volumenrekonstruktion vermessen.<br />

Nach dem Eintreten des Volumenminimums<br />

erfolgte eine weitere Entstauungstherapie;<br />

verglichen wurden<br />

dabei Ergebnisse nach erfolgten IPKund<br />

IPK+-Anwendungen. Über IPK+<br />

konnte eine signifikant stärkere Volumenreduktion<br />

insbesondere auch<br />

in der Knieregion gezeigt werden als<br />

vergleichsweise mittels IPK itA. In der<br />

Erhaltungsphase wurden die Patienten<br />

mit medizinischen Kompressionsstrümpfen<br />

versorgt. Diese zeigten<br />

sich nach Entlassung geeignet, das<br />

Wiederanschwellen der Beine nach<br />

KPE in den Follow-up-Visiten bis zu 6<br />

Wochen zu konservieren.<br />

Bei Patient:innen mit Schwellungen<br />

im Genitalbereich wird in der<br />

Leitlinie von einer Therapie mittels<br />

IPK itA abgeraten. Eine sehr gute<br />

ödemverdrängende Wirkung im<br />

Rumpf- und Genitalbereich kann<br />

aber nach regelgerechtem Aufbringen<br />

von Polsterungen erreicht werden.<br />

In bisher noch jedem Fall gelang<br />

dies unabhängig vom Geschlecht. Fotografien,<br />

die den Zustand vor und<br />

nach solchen IPK+-Therapien zeigen,<br />

wurden bereits veröffentlicht [9, 24].<br />

Bisweilen noch hypothetisch, aber<br />

durchaus vorstellbar wäre, dass unter<br />

IPK+-Anwendungen, die wie auch bei<br />

der MLD nur mit leichtem Druck ausgeführt<br />

werden, eine Steigerung der<br />

Lymphangiomotorik erzielt wird, da<br />

die unebenen Oberflächen die Wandungen<br />

der epifaszialen Lymphgefäße<br />

erreichen müssten. Selbst zu den<br />

reichlich zwischen den derb strukturierten<br />

Lymphknoten liegenden<br />

Lymphgefäßen, die über MLD kaum<br />

erreicht werden, sollten die über die<br />

kleinen Schaumstoffwürfel ausgeübten<br />

Druckreize auch dort gut appliziert<br />

werden können.<br />

Erfahrungen<br />

1. Zustand nach Liposuktion: Bei<br />

dieser Patientinnen-Gruppe verfügt<br />

der Anwender in enger ärztlicher<br />

Kooperation seit 2017 über<br />

Erfahrung aus der Therapie von<br />

weit mehr als 30 Fällen. Bei den Betroffenen<br />

Frauen imponieren postoperativ<br />

in der gesamten unteren<br />

Körperhälfte ausgeprägte posttraumatische<br />

von Hämatomen begleitete<br />

Ödeme. Die Patientinnen sind 24<br />

Stunden postoperativ und daher zu<br />

Beginn der ersten Therapiesitzungen<br />

sehr berührungsempfindlich;<br />

die Bewegung ist deutlich einge-<br />

22<br />

Erschienen in: ORTHOPÄDIE TECHNIK 11/23


Kompression<br />

schränkt; starke Schmerzzustände<br />

sind die Regel. Auch wenn ein<br />

solcher Zustand nicht in einen direkten<br />

Bezug zu posttraumatischen<br />

Zuständen, wie sie bei Athletinnen<br />

und Athleten vorkommen, gestellt<br />

werden kann, sind die gesammelten<br />

Erfahrungen übertragbar, weil<br />

es letztendlich in der Therapie<br />

nicht auf die Ursache einer Traumatisierung<br />

ankommt. Interessant ist,<br />

dass IPK+-Behandlungen selbst bei<br />

einem solch hohen Schweregrad an<br />

Traumatisierung in bisher jedem<br />

Fall gut verträglich, d. h. schmerzfrei<br />

und ohne Komplikationen mit<br />

guten Endresultaten, durchgeführt<br />

werden konnten. Mehrheitlich sind<br />

die Rückmeldungen der Patientinnen<br />

u. a. im Hinblick auf die Reduktion<br />

von Schmerz und die Verbesserung<br />

der Beweglichkeit sehr<br />

erfreulich. Unter den IPK+-Anwendungen<br />

kommt es verglichen mit<br />

MLD zu einer erheblich stärkeren<br />

sicht- und tastbaren Ödemreduktion.<br />

Ab einem bestimmten Schweregrad<br />

gelingt es sogar, die passager<br />

wiederkehrenden Schwellungen<br />

innerhalb einer Sitzung vollständig<br />

zu eliminieren. Palpatorisch stellen<br />

sich die entstauten Bereiche letztendlich<br />

meist als ein gut gelockertes<br />

und unauffälliges Hautbild dar.<br />

Unerlässlich ist eine begleitende<br />

Therapie mittels qualitativ hochwertiger<br />

medizinischer Kompressionsstrumpfversorgung<br />

(KSV).<br />

2. Zustand nach operativen Eingriffen<br />

im Bereich der Knieregion:<br />

In enger Analogie zu dem vorangegangenen<br />

Bericht bestehen ebenso<br />

gute Erfahrungen auch bei dieser<br />

Patientengruppe und der Durchführung<br />

eines solchen Therapieregimes:<br />

Patient:innen erhalten<br />

auch hier präoperativ eine KSV<br />

und werden im Optimalfall zusammen<br />

mit einer weiteren Person<br />

aus dem häuslichen Umfeld durch<br />

eine Fachkraft in der Anwendung<br />

von IPK+ unterwiesen, die auch<br />

die erste Anwendung überwacht.<br />

Weitere IPK+-Behandlungen können<br />

Patient:innen, begleitet von<br />

Visiten im Haus oder einer Klinikeinrichtung,<br />

stets in Verbindung<br />

mit der bereits vorhandenen<br />

KSV, selbstständig ausführen.<br />

Leihweise steht die Technik den<br />

Patient:innen rund um die Uhr<br />

zur Verfügung, so ist jede von<br />

Ärzt:innen, Therapeut:innen und<br />

Patient:innen als sinnvoll zu erachtende<br />

Dosierung gewährleistet.<br />

Die Therapieziele sind auch<br />

hier die Vermeidung möglicher<br />

Komplikationen, die Verringerung<br />

der Schmerzhaftigkeit und die Beschleunigung<br />

des Heilungsverlaufs.<br />

3. Regeneration: IPK+-Behandlungen<br />

wurden auch mit einer Sportlerin<br />

(Leichtathletin) und einer<br />

ebenfalls professionell arbeitenden<br />

Balletttänzerin durchgeführt, die<br />

bereits reichlich Erfahrung mit<br />

IPK itA hatten. Beide begaben sich<br />

regelmäßig über 2 Monate zu IPK+-<br />

Sitzungen nach Training, Auftritten<br />

bzw. Wettkämpfen und schätzen<br />

diese als eine sehr wirkungsvolle<br />

Maßnahme zur Regeneration<br />

ein. Die Anwendungen wurden<br />

mittels Hosenmanschette durchgeführt,<br />

sodass die Unterpolsterung<br />

auch über den inguinalen Lymphknoten<br />

wirken konnte. Übereinstimmend<br />

äußerten sich beide Probandinnen,<br />

dass sie eine Anwendung<br />

mit IPK+ als wirkungsvoller<br />

und angenehmer empfanden als<br />

eine ohne solche Unterpolsterung.<br />

Palpatorisch konnte der Anwender<br />

feststellen, dass sich Schwellungen<br />

der regionären Lymphknoten verminderten<br />

[2].<br />

Wer kann die Methode<br />

anwenden, und wie sollte<br />

diese eingesetzt werden?<br />

Im Idealfall sollte eine Behandlung<br />

von Ärzt:innen und Lymphdrainage-Therapeut:innen<br />

mit bereits bestehender<br />

Erfahrung in der Therapie<br />

von posttraumatischen bzw. postoperativen<br />

Ödemen eingeleitet werden;<br />

denn eine Unterweisung im therapeutischen<br />

Umgang mit dieser Problematik<br />

ist zu dem Zeitpunkt bereits über<br />

einen Ausbildungslehrgang in MLD/<br />

KPE erfolgt. Bezüglich der Intensität,<br />

Zeitdauer etc. orientiert man sich bei<br />

einem Einsatz der IPK+ analog an einer<br />

bereits vermittelten Vorgehensweise.<br />

Grundsätzlich steht der Autor<br />

darüber hinaus gerne beratend zur<br />

Verfügung.<br />

Kontraindikationen: Es gelten bei der<br />

Anwendung der IKP+ die für die MLD/<br />

KPE bekannten und in den Leitlinien aufgeführten<br />

Gegenanzeigen [11, 14].<br />

IPK+-Anwendungen müssen für<br />

die Patienten beschwerdefrei durchgeführt<br />

werden können; ist dies nicht<br />

gegeben, sollte keine IPK+-Behandlung<br />

durchgeführt werden.<br />

Klaustrophobie (Platzangst) macht<br />

ab bestimmten Schweregraden eine<br />

Anwendung unter Umständen nicht<br />

möglich. Sehr selten ereignen sich allergische<br />

Hautreaktionen nach einem<br />

Kontakt mit Schaumstoffen.<br />

Fazit<br />

IPK+ arbeitet, basierend auf Intermittierender<br />

Pneumatischer Kompression<br />

in traditioneller Arbeitsweise, mit<br />

zusätzlichem Einsatz von definierten<br />

Multifunktionsunterpolsterungen.<br />

Im Vergleich zu einer herkömmlichen<br />

Art der IPK-Anwendung ergeben sich<br />

folgende Vorteile:<br />

– Die in einer Zeiteinheit mobilisierte<br />

Flüssigkeitsmenge fällt erheblich<br />

höher aus als mit der klassischen<br />

IPK bzw. mit manueller Lymphdrainage.<br />

Ein in diesem Zusammenhang<br />

neuer hypothetischer<br />

Erklärungsversuch ist, dass es neben<br />

anderen Faktoren über IPK+-<br />

Behandlungen gelingen könnte,<br />

die Viskosität eiweißreicher Ödeme<br />

zu reduzieren, um auf diesem Weg<br />

eine effektivere und schnellere Entstauung<br />

zu erzielen.<br />

– An den Extremitäten wird durchgehend<br />

eine gleichmäßige Ödemreduktion<br />

erreicht. Die bekannten<br />

Schwachstellen im Knie- und Leistenbereich,<br />

wie sie bei der IPK itA<br />

bestehen, können somit überwunden<br />

werden [1, 22, 23].<br />

– War es bisher eine alleinige Domäne<br />

der MLD/KPE, kräftezehrend<br />

und in zeitaufwendiger Handarbeit<br />

krankhaft verfestigtes Gewebe zu<br />

behandeln, gelingt es nun auch,<br />

den epifaszialen Gewebezylinder<br />

großflächig über einen apparativen<br />

Weg effektiv zu erweichen und zu<br />

entstauen.<br />

– Bisher erschien es so, dass eine<br />

entstauende Wirkung genital<br />

und in den unteren Rumpfquadranten<br />

über IPK nicht möglich<br />

ist [14]. Ausschließlich MLD/KPE<br />

wurde innerhalb der konservativen<br />

Therapie zugetraut, dort eine<br />

Erschienen in: ORTHOPÄDIE TECHNIK 11/23<br />

23


Kompression<br />

Wirkung zu erzielen. Wird jedoch<br />

mittels elastischem Polstermaterial<br />

unter der IPK-Manschette ein<br />

morphologischer Umbau vorgenommen,<br />

ermöglicht diese Maßnahme<br />

eine zielgerichtete Druckübertragung<br />

und somit auch eine<br />

signifikant entstauende Wirkung<br />

auf alle Strukturen innerhalb der<br />

Rumpfquadranten.<br />

– IPK+ ist kostengünstig, schnell<br />

erlernbar und steht Patient:innen<br />

jederzeit an jedem Ort zur Verfügung.<br />

Darüber hinaus wird eine<br />

Anwendung mit Unterpolsterung<br />

signifikant als deutlich angenehmer<br />

empfunden als IPK auf traditionelle<br />

Weise.<br />

Danksagung<br />

Mein besonderer Dank gilt dem Präsidenten<br />

der Deutschen Rheologischen<br />

Gesellschaft, Prof. Dr. Ulrich Handge,<br />

der sich viel Zeit nahm, um sich zum<br />

einen mit dem ihm bisweilen fremden<br />

Thema der Kompressionstherapie zu<br />

befassen und zum anderen den rheologischen<br />

Teil dieser Publikation beratend<br />

zu begleiten. Außerdem danke ich<br />

herzlich Dr. med. Navina Kuß, welche<br />

sich wissenschaftlich u. a. im Bereich<br />

der Rheologie bewegt, mich ebenfalls<br />

gut beriet und mich zu weiterführenden<br />

Literaturquellen führte. Die Bestätigung<br />

beider Wissenschaftler:innen,<br />

dass mein Ansatz in die richtige Richtung<br />

geht, erfreut mich sehr und bedeutet<br />

mir einen großartigen Ansporn.<br />

Der Autor:<br />

Martin Morand<br />

Fachlehrer für Manuelle Lymphdrainage/Komplexe<br />

Physikalische<br />

Entstauungstherapie<br />

morand@t-online.de<br />

www.methode-morand.de<br />

Begutachteter Beitrag/reviewed paper<br />

Zitation: Morand M.Therapie mittels IPK plus definierte Polsterungen (IPK+) bei posttraumatischen bzw. postoperativen Ödemen unter Berücksichtigung der<br />

bio che mischen und biophysikalischen Eigenschaften. Orthopädie Technik, 2023; 74 (11): 48 – 54<br />

Literatur:<br />

[1] Konschake W et al. Optimisation of intermittent pneumatic Compression<br />

in patients with Lymphoedema of the legs. European Journal<br />

of Dermatology, 2022; 32: 781–792. doi: 10.1684/ejd. 2022.4382<br />

[2] Morand M. Führt eine definierte Abpolsterung unter der Intermittierenden<br />

pneumatischen Kompressionstherapie (IPK-Plus) zu<br />

einer Verbesserung der Entstauung beim Lymphödem? Lymphologie<br />

in Forschung und Praxis, 2019; 2 (23): 108–111<br />

[3] Morand M. Methode IPK +. The IPC + Method. https://www.me<br />

thode-morand.de/ (Zugriff am 15.07.2023)<br />

[4] Schwahn-Schreiber C. IPK-Leitlinie. In: Raabe E, Reich-Schupke<br />

S (Hrsg.). Intermittierende pneumatische Kompressionstherapie.<br />

Ein Leitfaden für Klinik und Praxis. Köln: Wirtschafts- und Praxisverlag,<br />

2020: 35<br />

[5] Lichtenthal A. Regeneration im Sport In: Raabe E, Reich-Schupke<br />

S (Hrsg.). Intermittierende pneumatische Kompressionstherapie.<br />

Ein Leitfaden für Klinik und Praxis. Köln: Wirtschafts- und Praxisverlag,<br />

2020: 113<br />

[6] Basbaum A et al. Cellular and molecular mechanisms of pain.<br />

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für die Praxis. Köln: Viavital, 2014: 62<br />

[8] Weissleder H, Schuchhardt C (Hrsg.). Erkrankungen des Lymphgefäßsystems.<br />

Köln: Viavital, 2015: 47, 269<br />

[9] Morand M. Mobilisierende Gelenkdrainage (Manuelle Lymphdrainage<br />

der Gelenke). In: Raabe E, Reich-Schupke S (Hrsg.). Intermittierende<br />

pneumatische Kompressionstherapie. Ein Leitfaden für<br />

Klinik und Praxis. Köln: Wirtschafts- und Praxisverlag, 2020: 122<br />

[10] Winter J. Mobilisierende Gelenkdrainage (manuelle Lymphdrainage<br />

der Gelenke). In: Földi M, Földi E, Kubik S (Hrsg.). Lehrbuch<br />

der Lymphologie. 6. Auflage. München: Elvisier, 2005: 708<br />

[11] S2k-Leitlinie Diagnostik und Therapie der Lymphödeme<br />

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Viscosity and Protein-Protein Interactions: Insights<br />

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https://www.methode-morand.de/?lang=de&page=methode-mo<br />

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piel_2 (Zugriff am 15.07.2023)<br />

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Deutschland: Karlsruhe: Thermo Electron, 2004<br />

[26] Jelzko F, Koslowski B. Viskosität. Versuchsanleitung Ulm: Universität<br />

Ulm, 2023. https://www.uni-ulm.de/fileadmin/website_<br />

uni_ulm/nawi.inst.110/Grundpraktikum/Versuchsanleitungen/<br />

V05_viskositaet.pdf (Zugriff am 15.07.2023)<br />

24<br />

Erschienen in: ORTHOPÄDIE TECHNIK 11/23


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Kompression<br />

E. Mendoza<br />

Anwendung von Kompression<br />

gegen Müdigkeit, Übelkeit und<br />

Erbrechen in der Frühschwangerschaft<br />

Use of Compression Against Fatigue, Nausea and Vomiting<br />

in Early Pregnancy<br />

Die vorliegende Arbeit beleuchtet<br />

Forschungsergebnisse zur Anwendung<br />

von Kompressionsbestrumpfungen<br />

in der Frühschwangerschaft.<br />

Die Studie schloss 60 Probandinnen<br />

ein, bei denen mittels der Fragebögen<br />

NVPQoL, PUQE und CIVIQ Auskunft<br />

über die Trage erfahrungen<br />

erhoben wurde. Es konnte nachgewiesen<br />

werden, dass die Wirksamkeit<br />

einer Kompressionsversorgung<br />

gegen Müdigkeit, Übelkeit<br />

und Erbrechen in der Frühschwangerschaft<br />

genauso hoch ist wie bei<br />

aktuell zugelassenen Medikamenten<br />

– ohne die damit verbundenen<br />

Nebenwirkungen.<br />

Schlüsselwörter: Kompressionsstrümpfe,<br />

Schwangerschaft, Müdigkeit,<br />

Übelkeit, Erbrechen<br />

This study examines the results of<br />

research on the use of compression<br />

stockings in early pregnancy. The<br />

study included 60 women from<br />

whom information on their experience<br />

with compression was collected<br />

using the NVPQoL, PUQE and CIVIQ<br />

questionnaires. It was shown that<br />

the effectiveness of compression<br />

stockings against fatigue, nausea<br />

and vomiting in early pregnancy was<br />

just as high as for currently approved<br />

medication – without the associated<br />

side effects.<br />

Key words: compression stockings,<br />

pregnancy, fatigue, nausea, vomiting<br />

Einleitung<br />

Eine Schwangerschaft verursacht hormonelle<br />

Veränderungen; im ersten<br />

Drittel werden insbesondere Gestagene<br />

ausgeschüttet, das sogenannte<br />

Gelbkörperhormon, das verhindern<br />

soll, dass das Kind von der Gebärmutter<br />

abgestoßen wird und dass es zu einer<br />

Regelblutung kommt. Zusätzlich<br />

wird das Hormon β-HCG (HCG = Humanes<br />

Choriongonadotropin) ausgeschüttet,<br />

mit dem man die Schwangerschaft<br />

im Blut nachweisen kann.<br />

β-HCG und Gestagene haben eine<br />

ganz wesentliche Wirkung auf glatte<br />

Muskulatur: Sie verhindern, dass die<br />

glatte Muskulatur – die sogenannte<br />

unwillkürliche Muskulatur – sich zusammenzieht.<br />

Glatte Muskulatur befindet<br />

sich in den Wänden der Gefäße,<br />

in der Gebärmutter und auch in<br />

den Wänden des kompletten Magen-<br />

Darm-Trakts. Die Wände von Venen,<br />

Magen und Darm büßen also ihre<br />

muskuläre Wirksamkeit zumindest<br />

teilweise ein.<br />

Außerdem steigt das gesamte Blutvolumen<br />

einer Frau im ersten Drittel<br />

der Schwangerschaft um etwa einen<br />

Liter an. Der Zuwachs an Blut und<br />

die geweiteten Wadenvenen führen<br />

bei frühschwangeren Frauen häufig<br />

zu Problemen beim Stehen: In den<br />

Beinen tritt ein Spannungsgefühl sowie<br />

eine Schwellung auf. Dies erklärt<br />

auch, warum sich häufig Schwindelgefühle<br />

nach schnellem Aufstehen<br />

einstellen; möglicherweise bedingen<br />

diese beiden Effekte auch die für die<br />

Frühschwangerschaft typische Übelkeit<br />

– unmittelbar im Magen-Darm-<br />

Trakt oder indirekt durch einen Blutdruckabfall.<br />

Diese Effekte sind noch nicht abschließend<br />

erforscht. Nachgewiesen<br />

wurde aber bereits folgender Zusammenhang:<br />

Je höher der Blutwert der<br />

Schwangerschaftshormone β-HCG<br />

(und damit auch die Stärke der Übelkeit)<br />

im ersten Drittel der Schwangerschaft,<br />

desto gesünder wird das Kind:<br />

Es wird größer, es wird häufiger zum<br />

regulären Endtermin einer Schwangerschaft<br />

geboren, es stirbt seltener<br />

während der Schwangerschaft. Es<br />

wird vermutet, dass dieser Effekt ein<br />

Schutzmechanismus des Körpers ist,<br />

der dazu dient, Frauen vor schwerer<br />

körperlicher Belastung während der<br />

Schwangerschaft zu schützen [1].<br />

Heute gibt es Medikamente gegen<br />

Übelkeit; wenige davon sind in<br />

der Schwangerschaft zugelassen, einige<br />

erst seit relativ kurzer Zeit [2].<br />

Die Nebenwirkungen dieser Medikamente<br />

– insbesondere die Wirkstoffe<br />

Doxylaminsuccinat und Pyridoxin -<br />

hydrochlorid, enthalten etwa im Medikament<br />

„Cariban® 10 mg/10 mg“ –<br />

sind jedoch nicht unerheblich. Daher<br />

sind nebenwirkungsfreie Alternativen<br />

höchst willkommen.<br />

Stand der Forschung:<br />

Wirksamkeit von Kompression<br />

in der Schwangerschaft<br />

allgemein<br />

In einer groß angelegten italienischen<br />

Studie konnten Allegra und<br />

Kollegen nachweisen, dass venöse<br />

Symptome wie Schweregefühl, Spannung<br />

und Schwellung bei Schwangeren<br />

durch eine Kompressionsbehandlung<br />

nachhaltig gelindert werden<br />

können [3]. In der Studie wurden<br />

Kompressionskniestrümpfe der Klasse<br />

I verwendet, die ohne Einschränkungen<br />

auch in Deutschland verordnet<br />

werden können.<br />

26<br />

Erschienen in: ORTHOPÄDIE TECHNIK 12/22


Kompression<br />

Für die Studie füllten 100 Frauen<br />

zwischen Woche 6 und Woche 28 ihrer<br />

Schwangerschaft zunächst einen<br />

CIVIQ-Fragebogen (siehe unten) zu<br />

ihren venenbedingten Beschwerden<br />

aus und wurden dann daraufhin befragt,<br />

ob sie Kompressionsstrümpfe<br />

tragen würden. Diese sollten bis zum<br />

Ende der Schwangerschaft so oft wie<br />

möglich tagsüber getragen werden.<br />

Bei denen, die eine Kompressionsversorgung<br />

wünschten, wurde im weiteren<br />

Verlauf erhoben, wie häufig sie diese<br />

trugen. Bei allen Teilnehmerinnen<br />

wurde im weiteren Verlauf der CIVIQ<br />

erneut abgefragt. Die Ergebnisse:<br />

– 30 Probandinnen (30 %) wollten<br />

keine Kompression tragen (ihr mittlerer<br />

CIVIQ-Wert lag bei 37).<br />

– 70 Probandinnen (70 %) wünschten<br />

eine Verordnung; davon trugen<br />

10 Frauen mindestens 2 Tage pro<br />

Woche die Kompressionsbestrumpfung<br />

(ihr CIVIQ-Wert lag zu Beginn<br />

im Mittel bei 44); 60 Frauen trugen<br />

täglich die Kompressionsversorgung<br />

(der CIVIQ-Mittelwert zu Beginn<br />

lag bei 48).<br />

Abb. 1 Ergebnisse der Studie von Allegra et al. [3]: Entwicklung der venösen Beschwerden<br />

während der Schwangerschaft bei Probandinnen, die die Kompression täglich trugen<br />

(gelb), bei denen, die sie 2 Tage pro Woche trugen (blau), und bei denen, die sie<br />

nicht trugen (grün). Die Ausgangswerte unterschieden sich; unter Kompression nahmen<br />

die Beschwerden dosisabhängig ab, ohne Kompression nahmen sie zu.<br />

Quelle: Erika Mendoza<br />

Somit war der CIVIQ-Wert bei der<br />

Aufnahme in die Studie bei denjenigen<br />

Frauen deutlich geringer, die keine<br />

Kompressionsversorgung wünschten.<br />

Der während der Schwangerschaft<br />

erneut abgefragte CIVIQ verhielt<br />

sich wie folgt:<br />

– Bei den Frauen mit Kompression<br />

nahm der CIVIQ-Wert kontinuierlich<br />

ab; bei Kompression täglich:<br />

- 14,4 (+/– 9,6) Punkte, und zwar von<br />

48,8 (+/– 15,7) auf 34,4 (+/– 11,5); bei<br />

Kompression zweimal pro Woche:<br />

- 10,7 (+/– 11,3) Punkte, und zwar<br />

von 43,6 (+/– 16,1) auf 32,9 (+/– 8,8).<br />

– Bei den Frauen ohne Kompression<br />

ergab sich eine Erhöhung des<br />

CIVIQ-Werts (und damit eine<br />

Verschlechterung) von 36,6<br />

(+/– 15,6) auf 40,9 (+/– 17,7).<br />

Die Ergebnisse sind in Abbildung 1<br />

dargestellt.<br />

In der Studie konnten die Autoren<br />

feststellen, dass diejenigen Patientinnen,<br />

die keine Strümpfe gewünscht<br />

hatten, zu Anfang auch kaum über<br />

Beschwerden klagten. Die Beschwerden<br />

stiegen bei dieser unbehandelten<br />

Gruppe im Laufe der Schwangerschaft<br />

jedoch langsam an. Jene Patientinnen<br />

wiederum, die die Strümpfe getragen<br />

hatten, teilten sich in die Gruppen<br />

„häufiges Tragen“ und „seltenes Tragen“<br />

auf, und man konnte nachweisen,<br />

dass die Probandinnen mit den<br />

eingangs stärksten Symptomen auch<br />

am häufigsten die Strümpfe trugen.<br />

Die Autoren schlussfolgern daraus,<br />

dass Frauen mit Symptomen einer<br />

chronischen venösen Insuffizienz<br />

eine deutliche Linderung dieser<br />

Symp tome unter einer Kompressionsversorgung<br />

in der Schwangerschaft<br />

erfahren und dass diese Wirkung<br />

dosis abhängig ist, also von der Tragedauer<br />

beeinflusst wird.<br />

Fragestellung<br />

Die Fragestellung der im Folgenden<br />

erörterten Studie ergab sich im Zusammenhang<br />

mit einer Untersuchung<br />

zur Wirkweise von Kompression<br />

auf die Wadenmuskelpumpentleerung<br />

(mittels Luft-Plethysmografie).<br />

Als Zufallsbefund ergab sich<br />

dabei, dass schwangere Probandinnen<br />

von einer Abnahme der Übelkeit<br />

während der Studiendauer berichteten.<br />

Um einen möglichen Zusammenhang<br />

zu erhärten, wurden Patientinnen<br />

der Autorin, die in den darauffolgenden<br />

Monaten in der Frühschwangerschaft<br />

mit Verdacht auf<br />

eine Thrombose vorgestellt wurden,<br />

daraufhin befragt, ob sie Übelkeit<br />

verspürten. Nach dem Beginn der<br />

Kompressionstherapie wurden die<br />

Patientinnen ein bis zwei Wochen<br />

nach der Verordnung telefonisch befragt.<br />

Alle befragten Patientinnen bestätigten,<br />

die Übelkeit habe plötzlich<br />

deutlich abgenommen. Hieraus ergab<br />

sich die Hypothese über einen möglichen<br />

Zusammenhang zwischen einer<br />

Kompressionstherapie und einer Linderung<br />

typischer Beschwerden in der<br />

Frühschwangerschaft, der empirisch<br />

belegt werden sollte.<br />

Die im Folgenden vorgestellte forschungsinitiierte,<br />

prospektive, randomisierte<br />

und per Crossover-Design<br />

kontrollierte Studie wurde nach einer<br />

Unbedenklichkeitserklärung seitens<br />

der Ethikkommission der Ärztekammer<br />

Hannover und mit Unterstützung<br />

durch die Firma Sigvaris durchgeführt,<br />

die die Kompressionsstrümpfe<br />

stellte und die Vergütung des Statistikers<br />

übernahm, der die erhobenen<br />

Erschienen in: ORTHOPÄDIE TECHNIK 12/22<br />

27


Kompression<br />

Quelle: Erika Mendoza<br />

Quelle: Erika Mendoza<br />

Abb. 2 Auswertung der Ergebnisse zum Fragebogen NVPQoL<br />

während der 4 Studienwochen. In Blau ist die Entwicklung<br />

der Übelkeit nach Lacroix [7] (abnehmend ab Woche 11)<br />

dargestellt, im Vergleich dazu die Entwicklung zwischen Anfangstag<br />

(„Baseline“) und der Kontrolle nach 2 und 4 Wochen.<br />

Die Verläufe ohne Kompression (schwarz) laufen relativ<br />

parallel zur blauen Linie, die Verläufe mit Kompression<br />

(gelb) im Vergleich dazu steil abnehmend.<br />

Abb. 3 Darstellung der Ergebnisse im Vergleich zu den Werten<br />

der Studie von Lacasse [5]); links die Werte der Gruppe mit Kompression<br />

in der 1. Phase, rechts die Gruppe mit Kompression in<br />

der 2. Phase. Der gefüllte Punkt visualisiert die Kontrolle nach<br />

der Phase mit Kompression; der grüne Messwert ist der Ausgangswert;<br />

der Messwert mit dem X in Gelb oder Vio lett betrifft die<br />

Phase ohne Kompression. Auch hier wird deutlich, dass die Werte<br />

des untersuchten Kollektivs leicht über den Werten von Lacasse<br />

liegen (dort wurden aber auch Frauen ohne Beschwerden eingeschlossen)<br />

und dass sich die Beschwerden bei Probandinnen mit<br />

Kompression deutlich besser entwickelt haben.<br />

Daten auswertete. Die Autorin selbst<br />

blieb stets unabhängig und erhielt für<br />

ihre Arbeit keine Vergütung.<br />

Studiendesign<br />

Probandinnen<br />

Das Studienkonzept sah vor, 60 Frauen<br />

während der Frühschwangerschaft<br />

zwei Wochen lang mit Kompressionsversorgung<br />

und zwei Wochen lang<br />

ohne Kompressionsversorgung ihren<br />

täglichen Verrichtungen nachgehen<br />

zu lassen und sie dabei mittels Fragebögen<br />

und Untersuchungen zu begleiten.<br />

Da Übelkeit und Erbrechen ein Maximum<br />

in der 11. Schwangerschaftswoche<br />

aufweisen und dann kontinuierlich<br />

bis zur 20. Woche nachlassen,<br />

wurden zwei Gruppen vorgesehen:<br />

– Die erste Gruppe (30 Probandinnen)<br />

erhielt zu Beginn 2 Wochen<br />

lang eine Kompressionsversorgung<br />

(2 Paar „Sigvaris Cotton 222 knielang“),<br />

um dann 2 Wochen keine<br />

mehr zu tragen.<br />

– Die zweite Gruppe (30 Probandinnen)<br />

startete ohne Kompressionsversorgung,<br />

um dann in der 3. und<br />

4. Woche der Studie Kompressionsstrümpfe<br />

zu tragen.<br />

Die Reihenfolge, sprich die Gruppenzugehörigkeit,<br />

wurde randomisiert;<br />

so wurde vermieden, dass eine<br />

Wirkung durch die natürliche Abnahme<br />

der Symptome vorgetäuscht wurde.<br />

Eingeschlossen wurden Patientinnen,<br />

die milde bis mittelstarke Übelkeit<br />

und Erbrechen zeigten. Frauen mit<br />

schwerer Übelkeit wurden dem Hausarzt<br />

beziehungsweise dem Frauenarzt<br />

zur Therapie zurücküberwiesen; Frauen<br />

ganz ohne Übelkeitssymp tome<br />

konnten nicht aufgenommen werden,<br />

weil kein Symptom zum Beobachten<br />

und Behandeln vorlag. Eingeschlossen<br />

wurden nur Frauen, die kei-<br />

ne Krampfadern oder Schwellungen<br />

aufwiesen; sie mussten mit Serien-<br />

Kompressionsstrümpfen bestrumpfbar<br />

sein, da diese sofort angelegt werden<br />

mussten.<br />

Die Schwangerschaft musste bei<br />

der Aufnahme zwischen Woche 10<br />

und Woche 14 liegen; die Probandinnen<br />

durften keine zusätzlichen Erkrankungen<br />

haben. Die schriftliche<br />

Einwilligung zur Studie war ebenfalls<br />

Voraussetzung (diese konnte jederzeit<br />

ohne Angabe von Gründen zurückgezogen<br />

werden). Ausschlusskriterien<br />

waren ein Alter unter 18 Jahren sowie<br />

das Nichtvermögen, deutsch verfasste<br />

Fragebögen zu lesen und zu verstehen.<br />

Am ersten Untersuchungstag<br />

wurden all diese Kriterien mit einer<br />

körperlichen Untersuchung sowie<br />

einem Gespräch erfasst. Zudem<br />

wurden eine Thrombose oder ein<br />

Zustand danach sowie eine Varikose<br />

mittels Duplex-Sonografie ausge-<br />

28<br />

Erschienen in: ORTHOPÄDIE TECHNIK 12/22


Kompression<br />

Quelle: Erika Mendoza<br />

Abb. 4 Einzelnachweise der<br />

prozentualen Veränderung des<br />

NVPQoL-Wertes im Vergleich<br />

zum Ausgangswert in der Phase<br />

mit (orange) und ohne Kompression<br />

(blau). Oben wird zunächst<br />

der globale Wert („Total“) aufgeführt,<br />

sodann in die verschiedenen<br />

Bereiche aufgegliedert: Einschränkungen<br />

des Alltags, negative Gefühle,<br />

Müdigkeit und Brechreiz.<br />

Darunter sind die Werte zu den<br />

eigenen 4 Fragen über Müdigkeit<br />

und Schwindelgefühle angegeben;<br />

** bedeutet eine Signifikanz von<br />

p < 0,01, *** bedeutet eine<br />

Signifikanz von p < 0,001.<br />

schlossen. Schließlich mussten jene<br />

Patientinnen ausgeschlossen werden,<br />

bei denen die Körpermaße eine<br />

Versorgung mit einem Serienstrumpf<br />

nicht erlaubten, da sie ggf. sofort versorgt<br />

werden mussten.<br />

Waren alle Kriterien erfüllt, zogen<br />

die Patientinnen das Los, ob sie sofort<br />

oder erst nach zwei Wochen Kompressionsstrümpfe<br />

erhielten. In der<br />

Gruppe „Kompression in der 1. Phase“<br />

gab es zwei Schwangerschaftsverluste;<br />

daher mussten hier 32 Frauen<br />

aufgenommen werden, um insgesamt<br />

30 Ergebnisse auswerten zu können.<br />

In der Gruppe „Kompression in<br />

der 2. Phase“ fielen zwei Probandinnen<br />

ebenfalls wegen Kindsverlusts<br />

aus, zudem erschienen zum zweiten<br />

Termin sieben Frauen nicht wieder –<br />

möglicherweise waren sie enttäuscht,<br />

weil sie das Gefühl hatten, es sei<br />

„nichts geschehen“.<br />

Material und Methode<br />

Die Instrumente zur Messung der<br />

Wirksamkeit der Kompression auf<br />

Übelkeit und Erbrechen bestanden in<br />

drei validierten Fragebögen:<br />

1. NVPQoL-Fragebogen (NVPQoL =<br />

Nausea and Vomiting in Pregnancy<br />

Quality of Life), der die Symptome<br />

der letzten 14 Tage und deren<br />

Auswirkung auf die Lebensqualität<br />

abfragt [4];<br />

2. PUQE-Fragebogen (PUQE = Pregnancy-Unique<br />

Quantification of<br />

Emesis and Nausea), der abends<br />

ausgefüllt wird und die Häufigkeit<br />

der Episoden an Übelkeit sowie das<br />

tatsächliche Erbrechen am Tag<br />

erhebt [5].<br />

3. Außerdem wurde der aus der<br />

Venenheilkunde bekannte CIVIQ-<br />

Fragebogen (CIVIQ = Chronic<br />

Venous Insufficiency QoL Questionnaire)<br />

eingesetzt, der die Auswirkungen<br />

der venentypischen<br />

Symptome auf die Lebensqualität<br />

abfragt [6].<br />

Abb. 5 Diagramm über die Veränderung der Müdigkeit durch<br />

das Tragen von Kompressionsbestrumpfung. Die Müdigkeit<br />

nimmt demnach in der Gruppe ohne Kompression in der<br />

1. Phase (gestrichelte Linie) zu und fällt mit Kompression<br />

deutlich ab. In der Gruppe mit Kompression in der 1. Phase<br />

(durchgezogene Linie) fällt sie dementsprechend stark ab und<br />

steigt nach Ablegen der Kompression wieder deutlich an. Auch<br />

die während der Schwangerschaft fortschreitenden venösen<br />

Symptome der Beine wie Schweregefühl und Schwellung konnten<br />

erwartungsgemäß durch die Kompressionsstrümpfe in der<br />

entsprechenden Phase verbessert werden (s. Abb. 6).<br />

Quelle: Erika Mendoza<br />

Erschienen in: ORTHOPÄDIE TECHNIK 12/22<br />

29


Kompression<br />

Quelle: Erika Mendoza<br />

Abb. 6 Prozentuale Veränderung des venösen Lebensqualitätsscores (CIVIQ), der sich ohne Kompression insgesamt (s. oben)<br />

und in fast allen Einzelbereichen verschlechtert (bis auf den sozialen Bereich), unter Kompression dagegen deutlich verbessert;<br />

* bedeutet eine Signifikanz von p < 0,05; *** bedeutet eine Signifikanz von p < 0,001.<br />

Aufgrund der eigenen Erfahrungen<br />

der Autorin, die selbst starke Müdigkeit<br />

in der Frühschwangerschaft verspürt<br />

hatte, die sich durch Kompressionsstrümpfe<br />

lindern ließ, wurde der<br />

zuletzt genannte Fragebogen um vier<br />

Fragen zu Müdigkeit und Schwindelgefühl<br />

ergänzt.<br />

Durchführung<br />

Die schwangeren Frauen füllten zu<br />

Beginn, nach zwei Wochen und am<br />

Ende der Untersuchung jeweils einen<br />

validierten Fragebogen zu folgenden<br />

Aspekten aus:<br />

– zur Häufigkeit von Übelkeit und<br />

Erbrechen sowie zu deren Auswirkungen<br />

auf die Lebensqualität<br />

(NVPQoL);<br />

– zu den Beinbeschwerden bei chronischer<br />

venöser Insuffizienz<br />

(CIVIQ).<br />

– Jeden Abend füllten sie zusätzlich<br />

einen PUQE-Fragebogen aus: zur Anzahl<br />

der Stunden mit Übelkeit, zur<br />

Anzahl an wirklichem Erbrechen<br />

und zur Anzahl der Stunden, in denen<br />

die Kompression getragen wurde<br />

(in der Phase, in der sie diese tragen<br />

sollten).<br />

Um das Tragen der Kompressionsstrümpfe<br />

während der Phase ohne<br />

Kompression sicher auszuschließen,<br />

wurden die Strümpfe für diese Zeit zurückgegeben<br />

oder nicht ausgehändigt.<br />

Abgesehen von den Übelkeitssymptomen<br />

wurde der für Venenbeschwerden<br />

konzipierte CIVIQ-Fragebogen den Patientinnen<br />

auch am Tag der Aufnahme<br />

in die Studie sowie an den Tagen 14<br />

und 28 zum Ausfüllen vorgelegt.<br />

Ergebnisse<br />

Die Diagramme in den Abbildungen<br />

2 bis 6 vermitteln die Ergebnisse der<br />

Untersuchungen zu den einzelnen<br />

Aspekten. Zu erkennen ist der natürliche<br />

Abfall der Symptome, der laut<br />

Lacroix und Kollegen [7] ohnehin ab<br />

Woche 11 einsetzt. Es lässt sich beobachten,<br />

dass bei den Patientinnen<br />

in der Gruppe ohne Kompression ein<br />

Symptomverlauf besteht, der fast parallel<br />

zu dieser Kurve verläuft (Abb. 2).<br />

Somit konnte zunächst nachgewiesen<br />

werden, dass das Studienkonzept<br />

stimmig war, da ähnliche Ergebnisse<br />

in der Phase ohne Kompression ermittelt<br />

wurden wie in der kanadischen<br />

Studie in Bezug auf die schwangerschaftsbedingte<br />

Übelkeit unbehandelter<br />

Schwangerer [4, 5, 7].<br />

In der Phase mit Kompression besserten<br />

sich die Symptome der Übelkeit<br />

und des Erbrechens deutlich<br />

(Abb. 2–4), Müdigkeit und Schwindelgefühl<br />

sogar geradezu frappierend<br />

(Abb. 5), die Lebensqualität in Abhängigkeit<br />

von Beinbeschwerden (CIVIQ)<br />

wie zu erwarten (Abb. 6).<br />

30<br />

Erschienen in: ORTHOPÄDIE TECHNIK 12/22


Kompression<br />

Diskussion<br />

Insgesamt bestätigen die Ergebnisse<br />

die oben aufgestellte Hypothese: Kompressionsstrümpfe<br />

lindern sowohl<br />

allgemeine Beinsymptome als auch<br />

Übelkeit und Erbrechen in der Frühphase<br />

einer Schwangerschaft, insbesondere<br />

aber Müdigkeit und Schwindelgefühle.<br />

Dies ist umso wertvoller,<br />

als es bei Kompressionsstrümpfen für<br />

junge Frauen so gut wie nie Kontraindikationen<br />

gibt.<br />

Ein direkter Vergleich mit den Ergebnissen<br />

einschlägiger Studien über<br />

die Wirksamkeit von Medikamenten<br />

gegen Schwangerschaftsbeschwerden<br />

ist zwar angesichts unterschiedlicher<br />

Settings und abweichender Untersuchungszeiträume<br />

nicht zulässig. Allerdings<br />

wurde die Wirkweise der zugelassenen<br />

Medikamente gegen Übelkeit<br />

mit denselben Fragebögen gemessen<br />

wie in dieser Studie. Vergleicht<br />

man die jeweils erzielten Scores, ist<br />

eine Kompressionsversorgung den getesteten<br />

Medikamenten sogar überlegen<br />

[2, 3]. Insofern müsste nach Ansicht<br />

der Autorin ein ärztliches Rezept<br />

über eine geeignete Kompressionsbestrumpfung<br />

Bestandteil des ersten<br />

Informationspakets zur Schwangerschaft<br />

sein, das jede schwangere Frau<br />

erhält.<br />

Weitere Indikationen<br />

Frauen mit Krampfadern sollten während<br />

der Schwangerschaft mindestens<br />

Kompressionskniestrümpfe – bei<br />

Krampfadern besonders im Leistenbereich<br />

auch schenkellange Strümpfe<br />

oder Strumpfhosen – tragen. Patientinnen<br />

mit Thrombosen oder einem<br />

Risiko für Thrombosen müssen<br />

besonders in der Schwangerschaft –<br />

der vulnerabelsten Phase für Thrombosen<br />

im Leben einer Frau – und bis<br />

zum Ende des Kindbetts (6 Wochen<br />

nach der Entbindung) ebenfalls eine<br />

Kompressionsversorgung tragen. Zur<br />

Thromboseprophylaxe genügt immer<br />

ein Kniestrumpf.<br />

Fazit<br />

Kompressionsstrümpfe der Klasse I lindern<br />

die für eine Schwangerschaft typischen<br />

Beinbeschwerden wie Schweregefühl<br />

und Schwellung dosisabhängig<br />

– je länger sie getragen werden, desto<br />

wirksamer sind sie [7]. Kompressionskniestrümpfe<br />

der Klasse II lindern darüber<br />

hinaus, wie gezeigt wurde, aber<br />

auch Symptome der Frühschwangerschaft<br />

wie Übelkeit, Erbrechen und insbesondere<br />

Müdigkeit und Schwindelgefühle<br />

nach dem Aufstehen. Auch hier<br />

reicht nach dem Dafürhalten der Autorin<br />

eine Kompressionsversorgung der<br />

Klasse I aus; es liegen genügend Daten<br />

aus Meta-Analysen vor, die die Gleichwertigkeit<br />

beider Kompressionsklassen<br />

– sogar in der Anwendung bei Pathologien<br />

wie Ulcus cruris – nachweisen.<br />

Darüber hinaus ist es in der Schwangerschaft<br />

für Patientinnen mit Krampfadern,<br />

Thrombosen oder gesteigertem<br />

Thromboserisiko besonders wichtig,<br />

Kompressionsstrümpfe zu tragen.<br />

Es ist angesichts der hier vorgestellten<br />

Forschungsergebnisse zu<br />

wünschen, dass Versorgende im Sanitätsfachgeschäft<br />

sowie Vertreterinnen<br />

und Vertreter von Kompressionsstrumpfherstellern<br />

dazu beitragen,<br />

Gynäkologinnen und Gynäkologen,<br />

aber auch die unmittelbare Zielgruppe<br />

der Frauen in der Frühphase ihrer<br />

Schwangerschaft über diese Zusammenhänge<br />

aufzuklären.<br />

Die Autorin:<br />

Dr. med. Erika Mendoza<br />

Fachärztin für Allgemeinmedizin<br />

Venenpraxis Wunstorf<br />

Speckenstraße 10<br />

31515 Wunstorf<br />

info@venenpraxis-wunstorf.de<br />

Begutachteter Beitrag/reviewed paper<br />

Zitation: Mendoza E. Anwendung von Kompression gegen Müdigkeit, Übelkeit und Erbrechen in der Frühschwangerschaft. Orthopädie Technik, 2022; 73 (12): 40 – 45<br />

Literatur:<br />

[1] Mendoza E, Amsler F. A randomized crossover trial on the effect of compression stockings on nausea and vomiting in<br />

early pregnancy. International Journal of Women’s Health, 2017; 9: 89–99<br />

[2] Koren G, Clark S, Hankins GD, et al. Effectiveness of delayed-release doxylamine and pyridoxine for nausea and<br />

vomiting of pregnancy: a randomized placebo controlled trial. Am J Obstet Gynecol, 2010; 203 (6): e571–577<br />

[3] Allegra C, Antignani PL, Will K, Allaert F. Acceptance, compliance and effects of compression stockings on venous<br />

functional symptoms and quality of life of Italian pregnant women. Int Angiol, 2014; 33: 357–364<br />

[4] Chandra K. Development of a health-related quality of life (HRQL) instrument for nausea and vomiting in pregnancy<br />

(NVP), 2000<br />

[5] Lacasse A, Rey E, Ferreira E, Morin C, Berard A. Validity of a modified Pregnancy-Unique Quantification of Emesis and<br />

Nausea (PUQE) scoring index to assess severity of nausea and vomiting of pregnancy. Am J Obstet Gynecol, 2008; 198 (1):<br />

e71–77<br />

[6] Launois R, Reboul-Marty J, Henry B. Construction and validation of a quality of life questionnaire in chronic lower<br />

limb venous insufficiency (CIVIQ). Qual Life Res, 1996; 5 (6): 539–554<br />

[7] Lacroix R, Eason E, Melzack R. Nausea and vomiting during pregnancy: A prospective study of its frequency, intensity,<br />

and patterns of change. Am J Obstet Gynecol, 2000; 182 (4): 931–937<br />

Erschienen in: ORTHOPÄDIE TECHNIK 12/22<br />

31


Kompression<br />

H. Schulze<br />

Selbstmanagement in der<br />

Lymphologie<br />

Self-Care in Lymphology<br />

Sowohl bei lymphologischen Erkrankungen<br />

als auch bei lymphologischen<br />

Defiziten (ein Ödem ist lediglich ein<br />

Symptom und keine Erkrankung) ist<br />

ein adäquates Selbstmanagement<br />

der Betroffenen unverzichtbar. Denn<br />

ohne zielgerichtetes Selbstmanagement<br />

als fünfte Säule der Komplexen<br />

Physikalischen Entstauungstherapie<br />

(KPE) wird die Therapie nicht<br />

gelingen. In Deutschland wurde in<br />

diesem Zusammenhang bisher allerdings<br />

nur wenig Patientenedukation<br />

betrieben. In der 2017 veröffentlichten<br />

S2k-Leitlinie „Diagnostik<br />

und Therapie der Lymph ödeme“ [1]<br />

erhält die unterstützende Selbstbehandlung<br />

zwar eine größere Bedeutung<br />

– jedoch hat sie erfahrungsgemäß<br />

bisher weniger Augenmerk<br />

erhalten als die vier weiteren Maßnahmen<br />

im Bereich der Komplexen<br />

Physikalischen Entstauungstherapie.<br />

Kompressionstherapie, Bewegungstherapie<br />

(idealerweise in Kompression),<br />

Hautpflege und Manuelle<br />

Lymphdrainage sind nur im Zusammenspiel<br />

mit einem unterstützenden<br />

Selbstmanagement sinnvoll und<br />

führen nur dann zu einer erfolgreichen<br />

Therapie.<br />

Insofern muss die Eigeninitiative<br />

von Betroffenen mit Ödemerkrankungen<br />

hierzulande deutlich mehr<br />

motiviert werden; dazu müssen die<br />

Zusammenhänge erläutert werden.<br />

Das gilt ganz besonders für das ambulante<br />

Versorgungsfeld. Denn dort<br />

können sich Betroffene mehr einbringen<br />

und dadurch den Therapieerfolg<br />

deutlich mitgestalten [2]. Bedeutende<br />

Bausteine eines adäquaten<br />

Selbstmanagements bei lymphologischen<br />

Erkrankungen sind, nach<br />

Wichtigkeit sortiert: Konsequenz im<br />

Tragen der Kompression, geeignete<br />

Bewegungsübungen in Kompression,<br />

eine gut ausgeführte Hautpflege<br />

und eine patientenadaptive Schulung<br />

mit einigen Techniken der Manuellen<br />

Lymphdrainage – dies alles<br />

idealerweise als Rituale in den Alltag<br />

der Betroffenen eingebunden. Das<br />

alles setzt eine gute Patientenedukation<br />

voraus. Diese sollte niederschwellig,<br />

in patientenorientierter<br />

Sprache und partnerschaftlich formuliert<br />

sein. Der Artikel zeigt die<br />

Wichtigkeit des Selbstmanagements<br />

in der KPE auf und erläutert, warum<br />

die Behandlung von Ödemerkrankungen<br />

oft nicht in ausreichender<br />

Weise stattfindet.<br />

Schlüsselwörter: Lymphödem,<br />

Selbstmanagement, Patientenedukation,<br />

Ödemerkrankungen, Komplexe<br />

Physikalische Entstauungstherapie,<br />

Lipödem<br />

For lymphological diseases as well as<br />

for lymphological deficits, (oedema<br />

is only a symptom, not a disease)<br />

proper self-management of those<br />

affected is indispensable. Treatment<br />

will not be successful without specific<br />

self-management as the fifth pillar<br />

of complete decongestive therapy<br />

(CDT). In Germany, very little has<br />

been done in this area with respect<br />

to patient education. In the S2k<br />

guideline on “Diagnostics and Treatment<br />

of Lymphoedema” published<br />

in 2017, [1] more importance is<br />

assigned to supportive self-management<br />

– but unfortunately, experience<br />

shows that far less attention has been<br />

given to it than the other four measures<br />

of complex decongestive therapy.<br />

Compression therapy, movement<br />

therapy (ideally in compression), skin<br />

care and manual lymphatic drainage<br />

are useful, and lead to successful<br />

treatment only in combination with<br />

supportive self-management.<br />

Persons in Germany affected with<br />

oedema diseases must therefore be<br />

motivated to be considerably more<br />

proactive; the correlations must be<br />

explained. This is especially important<br />

in the area of outpatient care.<br />

Persons affected can become more<br />

involved here and contribute significantly<br />

to the success of treatment<br />

[2]. Important components of<br />

proper self-management for lymphological<br />

diseases are listed in order<br />

of importance: consistently wearing<br />

compression, suitable movement exercises<br />

in compression, well executed<br />

skin care and patient-adaptive training<br />

in a few techniques of manual<br />

lymphatic drainage – and all these<br />

should ideally be integrated into the<br />

daily routine of those affected. All of<br />

this requires good patient education,<br />

which should be easily accessible, in<br />

patient-oriented language and based<br />

on partnership. This article points out<br />

the importance of self-management<br />

in CDT and explains why treatment of<br />

oedema diseases is often inadequate.<br />

Key words: lymphoedema, self-management,<br />

patient education, oedema<br />

diseases, complete decongestive<br />

therapy, lipoedema<br />

Einleitung<br />

International spielt das Selbst ma nagement<br />

von Patienten und Patientinnen<br />

bei lymphologischen Defiziten<br />

und Erkrankungen eine große Rolle;<br />

in Deutschland hingegen gewinnt<br />

die Rolle des Selbstmanagements innerhalb<br />

der Therapie vor allem im<br />

ambulanten Bereich nur langsam an<br />

32<br />

Erschienen in: ORTHOPÄDIE TECHNIK 11/22


Kompression<br />

Bedeutung [3, 4]. Im internationalen<br />

Vergleich ist in vielen Ländern die Infrastruktur<br />

der Diagnostik und Therapie<br />

von Ödemerkrankungen nicht<br />

ausreichend ausgebaut, wodurch dem<br />

Selbstmanagement von vornherein<br />

eine größere Bedeutung zukommt. In<br />

Deutschland hingegen gibt es eine gut<br />

ausgebaute Therapie-Infrastruktur,<br />

wodurch sich bei Patienten eine gewisse<br />

Erwartungshaltung ergibt: „Da<br />

ich therapiert werde, muss ich nicht<br />

selbst therapieren.“ In der Diagnostik<br />

sieht es hier schon wieder anders aus.<br />

Ein wichtiger Grund hierfür ist sicherlich,<br />

dass das Lymphgefäßsystem weltweit<br />

ein „blinder Fleck“ innerhalb der<br />

Medizin und in den ärztlichen Ausbildungen<br />

nahezu nicht vertreten ist [3,<br />

5]. Diese Situation macht die Diagnose<br />

und die bedarfsgerechte Behandlung<br />

lymphologischer Erkrankungen<br />

deutlich komplizierter als beispielsweise<br />

bei klassischen Krankheitsbildern<br />

in der Inneren Medizin. Dabei<br />

ist eine Basisdiagnostik mit Anamnese,<br />

Inspektion und Palpation relativ<br />

einfach durchführbar [6, 7].<br />

Mittlerweile hat sich die Erkenntnis<br />

durchgesetzt, dass das Lymphgefäßsystem<br />

in den Extremitäten ca. 95<br />

bis 98 % der interstitiellen Flüssigkeit<br />

aufnimmt und zum Blutkreislauf<br />

zurückführt [8, 9, 10]. Somit ist<br />

die Starling-Gleichung aus dem Jahr<br />

1896, die den durch hydrostatische<br />

und onkotische Kräfte verursachten<br />

Nettofluss über eine kapilläre Membran<br />

beschreibt, nicht mehr gültig,<br />

auch wenn sie teils immer noch gelehrt<br />

wird. Die neuen Erkenntnisse<br />

belegen deutlich den hohen Stellenwert<br />

des Lymphgefäßsystems beim<br />

Abtransport interstitieller Flüssigkeit<br />

im gesamten Organismus.<br />

Viele Betroffene sind lange Zeit auf<br />

der Suche nach einer adäquaten Diagnose<br />

und haben nicht selten einen<br />

regelrechten „Ärztemarathon“ hinter<br />

sich. In diesem Zusammenhang stellte<br />

man fest, dass nach dem Auftreten<br />

der ersten Symptome bis zur Einleitung<br />

einer adäquaten Behandlung<br />

im Schnitt 4,5 Jahre vergehen [5]. Erst<br />

in jüngerer Zeit scheint sich eine Verkürzung<br />

dieser Zeitspanne anzubahnen<br />

– was wohl auch darauf zurückzuführen<br />

ist, dass Strukturen wie ambulante<br />

Lymphnetze lokal oft gute Arbeit<br />

leisten.<br />

Während der Behandlung in den<br />

lymphologisch ausgerichteten Fachkliniken<br />

werden die Betroffenen im<br />

Selbstmanagement oft gut geschult,<br />

beispielsweise in der Selbstbandagierung.<br />

Im ambulanten Bereich dagegen<br />

wird dieses Wissen oft nicht ausreichend<br />

vermittelt, geschult und somit<br />

auch nicht ausgeführt. Ziel dieses<br />

Artikels ist es, für das Selbstmanagement<br />

in der Lymphologie zu sensibilisieren.<br />

Alle beteiligten Fachkräfte in<br />

der lymphologischen Versorgungskette<br />

(ärztliche Fachkräfte, lymphtherapeutische<br />

Fachkräfte und lymphologisch<br />

arbeitende Fachkräfte aus<br />

dem <strong>Sanitätshaus</strong>bereich) sollten die<br />

Betroffenen motivieren können und<br />

somit eine hohe Therapieadhärenz erzeugen.<br />

Therapieoptionen<br />

Wenn die Diagnose feststeht, ergeben<br />

sich folgende Herausforderungen:<br />

– Wie wird die Therapie am besten<br />

konzipiert?<br />

– Wo findet man entsprechend lymphologisch<br />

geschulte Fachkräfte?<br />

– Wo finden die Betroffenen die<br />

nötigen Informationen zur Aufklärung?<br />

In der im Mai 2017 veröffentlichten<br />

S2k-Leitlinie zur Behandlung von<br />

Lymphödemen wurde eine adäquate<br />

Vorgehensweise festgelegt [1]. Die<br />

KPE, also die Komplexe Physikalische<br />

Entstauungstherapie, wurde als Goldstandard<br />

definiert und 2017 um die<br />

unerlässliche Säule des Selbstmanagements<br />

erweitert; zuvor beruhte die<br />

KPE lediglich auf vier Säulen. In der<br />

aktuellen Leitlinie wird die konservative<br />

Behandlung von Lymph ödemen<br />

wie folgt definiert:<br />

„Die Standardtherapie der Lymphödeme<br />

ist die Komplexe Physikalische<br />

Entstauungstherapie (KPE). Diese besteht<br />

aus folgenden aufeinander abgestimmten<br />

Komponenten:<br />

– Hautpflege und falls erforderlich<br />

Hautsanierung<br />

– Manuelle Lymphdrainage, bei Bedarf<br />

ergänzt mit additiven manuellen<br />

Techniken<br />

– Kompressionstherapie mit speziellen<br />

mehrlagigen, komprimierenden<br />

Wechselverbänden und/oder<br />

lymphologischer Kompressionsstrumpfversorgung<br />

– Entstauungsfördernde Sport-/Bewegungstherapie<br />

– Aufklärung und Schulung zur<br />

individuellen Selbsttherapie“<br />

Diese Zusammenfassung der konservativen<br />

Therapien erhielt 100 % Zustimmung<br />

von allen Mitarbeitenden an der<br />

Leitlinie. In den Jahren zuvor wurde<br />

die KPE ohne Selbstmanagement aufgeführt;<br />

somit erhielten Patientenedukation<br />

und Selbstbehandlung erst<br />

2017 einen hohen Stellenwert.<br />

Ohne sinnvoll angeleitetes Selbstmanagement<br />

ist eine KPE nicht erfolgreich;<br />

nur mit entsprechender<br />

Patientenedukation durch ausgebildete<br />

Fachkräfte kann sie gelingen.<br />

Das gilt im Übrigen auch für alle anderen<br />

Maßnahmen der KPE – einzeln<br />

und isoliert betrachtet sind sie nicht<br />

zielführend, wie es auch Gültig anmerkt<br />

[11]. In einer vom IQWiG initiierten<br />

Auswertung von 23 einschlägigen<br />

Studien über die nichtmedikamentöse<br />

Behandlung fortgeschrittener<br />

Lymphödeme (publiziert 2021)<br />

wurde die Wirksamkeit der einzelnen<br />

Maßnahmen aufgezeigt; dabei<br />

konnte der Nutzen einer Manuellen<br />

Lymphdrainage (MLD) nicht nachgewiesen<br />

werden, sofern sie isoliert<br />

blieb [12]. Auch dies belegt, dass ein<br />

Therapieerfolg nur in adäquater Abstimmung<br />

der Maßnahmen untereinander<br />

erreicht werden kann [6, 7,<br />

11]. Andererseits gibt es dank Schingale<br />

et al. mittlerweile einen Nachweis<br />

über die grundsätzliche Wirksamkeit<br />

der Manuellen Lymphdrainage<br />

[13]. So kann beispielsweise<br />

durch eine Kompressionstherapie das<br />

entstauende Ergebnis einer MLD konserviert<br />

und die Lymphangiomotorik<br />

durch die anschließende Bewegung<br />

in der Kompression noch weiter angeregt<br />

und unterstützt werden. Ohne<br />

eine sinnvoll ausgeführte Hautpflege<br />

schließlich ist die Neigung zu Erysipelen<br />

bei Lymphödemen deutlich erhöht;<br />

somit bildet die Hautpflege als<br />

eine der Säulen der KPE die wichtigste<br />

Prophylaxe gegen die Entstehung<br />

von Erysipelen.<br />

Die Standardtherapie der Lymphödeme<br />

wertet somit die selbst ausgeführten<br />

Maßnahmen der Betroffenen<br />

deutlich auf und bindet sie maßgeblich<br />

in die Abläufe und Handhabung<br />

der Therapie mit ein. Das setzt allerdings<br />

eine gut funktionierende Patientenedukation<br />

voraus, und hier be­<br />

Erschienen in: ORTHOPÄDIE TECHNIK 11/22<br />

33


Kompression<br />

steht oft die Crux. Patientenschulung<br />

und Selbstmanagement sind in Ländern<br />

wie beispielsweise Kanada, Italien,<br />

Spanien oder auch Mexiko besser<br />

ausgebaut als in Deutschland. In<br />

Gesprächen mit internationalen Kollegen<br />

wird immer wieder aufgezeigt,<br />

wie viel Eigeninitiative der Betroffenen<br />

nötig ist, um Therapieerfolge aufrechterhalten<br />

zu können. Laut den<br />

Kollegen spielen in frastrukturelle<br />

Probleme eine zusätzlich erschwerende<br />

Rolle; insofern ist Selbstmanagement<br />

dort von vornherein von<br />

großer Bedeutung. Die Gegebenheiten<br />

in Deutschland sind vermutlich<br />

darauf zurückzuführen, dass die Versorgungslage<br />

in den physiotherapeutischen<br />

Praxen jahrelang flächendeckend<br />

sehr gut war und dass Therapieplätze<br />

in der Lymphtherapie kein<br />

Problem waren. Dieser Aspekt hat<br />

sich in den letzten Jahren jedoch massiv<br />

verändert; der Fachkräftemangel<br />

in den physiotherapeutischen Berufen<br />

ist eklatant [14]. Umso wichtiger<br />

sollte auch hierzulande eine adäquate<br />

Patientenedukation seitens der Therapeuten<br />

sein. Jedoch herrschen in<br />

Deutschland bei Betroffenen oft eine<br />

gewisse Passivität und eine fehlende<br />

Einsicht in die Notwendigkeit der<br />

Eigeninitiative. Ein solches Problem<br />

ergibt sich im internationalen Raum<br />

nur selten, denn die Betroffenen lymphologischer<br />

Erkrankungen kommen<br />

in vielen Ländern meist vorerst selbst<br />

für die Kosten der Therapie auf – somit<br />

ist auch die Eigenverantwortung<br />

deutlicher ausgeprägt.<br />

Vermittlung von Informationen<br />

zum Selbstmanagement<br />

In diesem Zusammenhang bietet sich<br />

ein Vergleich mit Betroffenen eines<br />

Lipödemsyndroms an. Letztere verfügen<br />

mittlerweile durch öffentliche<br />

Aufklärungsarbeit über eine gewisse<br />

Lobby, die sicherlich noch vergrößert<br />

werden muss; allerdings hat sich<br />

in den letzten Jahren viel an der Bekanntheit<br />

des Lipödemsyndroms zum<br />

Positiven verändert. Viele Kompressionshersteller<br />

gehen mittlerweile speziell<br />

auf die Bedürfnisse von Lipödembetroffenen<br />

ein und versuchen ihre<br />

Produkte entsprechend anzupassen,<br />

um insbesondere bei körperlich aktiven<br />

Betroffenen eine bestmögliche<br />

Bewegungsfreiheit zu erreichen.<br />

Das Lymphödem dagegen hat in der<br />

Öffentlichkeit nur einen geringen Bekanntheitsgrad,<br />

auch wenn es für geschulte<br />

Fachkräfte verhältnismäßig<br />

leicht zu diagnostizieren ist. Die Lobby<br />

der Ödempatienten muss sich noch<br />

deutlich vergrößern. Dafür setzen sich<br />

maßgeblich Organisationen wie Lymphologicum<br />

– Deutsches Netzwerk<br />

Lymphologie e. V. oder die Deutsche<br />

Gesellschaft für Lymphologie e. V.<br />

ein. Die größte Herausforderung dabei<br />

ist die fehlende Vermittlung von<br />

Kenntnissen über das Lymphsystem<br />

an den medizinischen Fakultäten im<br />

ärztlichen Grundstudium.<br />

Andererseits finden seit einigen<br />

Jahren immer mehr Informationsveranstaltungen<br />

für Betroffene mit lymphologischen<br />

Erkrankungen und Defiziten<br />

statt. So organisieren Sanitätshäuser,<br />

lokale Lymphnetze und Organisationen<br />

wie beispielsweise der<br />

Verein Lymphselbsthilfe e. V. Veranstaltungen<br />

für und mit Betroffenen.<br />

Auch dies trägt zu deren Aufklärung<br />

und zur Schulung des Selbstmanagements<br />

bei.<br />

Die moderne Lymphtherapie sollte<br />

zudem auch auf die Schulung von<br />

Betroffenen und deren Angehörigen<br />

eingehen. Unabhängige Vereine, aber<br />

auch Hersteller von Kompressionsbestrumpfung<br />

geben ihr Wissen in ansprechenden<br />

Broschüren weiter. Mittlerweile<br />

gibt es sogar komplette Ratgeber<br />

in Buchform, die sich ausschließlich<br />

mit Selbstmanagement befassen,<br />

denn nur mit der fachlichen Aufklärung<br />

über Ödemerkrankungen kann<br />

ein sinnvolles Selbstmanagement<br />

stattfinden.<br />

Daneben hat sich durch den Generationswechsel<br />

und die höhere technische<br />

Affinität der Betroffenen mittlerweile<br />

eine ganz andere Art der Patientenaufklärung<br />

entwickelt: Viele<br />

Betroffene informieren sich heute im<br />

Internet – insbesondere auf Social-<br />

Media-Plattformen und in verschiedenen<br />

Foren – über ihre lymphologischen<br />

Erkrankungen und Symptome.<br />

So sorgen in verschiedenen Social-<br />

Media-Kanälen engagierte Menschen<br />

für Aufklärung – sei es von Betroffenen<br />

für Betroffene oder von medizinischen<br />

Fachkräften für Betroffene. Dies hat allerdings<br />

nicht nur positive Auswirkungen,<br />

denn vor allem im Social- Media-<br />

Bereich geben oft Betroffene ihre eigenen<br />

Erfahrungen ungefiltert weiter.<br />

Häufig ist die Differenzierung zwischen<br />

seriösen und unseriösen Informationsanbietern<br />

schwierig; ein Qualitätsmerkmal<br />

kann darin bestehen,<br />

dass eine Zusammenarbeit mit Herstellern<br />

von Kompressionsbestrumpfung<br />

besteht.<br />

Grundsätzlich ist es bei der Patientenedukation<br />

wichtig, nicht ausschließlich<br />

auf soziale Medien zu setzen.<br />

Etliche Fachbücher, die teilweise<br />

auch digital verfügbar sind, vermitteln<br />

wertvolle Informationen und Anwendungsempfehlungen<br />

für Betroffene<br />

und sind häufig das Mittel der Wahl<br />

bei der Schulung des Selbstmanagements.<br />

Auch bieten Patientenzeitschriften<br />

von gemeinnützigen Vereinen<br />

wie z. B. das Magazin „Lympholife“<br />

des Lymphologicum e. V. seriöse<br />

Informationen für Betroffene.<br />

Kompression als<br />

Schlüssel zum<br />

Selbstmanagement<br />

Bei einer Kompressionstherapie müssen<br />

Kontraindikationen wie Entzündungen<br />

mit pathogenen Keimen,<br />

schwere Herzerkrankungen, fortgeschrittene<br />

arterielle Verschlusskrankheiten<br />

oder auch schwere Neuropathien<br />

im Vorfeld ausgeschlossen werden<br />

[6, 15, 16].<br />

Die Hauptrolle beim Selbstmanagement<br />

spielt eine konsequente<br />

Kompression und die zusätzliche Bewegung<br />

darin. Bewegung wird in diesem<br />

Zusammenhang oft unterschätzt<br />

und vernachlässigt; jedoch hat die<br />

muskuläre Aktivität einen großen<br />

Einfluss auf das Immunsystem. Des<br />

Weiteren haben die durch Bewegung<br />

ausgelösten Myokine einen entzündungshemmenden<br />

Effekt [17]. Diesen<br />

Effekt gilt es bei Ödemerkrankungen<br />

zu nutzen, stehen interstitielle Entzündungen<br />

doch im Zusammenhang<br />

mit der Schmerz entstehung beim Lipödemsyndrom<br />

[18]. Entzündungen<br />

erzeugen auch immer eine Leistungsminderung<br />

in den Lymphgefäßen;<br />

die Lymph angiomotorik wird durch<br />

die inflammatorischen Vorgänge gehemmt<br />

[6].<br />

Ein weiterer Effekt von Bewegung<br />

in Kompression ist das Widerlager für<br />

die Muskulatur von außen – das Ödem<br />

liegt zwischen diesen beiden und wird<br />

sozusagen von zwei Seiten bearbeitet<br />

und regelrecht ausgewalzt. Übungen<br />

34<br />

Erschienen in: ORTHOPÄDIE TECHNIK 11/22


Kompression<br />

im Wasser wie beispielsweise beim<br />

Aquacycling oder mittels Wassergymnastik<br />

sind durch den hydrostatischen<br />

Druck gleichzeitig Bewegungsübungen<br />

in Kompression. Insgesamt sollte<br />

in der Anleitung zum Selbstmanagement<br />

ein großes Gewicht auf Bewegungsübungen<br />

gelegt werden.<br />

Varianten der<br />

Kom pression<br />

Die lymphologische Kompressionsbandagierung<br />

sowie adaptive<br />

Velcro-Verbände stellen weitere und<br />

sehr flexible Möglichkeiten dar, um auf<br />

dynamische Volumina einzugehen.<br />

Sie werden hauptsächlich in Phase 1<br />

einer KPE (Entstauung) angewandt.<br />

Eine Kompressionsbestrumpfung mittels<br />

Flachstrickware wird auf ein festes<br />

Maß angefertigt und sollte daher<br />

erst nach abgeschlossener Phase 1 der<br />

KPE erfolgen. Die Wahl des geeigneten<br />

und patientenorientierten Materials<br />

ist genauso entscheidend für eine gute<br />

Compliance wie die nötige Erfahrung<br />

der Fachleute, die für eine Kompressionsversorgung<br />

Maß nehmen.<br />

In den letzten Jahren haben die<br />

Hersteller von Flachstrickware immer<br />

wieder neue Gestricke und Faserkombinationen<br />

auf den Markt gebracht;<br />

somit ist für jede Hautbeschaffenheit<br />

und jeden Ödemzustand das adäquate<br />

Material erhältlich. In diesem Zusammenhang<br />

sind Schulungen und<br />

Fachkongresse sinnvoll, damit möglichst<br />

alle geeigneten Materialien bekannt<br />

sind, um die Betroffenen adäquat<br />

beraten und behandeln zu können.<br />

Eine weitere sinnvolle Ergänzung<br />

und ideal für die Selbstanwendung ist<br />

eine maschinelle Kompression mittels<br />

AIK-Geräten (AIK = „apparative intermittierende<br />

Kompression“). Wichtig<br />

hierbei ist eine gründliche Einweisung<br />

der Betroffenen in die Handhabung<br />

der Geräte und vor allem die Vorarbeit,<br />

das sogenannte Anlymphen – also das<br />

Vorbereiten des Lymphgefäßsystems<br />

am Körperstamm und die Herstellung<br />

des zentralen Sogs. Das bedeutet ein<br />

Anregen des Lymphgefäßsystems, beispielsweise<br />

durch Atemübungen oder<br />

auch durch Selbstanwendung einzelner<br />

Techniken der Manuellen Lymphdrainage.<br />

Für Betroffene, die nachts eine<br />

Kompressionsversorgung benötigen,<br />

gibt es verschiedene Arten vorkonfektionierter<br />

und atmungsaktiver<br />

Nachtkompressionsstrümpfe.<br />

Für die Kompressionstherapie der<br />

Extremitäten existiert mittlerweile<br />

ebenfalls eine Leitlinie [19], in der verdeutlicht<br />

wird, welch hohen Stellenwert<br />

und Wirksamkeit die Kompressionstherapie<br />

hat. So heißt es beispielsweise<br />

darin: „Die Therapie mit medizinischen<br />

Kompressionsstrümpfen<br />

(MKS) oder mit phlebologischen Kompressionsverbänden<br />

(PKV) ist in der<br />

Behandlung phlebologischer und lymphologischer<br />

Erkrankungen der Beine<br />

und Arme unverzichtbar.“ Also sollte<br />

auch hier beim Selbstmanagement auf<br />

Kompression gesetzt werden. Voraussetzung<br />

für eine hohe Compliance ist<br />

jedoch eine verständliche Patientenedukation,<br />

sodass die erforderliche Akzeptanz<br />

gegeben ist.<br />

Eine Eigenbehandlung mit ausgewählten<br />

Techniken der Manuellen<br />

Lymphdrainage ist ebenfalls möglich.<br />

Hierzu sollten entsprechende Übungseinheiten<br />

in den Therapiepraxen genutzt<br />

werden, denn anfangs müssen<br />

die palpatorischen Fähigkeiten der Betroffenen<br />

detektiert und geschult werden,<br />

was oft einiger Wiederholungen<br />

bedarf.<br />

Zusätzliche Maßnahmen<br />

fürs Selbstmanagement<br />

Der Bereich der Ernährungsmedizin<br />

ist ein wesentlicher Faktor beim<br />

Selbstmanagement lymphologischer<br />

Erkrankungen. Eine explizite Lymphdiät<br />

gibt es zwar nicht, jedoch hat sich<br />

gezeigt, dass eine Ernährung, die auf<br />

Entzündungshemmung abzielt, bei<br />

jeglichen lymphologischen Erkrankungen<br />

einen positiven Effekt zeigt.<br />

Empfohlen wird eine „mediterrane“<br />

Ernährung [20]. Denn Entzündungen<br />

haben einen ungünstigen Effekt<br />

auf jede Ödemerkrankung, seien es<br />

die entzündlichen Prozesse beim Lipödemsyndrom<br />

oder auch Entzündungen<br />

in bestehenden Lymph ödemen,<br />

wo eiweißreiche Einlagerungen im Interstitium<br />

eine große Gefahr für Entzündungen<br />

darstellen. Dadurch steigt<br />

auch das Erysipel-Risiko im Lymphödemgebiet,<br />

was unbedingt unterbunden<br />

werden muss, um der Gefahr<br />

einer Sepsis entgegenzuwirken. Somit<br />

ist es sinnvoll, schon bei der Ernährung<br />

auf Entzündungshemmung zu<br />

setzen.<br />

Darüber hinaus sollte die Hautpflege<br />

im Selbstmanagement eine große<br />

Rolle spielen, ist sie doch die wichtigste<br />

Prophylaxe gegenüber Infektionen<br />

und auch Erysipelen. Die Kompression<br />

trocknet die oft schon fragile Haut<br />

zusätzlich aus, somit ist eine adäquate<br />

Hautpflege essenziell. Viele Hersteller<br />

von Kompressionsversorgungen bieten<br />

hochwertige Produkte für die Hautpflege<br />

an; diese sind in der Regel auf<br />

das verwendete Material abgestimmt,<br />

damit die Kompressionsbestrumpfung<br />

im Zusammenspiel mit den Pflegeprodukten<br />

möglichst langlebig bleibt.<br />

Fazit: Lymphologie<br />

funktioniert nur im<br />

Netzwerk<br />

Als alleinig Therapierender lassen sich<br />

die Herausforderungen der Ödemerkrankungen<br />

nicht meistern. Als<br />

wichtigste Partner müssen die Betroffenen<br />

und ggf. ihre Angehörigen in die<br />

Therapie mit einbezogen werden. Nur<br />

so können Einsicht erzeugt, gemeinsame<br />

Ziele formuliert und das Selbstmanagement<br />

sinnvoll angeleitet werden.<br />

Erfahrungsgemäß funktioniert eine<br />

Komplexe Physikalische Entstauungstherapie<br />

nur im Netzwerk. Die entsprechenden<br />

Strukturen – unabhängig<br />

davon, ob sie gerade erst wachsen<br />

oder schon bestehen – müssen jedoch<br />

gepflegt werden. Tragfähige Netzwerkstrukturen<br />

wie auf Klinik niveau<br />

können auch im ambulanten Bereich<br />

funktionieren, wenn sie entsprechend<br />

ausgebaut und genutzt werden.<br />

Geeignete Partner hierbei sind lymphologisch<br />

geschulte ärztliche Kräfte,<br />

Lymphtherapeutinnen und -therapeuten<br />

sowie lymphologisch ausgebildete<br />

Fachkräfte in den Sanitätshäusern. Je<br />

nach Schwerpunkt sollte das Netzwerk<br />

individuell erweitert werden, beispielsweise<br />

um Aspekte wie Psychotherapie,<br />

Ernährungsberatung oder Rehasport.<br />

Der Schlüssel zum Erfolg ist eine adäquate<br />

Kommunikation der einzelnen<br />

Partner untereinander. Die im Netzwerk<br />

tätigen Personen sollten sich als<br />

gleichberechtige Partner betrachten<br />

und auch die Betroffenen als Partner<br />

mit einbeziehen. Denn die beste Netzwerkstruktur<br />

nützt nur wenig, wenn<br />

die Betroffenen sich selbst nicht einbringen<br />

können. Eine einheitliche<br />

Erschienen in: ORTHOPÄDIE TECHNIK 11/22<br />

35


Kompression<br />

gemeinschaftliche Dokumentation<br />

ist hier von großem Vorteil. Der<br />

Verein Lymphologicum – Deutsches<br />

Netzwerk Lymphologie e. V. beispielsweise<br />

hat sich die Förderung der ambulanten<br />

Vernetzung der Netzwerkpartner<br />

auf die Fahne geschrieben<br />

und vermittelt Hilfestellung bei der<br />

Gründung lokaler Netzwerke, unter<br />

anderem mit strukturierten Dokumentationsbögen.<br />

Jeder und jede Therapierende sollte<br />

einen gewissen Anteil seines bzw. ihres<br />

lymphologischen Wissens an die<br />

Betroffenen weitergeben [21]. Das Ziel<br />

sollte eine patientenadaptive Therapie<br />

sein. Wenn die Betroffenen ihre<br />

Möglichkeiten kennen, ihre Fähigkeiten<br />

ausbauen und entsprechend geschult<br />

sind, können sie ihr Selbstmanagement<br />

eigenverantwortlich deutlich<br />

besser handhaben.<br />

Der Autor:<br />

Henry Schulze<br />

Lymph- und Ödemtherapeut<br />

Henry Schulze Lymphologie<br />

Gesundheitszentrum Neher<br />

Hauptstraße 52<br />

86494 Emersacker<br />

mail@henry-schulze.de<br />

Begutachteter Beitrag/reviewed paper<br />

Zitation: Schulze H. Selbstmanagement in der Lymphologie. Orthopädie Technik, 2022; 73 (11): 48 – 52<br />

Literatur:<br />

[1] Gesellschaft Deutschsprachiger Lymphologen e. V. (GDL). S2k-Leitlinie „Diagnostik und Therapie der Lymphödeme“ (AWMF-Leitlinienregister<br />

Nr. 058/001). Stand: 23.05.2017 (in Überarbeitung), gültig bis 22.05.2022. https://www.awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/058-<br />

001l_S2k_Diagnostik_und_Therapie_der_Lymphoedeme_2019-07-abgelaufen.pdf (Zugriff am 18.10.2022)<br />

[2] Waldvogel-Röcker K. Fallbuch Physiotherapie: Lymphologie. München: Elsevier, Urban & Fischer, 2021<br />

[3] Mohren E. Bestandsaufnahme zur Diagnostik und Therapie bei Lymphödem, Lipödem und Lipolymphödem in der ambulanten<br />

Versorgung in der Region Bochum. Dissertation, Ruhr-Universität Bochum, 2018<br />

[4] Herpertz U, Netopil B. Studie über die Qualität der ambulanten Versorgung von Ödempatienten in Deutschland 2007. LymphForsch,<br />

2010; 14: 31–34<br />

[5] Schöhl J, Rössler J, Földi E. Das primäre Lymphödem. Langzeitverlauf und Lebensqualität mit der Komplexen Physikalischen Entstauungstherapie.<br />

LymphForsch, 2013; 17 (2): 88–93<br />

[6] Gültig O, Miller A, Zöltzer H (Hrsg.). Leitfaden Lymphologie. 2., vollst. überarb. und erw. Aufl. München: Elsevier, 2021<br />

[7] Földi M, Földi E. Lehrbuch Lymphologie für Ärzte, Physiotherapeuten und Masseure/med. Bademeister. 7., überarb. Aufl. München:<br />

Elsevier, Urban & Fischer, 2010<br />

[8] Schad H. Gilt die Starling’sche Hypothese noch? LymphForsch, 2009; 13 (2): 71–77<br />

[9] Levick JR, Michel CC. Microvascular fluid exchange and the revised Starling principle. Cardiovasc Res, 2010; 87(2): 198–210<br />

[10] Brenner E. Das Lymphsystem und das Starlingsche Gleichgewicht. LymphForsch, 2018; 22 (1): 9–13<br />

[11] Gültig O. Der Lymphologische Kompressionsverband in der Komplexen Physikalischen Entstauungstherapie – national und<br />

international. LymphForsch, 2021; 25 (2)<br />

[12] Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) (Hrsg.). Fortgeschrittenes Lymphödem. Lassen sich durch<br />

nicht medikamentöse Verfahren die Symptome lindern? Vorläufiger HTA-Bericht HT19-01. https://www.iqwig.de/download/ht19-01_<br />

nicht-medikamentoese-verfahren-bei-lymphoedem_vorlaeufiger-hta-bericht_v1-0.pdf (Zugriff am 18.10.2022)<br />

[13] Schingale FJ, Esmer M, Küpeli B, Ünal D. Investigation of the Less Known Effects of Manual Lymphatic Drainage: A Narrative Review.<br />

Lymphat Res Biol, 2022; 20 (1): 7–10<br />

[14] physiopraxis 2016; 14(06): 8-12 DOI: 10.155/s-0042-106537. https://www.thieme-connect.com/products/ejournals/<br />

abstract/10.1055/s-0035-1564466 (Zugriff am 18.10.2022)<br />

[15] Pritschow H, Schuchardt C. Das Lymphödem und die Komplexe Physikalische Entstauungstherapie. Ein Handbuch für die Praxis in<br />

Wort und Bild. 5., erw. und vollst. überarb. Aufl. Köln: Wirtschafts- und Praxisverlag, 2018<br />

[16] Weissleder H, Schuchardt C. Erkrankungen des Lymphgefäßsystems. 6., erw. und vollst. überarb. Aufl. Essen: Viavital, 2015<br />

[17] Krenn C. Myokine – Die Skelettmuskulatur als größtes und wichtigstes Stoffwechselorgan des Menschen. Magisterarbeit, Universität<br />

Wien, 2013<br />

[18] Bertsch T, Erbacher G, Elwell R, Partsch H. Lipoedema – a paradigm shift and consensus. Journal of Wound Care, 2020; 29 (Sup11b).<br />

https://www.magonlinelibrary.com/doi/full/10.12968/jowc.2020.29.Sup11b.1 (Zugriff am 19.10.2022)<br />

[19] Deutsche Gesellschaft für Phlebologie e. V. (DGP). S2k-Leitlinie „Medizinische Kompressionstherapie der Extremitäten mit Medizinischem<br />

Kompressionsstrumpf (MKS), Phlebologischem Kompressionsverband (PKV) und Medizinischen adaptiven Kompressionssystemen<br />

(MAK)“ (AWMF-Leitlinienregister Nr. 037-005). Stand: 31.12.2018 , gültig bis 31.12.2023. https://www.awmf.org/uploads/tx_<br />

szleitlinien/037-005l_S3k_Medizinische-Kompressionstherapie-MKS-PKV_2019-05.pdf (Zugriff am 19.10.2022)<br />

[20] Lipp AT. Ernährung und Lymphödeme – gibt es die Lymphödem-Diät? LymphForsch, 2022; 26 (1): 23–24<br />

[21] Schulze HA. Der kleine Coach für das Lymphsystem. Schnelle Hilfe bei Lymphödemen, Wassereinlagerungen & Co. Stuttgart: Trias,<br />

2022<br />

36<br />

Erschienen in: ORTHOPÄDIE TECHNIK 11/22


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Ladenbau und -gestaltung<br />

Vorsicht Planungsfalle!<br />

Was Sanitätshäuser für einen modernen<br />

Auftritt beachten müssen<br />

Christoph Hafemeister hilft seinen<br />

Kund:innen dabei, ein gutes<br />

Umfeld für die Versorgung und<br />

den Verkauf zu schaffen.<br />

Fotos [3]: OBV storedesign<br />

Das Image des weißen Arbeitskittels hat die Branche<br />

schon längst abgelegt – zumindest, was die Versorgung<br />

angeht. Der Blick in die Schaufenster und Auslagen sowie<br />

hinter die Türen von Sanitätshäusern offenbart aber<br />

ein breites Spektrum an innenarchitektonischen Höheund<br />

Tiefpunkten. Dabei ist der eigene Blick auf den Betrieb<br />

nicht besonders objektiv. Oftmals wird etwas lange<br />

beschönigt oder vorschnell sehr kritisch gesehen. Da ist<br />

ein Partner von außen in manchen Fällen die richtige Lösung.<br />

Für Menschen wie Christoph Hafemeister, die sich<br />

als „Ladenbauer“ oder „Store-Designer“ verstehen, geht<br />

es darum, die eigenen Erfahrungen aus der (Um-)Gestaltung<br />

von Ladenlokalen mit den Wünschen und Ansprüchen<br />

der Kund:innen zu verbinden und daraus die beste<br />

Lösung zu schaffen. Was es dabei zu beachten gilt, erläutert<br />

Christoph Hafemeister von OBV Storedesign aus<br />

Vreden im Gespräch mit der OT-Redaktion.<br />

OT: Sie arbeiten mit vielen Sanitätshäusern zusammen.<br />

Welche Erfahrungen haben Sie mit den Wünschen der<br />

Entscheider:innen gemacht?<br />

Christoph Hafemeister: Hier hat sich herauskristallisiert,<br />

dass viele Entscheider:innen bereits eine gute Vorstellung<br />

davon haben, wie die neue Einrichtung aussehen und<br />

funktionieren soll. Sollte es noch keine genaue Vorstellung<br />

geben, kann aber oftmals gesagt werden, wie es nicht sein<br />

soll. Auch dies hilft in der Planungsphase, um schneller<br />

an das optimale Ergebnis zu kommen. Die Wünsche der<br />

Entscheider:innen sind dabei sehr verschieden. Diese unterscheiden<br />

sich regional, nach der Größe des Unternehmens<br />

und auch danach, welche Kundengruppe vorrangig<br />

bedient wird. Grundsätzlich lässt sich jedoch sagen: Je intensiver<br />

sich im Vorhinein Gedanken darüber gemacht<br />

werden, wofür das Unternehmen und die neue Einrichtung<br />

stehen sollen, desto besser werden die Ergebnisse.<br />

OT: Gab es Fälle, in denen Wunsch und Ausgangslage zu weit<br />

auseinanderlagen?<br />

Hafemeister: Es kommt vor, dass vor allem am Anfang der<br />

Projektphase Wünsche geäußert werden, die mit der Ausgangslage<br />

nicht vereinbar sind. Dies betrifft oftmals vor allem<br />

das verfügbare Budget und die Wünsche und Vorstellungen,<br />

wie das Fachgeschäft nachher aussehen soll. Als<br />

Ladenbauer ist es unsere Aufgabe, dann die optimale Mitte<br />

zu ermitteln, um das bestmögliche Ergebnis mit den zu<br />

Verfügung stehenden Mitteln und der Ausgangslage zu erhalten.<br />

Auch der Umbauzeitraum und die Dauer eines Projektes<br />

spielt hier mit rein, vor allem, wenn neben den Möbeln<br />

auch weitere Gewerke mit umgebaut werden sollen.<br />

OT: Welche Planungsfallen gibt es für Inhaber:innen?<br />

Hafemeister: Wichtig ist, dass im Vorhinein klar ist, welches<br />

Budget für welche Teile des Umbaus zur Verfügung<br />

steht. Denn nur so lassen sich eine realistische Einschätzung<br />

und Planung erstellen, die den Wünschen entsprechen.<br />

Darüber hinaus ist es ungemein wichtig, dass der Inhaber<br />

oder die Inhaberin sich seinen oder ihren eigenen<br />

Waren- und Zielgruppen bewusst ist und damit entsprechende<br />

Prioritäten setzen kann. Nur so kann eine Planung<br />

gewährleistet werden, die den Bedürfnissen entspricht und<br />

einen Nutzen bringt. Auch hierbei gilt teilweise „weniger<br />

ist mehr“. Lieber Schwerpunkte setzen und reduziert Ware<br />

präsentieren als alle Produkte in allen Variationen und Farben<br />

zu zeigen, die aktuell am Markt verfügbar sind.<br />

OT: Umbau und Erneuerung sind stets mit Kosten verbunden.<br />

Welche Argumente haben Sie für einen Ladenumbau und die<br />

Investition in einen neuen Auftritt?<br />

Hafemeister: Wenn er richtig gemacht ist, überwiegt der<br />

Nutzen die hineingesteckten Investitionen deutlich. Dieser<br />

Nutzen ist dabei nicht nur umsatzbasiert, sondern viel<br />

breiter gestreut. Durch ein moderneres Auftreten und der<br />

gesteigerten Attraktivität des Geschäftes können neue<br />

Kundengruppen akquiriert und gewonnen werden. Durch<br />

die Optimierung von Prozessen und Arbeitsabläufen in der<br />

Umbauphase können zudem Kosten und Zeit eingespart<br />

werden. Zudem können z. B. durch neue Techniken und<br />

Baumaterialien Energiekosten eingespart werden. Daraus<br />

ergibt sich, dass durch einen Umbau sowohl Kosten eingespart<br />

als auch Umsatzpotenziale ausgeschöpft werden können.<br />

Dies sichert die Wettbewerbsfähigkeit und kann auch<br />

der Abwanderung von Kund:innen an Mitbewerber entgegenwirken.<br />

OT: Wie sieht es mit der Benutzung des Ladenlokals während<br />

eines Umbaus aus? Gibt es da Möglichkeiten, den Betrieb<br />

aufrechtzuerhalten, oder ist aus ihrer Erfahrung heraus eine<br />

kurzzeitige – aber dafür vollständige – Schließung die bessere<br />

Alternative?<br />

Hafemeister: Pauschal lässt sich diese Frage nicht beantworten,<br />

es kommt darauf an. Aus unserer Sicht als Laden-<br />

38<br />

<strong>Sanitätshaus</strong> <strong>2024</strong>


<strong>Sanitätshaus</strong><br />

Dreifach gut: Die Sitzbank ist nicht nur Ruheoase, sondern<br />

auch Sichtschutz und Stauraum zugleich.<br />

Eine runde Sache: Ein moderner Look lässt das „angestaubte<br />

Weißkittel“-Image vergessen.<br />

bauer ist es natürlich immer sinnvoller, wenn es eine Vollschließung<br />

gibt und wir das Objekt in einem umbauen<br />

können, vor allem sobald weitere Gewerke wie Trockenbau,<br />

Elektrik etc. beteiligt sind. Je nach Größe und Umfang der<br />

umzubauenden Fläche ist aber auch ein Umbau während<br />

des laufenden Betriebes möglich, sofern genügend Ausweichflächen<br />

bestehen.<br />

OT: Welche Rolle sollten die Mitarbeiter:innen im Rahmen des<br />

Umbaus bzw. der Neugestaltung einnehmen?<br />

Hafemeister: Wir merken immer wieder, dass es sehr wichtig<br />

ist, dass Mitarbeiter:innen mit einbezogen werden und<br />

Wünsche äußern dürfen. Besonders die Mitarbeitenden<br />

haben oftmals noch eine andere Sichtweise auf das Alltagsgeschäft<br />

und die Abläufe, die tagtäglich vollzogen werden.<br />

Durch die Einbeziehung der Mitarbeiter:innen lassen sich<br />

oft Optimierungen dieser Alltagsabläufe erzielen, dies steigert<br />

nicht nur die Mitarbeiterzufriedenheit, sondern auch<br />

die Effektivität im Alltag. Jedoch sollten diese Anmerkungen<br />

und Wünsche immer noch unter den unternehmerischen<br />

Gesichtspunkten sowie der strategischen Ausrichtung<br />

des Unternehmens bewertet werden.<br />

OT: Viele Hersteller von Hilfsmitteln bieten den Sanitätshäusern<br />

Materialien zur Produktvorstellung an. Wie berücksichtigen<br />

Sie dies bei der Gestaltung eines Objekts?<br />

Hafemeister: Bei der Erstellung unserer Planungen berücksichtigen<br />

wir gerne die Materialien zur Produktvorstellung,<br />

sofern gewünscht. Diese versuchen wir dann mit in das<br />

Konzept einfließen zu lassen, sodass sie nicht als Fremdkörper<br />

wirken und das gesamtheitliche Einrichtungskonzept<br />

stören, sondern im Einklang mit diesem stehen. Dabei<br />

sollten entsprechende Schwerpunkte in den Warengruppen<br />

gesetzt werden.<br />

OT: Gibt es Anfragen zu Serviceleistungen außerhalb des eigenen<br />

Tätigkeitsbereichs? Legen Sanitätshäuser Wert darauf,<br />

dass zum Beispiel in Wartezonen kostenlos das Smartphone<br />

aufgeladen werden kann? Wie sieht es mit E-Bike-Ladestationen<br />

oder mit erfrischenden Getränken aus?<br />

Hafemeister: In den Planungen werden nach Wunsch<br />

auch solche technischen Möglichkeiten mit eingebaut.<br />

Hierzu zählen in den Wartezonen zum Beispiel der Einbau<br />

von kabelgebundenen oder kabellosen Ladegeräten<br />

oder die Möglichkeit, Getränke zu kühlen und Kaffee anbieten<br />

zu können. Durch solche Annehmlichkeiten lassen<br />

sich zudem die Verweildauer der Kund:innen im Geschäft<br />

und die Attraktivität des Geschäftes signifikant erhöhen.<br />

Auch durch eine E-Bike-Ladestation oder eine Ladestation<br />

für elektrische Rollstühle und Scooter lässt sich eine Barrierefreiheit<br />

schaffen, mit der man sich von anderen Geschäften<br />

positiv absetzen kann.<br />

OT: Was war das „verrückteste“ Gimmick, das sich eine Kundin<br />

oder ein Kunde gewünscht hat?<br />

Hafemeister: Wir betreuen die <strong>Sanitätshaus</strong>branche nun<br />

schon seit über 15 Jahren, in denen uns viele verschiedene<br />

Ideen und Gimmicks entgegengekommen sind. Es wurde<br />

zum Beispiel gewünscht, einen lebensgroßen Baum, einen<br />

Wasserfall oder einen Kamin ins Geschäft zu integrieren.<br />

Doch oft sind es auch auf den ersten Blick verrückte Gimmicks,<br />

die den Unterschied machen. Zum Beispiel haben<br />

wir auf Wunsch ein in der Mitte durchgeschnittenes Auto<br />

mit in das Konzept eingeplant, sodass nur noch Kofferraum<br />

und Rücksitzbank vorhanden waren. Damit konnte<br />

bereits beim Beratungsgespräch demonstriert werden, wie<br />

sich Produkte im Alltag bei reellen Situationen am Auto<br />

verhalten.<br />

OT: Wenn Sie einer Betriebsinhaberin oder einem Betriebsinhaber<br />

drei Ratschläge geben könnten, welche wären das?<br />

Hafemeister: Lieber weniger Ware zeigen und dafür die<br />

Ware, die man zeigt, höherwertig präsentieren, um damit<br />

auch ein Ambiente zu schaffen, welches Beratung signalisiert<br />

und nicht nur bloßen Abverkauf.<br />

Je besser die Vorbereitung und je klarer die Ziele im Vorhinein<br />

sind, desto besser und schneller wird das gewünschte<br />

Ergebnis erreicht und erzielt.<br />

Durch eine modulare Einrichtung in Funktion und Design<br />

ist man nachhaltiger und vor allem langfristiger optimal<br />

aufgestellt, um auf verschiedene Veränderungen wie<br />

Trends oder veränderte Warengruppen zu reagieren.<br />

Das komplette Interview ist im Fachmagazin<br />

ORTHOPÄDIE TECHNIK in<br />

der Ausgabe 12/2022 erschienen<br />

und über den QR-Code abrufbar.<br />

Die Fragen stellte Heiko Cordes.<br />

<strong>Sanitätshaus</strong> <strong>2024</strong><br />

39


Ladenbau und -gestaltung<br />

Kompetenzen<br />

sichtbar machen<br />

Die Orthopädie-Technik ist ein so vielfältiges Fach, dass<br />

den meisten Menschen, die erstmals in einem <strong>Sanitätshaus</strong><br />

sind, gar nicht klar wird, wie groß die Bandbreite<br />

an Versorgungsmöglichkeiten ist. Aber wie können die<br />

Betriebe die eigenen Kompetenzen besser in den Mittelpunkt<br />

rücken? Zum Beispiel, indem sie ihre Werkzeuge,<br />

Messgeräte und Angebote besser sichtbar machen.<br />

Statt hinter Mauern und abseits der Blicke der<br />

Kund:innen ein fast unsichtbares Dasein zu fristen, müssen<br />

Orthopädietechniker:innen und ihr Können, gepaart<br />

mit modernster Technik zum Beispiel durch mehr gläserne<br />

Elemente sichtbar gemacht werden. Dipl.-Ing. Elke<br />

Park, Inhaberin Planungsbüro Parkraum, sammelt seit<br />

vielen Jahren Erfahrungen in der Gestaltung von Sanitätshäusern<br />

und in der Architektur von Fachbetrieben<br />

und prägt mit ihren Ideen und Umsetzungen das Bild<br />

von OT-Betrieben entscheidend mit. Im Gespräch mit<br />

der OT-Redaktion verrät sie, warum es wichtig ist, die<br />

Arbeit der Gestaltung in fachkundige Hände zu legen,<br />

und wie der Bedarf bei Kund:innen geweckt wird.<br />

OT: Frau Park, die Werkstätten in den OT-Betrieben werden<br />

immer moderner. Wie wichtig ist es, diese Entwicklung auch<br />

für die Patient:innen erlebbar zu machen?<br />

Am Terminal<br />

des <strong>Sanitätshaus</strong>es<br />

Vital<br />

in Hilden können<br />

sich die<br />

Kund:innen<br />

über ihre Versorgung<br />

informieren.<br />

Elke Park: Unsere Gesellschaft hat sich gewandelt und früher<br />

oft tabuisierte Themen werden sichtbarer. Die Menschen<br />

entwickeln sich weiter und erheben einen Anspruch<br />

auf Transparenz. Was gibt es aus Sicht des Versorgers denn<br />

Besseres, wenn mein Kunde Interesse an seiner Versorgung<br />

hat? Das bindet einen<br />

Kunden viel<br />

mehr an „seinen“<br />

Betrieb und schafft<br />

eine Begegnung auf<br />

Augenhöhe. Wenn<br />

ich als Kunde die<br />

Fläche eines Betriebes<br />

betrete, frage<br />

ich mich, wo erkenne<br />

ich diese Versorgungsqualität?<br />

Ich<br />

bin Diplomingenieurin<br />

und habe<br />

deshalb eine starke<br />

Affinität zur Technik.<br />

Ich bedauere<br />

und vermisse es zunehmend,<br />

dass die<br />

Sichtbarkeit dieser<br />

Technik und modernen<br />

Entwicklung<br />

der Versorgung des<br />

Im <strong>Sanitätshaus</strong> Vital in Hilden gibt es eine Showkabine zur<br />

Pa tientenversorgung. Wenn diese genutzt wird, dann wird aus<br />

Gründen der Privatsphäre ein Sichtschutz (Abb. links) installiert.<br />

Menschen so gering ist. Moderne Laufanalysen, Werkstattmaschinen,<br />

die zeigen, wie eine Einlage geschliffen oder<br />

„meine“ Prothese korrigiert wird – das sind die Dinge, die<br />

mir als Kundin wichtig zu sehen wären. Es ist sehr relevant,<br />

dass die Branche die Chance wahrnimmt, die Kompetenz<br />

und das Handwerk gleichermaßen sichtbar und erlebbar<br />

für die Kunden darzustellen.<br />

OT: Welche Möglichkeiten haben Betriebsinhaber:innen,<br />

um ihren Betrieb entsprechend zu gestalten?<br />

Park: Heutzutage sind den Ideen der Gestaltung eigentlich<br />

keine Grenzen gesetzt. Inspiriert werden wir Innenarchitekten<br />

und Architekten durch die Innovationen der<br />

Branche. Wir hören uns an, welche Entwicklungen es gibt<br />

und geben wird, und beschäftigen uns mit den Prozessen<br />

der Betriebe. Gerade der Einzug der Digitalisierung in die<br />

Werkstätten hat nicht nur das Arbeiten für Orthopädietechniker<br />

verändert, sondern auch für uns. Die Betriebsinhaber<br />

wünschen sich, durch mehr Transparenz und Nähe<br />

als Fachbetrieb wahrgenommen zu werden. Das können<br />

wir als Innenarchitekten mit Flächenkonzepten in der Entwurfsgestaltung<br />

realisieren – beispielsweise mit der gläsernen<br />

Werkstatt oder der Showkabine. Dabei werden betriebliche<br />

Prozesse mit den Ideen der Gestaltung auf eine Handlungsebene<br />

gebracht.<br />

OT: Was steckt hinter der Idee, einen Einblick in die Werkstatt<br />

zu gewähren?<br />

Park: Man kennt es aus dem Bäckerhandwerk. Auf den Monitoren<br />

hinter der Theke bekommt der Kunde einen Einblick<br />

in die Backstube – darf also hinter die Kulissen schauen. Er<br />

sieht also, wie das Produkt – beim Bäcker Brötchen oder Brezel<br />

– erst in den Ofen geschoben wird und dann frisch zubereitet<br />

in der eigenen Brötchentüte landet. Wow! Die Gesundheitshandwerke<br />

brauchen sich mit ihren Leistungen nicht<br />

zu verstecken. Als Kunde möchte ich sehen, wie mein Versorger<br />

bzw. Orthopädietechniker mit meinem Körper und dem<br />

daran angepassten Hilfsmittel umgeht. Aus diversen Gründen<br />

zahle ich einen Aufpreis auf ein Hilfsmittel und möchte<br />

doch wissen, warum. Wenn ich als Kunde wirklich sehe<br />

und erkenne, was sich beispielsweise hinter der Fertigung ei-<br />

40<br />

<strong>Sanitätshaus</strong> <strong>2024</strong>


Ladenbau und -gestaltung<br />

ner Orthese verbirgt, dann schätze ich doch umso mehr den<br />

Kostenaufwand. Das Vertrauen eines Kunden in den Betrieb<br />

steigt und eine Angst vor einer Hilfsmittelversorgung wird in<br />

Zuversicht und positive Gewissheit korrigiert.<br />

OT: Wie nehmen die Mitarbeiter:innen im <strong>Sanitätshaus</strong><br />

diese Umgestaltung wahr?<br />

Park: Neue Entwicklungen, das sind wir gewohnt, werden<br />

nicht sogleich mit einem „Hurra“ beantwortet. Vielmehr<br />

ist es wichtig, die Mitarbeiter beim Kreieren der Ideen –<br />

sprich an der Basis einer Neu- oder Umgestaltung – mit ins<br />

Boot zu nehmen. Zu unseren Workshops, die wir zu Beginn<br />

einer Planungsphase anbieten, können individuelle<br />

Impulse eingebracht werden, die später in der Planung berücksichtigt<br />

werden. Uns Gestaltern obliegt die Aufgabe,<br />

die Wünsche und Ideen mit möglichst einfachem Handling<br />

umzusetzen, sodass der Wow-Effekt nicht nur für den<br />

Kunden, sondern vor allem für den Mitarbeiter gewährt ist.<br />

OT: Welche Vorbehalte mussten Sie ausräumen bei<br />

Inhaber:innen wie Mitarbeiter:innen, als Sie Ihr Konzept<br />

vorgestellt haben?<br />

Park: Als ich begann, in der Gesundheitsbranche gestalterisch<br />

tätig zu werden, wollte ich das eher negativ behaftete<br />

Image eines <strong>Sanitätshaus</strong>es grundlegend verändern. Diese<br />

Branche hat keine sexy Produkte zum Verkauf zu bieten,<br />

aber sie unterstützt Menschen in der Verbesserung<br />

ihrer Lebensqualität. Wir versuchen, um diese Produkte<br />

und die Prozesse herum Raumstrukturen zu erarbeiten,<br />

die ein Verkaufserlebnis schaffen, damit sich dieses Image<br />

verbessert und die Wahrnehmung der Branche aufpoliert<br />

wird. Letztendlich sind wir mitverantwortlich, durch unsere<br />

Konzepte noch mehr Kunden auf die Fläche und in einen<br />

Gesundheitsfachbetrieb zu locken. Das beste Ergebnis<br />

entsteht durch das Vertrauen in meine Person und unsere<br />

Fachexpertise. Die Begeisterung seitens der Geschäftsführer<br />

besteht in jedem Fall, der Weg zur Umsetzung ist je nach<br />

Bausituation abwechslungsreich.<br />

OT: Für welche Versorgungsbereiche lohnt es sich, den Einblick<br />

hinter die Kulissen zu gewähren?<br />

Fotos [2]: Heribert Boernichen<br />

Park: Im Bereich der Kompression gibt es Mess- und Analysegeräte,<br />

die viel zu schade dafür sind, vor den Blicken<br />

der Kunden versteckt zu werden. Warum soll diese hochkarätige<br />

Technik nicht allen Kunden zugänglich werden?<br />

Kommt der Kunde ausschließlich wegen einer Einlagenversorgung<br />

in das <strong>Sanitätshaus</strong> oder benötigt er mehr? Analog<br />

dem Sport- oder Bekleidungsfachhandel werden Waren<br />

präsentiert, die Bedarf wecken sollen. Genauso verhält es<br />

sich im <strong>Sanitätshaus</strong>: Es müssen Bedürfnisse beim Kunden<br />

geweckt werden. Die Kundenansprache hat sich in jüngster<br />

Zeit verändert, die Tabuisierung der Hilfsmittelversorgung<br />

wird mehr und mehr obsolet. Ich weise darauf hin:<br />

Hilfsmittel werden verkauft – Punkt. Dieses Thema gilt es<br />

mit Verkaufserlebnissen zu „inszenieren“. Den Einblick in<br />

die Werkstätten und Anproben der Kompression oder Bandagenwelt<br />

den Kunden erleben zu lassen, ist ein Weg der<br />

modernen Sichtbarkeit eines Betriebes und bringt nicht<br />

nur bestehende, sondern auch neue Kunden auf eine <strong>Sanitätshaus</strong>fläche.<br />

OT: Wo wird das Konzept der Showkabine schon genutzt?<br />

Park: Es geht nicht ausschließlich um eine Showkabine, es<br />

geht um Prozesse auf der Fläche, die räumlich abgebildet<br />

werden müssen und individuell an den Anforderungen<br />

der Betriebe angepasst sind. So haben wir beispielsweise<br />

zu einem Neubau in Kaarst, <strong>Sanitätshaus</strong> H&R GmbH, eine<br />

Showkabine und eine Showlaufanalyse konzeptioniert, was<br />

als Anforderung aus einem Workshop resultierte. Bereits<br />

beim Betreten der Ladenfläche werden beide Show flächen<br />

erkennbar und dem Kunden offensichtlich. Die Neugierde<br />

der Kunden erfahren die Mitarbeiter positiv und so kann<br />

eine frei verkäufliche Dienstleistung zusätzlich, über das<br />

Rezept hinaus, angeboten werden. Ein weiteres Beispiel ist<br />

ein Betrieb in Hilden, Vital <strong>Sanitätshaus</strong> Andreas Wylenzek,<br />

wo der Kunde bereits von außen, ohne das Geschäft<br />

betreten zu haben, ein Kompressionsmess system erblickt.<br />

Die weitere vielversprechende Überraschung erfährt der<br />

Kunde sogleich beim Eintritt in die Verkaufsfläche: Durch<br />

ein großes Sichtfenster wird eine Laufanalyse sichtbar. Diese<br />

gesellt sich geschickt konzipiert zu den Themen rund um<br />

den Fuß. Bereits der wartende Kunde oder derjenige, der einen<br />

Schuh anprobiert, kann sich unmittelbar mit der interessanten<br />

Technik auseinandersetzen. Wir haben durch<br />

unsere Planungskonzeption in beiden Beispielen versucht,<br />

unterschwellig den Kunden während eines Warenkontaktes<br />

zusätzlich mit weiteren Anreizen in Berührung kommen<br />

zu lassen!<br />

Das komplette Interview ist im Fachmagazin<br />

ORTHOPÄDIE TECHNIK in<br />

der Ausgabe 07/2023 erschienen<br />

und über den QR-Code abrufbar.<br />

Die Fragen stellte Heiko Cordes.<br />

<strong>Sanitätshaus</strong> <strong>2024</strong><br />

41


Abstracts<br />

Lymphologie<br />

R. Hägerling<br />

Die Genetik und Diagnostik<br />

des primären Lymphödems<br />

Das primäre Lymphödem ist eine angeborene, genetisch verursachte<br />

Erkrankung des Lymphgefäßsystems. Diese genetisch bedingten<br />

Abweichungen resultieren aus einer Fehlentwicklung<br />

oder Dysfunktionen im Lymphgefäßsystem, was zu einer Akkumulation<br />

von Flüssigkeit im Gewebe und somit zur Entwicklung eines<br />

Ödems führt. Die häufigste Form dieser Erkrankung manifestiert<br />

sich als peripheres Lymphödem in den unteren Extremitäten. Jedoch<br />

können auch systemische Manifestationen auftreten, darunter<br />

intestinale Lymphangiektasien, Aszites, Chylothorax oder sogar<br />

ein Hydrops fetalis. Das klinische Erscheinungsbild und die Ausprägung<br />

des Lymphödems variieren je nach dem beteiligten Gen und<br />

der vorliegenden Mutation. Die Formen des Lymphödems werden<br />

in fünf Kategorien unterteilt: (1) Erkrankungen mit somatischem<br />

Mosaik und segmentalen Wachstumsstörungen, (2a) syndromale<br />

Krankheitsbilder, (2b) Erkrankungen mit systemischer Beteiligung,<br />

(2c) kongenitale Lymphödeme und (2d) spät auftretende<br />

(late-onset) Lymphödeme nach dem ersten Lebensjahr. Die genetische<br />

Diagnostik erfolgt nach detaillierter Beurteilung der klinischen<br />

Symptome des Patienten und Einordnung in eine der oben<br />

genannten fünf Kategorien. Die Diagnostik erfolgt in der Regel gemäß<br />

einer Stufendiagnostik. Man beginnt typischerweise mit einer<br />

Basisdiagnostik, die zytogenetische und molekularzytogenetische<br />

Untersuchungen umfasst. Anschließend kann eine molekulargenetische<br />

Diagnostik mittels Einzelgen-Analysen, Gen-Panel-Untersuchungen,<br />

Exomsequenzierung oder Ganzgenomsequenzierung<br />

durchgeführt werden. Diese Untersuchungen ermöglichen die<br />

Identifizierung von genetischen Varianten oder Mutationen, die<br />

als Ursache für die vorliegende Symptomatik angesehen werden<br />

können. Die Kenntnis der ursächlichen, genetischen Veränderung<br />

ermöglicht in Verbindung mit einer humangenetischen Beratung<br />

Aussagen über den Vererbungsmodus, das Wiederholungsrisiko<br />

und mögliche Begleitsymptome. In vielen Fällen ist eine präzise<br />

molekulargenetische Diagnostik erforderlich, um die spezifische<br />

Form des primären Lymphödems eindeutig zu identifizieren.<br />

Schlüsselwörter: Genetik, Lymphödem, Molekulargenetik,<br />

Diagnostik, Lymphgefäßerkrankungen<br />

Abstract aus ORTHOPÄDIE TECHNIK 11 / 2023, S. 28 – 37<br />

Kompression<br />

W. M. Strobl<br />

Senso-Orthetik mit Kompression und<br />

Elektrostimulation bei zerebralen<br />

Bewegungsstörungen – was wissen<br />

wir zur Effektivität?<br />

Bei Kindern und Erwachsenen mit zerebralen Bewegungsstörungen<br />

wird die Rolle der Sensorik, die ausreichende zentrale Verarbei-<br />

tung exterozeptiver und propriozeptiver Reize aus der Peripherie<br />

für die Gewährleistung einer angemessenen Haltungs- und Bewegungskontrolle<br />

unterschätzt. Die Folgen sind fortschreitende sekundäre<br />

Effekte des Nicht-Gebrauchs, Schmerzen und muskuloskelettale<br />

Veränderungen. Die Stimulation der Mechanorezeptoren<br />

durch Kompression und Elektrostimulation ermöglicht eine<br />

nicht-invasive Aktivierung des gesamten sensomotorischen Systems<br />

und eine subjektiv und objektiv messbare Verbesserung der<br />

Lebensqualität. Zahlreiche Beobachtungsstudien und Erfahrungen<br />

berichten über positive Effekte. Senso-Orthesen mit Kompression<br />

und/oder Elektrostimulation können Schmerzen reduzieren,<br />

den Tonus regulieren und die physiologisch und psychologisch<br />

wichtige Haltung sowie die Bewegung des Patienten verbessern.<br />

Wie in vielen anderen Fällen multimodaler konservativer Behandlungsmaßnahmen<br />

reicht die wissenschaftliche Evidenz jedoch für<br />

eine abschließende Aussage für die meisten Senso-Orthesen noch<br />

nicht aus. Bei allen Senso-Orthesen mit Kompression und / oder<br />

Elektrostimulation ist eine genaue Diagnostik und Testung durch<br />

ein erfahrenes Team unerlässlich, um die bestmögliche Therapieoption<br />

zu finden.<br />

Schlüsselwörter: Senso-Orthesen, Kompressionsorthesen,<br />

Ganzkörperkompressionsorthese, Elektrostimulation,<br />

Elektrostimulationsorthese, Zerebrale Bewegungsstörung<br />

Abstract aus ORTHOPÄDIE TECHNIK 11 / 2023, S. 38 – 47<br />

Kompression<br />

H. Lötzerich<br />

Kompressionsbekleidung im Sport und<br />

ihre Wirksamkeit bezüglich Leistung,<br />

Regeneration und Propriozeption – ein<br />

Überblick über die Studienlage<br />

Der Einfluss von Kompressionsstrümpfen im Sport wird auf mehreren<br />

Ebenen diskutiert: Sie werden in erster Linie getragen, um<br />

die sportliche Leistung und die Regeneration zu verbessern und<br />

dabei der Müdigkeit entgegenzuwirken. Weiterhin soll die Propriozeption<br />

verbessert werden. Während biologische Grundlagenuntersuchungen<br />

eine deutliche Verbesserung des venösen Abflusses<br />

durch eine Kompressionstherapie nachweisen können, variiert die<br />

Evidenz in vielen Studien aufgrund sehr unterschiedlicher methodischer<br />

Ansätze, verschiedener Probandengruppen und sehr unterschiedlicher<br />

Messparameter. Insgesamt sprechen jedoch etliche<br />

Befunde für eine Verbesserung der Ausdauerleistung und eine verbesserte<br />

Regeneration durch das Tragen von Kompressionsbekleidung<br />

im Sport – zudem verbessert sich dadurch nicht zuletzt auch<br />

die psychische Verfassung der Sportler. Bei den Befunden zeigt<br />

sich eine gewisse Tendenz: Je weniger trainiert, je älter und je übergewichtiger<br />

die Probanden sind, umso deutlicher zeichnen sich die<br />

positiven Effekte einer Kompressionsbestrumpfung ab.<br />

Schlüsselwörter: Kompressionsstrümpfe, sportliche Leistung,<br />

Regeneration<br />

Abstract aus ORTHOPÄDIE TECHNIK 11 / 2022, S. 42 – 47<br />

42<br />

<strong>Sanitätshaus</strong> <strong>2024</strong>


„Improvisation“<br />

Illustration: Karlheinz Baumann


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