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Zukunft Forschung 01/2024

Das Forschungsmagazin der Universität Innsbruck

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Ausgabe 1/<strong>2024</strong>, 16. Jg.<br />

zukunft forschung <strong>01</strong> | 24<br />

zukunft<br />

forschung<br />

ENTSCHEIDEN<br />

FÜR EIN MORGEN<br />

thema: zukunftsfragen beantworten I serien: die romane des 21. jahrhunderts<br />

betriebswirtschaft: open strategy I gaming: leistungssteigerung durch sport<br />

biochemie: genetischer schaltfehler I schule: pädagogisches ethos vermitteln<br />

DAS MAGAZIN FÜR WISSENSCHAFT UND FORSCHUNG DER UNIVERSITÄT INNS BRUCK


2 zukunft forschung <strong>01</strong>/24<br />

Foto: Andreas Friedle<br />

SOS-Kinderdorf dankt KULTIG für die kostenlose Einschaltung!


EDITORIAL<br />

LIEBE LESERIN, LIEBER LESER,<br />

In der Gegenwart stellen sich uns viele Fragen. Immer raschere<br />

technologische Entwicklungen, multiple Krisen und<br />

die Existenzgefährdung durch den sich beschleunigenden<br />

Klimawandel zwingen uns heute zu sehr grundlegenden Entscheidungen.<br />

Die Auswirkungen dieser Entscheidungen treffen<br />

nicht nur uns, sondern auch die zukünftigen Generationen.<br />

Wesentliche Basis für diese Entscheidungen über die <strong>Zukunft</strong><br />

sind die wissenschaftlichen Grundlagen, wie sie auch an unserer<br />

Universität tagtäglich erarbeitet werden. Die Analyse von<br />

Ökosystemleistungen kann dort helfen, wo zwischen verschiedenen,<br />

sich teilweise widersprechenden Zielsetzungen entschieden<br />

werden muss. Ethische Abwägungen bedürfen leitender<br />

Prinzipien, die auf einer umfassenden Grundlage fußen. Unser<br />

individuelles Handeln muss mit kollektiven Zielen in Einklang<br />

gebracht werden. Entwicklungen wie die Künstliche Intelligenz<br />

müssen verstanden werden, um Rahmenbedingungen für ihre<br />

Anwendung schaffen zu können. Zu all diesen Themen arbeiten<br />

unsere Forscherinnen und Forscher mit dem gemeinsamen Ziel,<br />

die <strong>Zukunft</strong> für die Menschheit zu sichern und kommenden<br />

Generationen eine lebenswerte Welt zu übergeben. Einige Beispiele<br />

präsentieren wir im Schwerpunkt dieser Ausgabe.<br />

Zusätzliche spannende Themen aus vielen Fachbereichen sowie<br />

aktuelle Beispiele, wie das an der Universität generierte Wissen<br />

in die Gesellschaft fließt, finden Sie auf den weiteren Seiten.<br />

Wir wünschen Ihnen eine interessante Lektüre und freuen uns<br />

über Ihre Anregungen und Fragen!<br />

VERONIKA SEXL, REKTORIN<br />

GREGOR WEIHS, VIZEREKTOR FÜR FORSCHUNG<br />

IMPRESSUM<br />

Herausgeber & Medieninhaber: Leopold-Franzens-Universität Inns bruck, Christoph-Probst-Platz, Innrain 52, 6020 Inns bruck,<br />

www.uibk.ac.at<br />

Projektleitung: Büro für Öffentlichkeitsarbeit und Kulturservice – Mag. Uwe Steger (us), Mag. Eva Fessler (ef), Dr. Christian Flatz<br />

(cf); public- relations@uibk.ac.at Verleger: KULTIG Werbeagentur KG – Corporate Publishing, Sparkassenplatz 2, 6020 Inns bruck,<br />

www.kultig.at Redaktion: Mag. Melanie Bartos (mb), Mag. Andreas Hauser (ah), Mag. Stefan Hohenwarter (sh), Mag. Susanne<br />

Röck (sr) Lektorat & Anzeigen: Stefanie Steiner, BA Layout & Bildbearbeitung: Mag. Andreas Hauser, Florian Koch Fotos:<br />

Andreas Friedle, Universität Inns bruck Druck: Gutenberg, 4021 Linz<br />

Foto: Uni Inns bruck<br />

zukunft forschung <strong>01</strong>/24 3<br />

Minde


BILD DER<br />

WISSENSCHAFT


INHALT<br />

TITELTHEMA<br />

8<br />

ÖKOLOGIE. Mit dem Konzept der Ökosystemleistungen<br />

versuchen Wissenschaftler:innen rund um Ulrike Tappeiner, die<br />

Bedeutung von Ökosystemen bewertbar zu machen, um zu<br />

deren Schutz beizutragen. 8<br />

PSYCHOLOGIE. Dass wir mehr für die Umwelt tun müssen,<br />

bestreitet kaum jemand. Die subjektiven Gründe, dann doch<br />

nichts zu unternehmen, untersucht Jana Kesenheimer. 12<br />

WIRTSCHAFT. Welchen Einfluss hat Künstliche Intelligenz auf<br />

Online-Bewertungen und Bewertungsplattformen? 14<br />

MEDIZIN. Birgit Weinberger will wissen, warum die<br />

Immunantwort auf Impfungen im Alter schwächer wird. 16<br />

PHILOSOPHIE. Martin Huth geht mit zwei Kolleg:innen der<br />

Frage nach, welche Rolle Imagination und Empathie in unserem<br />

Umgang mit Tieren und anderen Menschen spielen.18<br />

TITELTHEMA. Wesentliche Basis für Entscheidungen,<br />

die unsere <strong>Zukunft</strong> betreffen, sind wissenschaftliche<br />

Grundlagen. Erarbeitet werden diese an<br />

Universitäten, ZUKUNFT FORSCHUNG zeigt,<br />

welche das an der Universität Innsbruck sind.<br />

26<br />

FORSCHUNG<br />

STANDORT. <strong>Forschung</strong>s-Attachée Elisabeth Smits über ihre<br />

Arbeit in Brüssel, aktuelle forschungspolitische Fragen auf<br />

EU-Ebene und die Performance heimischer Universitäten. 24<br />

SCHULFORSCHUNG. Gabriele Schauer zeigt angehenden<br />

Lehrer:innen Möglichkeiten, wie man mit vieldeutigen<br />

Situationen im Schulalltag kompetent umgehen kann. 30<br />

SPORTWISSENSCHAFT. Felix Wachholz erforscht,<br />

wie Sport die Gaming-Performance verbessern kann.<br />

Damit sollen vor allem wieder mehr junge Menschen<br />

zu körperlichen Aktivitäten motiviert werden.<br />

34<br />

GERMANISTIK. Jedes Monat erscheinen auf Streamingplattformen<br />

dutzende neue Serienfolgen. Mit deren Rezeption in Form des<br />

„Binge Watchings“ befasst sich Maren Lickhardt. 32<br />

BIOCHEMIE. Gerät das Protein mTOR außer Kontrolle, kommt es zu<br />

schwerwiegenden Krankheiten wie der Tuberösen Sklerose. Warum<br />

diese bei den Betroffenen unterschiedlich stark ausgeprägt ist,<br />

untersuchen Innsbrucker Forscher:innen. 36<br />

BILDUNGSWISSENSCHAFT. Franziska Lessky beforscht die Bildungswege<br />

von Studierenden aus Haushalten ohne Akademiker:innen. 42<br />

WIRTSCHAFTSWISSENSCHAFT. Julia Hautz<br />

untersucht, wie Open Strategy zu einer erfolgreichen<br />

Umsetzung von Restrukturierungsprozessen in<br />

Unternehmen führen kann.<br />

RUBRIKEN<br />

EDITORIAL/IMPRESSUM 3 | BILD DER WISSENSCHAFT: NERVENNETZ DER HYDRA 4 | NEUBERUFUNG: INA PICK 6 | FUNDGRUBE VER GANGEN HEIT: EUGEN BÖHM-BAWERK UND DIE<br />

KAPITALMARKTTHEORIE 7 | MELDUNGEN 22 + 29 + 41 | WISSENSTRANSFER 38 – 40 | PREISE & AUSZEICHNUNGEN 45 – 47 | ZWISCHENSTOPP: AHMET SÖZEN 48 | SPRUNGBRETT<br />

INNS BRUCK: JAN KARLSEDER 49 | ESSAY: STRIEFSTUM von Brigitte Rath 50<br />

Neue Antikörper machen die verschiedenen Neuronen-Typen im Nervennetz<br />

des Süßwasserpolypen Hydra sichtbar. So konnte ein internationales<br />

Team unter Beteiligung von Forscher:innen um Bert Hobmayer vom Institut<br />

für Zoologie zeigen, dass sich die Fortsätze von benachbarten Neuronen<br />

in Hydra über weite Strecken aneinanderlagern und durch Zell-Zell-Verbindungen<br />

ein Informationsaustausch stattfindet. Dadurch können Reize<br />

schnell transportiert werden und sich wellenartig ausbreiten. – Hydra eignet<br />

sich für zelluläre und molekulare Untersuchungen, ihr Nervensystem<br />

stellt evolutiv eine Ausgangsform für die Entstehung komplexerer Nervensysteme<br />

und Gehirne dar, was sie für die <strong>Forschung</strong> interessant macht.<br />

Fotos: Sarah Kerle (1) Andreas Friedle (2); COVERFOTO: AdobeStock / VRD; BILD DER WISSENSCHAFT: Sandra Scheid, Charles N. David<br />

zukunft forschung <strong>01</strong>/24 5


NEUBERUFUNG<br />

INA PICK studierte Allgemeine und<br />

Angewandte Sprachwissenschaft an der<br />

Universität Wien und promovierte an der<br />

Technischen Universität Dortmund zum<br />

sprachlichen Handeln im anwaltlichen<br />

Mandantengespräch. Von 2<strong>01</strong>6 bis 2023<br />

war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin an<br />

der Universität Basel und arbeitete dort<br />

u. a. zur Digitalisierung von Patientenakten.<br />

Die Habilitation folgte 2023 an der<br />

Universität Basel. Als Gastwissenschaftlerin<br />

und Lehrbeauftragte war sie u. a. an<br />

der University of Colorado Boulder, der<br />

HU Berlin, der TH Köln und der Universität<br />

Bielefeld tätig. Seit September 2023<br />

ist Ina Pick Professorin für Germanistische<br />

Sprach- und Medienwissenschaft an der<br />

Universität Innsbruck.<br />

KUNST DER KOMMUNIKATION<br />

Wie wird Sprache genutzt, wie wirkt sie sich aus, und wie kann man Kommunikation verbessern?<br />

Mit diesen Fragen beschäftigt sich Ina Pick, die seit September 2023 am Institut für Germanistik der<br />

Universität Innsbruck forscht und lehrt.<br />

Ina Pick interessiert sich für Kommunikation<br />

in all ihren Medialitäten, also<br />

Gespräche, Texte und auch mediale<br />

Kommunikation. „Mit jeder noch so kleinen<br />

Äußerung, ob analog oder digital,<br />

wird gesellschaftliche und soziale Wirklichkeit<br />

produziert und reproduziert“,<br />

erklärt die studierte Sprachwissenschaftlerin.<br />

In der Linguistik werden die einzelnen<br />

Kommunikationsarten traditionell in<br />

unterschiedlichen Teildisziplinen behandelt.<br />

„Mein Ansatz ist jedoch, die Kommunikation<br />

in ihrer gesamten Breite zu<br />

betrachten. Menschen sprechen, schreiben<br />

und kommunizieren über verschiedenste<br />

digitale Medien. Die Wechselbeziehungen<br />

zwischen den einzelnen Kommunikationsformen<br />

finde ich besonders spannend“,<br />

erklärt Ina Pick.<br />

Schon im Studium hat die Linguistin<br />

ihren Fokus auf die institutionelle Kommunikation<br />

gelegt. In ihrer Dissertation<br />

analysierte sie Gespräche von Rechtsanwält:innen<br />

mit ihren Mandant:innen. Dazu<br />

hat sie ein Gesprächskorpus von rund 90<br />

Stunden erhoben und sprachwissenschaftlich<br />

untersucht. In einer aktuellen Studie<br />

analysiert sie dieses Korpus erneut, um<br />

zu erforschen, wie sich Vertrauen in der<br />

Kommunikation manifestiert und wie das<br />

Vertrauensverhältnis von Kommunikation<br />

beeinflusst wird. „Zudem vergleiche ich<br />

mündliche Mandant:innengespräche mit<br />

Online-Rechtsberatungen. Auch wenn es<br />

von außen betrachtet dieselbe Situation ist,<br />

zeigt sich bei genauerer Analyse ein großer<br />

Unterschied zwischen den beiden Medialitäten“,<br />

beschreibt Ina Pick. Den Grund<br />

dafür sieht sie unter anderem in den verschiedenen<br />

Handlungszusammenhängen.<br />

„Das Ziel, mit dem man in die jeweilige<br />

Beratung geht, zeigt sich ganz deutlich in<br />

den Daten, und dieses unterscheidet sich<br />

bei Online-Rechtsberatungen, bei denen es<br />

in der Regel nur um eine Rechtsauskunft<br />

geht, deutlich von Mandant:innengesprächen,<br />

die den Beginn einer Zusammenarbeit<br />

und oft auch die Vertretung durch<br />

die Anwält:innen im jeweiligen Fall darstellen“,<br />

so die Linguistin.<br />

Praktische Anwendung<br />

Neben der Lehr- und <strong>Forschung</strong>sarbeit<br />

trägt Ina Pick ihre Ergebnisse auch in die<br />

Praxis zurück. In Vorträgen und Coachings<br />

für die von ihr untersuchten Berufsgruppen<br />

– neben Rechtsanwält:innen<br />

auch Sozialarbeiter:innen, Mediator:innen<br />

oder Mediziner:innen – versucht sie,<br />

einzelne Mechanismen aufzuzeigen, die<br />

den Verlauf und somit auch den Erfolg<br />

von kommunikativer Interaktion beeinflussen.<br />

Ein Patentrezept für gute Kommunikation<br />

gibt es laut der Linguistin<br />

allerdings nicht. „Aus sprachwissenschaftlicher<br />

Sicht gibt es keine einfachen<br />

fünf Dos and Don‘ts in der Kommunikation.<br />

Dafür ist das kommunikative Geschehen<br />

viel zu komplex und sind die<br />

Ziele viel zu divers“, erklärt Ina Pick. Sie<br />

arbeitet daher an einer sprachwissenschaftlichen<br />

Methodik, um die komplexen<br />

Abläufe im Zusammenspiel einzelner<br />

Kommunikationshandlungen und -medialitäten<br />

sowie deren Gelingen empirisch<br />

messbar zu machen. sr<br />

6 zukunft forschung <strong>01</strong>/24<br />

Foto: Andreas Friedle


FUNDGRUBE VERGANGENHEIT<br />

EIN PREIS FÜR DIE ZEIT<br />

Vor 160 Jahren begründete Eugen Böhm-Bawerk, Professor für Politische Ökonomie an der<br />

Universität Innsbruck, mit Kapital und Kapitalzins die österreichische Kapitalmarkttheorie.<br />

Die vierzehn Jahre zwischen 1875<br />

und 1889 umfassen den Kern seines<br />

wissenschaftlichen Schaffens<br />

– eine kleine Spanne Zeit, aber lang für<br />

die meist so kurze Blütezeit theoretischer<br />

Begabungen“, schrieb 1914 der österreichische<br />

Nationalökonom Joseph Schumpeter<br />

in einem Nachruf über seinen Lehrer<br />

Eugen Böhm-Bawerk. Zwei Drittel dieser<br />

Zeit verbrachte der Wiener Böhm-Bawerk<br />

an der Universität Innsbruck: 1881 erhielt<br />

er dort die Venia Legendi, 1884 die Professur<br />

für politische Ökonomie, 1889 wechselte<br />

er ins Finanzministerium nach Wien.<br />

In diesen Jahren, 1884 und 1889, publizierte<br />

Böhm-Bawerk mit Kapital und Kapitalzins<br />

sein wissenschaftliches Hauptwerk<br />

und begründete damit die österreichische<br />

Kapitalmarkttheorie.<br />

„Böhm-Bawerk war nicht der einzige<br />

Vertreter der damals jungen Wiener<br />

Schule. Gemeinsam mit Carl Menger und<br />

Friedrich von Wieser führte er eine neue<br />

Definition des Begriffs Wert ein“, sagt<br />

Engelbert Theurl, pensionierter Universitätsprofessor<br />

für Volkswirtschaftslehre<br />

an der Universität Innsbruck. Für klassische<br />

und marxistische Nationalökonomen<br />

bestimmten allein die Arbeits- bzw.<br />

Produktionskosten den Wert, die Österreicher<br />

brachten den Nutzen ins Spiel.<br />

Ein Beispiel: Um seinen Hunger zu stillen,<br />

isst ein Mann eine Wurst. Da er danach<br />

immer noch etwas Hunger verspürt,<br />

isst er eine zweite. Die dritte und vierte<br />

isst er nur noch, weil sie ihm schmeckt,<br />

nach der fünften wird ihm schlecht. Der<br />

Grenznutzen (der Nutzenzuwachs in der<br />

Wirtschaftswissenschaft) wandelt sich<br />

von positiv (Sattheit) in negativ (Übelkeit).<br />

Menger entwickelte auf Basis dieser<br />

subjektiven Werttheorie eine Preistheorie,<br />

die Kosten- und Nutzenüberlegungen beinhaltet.<br />

Puzzlestück<br />

„Böhm-Bawerk ergänzte das Puzzle mit<br />

seiner Theorie des Kapitals und des Kapitalzinses“,<br />

erläutert Theurl. Eine zentrale<br />

EUGEN BÖHM-BAWERK (* 12. Februar<br />

1851 in Brünn) studierte Rechts- und<br />

Staatswissenschaften in Wien und promovierte<br />

1875. Danach ermöglichte ihm<br />

ein Reisestipendium Aufenthalte an den<br />

Universitäten Heidelberg, Leipzig und<br />

Jena. Schon während seiner Promotionsphase<br />

war er ab 1872 in der Niederösterreichischen<br />

Finanzlandesdirektion tätig,<br />

ab 1878 im Finanzministerium. Nach<br />

seiner Habilitation (1880) übernahm<br />

er 1881 Vorlesungen an der Universität<br />

Innsbruck und wurde 1884 zum<br />

Professor berufen. In der Innsbrucker Zeit<br />

schrieb er Kapital und Kapitalzins, ein<br />

zweibändiges Werk über die Zinstheorie,<br />

das er 1884 und 1889 veröffentlichte.<br />

Ab 1889 arbeitete er wieder im Finanzministerium<br />

an der Reform der direkten<br />

Besteuerung. 1895 wurde er österreichischer<br />

Finanzminister. Nach dreimaliger<br />

Amtszeit übernahm er 1904 eine<br />

Professur an der Universität Wien. Eugen<br />

Böhm-Bawerk starb am 27. August 1914<br />

während eines Urlaubs in Kramsach.<br />

Rolle spielt dabei die Zeit in der Produktion,<br />

für die Böhm-Bawerk eine Theorie<br />

der „Produktionsumwege“ entwickelte.<br />

„Man kann in einem See mit der Hand Fische<br />

fangen, das ist aber eher ineffizient.<br />

Mit Hilfsmitteln – einer Angel, einem<br />

Boot – wird der Fang ertragreicher“, nennt<br />

Theurl ein Beispiel. Diese (technischen)<br />

Umwege kosten Geld und Zeit, erhöhen<br />

aber die zukünftige Produktion. Ein zweiter<br />

Aspekt der Böhm-Bawerk‘schen Zinstheorie<br />

ist psychologischer Natur. „Aus<br />

rationalen, aber auch irrationalen Gründen<br />

neigen wir Menschen dazu, ein heutiges<br />

Gut dem zukünftigen vorzuziehen. Es<br />

sei denn, das zukünftige Gut ist schöner,<br />

größer oder besser“, erläutert Theurl: „Insofern<br />

ist der Zinssatz bei Böhm-Bawerk<br />

die Vergütung des Wartens.“ Mit seinen<br />

Überlegungen, dass Zinsen nicht der Preis<br />

des Geldes und nicht Teil des Mehrwerts,<br />

sondern der Preis für die Zeit sind, betrat<br />

Böhm-Bawerk Neuland, das Subjekt und<br />

die einzelwirtschaftliche Entscheidungsproblematik<br />

hatten in der Ökonomie bis<br />

dahin keine Berücksichtigung gefunden.<br />

Vater der Einkommensteuer<br />

An der Umsetzung seiner Zinstheorie in<br />

die Praxis zeigte Böhm-Bawerk wenig Interesse,<br />

als Finanzminister prägte er in<br />

seiner dreimaligen Amtszeit (1895, 1897–<br />

1898, 1900–1904) aber das österreichische<br />

Steuersystem nachhaltig. „Er ist der Vater<br />

unserer heutigen Einkommensteuer“,<br />

weiß Theurl. Böhm-Bawerk reformierte<br />

die bis dahin geltende bruchstückhafte<br />

analytische Besteuerung der verschiedenen<br />

Einkommensquellen zu einer synthetischen:<br />

Das Einkommen setzt sich aus der<br />

Summe der Einkünfte aus sieben möglichen<br />

Einkunftsarten zusammen und wird<br />

als Gesamtes besteuert. „Es war auch die<br />

erste progressive Einkommensteuer“, sagt<br />

Theurl. Eugen Böhm-Bawerk musste sich<br />

gegen viele Widerstände durchsetzen, die<br />

Einführung sei, so Theurl, „keine einfache<br />

Geschichte gewesen“ und zog sich über<br />

mehrere Jahrzehnte.“<br />

ah<br />

Foto: Wienbibliothek<br />

zukunft forschung <strong>01</strong>/24 7


WAS DIE NATUR FÜR<br />

UNS TUT<br />

Klimakatastrophe und Artensterben zählen zu den größten Herausforderungen,<br />

vor denen die Menschheit derzeit steht. Mit dem Konzept der<br />

Ökosystemleistungen versuchen Wissenschaftler:innen, die Bedeutung von<br />

Ökosystemen bewertbar zu machen, um zu deren Schutz beizutragen.<br />

8 zukunft forschung <strong>01</strong>/24<br />

Foto: Andreas Friedle


Foto: Johannes Rüdisser<br />

zukunft forschung <strong>01</strong>/24 9


TITELTHEMA<br />

ENTLANG EINES WANDER-<br />

WEGS im Bereich der Telfer<br />

Wiesen im Stubaital erfahren<br />

Besucher:innen an elf von den<br />

Wissenschaftler:innen entwickelten<br />

Stationen mehr zum<br />

Thema Ökosystemleistungen.<br />

Neben der Klimakrise ist die Biodiversitätskrise<br />

eine der größten Herausforderungen<br />

unserer Zeit. „Wir befinden<br />

uns derzeit im sechsten großen Massensterben,<br />

das hundert- bis tausendmal schneller<br />

voranschreitet als alle Massensterben zuvor“,<br />

erklärt Ulrike Tappeiner, Universitätsprofessorin<br />

für Ökologie an der Universität Innsbruck.<br />

Ausgelöst durch die Zerstörung natürlicher<br />

Lebensräume, die Ausbeutung von<br />

Ressourcen und den menschenverursachten<br />

Klimawandel ist dieses Massensterben mittlerweile<br />

weit fortgeschritten. Dieser Verlust<br />

von Biodiversität bedroht nicht nur einzelne<br />

Arten, sondern destabilisiert ganze Ökosysteme,<br />

die das Fundament für das menschliche<br />

Leben bilden. „Viele Folgen des Artensterbens<br />

sind noch nicht absehbar. Betrachtet man ein<br />

Ökosystem als Netz, stellen die verschiedenen<br />

darin vorkommenden Arten die einzelnen<br />

Knoten dar. Lösen sich einzelne Knoten auf,<br />

zerfällt das Netz“, verdeutlicht die Ökologin.<br />

Um die Dringlichkeit der Probleme, vor<br />

denen die Menschheit aktuell steht, aufzuzeigen,<br />

wurde von Wissenschaftler:innen bereits<br />

Ende der 1990er-Jahre das Konzept der Ökosystemleistung<br />

geschaffen. Damit sollen die<br />

komplexen Zusammenhänge und Vorteile der<br />

Natur aufgezeigt und verdeutlicht werden,<br />

dass Ökosysteme nicht nur eine Vielzahl von<br />

Arten beherbergen, sondern auch eine Vielzahl<br />

von Dienstleistungen erbringen, die für<br />

das Überleben und Wohlbefinden von Mensch<br />

und Natur von entscheidender Bedeutung<br />

sind. „Die Intention hinter der Erforschung<br />

von Ökosystemleistungen ist es, das Bewusstsein<br />

für die Bedeutung intakter Ökosysteme<br />

zu schärfen und den Wert der natürlichen Umwelt<br />

in wirtschaftlichen und gesellschaftlichen<br />

Entscheidungsprozessen zu berücksichtigen.<br />

Durch die Identifizierung, Quantifizierung<br />

und Bewertung dieser Leistungen können Politiker:innen<br />

und Stakeholder insgesamt besser<br />

verstehen, wie ihre Handlungen die Umwelt<br />

und die damit verbundenen Dienstleistungen<br />

beeinflussen“, erklärt Ulrike Tappeiner. Die<br />

Ökologin beschäftigt sich schon lange mit dem<br />

kombinierten Einfluss von Landnutzungswandel<br />

und Klimawandel auf Ökosystemdienstleistungen<br />

und ist auch Ko-Koordinatorin des<br />

APCC Special Report: Landnutzung und Klimawandel<br />

in Österreich, der Anfang <strong>2024</strong> veröffentlicht<br />

wurde.<br />

Drei Kategorien<br />

Ökosystemleistungen werden in drei Hauptkategorien<br />

unterteilt: Versorgungsleistungen,<br />

Regulierende Leistungen und Kulturel-<br />

10 zukunft forschung <strong>01</strong>/24<br />

Fotos: TVB Stubai Tirol / Andre Schönherr, Andreas Friedle


TITELTHEMA<br />

le Leistungen. „Versorgungsleistungen sind<br />

am einfachsten zu bemessen, da hier alles<br />

erfasst wird, was uns Menschen versorgt –<br />

also Nahrungsmittel, Wasser und auch Rohstoffe<br />

wie Holz, Baumwolle oder Wolle“,<br />

beschreibt Ulrike Tappeiner. Etwas schwieriger<br />

wird die Bewertung der regulierenden<br />

Leistungen. Hierunter fallen die Regulation<br />

von Ökosystemprozessen wie Klimaregulierung,<br />

Wasserreinigung und -versorgung,<br />

Bestäubung und die Bereitstellung von Lebensraum.<br />

„Am schwierigsten zu bewerten<br />

ist allerdings sicher die dritte Kategorie der<br />

kulturellen Leistungen eines Ökosystems<br />

oder einer Landschaft“, so Tappeiner. Diese<br />

beziehen sich auf immaterielle Vorteile, die<br />

Menschen aus der Natur ziehen, wie ästhetische<br />

Schönheit, kulturelle Identität, Bildung,<br />

Erholung und spirituelle Erfahrungen. „Aber<br />

auch wenn diese Leistungen der Ökosysteme<br />

schwer bewertbar sind, haben unsere Studien<br />

gezeigt, dass sie wesentlich für das menschliche<br />

Wohlbefinden sind“, erklärt Ulrike Tappeiner.<br />

Zusammenhänge aufzeigen<br />

Gemeinsam mit Soziolog:innen der Universität<br />

Innsbruck hat sie mit ihrer Arbeitsgruppe<br />

am Institut für Ökologie bereits mehrere Studien<br />

zur Erhebung der Ökosystemleistungen<br />

einzelner Regionen im Alpenraum durchgeführt.<br />

„Uns treibt dabei immer die Frage um,<br />

wie einzelne Stakeholder – also Grundbesitzer:innen,<br />

Tourist:innen, Sportler:innen und<br />

politische Entscheidungsträger:innen – die<br />

Leistungen eines Ökosystems bewerten“, beschreibt<br />

Tappeiner. „Hier kann es Synergien,<br />

aber auch Trade-offs geben“, beschreibt Tappeiner.<br />

„Ein Wald kann zum Beispiel ein hohes<br />

Maß an Versorgungsleistung bieten, ist<br />

dann für Tourist:innen aber weniger attraktiv.<br />

Für Entscheidungsträger:innen kann es deshalb<br />

sehr wertvoll sein, alle Faktoren und Zusammenhänge<br />

zu kennen, um mögliche Konfliktzonen<br />

zu identifizieren und entsprechend<br />

zu umgehen.“<br />

Auch moderne Medien finden dabei Einzug<br />

in die Studien der Arbeitsgruppe von<br />

Ulrike Tappeiner. Manuel Ebner, ein Postdoc<br />

in der Arbeitsgruppe, hat sich durch die<br />

Analyse von Bildern, die von Besucher:innen<br />

des Mondsees auf die Online-Fotodatenbank<br />

Flickr hochgeladen wurden, angesehen, was<br />

Besucher:innen besonders attraktiv finden.<br />

„Diese Analyse hat gezeigt, dass vor allem<br />

das Naturerlebnis und weniger eine gute Infrastruktur<br />

am See im Vordergrund steht“, erklärt<br />

Ulrike Tappeiner.<br />

Da sich das Konzept der Ökosystemleistungen<br />

durch seine Positionierung an der Schnittstelle<br />

zwischen Ökosystemen und menschlichem<br />

Handlungsbereich wie kaum ein anderes<br />

Konzept dazu eignet, die gesellschaftliche<br />

Bedeutung von Grundlagenforschung zu<br />

kommunizieren, hat das Team um Ulrike Tappeiner<br />

2<strong>01</strong>9 einen Erlebniswanderweg im Stubaital<br />

entwickelt. Im Rahmen eines vom österreichischen<br />

Wissenschaftsfonds FWF finanzierten<br />

Wissenschaftskommunikationsprojekts,<br />

das auf den Ergebnissen jahrelanger<br />

<strong>Forschung</strong>sarbeiten am Institut für Ökologie<br />

der Universität Innsbruck aufbaut, wurde die<br />

österreichweit erste Erlebniswanderung zum<br />

Thema Ökosystemleistungen in Gebirgslandschaften<br />

entwickelt. Entlang eines gemütlichen,<br />

rund 2,5 Kilometer langen Wanderwegs<br />

im Bereich der Telfer Wiesen im Ruhegebiet<br />

Kalkkögel erfahren Besucher:innen an elf Stationen<br />

mehr zum Thema Ökosystemleistungen<br />

und sollen so für den Schutz der Ökosysteme<br />

sensibilisiert werden. „Wir sind mittlerweile<br />

an einem Punkt angelangt, an dem wir<br />

dringend handeln müssen. Das Aufzeigen<br />

von Ökosystemleistungen bietet die Chance,<br />

die Entscheidungsträger:innen und die Gesellschaft<br />

dafür zu sensibilisieren“, erklärt<br />

Ulrike Tappeiner. <br />

sr<br />

ULRIKE TAPPEINER ist<br />

Leiterin der <strong>Forschung</strong>sgruppe<br />

Ökosystem- und Landschaftsökologie<br />

am Institut für<br />

Ökologie, Koordinatorin des<br />

<strong>Forschung</strong>szentrums Ökologie<br />

des Alpinen Raumes an der<br />

Universität Innsbruck und Präsidentin<br />

der Freien Universität<br />

Bozen. Ulrike Tappeiner erhielt<br />

mehrere Wissenschaftspreise,<br />

darunter 2<strong>01</strong>9 den Wissenschaftspreis<br />

der Stiftung<br />

Südtiroler Sparkasse und<br />

2020 den Research Award<br />

Südtirol. Sie ist koordinierende<br />

Lead-Autorin des 2. Österreichischen<br />

Sachstandsberichts<br />

zum Klimawandel, der von<br />

120 Wissenschaftler:innen bis<br />

2025 erstellt wird.<br />

zukunft forschung <strong>01</strong>/24 11


TITELTHEMA<br />

SUBJEKTIV FÜR<br />

DIE UMWELT<br />

Dass wir mehr für die Umwelt tun müssen, bestreitet kaum jemand.<br />

Die subjektiven Gründe, dann doch nichts zu unternehmen, untersucht die<br />

Psychologin Jana Kesenheimer.<br />

12 zukunft forschung <strong>01</strong>/24<br />

Foto: Andreas Friedle


TITELTHEMA<br />

Mehr Rad fahren, Müll trennen,<br />

weniger Fleisch auf dem Teller:<br />

Was der Umwelt hilft, ist<br />

weitestgehend allen bekannt. Und auch<br />

die Existenz der Klimakrise ist nicht so<br />

umstritten, wie eine laute Minderheit<br />

uns glauben machen will: Rund 95 Prozent<br />

der Bevölkerung bezweifeln gar<br />

nicht, dass sich das Klima dramatisch<br />

ändert und wir alle unser Verhalten entsprechend<br />

anpassen müssen. Warum<br />

das aber trotzdem nicht so weitreichend<br />

passiert, wie es nötig wäre, sieht sich die<br />

Psychologin Jana Kesenheimer näher<br />

an: „Wir – Tobias Greitemeyer und ich<br />

– haben uns gemeinsam zuerst Alltagssituationen<br />

angesehen und rund 180 Proband:innen<br />

gebeten, uns in Tagebuchform<br />

in einer App zu berichten, wann<br />

sie umweltbewusst gehandelt haben und<br />

für wie kostspielig sie dieses Handeln<br />

selbst gehalten haben. Insgesamt haben<br />

diese Personen über 4. 000 Verhaltensweisen<br />

berichtet.“<br />

Wenn in der Psychologie von „kostspielig“<br />

die Rede ist, sind damit nicht<br />

zwangsläufig finanzielle Kosten gemeint;<br />

es geht generell um den empfundenen<br />

Aufwand und eine mit einem Handeln<br />

verbundene Anstrengung. „In der Psychologie<br />

gibt es eine sehr oft überprüfte<br />

Theorie, die besagt, dass Optionen,<br />

wenn sie so einfach sind, dass sie keinen<br />

Aufwand verursachen, automatisch genommen<br />

werden. Die eigene Einstellung<br />

sollte keine Rolle dabei spielen. Um bei<br />

Umweltbewusstsein zu bleiben: Wenn<br />

ein Plastiksackerl im Supermarkt Geld<br />

kostet, und ich gesondert und aktiv danach<br />

fragen muss, sollte die Mehrheit<br />

keines nehmen, weil die Alternative weniger<br />

kostspielig ist und man spätestens<br />

beim nächsten Einkauf einen Stoffsack<br />

selbst mitbringt, und zwar unabhängig<br />

davon, ob man sich selbst als umweltbewusst<br />

beschreibt oder nicht“, erklärt<br />

Kesenheimer.<br />

Umgekehrt gilt für kostspieligere Alternativen,<br />

dass die eigene Einstellung<br />

deutlicher vorhersagen sollte, wie man<br />

handelt – also als umweltbewusste Person<br />

eher geneigt sein sollte, zum Beispiel<br />

für eine Konferenz in Barcelona den<br />

Zug zu nehmen statt eines Flugzeugs,<br />

obwohl die Zugfahrt deutlich teurer ist<br />

und viel länger dauert als ein Flug. „In<br />

der Studie haben nun aber weniger umweltbewusste<br />

Menschen öfter von kostspieligen<br />

Situationen berichtet, in denen<br />

sie sich umweltbewusst verhalten haben<br />

und umgekehrt, also genau das Gegenteil<br />

dessen, was zu erwarten war.“<br />

Subjektive Entscheidung<br />

Mit einem Blick auf die tatsächlichen<br />

Antworten ergab sich für das Team aber<br />

rasch ein Grund für diese Einschätzung:<br />

Die Proband:innen konnten selbst angeben,<br />

wie kostspielig eine Entscheidung<br />

für sie war. „Zuerst bin ich darüber gestolpert,<br />

dass eine Person als umweltbewusstes<br />

Handeln angegeben hat, zum<br />

Kochen von Wasser einen Deckel verwendet<br />

zu haben und das mit Kosten<br />

von 7 von 10 bewertet hat. Mein Gedanke<br />

war: Das ist eine Maßnahme, die ich nie<br />

nennen würde, weil sie mir so banal erscheint,<br />

und vor allem fand ich das nicht<br />

besonders kostspielig, in keinem Fall auf<br />

Stufe 7 von 10. Umgekehrt haben umweltbewusste<br />

Personen ihr Handeln als<br />

grundsätzlich weniger kostspielig eingeschätzt.<br />

Das hat uns gezeigt: Subjektivität<br />

spielt hier eine sehr große Rolle, das<br />

erschwert die Untersuchung.“<br />

Die Forscher:innen haben dann rund<br />

160 weitere Proband:innen akquiriert,<br />

die das Verhalten der Teilnehmer:innen<br />

in der ersten Studie beurteilt haben – also<br />

zustimmen mussten, ob das Verhalten<br />

auf der Kostspieligkeitsskala richtig eingeschätzt<br />

wurde oder nicht. „Da konnten<br />

wir dann zeigen, dass es systematische<br />

Verzerrungen gibt. Menschen, die wenig<br />

umweltbewusst eingestellt sind, überschätzen<br />

systematisch die Kosten und<br />

unterschätzen den Nutzen. Und Leute<br />

mit größerem Umweltbewusstsein sehen<br />

JANA SOPHIE KESENHEIMER hat an<br />

der Eberhard-Karls-Universität Tübingen<br />

studiert, zwischendurch im Bereich der<br />

Marktforschung und im Marketing gearbeitet<br />

und dann nach einem „besseren<br />

Sinn“ gesucht – den sie durch ihr Doktorat<br />

an der Universität Innsbruck 2<strong>01</strong>9<br />

gefunden hat. 2022 schloss sie den PhD<br />

mit dem Titel „Psychologische Determinanten<br />

umweltbewussten Verhaltens“<br />

an der Universität Innsbruck ab. Seitdem<br />

vertieft sie ihre <strong>Forschung</strong> in diesem Bereich<br />

als Postdoc, um die psychologischen<br />

Barrieren und Treiber einer nachhaltigen<br />

Transformation auf individueller Ebene zu<br />

verstehen.<br />

in allem einen Vorteil und sagen, so kostspielig<br />

war es auch nicht.“<br />

Bei dieser dadurch nachgewiesenen<br />

Subjektivität setzt Kesenheimer nun an,<br />

im Herbst starten mehrere neue Studien,<br />

die Umweltbewusstsein systematisch untersuchen:<br />

„In folgenden Studien fixieren<br />

wir nun das Verhalten, um nur noch nach<br />

dem Aufwand zu fragen. Die Subjektivität<br />

des Verhaltens ist damit ausgeklammert,<br />

aber die Wahrnehmung des Verhaltens<br />

kann ich mir ansehen. Wir haben<br />

zum Beispiel im Sommer Leute zu einer<br />

Studie eingeladen, mit dem Vorwand, etwas<br />

für uns im Internet zu recherchieren.<br />

Dabei haben wir drei umweltbewusste<br />

Entscheidungen eingestreut – zum Beispiel<br />

haben wir im Treppenhaus darauf<br />

aufmerksam gemacht, wie viel CO 2 man<br />

einspart, wenn man statt dem Aufzug die<br />

Treppen nimmt. Erst am Ende haben wir<br />

das dann aufgeklärt und abgefragt: Wie<br />

hast du dich entschieden, für Treppe oder<br />

Aufzug, und war es für dich kostspielig?<br />

Das werte ich gerade aus.“ Geplant sind<br />

auch Studien zu Geschmacksvorlieben,<br />

wie Kesenheimer erläutert: „Das interessiert<br />

mich persönlich auch sehr: Umweltbewusstsein<br />

spielt auch bei Nahrungsmitteln<br />

eine Rolle – umweltbewusste<br />

Menschen finden tendenziell Tofu super<br />

und mögen auch Hafermilch in Kaffee.<br />

Daneben gibt es viele, die sagen, das<br />

schmeckt furchtbar. Auch Geschmackspräferenzen<br />

sind sehr subjektiv, wenn<br />

es um umweltbewusste Ernährung geht,<br />

das will ich mir näher ansehen.“<br />

„Geheime“ Teilnahme<br />

Generell verrät Kesenheimer ihren Proband:innen<br />

meist nicht im Vorfeld, dass<br />

sie an einer Studie zu Umweltbewusstsein<br />

teilnehmen – das verhindert, dass<br />

sich bei Aufrufen zur Teilnahme nur<br />

ohnehin umweltbewusste Menschen<br />

melden. „Wir wollen einen möglichst<br />

breiten Mix an Proband:innen, die wir<br />

auch erst am Ende in einem Fragebogen<br />

abfragen, wie umweltbewusst sie sich<br />

einschätzen“, sagt die Psychologin. Das<br />

Verständnis subjektiver Einschätzungen<br />

kann auch helfen, künftige Maßnahmen<br />

– auch solche, die in Form von Regulierungen<br />

„von oben“ kommen – besser zu<br />

kommunizieren: „Wenn wir wissen, aus<br />

welchen Gründen Menschen auf eine bestimmte<br />

Art handeln, können wir Maßnahmen<br />

besser abstimmen.“ sh<br />

zukunft forschung <strong>01</strong>/24 13


TITELTHEMA<br />

NEUE WEGE<br />

DURCH KI<br />

Online-Bewertungen und Bewertungsplattformen sind in den letzten<br />

25 Jahren für Unternehmen und Kund:innen unverzichtbar geworden.<br />

Folgt nun mit generativer KI der nächste Schritt?<br />

„TripAdvisor<br />

generiert mit Hilfe<br />

von Künstlicher<br />

Intelligenz schriftliche<br />

Zusammenfassungen<br />

auf Basis existierender<br />

Bewertungen.“Alexander Kupfer<br />

Um die Jahrtausendwende, in den Anfängen<br />

der Mobiltelefonie, spielte<br />

Beratung im Fachgeschäft noch eine<br />

wichtige Rolle. Abseits von Eigenwerbung<br />

der Anbieter, Tipps aus dem Freundeskreis<br />

und Tests in einschlägigen Zeitschriften war<br />

das Wissen (und die Überredungskunst) der<br />

Verkäufer:innen die einzige Unterstützung,<br />

um das passende Handy zu finden. Rund 25<br />

Jahre später findet die Unterstützung im digitalen<br />

Raum statt: Online-Bewertungen prägen<br />

unsere Kaufentscheidungen, wie eine – im<br />

Herbst 2023 vom Kölner Marktforschungsund<br />

Beratungsinstitut Heute und Morgen veröffentlichte<br />

– Studie zur Nutzung und Wirkung<br />

von Bewertungsportalen bei Kaufentscheidungen<br />

zeigt. 2.000 deutsche Bürger:innen<br />

wurden zur Nutzung und Relevanz von<br />

Sternebewertungen und Kund:innenrezensionen<br />

befragt, je nach Produktkategorie nutzen<br />

bis zu 84 Prozent der Konsument:innen Online-Bewertungen<br />

als Informationsquelle, in<br />

jedem zweiten Fall sind sie sogar unmittelbar<br />

kaufentscheidend.<br />

Abbau von Informationsasymmetrien<br />

„Die Kommunikation hat sich verschoben.<br />

Konnten sich Kund:innen früher nur im Bekanntenkreis<br />

austauschen und wurden von<br />

Herstellern via Marketing und Werbung informiert,<br />

sind sie nun über Online-Bewertungen<br />

und Bewertungsplattformen direkt miteinander<br />

verknüpft. Insofern helfen Online-Bewertungen,<br />

Informationsasymmetrien abzubauen“,<br />

sagt Alexander Kupfer. Der gebürtige<br />

Allgäuer ist am Institut für Wirtschaftsinfor-<br />

14<br />

zukunft forschung <strong>01</strong>/24<br />

Fotos: Andeas Friedle


TITELTHEMA<br />

matik, Produktionswirtschaft und Logistik sowie<br />

am Digital Science Center der Universität<br />

Innsbruck tätig und erforscht, wie in digitalen<br />

Märkten Informationsasymmetrien reduziert<br />

werden. Doch nicht nur Kund:innen profitieren<br />

von Online-Bewertungen. So nutzen etwa<br />

Plattformen diese Daten und lassen sie in<br />

ihr Empfehlungssystem einfließen, um ihren<br />

Kund:innen Produkte vorzuschlagen.<br />

„In den vergangenen 25 Jahren sind Bewertungsplattformen<br />

nicht nur für Kund:innen,<br />

sondern auch für Unternehmen extrem wichtig<br />

geworden“, betont Kupfer. Anfangs, so der<br />

Forscher, waren es quasi „Online-Formulare“,<br />

in die man seine Bewertung schreiben konnte,<br />

mit dem Aufkommen von Fake-Bewertungen<br />

vor rund 15 Jahren wurde begonnen, diese<br />

mit Hilfe von Künstlicher Intelligenz (KI) so<br />

gut wie möglich zu identifizieren. „Automatisiert<br />

werden Informationen und Meta-Informationen<br />

gecheckt. Wie viele Bewertungen<br />

schreibt ein Reviewer in welcher Zeit?<br />

Woher, also von welcher IP-Adresse kommen<br />

die Bewertungen?“, nennt Kupfer zwei Beispiele.<br />

Von Forscher:innen hingegen wurde<br />

KI genutzt, um für ihre Untersuchungen Informationen<br />

aus Bewertungen zu extrahieren.<br />

„Natürlich können das Unternehmen auch<br />

und machen es eventuell, etwa Smartphone-<br />

Hersteller, die Kritik aus Online-Bewertungen<br />

in die Verbesserung der nächsten Handy-Generation<br />

einfließen lassen. Ohne KI geht das<br />

bei den riesigen Informationsmengen nicht“,<br />

erklärt Kupfer. Ansonsten sei der Einsatz von<br />

KI bislang überschaubar gewesen, mit dem<br />

Aufkommen von generativer KI beobachtet<br />

er aber neue Einsatzmöglichkeiten.<br />

Fluch oder Segen?<br />

„Die Menge an Online-Bewertungen führt inzwischen<br />

zu einem Information Overload. Niemand<br />

kann alle lesen. Man schaut sich daher<br />

die aktuellsten, die besten oder die schlechtesten<br />

an und trifft dann eine Entscheidung.<br />

TripAdvisor nützt daher generative KI, um<br />

existierende Online-Bewertungen zusammenzufassen“,<br />

erzählt Alexander Kupfer. Doch<br />

wie reagieren die Leser:innen auf diese KI-generierte<br />

Blackbox? Vertrauen sie TripAdvisor,<br />

dass ein „passendes Sammelsurium“ an Bewertungen<br />

präsentiert wird? Bevorzugen sie<br />

eine bequeme Zusammenfassung oder die individuellen<br />

Bewertungen? Kupfers Forschergeist<br />

ist jedenfalls geweckt, in einem Experiment<br />

mit Studierenden bzw. Crowdworkern<br />

will er die Akzeptanz von KI-generierten Zusammenfassungen<br />

im Vergleich zu „menschlichen“<br />

Bewertungen untersuchen.<br />

Dass „menscheln“ im Zusammenhang<br />

mit Bewertungen bevorzugt wird, stellte<br />

Kupfer in einem anderen Experiment fest.<br />

„Wir wollen den Bewerter:innen Arbeit abnehmen<br />

und schlagen ihnen Aussagen aus<br />

existierende Bewertungen vor. Diese können<br />

sie annehmen oder ablehnen, in der Folge<br />

entsteht daraus eine KI-generierte Bewertung.<br />

Die Kontrollgruppe schreibt hingegen<br />

ihre Bewertung selbst“, berichtet Kupfer. Die<br />

Auswertung zeigte, dass die Kontrollgruppe<br />

mit ihrer Bewertungsmöglichkeit weitaus zufriedener<br />

war als die andere. Bezüglich der<br />

Bewerter:innen stellt sich Kupfer eine weitere<br />

Frage: „Wie wirken sich solche KI-generierte<br />

Zusammenfassungen auf das zukünftige<br />

Bewertungsverhalten aus?“ Bewerter:innen<br />

reagieren nämlich auf „externe“ Einflüsse, so<br />

Kupfer: „Wir konnten feststellen, dass tendenziell<br />

weniger Aufwand betrieben wird,<br />

eine Bewertung zu schreiben, desto mehr<br />

Bewertungen schon existieren. Bei Sehenswürdigkeiten<br />

mit weniger Bewertungen hingegen<br />

wird mehr Aufwand betrieben.“ Als<br />

Beispiel nennt Kupfer die Tower Bridge in<br />

London, „sie hat über 100. 000 Bewertungen<br />

und trotzdem werden noch Bewertungen darüber<br />

geschrieben – tendenziell sind die dazugehörigen<br />

Texte dann aber kürzer.“ Analog<br />

dazu könnten Bewerter:innen natürlich auch<br />

auf KI-generierte Zusammenfassungen reagieren.<br />

Aktuell ist unklar, welchen Einfluss<br />

die – prominent platzierten – KI-generierten<br />

Zusammenfassungen auf die Motivation der<br />

Bewerter:innen haben.<br />

Auf der anderen Seite sieht Kupfer in der<br />

schieren Informationsmenge, die in abertausenden<br />

Bewertungen steckt, Potenzial,<br />

das KI-basiert genutzt werden könnte: „Alle<br />

Texte werden durchforstet, ob sich eventuell<br />

Aspekte ergeben, die noch nicht oder nur<br />

wenig bewertet wurden. In der Folge können<br />

Bewerter:innen aufgefordert werden, dazu<br />

etwas zu schreiben.“ So werden bei Restaurants<br />

üblicherweise Essen, Preis und Service<br />

bewertet, „ob das Lokal barrierefrei oder kinderfreundlich<br />

ist, schon seltener – diese Information<br />

könnte durch gezieltes Fragen aus den<br />

Bewerter:innen herausgekitzelt werden.“<br />

Weniger Chancen sieht Alexander Kupfer<br />

hingegen, dass Bewertungsplattformen mit<br />

Hilfe von Künstlicher Intelligenz wiederum<br />

KI-generierte Fake-Bewertungen identifizieren:<br />

„Die aktuellen Anwendungen sind dafür<br />

leider zu schwach. Zumindest derzeit noch.<br />

Dieses Problem besteht allerdings für jegliche<br />

Arten von Texten, nicht nur für Online-Bewertungen.“<br />

<br />

ah<br />

ALEXANDER KUPFER<br />

studierte Betriebswirtschaftslehre<br />

an der Universität<br />

Innsbruck, wo er 2<strong>01</strong>5 zum<br />

Thema Selected studies on<br />

alternative debt instruments<br />

dissertierte. Von 2<strong>01</strong>5 bis<br />

2020 war er Universitätsassistent<br />

am Institut für Banken<br />

und Finanzen tätig, unterbrochen<br />

von einem <strong>Forschung</strong>saufenthalt<br />

an der University of<br />

Calgary, Kanada. Seit Februar<br />

2020 lehrt und forscht er am<br />

Institut für Wirtschaftsinformatik,<br />

Produktionswirtschaft<br />

und Logistik sowie am Digital<br />

Science Center der Universität<br />

Innsbruck und beschäftigt sich<br />

hauptsächlich mit Aspekten<br />

in digitalen Märkten, die es<br />

erlauben, Informationsasymmetrien<br />

zu reduzieren.<br />

zukunft forschung <strong>01</strong>/24 15


TITELTHEMA<br />

WENN DIE<br />

IMMUNABWEHR ALTERT<br />

Gesundes Altern und die Prävention von Infektionskrankheiten zählen zu den großen<br />

Herausforderungen für das Gesundheitssystem. Birgit Weinberger untersucht, warum die<br />

Immunantwort auf Impfungen im Alter schwächer wird.<br />

Bei älteren Menschen ist sowohl die<br />

Inzidenz als auch der Schweregrad<br />

von Infektionskrankheiten erhöht.<br />

Das liegt vor allem an altersbedingten<br />

Veränderungen des Immunsystems. Birgit<br />

Weinberger vom <strong>Forschung</strong>sinstitut<br />

für Alternsforschung an der Universität<br />

Innsbruck ist Expertin auf dem Gebiet<br />

der sogenannten Immunseneszenz – also<br />

der Alterung des Immunsystems – und<br />

erforscht, warum diese einen erheblichen<br />

Einfluss auf die Gesundheit älterer Erwachsener<br />

hat.<br />

„Der Grund, warum das Immunsystem<br />

im Alter schlechter arbeitet als bei jungen<br />

Menschen, liegt in einem Zusammenspiel<br />

vieler verschiedener Faktoren und ist mit<br />

dem Altern aller anderen Organsysteme<br />

vergleichbar“, erklärt Birgit Weinberger.<br />

Impfungen sind laut der Wissenschaftlerin<br />

die wirksamste Maßnahme zur Verhütung<br />

von Infektionskrankheiten. „Impfprogramme<br />

für Kinder haben zu einem<br />

dramatischen Rückgang der Infektionen<br />

bei Kindern geführt. Da die Inzidenz und<br />

der Schweregrad vieler Infektionen in der<br />

älteren Bevölkerung hoch sind, ist diese<br />

Altersgruppe eine wichtige Zielgruppe<br />

für Impfungen“, so Birgit Weinberger.<br />

Dennoch sind viele derzeit verwendete<br />

Impfstoffe bei älteren Menschen weniger<br />

immunogen und weniger wirksam als bei<br />

jüngeren Erwachsenen.<br />

„Das adaptive Immunsystem<br />

hat im Laufe des Alters immer<br />

weniger naive Zellen zur<br />

Verfügung.“ <br />

Birgit Weinberger<br />

Passgenaue Strategien<br />

Neben den Impfungen, die explizit auf<br />

die ältere Bevölkerung abzielen – zum<br />

Beispiel die gegen Influenza, Pneumokokken,<br />

Herpes zoster und das Respiratorische<br />

Synzytialvirus – umfassen<br />

die Impfempfehlungen für Erwachsene<br />

auch regelmäßige Auffrischungsimpfungen<br />

gegen Tetanus, Diphtherie und<br />

Keuchhusten sowie in Endemiegebieten<br />

wie Österreich gegen FSME (Frühsommer-Meningoenzephalitis).<br />

Birgit<br />

Weinberger hat gemeinsam mit ihrem<br />

Team die Immunantworten auf diverse<br />

Impfungen untersucht. Dabei haben die<br />

Wissenschaftler:innen festgestellt, dass<br />

nach einer Auffrischungsimpfung gegen<br />

Tetanus/Diphtherie vor allem bei älteren<br />

Erwachsenen ein unzureichender Schutz<br />

aufgebaut wurde. „Auch die FSME-spezifischen<br />

Antikörperkonzentrationen sind<br />

bei älteren im Vergleich zu jüngeren Erwachsenen<br />

mehrere Jahre nach der letzten<br />

Impfung niedriger und nehmen mit<br />

der Zeit ab. Dagegen sind die Immunreaktionen<br />

auf eine Auffrischungsimpfung<br />

gegen Hepatitis B bei jungen und<br />

älteren Erwachsenen ähnlich, während<br />

die Primärreaktionen in der älteren Altersgruppe<br />

verzögert und beeinträchtigt<br />

sind“, beschreibt die Immunologin ihre<br />

<strong>Forschung</strong>sergebnisse.<br />

Als Teil des großen europäischen Konsortiums<br />

VITAL untersucht sie auch Immunreaktionen<br />

nach Grippe- und Pneumokokkenimpfungen<br />

in verschiedenen<br />

Altersgruppen. „Dieses Projekt zielt<br />

darauf ab, evidenzbasiertes Wissen über<br />

Impfstrategien für ein gesundes Altern zu<br />

generieren.“<br />

Zweiteiliges Immunsystem<br />

Das menschliche Immunsystem lässt sich<br />

sehr vereinfacht erklärt in zwei Hauptkategorien<br />

einteilen: Das angeborene<br />

Immunsystem wird als erstes aktiviert<br />

und reagiert schnell, aber nicht spezifisch<br />

auf Eindringlinge wie Viren und<br />

Bakterien. „Es erkennt allgemeine Merkmale<br />

der Erreger und schickt Zellen, wie<br />

z. B. Makrophagen und Granulozyten, um<br />

die Erreger ‚aufzufressen‘ – wir nennen<br />

das Phagozytose – und Signalstoffe auszusenden,<br />

die weitere Abwehrmechanismen<br />

in Gang setzen“, erklärt Birgit Weinberger.<br />

Das adaptive Immunsystem hingegen<br />

ist eine maßgeschneiderte Abwehr, die<br />

einige Zeit braucht, um vollständig aktiv<br />

zu sein. Hier arbeiten T- und B-Zellen<br />

zusammen und erkennen die genauen<br />

Merkmale eines Erregers, um diesen gezielt<br />

zu bekämpfen. Das adaptive Immunsystem<br />

ist es auch, das mithilfe sogenannter<br />

Memory-Zellen für eine länger anhaltende<br />

Immunität sorgt und bei einem<br />

weiteren Kontakt mit dem gleichen Erreger<br />

schneller und effektiver aktiv wird.<br />

„Impfstoffe zielen hauptsächlich auf das<br />

Training des adaptiven Immunsystems ab<br />

und hier konnte beobachtet werden, dass<br />

manche der derzeit angebotenen Impfstoffe<br />

bei älteren Menschen weniger gut<br />

wirken als bei jüngeren Erwachsenen“,<br />

beschreibt Birgit Weinberger. Deshalb<br />

konzentriert sich die Alternsforscherin<br />

bei ihrer Arbeit derzeit auf die altersbedingten<br />

Veränderungen im adaptiven<br />

Immunsystem und hier besonders auf die<br />

sogenannten T-Zellen.<br />

Seneszente Zellen<br />

Die T-Zellen entstehen zuerst im Knochenmark,<br />

im Thymus finden dann alle<br />

wichtigen Prozesse statt, die eine T-Zelle<br />

zur T-Zelle machen. Mit zunehmendem<br />

Alter kommt es zur Involution des Thymus,<br />

das heißt, funktionelles Gewebe des<br />

Organs wird durch Fettgewebe ersetzt<br />

und somit können kaum mehr neue naive<br />

T-Zellen gebildet werden. „Die Involution<br />

16 zukunft forschung <strong>01</strong>/24<br />

Foto: Andreas Friedle


TITELTHEMA<br />

des Thymus verschiebt die Zusammensetzung<br />

der Gesamtheit aller T-Zellen.<br />

Das adaptive Immunsystem hat im Laufe<br />

des Alters immer weniger naive Zellen<br />

zur Verfügung, dafür sammeln sich im<br />

Lauf eines Lebens hochdifferenzierte Effektor-T-Zellen,<br />

die übrig bleiben, wenn<br />

eine Immunreaktion fertig abgelaufen ist,<br />

und im Gegensatz zu den Memory-Zellen<br />

eigentlich nicht mehr benötigt werden“,<br />

erklärt Birgit Weinberger.<br />

Diese hochdifferenzierten Effektor-<br />

T-Zellen teilen laut der Immunologin<br />

manche Eigenschaften mit traditionell<br />

als seneszent betrachteten Zellen. „Dazu<br />

zählen kurze Telomere und eine erhöhte<br />

Expression von entzündungsfördernden<br />

Molekülen. Trotzdem ist die <strong>Forschung</strong>sgemeinschaft<br />

gespalten, ob diese Zellen<br />

tatsächlich als seneszent eingestuft werden<br />

können“, so Weinberger. Ihr Ansatz<br />

unterscheidet sich von der traditionellen<br />

Alternsforschung, indem sie sich auf den<br />

Differenzierungszustand und die Erschöpfung<br />

von T-Zellen konzentriert und<br />

versucht, diese Konzepte mit der klassischen<br />

Sichtweise auf Seneszenz zu verknüpfen.<br />

Neben diesen hochdifferenzierten<br />

T-Zellen erforscht das Team um Birgit<br />

Weinberger auch regulatorische T-Zellen.<br />

Neben den klassischen CD4+ T-Zellen<br />

konzentriert sich die Arbeitsgruppe auch<br />

auf eine erst vor einigen Jahren erstmals<br />

beschriebene regulatorische Population<br />

von CD8+ T-Zellen.<br />

„Diese CD8+HLA-DR+ T-Zellen nehmen<br />

im Alter zu und scheinen ihre regulatorischen<br />

Funktionen zu verlieren. Wir<br />

versuchen derzeit, die Auswirkungen<br />

dieser Zellen über ihre suppressive Wirkung<br />

hinaus zu verstehen, ebenso ihr Zusammenspiel<br />

mit anderen Immunzellen<br />

und die dahinterliegenden molekularen<br />

Mechanismen“, beschreibt Birgit Weinberger.<br />

„Denn ein tiefgreifendes Verständnis<br />

der Immunseneszenz und der Immunreaktionen<br />

älterer Erwachsener auf<br />

Impfstoffe ist entscheidend, um Impfstoffe<br />

optimal anzupassen“, so die Immunologin.<br />

Darüber hinaus ist es laut Birgit<br />

Weinberger wichtig, lebenslange Impfprogramme<br />

zu fördern und das Bewusstsein<br />

bei den Interessengruppen und der<br />

Öffentlichkeit zu schärfen, um die Impfstoffakzeptanz<br />

zu erhöhen und einen optimalen<br />

Schutz für gefährdete Gruppen<br />

sicherzustellen.<br />

sr<br />

BIRGIT WEINBERGER studierte Biologie<br />

mit den Schwerpunkten Genetik, Entwicklungsbiologie<br />

und medizinische Mikrobiologie<br />

an der Universität Regensburg und<br />

an der University of Colorado Boulder.<br />

Nach ihrer Promotion an der Universität<br />

Regensburg kam sie 2005 als Postdoc an<br />

das <strong>Forschung</strong>sinstitut für Biomedizinische<br />

Alternsforschung der Universität Innsbruck,<br />

habilitierte sich hier 2<strong>01</strong>8 und leitet<br />

seitdem die Arbeitsgruppe Immunseneszenz<br />

und Impfung. 2022 wurde sie zur<br />

Professorin für Immunologie berufen.<br />

zukunft forschung <strong>01</strong>/24 17


TITELTHEMA<br />

VORSTELLUNGSFRAGEN<br />

In einem FWF-Projekt geht der Philosoph Martin Huth mit zwei Kolleg:innen der Frage nach, welche<br />

Rolle Imagination und Empathie in unserem Umgang mit Tieren und anderen Menschen spielen.<br />

18 zukunft forschung <strong>01</strong>/24<br />

Foto: Andreas Friedle


TITELTHEMA<br />

Martin Huth ist im Waldviertel<br />

aufgewachsen, im hintersten,<br />

wie er sagt. Haustiere begleiteten<br />

seine Kindheit. Schon damals,<br />

erzählt der Philosoph, „hat mich fasziniert,<br />

was uns an Tieren so fasziniert,<br />

was uns anrührt.“ Diese „Faszination“<br />

hat Huth nicht losgelassen, das Thema<br />

der Mensch-Tier-Beziehung steht im<br />

Zentrum seiner wissenschaftlichen Arbeit<br />

– wie auch in dem vierjährigen FWF-Projekt<br />

The Limits of Imagination. Animals,<br />

Empathy, Anthropomorphis.<br />

Angestoßen wurde das Projekt von<br />

Huths Kollegen Carlo Salzani. „Er meinte,<br />

es wäre doch spannend, der Frage<br />

nachzugehen, aus welcher Perspektive<br />

wir uns vorstellen, welches Leben Tiere<br />

haben, ob sie Schmerzen empfinden, wie<br />

sie die Interaktion mit uns erleben etc.“,<br />

erzählt Huth. Klassische Ansätze der<br />

Tierethik, wie etwa von Peter Singer oder<br />

Tom Regan, gehen nicht davon aus, sich<br />

in jemand/etwas hineinzuversetzen, zu<br />

imaginieren, wie es ist. Laut Singer und<br />

Regan sind es eine kognitive Ausstattung,<br />

eine dem Menschen ähnliche Anatomie,<br />

ein vergleichbares Nervensystem<br />

oder bestimmte Fähigkeiten, weshalb<br />

Menschen Tiere analog zum Menschen<br />

behandeln, um den Bedürfnissen der Tiere<br />

gerecht zu werden. „So einfach ist die<br />

Sache aber nicht“, sagt Huth: „Menschen<br />

haben zwar eine ähnliche Anatomie, aber<br />

vollständig andere Biografien, die ihr Leben<br />

bestimmen.“ Auf der anderen Seite<br />

unterscheiden sich auch Tiere in ihrer<br />

Anatomie und ihren Verhaltensweisen<br />

sehr deutlich. „Körperliche Ausstattung<br />

und Ausdrucksverhalten eines Hundes<br />

sind unserem viel ähnlicher als die einer<br />

Schildkröte“, nennt Huth ein Beispiel.<br />

Folglich glauben wir, die Bedürfnisse eines<br />

Hundes besser verstehen zu können.<br />

Doch können wir wirklich imaginieren,<br />

ein Hund zu sein?<br />

Geprägt wird unsere menschliche Perspektive<br />

auf Tiere auch durch tradierte<br />

Bilder. „Es gibt soziokulturelle Frames,<br />

anhand derer wir uns erklären, wie es<br />

zum Beispiel ist, ein Wolf zu sein, und<br />

was wir von ihm halten sollen“, schildert<br />

Huth. Bis Mitte/Ende des 19. Jahrhunderts<br />

war der Wolf in ganz West- und<br />

Mitteleuropa verbreitet, vor mehr als 100<br />

Jahren wurde der letzte Wolf auf heutigem<br />

österreichischen Staatsgebiet erlegt.<br />

Dennoch hat sich unser Bild des Wolfes<br />

gehalten, wie sich im Zuge seiner Rückkehr<br />

zeigt. „Der Wolf hat einerseits etwas<br />

ikonenhaftes – wir haben es geschafft,<br />

dass dieses edle wilde Tier bei uns wieder<br />

heimisch ist. Andererseits ist er gefährlich<br />

– wir denken an Filme, in denen<br />

Menschen von einem Wolfsrudel gejagt<br />

werden, wir denken an Rotkäppchen.<br />

Anhand dieser kulturellen Versatzstücke<br />

sprechen wir aus einer menschlichen<br />

Perspektive über den Wolf“, erläutert<br />

der Philosoph. Fast wie „objektive Gegebenheiten“<br />

seien diese Muster, so Huth,<br />

etwa wenn Kinder (aber auch Erwachsene)<br />

Tiere unterscheiden in solche, die<br />

„zum Essen, und nicht zum Liebhaben<br />

da sind.“ Diese Vorstellungen übersetzen<br />

sich in Tätigkeiten, wie man Tieren, aber<br />

auch Menschen begegnet. Denn, so Huth:<br />

„Auch im Umgang mit Menschen haben<br />

wir eine bestimmte Vorstellung von Menschen<br />

im Hintergrund.“ Was aber, wenn<br />

jene Menschen nicht dieser Vorstellung,<br />

diesem Bild entsprechen?<br />

Ausgedrückte Eindrücke<br />

Um auch diesen Fragen nachzugehen,<br />

haben Huth und Salzani gemeinsam mit<br />

Ruadhán J. Flynn das FWF-Projekt breiter<br />

angelegt. „Was erlaubt es uns, uns<br />

Vorstellungen zu machen, wie es ist, ein<br />

Mensch mit anderem kulturellen Hintergrund,<br />

mit einem anderen Geschlecht,<br />

MARTIN HUTH studierte in Wien Philosophie<br />

sowie Geschichte und promovierte<br />

2007. Ab 2008 lehrte er am Institut<br />

für Philosophie der Universität Wien,von<br />

2<strong>01</strong>1 bis 2023 war er Universitätsassistent<br />

für Philosophie am Messerli<br />

<strong>Forschung</strong>sinstitut Wien der Veterinärmedizinischen<br />

Universität Wien, seit 2023<br />

ist der Universitätsassistent am Institut<br />

für Philosophie der Universität Innsbruck.<br />

Huths <strong>Forschung</strong>sschwerpunkte umfassen<br />

Theorien der Vulnerabilität, Empathie<br />

mit Mensch und Tier, Medizinethik, Ethik<br />

der Mensch-Tier-Beziehung, Politische<br />

Theorie und Phänomenologie.<br />

ein Mensch mit einer Beeinträchtigung<br />

oder Erkrankung zu sein“, definiert<br />

Huth diesen Teil des Projekts. Seit drei<br />

Jahren befassen sich Huth, Salzani und<br />

Flynn, aus unterschiedlichen philosophischen<br />

Schulen kommend, mit dem<br />

Thema, wollen klarer definieren, was<br />

Imagination und Empathie bedeuten.<br />

Ein Ansatzpunkt, mit dem sich ein neuer<br />

Standpunkt für die Debatte generieren<br />

lässt, kristallisiert sich immer mehr heraus.<br />

„Erlebnisse und Eindrücke drücken<br />

sich körperlich aus. Freut man sich, zeigt<br />

man dies, ohne darüber nachzudenken<br />

wie“, sagt Martin Huth. Natürlich könne<br />

man sich irren und einen emotionalen<br />

Ausdruck falsch wahrnehmen, anhand<br />

von Körperhaltung, Mimik oder Gestik<br />

könne man aber meist nachvollziehen,<br />

wie es jemandem geht. „Wir können<br />

auch weiter imaginieren, uns vorstellen,<br />

wie es dazu gekommen ist. Ich sehe also<br />

immer etwas mehr, als ich vor mir habe“,<br />

sagt Huth. Folglich wohnt der Empathie<br />

Imagination inne, wie auch ein Gegenbeweis<br />

zeigt. Huth: „Immer wenn uns das<br />

Verhalten einer Person sehr überrascht,<br />

stellen wir fest, dass vorher sehr viele –<br />

andere – Vorstellungen da waren.“<br />

Ebenfalls herauskristallisiert hat sich,<br />

dass die moralphilosophischen Fragen,<br />

von denen das Projektteam ausgegangen<br />

ist, immer eine sozialpolitische Komponente<br />

haben. „Wie wir Tiere, wie wir<br />

Menschen mit Beeinträchtigungen sehen<br />

und über sie sprechen, ist eine politische<br />

Frage“, erklärt Huth. Für ihn selbst hat<br />

die bisherige Projektarbeit ergeben, dass<br />

er sie um psychoanalytische Theorien<br />

und Abjektion ergänzen will. Für Julia<br />

Kristeva ist Abjektion der erste Schritt<br />

zur Subjektwerdung, bei der eine Grenze<br />

zwischen Selbst und Umwelt gezogen<br />

wird. Es kommt zum Ausschließen von<br />

nun nicht (mehr) tolerierbaren Teilen des<br />

Selbst. „Das sind z. B. Ausscheidungen,<br />

die von da an als grauslich empfunden<br />

werden. Aber auch Wunden und Vulnerabilität<br />

– etwas, was man sich vom Leib<br />

halten muss. Das kann eventuell dazu<br />

führen, dass man Menschen mit großer<br />

Vulnerabilität von sich fern halten will.<br />

Sich nicht vorstellen wollen, wie etwas ist<br />

– ich glaube, dass auch das in der Imagination<br />

eine zentrale Rolle spielt“, sagt<br />

Huth, der wissen will, „wie es darum bestellt<br />

ist, dass wir in unserer Imagination<br />

immer etwas außen vor lassen.“ ah<br />

zukunft forschung <strong>01</strong>/24 19


TITELTHEMA<br />

TIROLS GRÜNE SCHÄTZE SCHÜTZEN<br />

Die aktuelle Rote Liste der Farn- und Blütenpflanzen Nord- und Osttirols (Erscheinungsjahr 2023) dokumentiert über 3.000<br />

wildwachsende Pflanzen, deren Gefährdungsstatus nach international vergleichbaren Kategorien eingestuft wird. Sie zeigt<br />

deutlich, dass die Biodiversitätskrise auch in Tirol angekommen ist: Zahlreiche Pflanzenarten sind stark gefährdet, d. h.<br />

sie kommen nur mehr an einem oder sehr wenigen Standorten vor. Grund für das zunehmende Verschwinden und Aussterben<br />

zahlreicher heimischer Pflanzen ist der Verlust ihrer Habitate. Die Rote Liste ist daher insbesondere als Grundlage<br />

für die Beurteilung von Bauvorhaben in naturschutzrechtlichen Verfahren gedacht. „Leider sind derzeit vier Fünftel der in<br />

Nordtirol gefährdeten Farn- und Blütenpflanzen nicht gesetzlich geschützt“, bedauert Konrad Pagitz vom Institut für Botanik.<br />

Er hat das Projekt wissenschaftlich geleitet und zusammen mit den Tiroler Landesmuseen, dem Umweltbüro Revital<br />

und dem Land Tirol in jahrelanger <strong>Forschung</strong>sarbeit durchgeführt.<br />

Das 300 Seiten umfassende Werk ist auch eine solide Argumentationsbasis, um zumindest die stark gefährdeten und die<br />

vom Aussterben bedrohten Arten unter Naturschutz zu stellen, was Konrad Pagitz und seinen Mitautor:innen ein großes<br />

Anliegen ist. – Die Bestandsaufnahmen brachten aber auch die eine oder andere gute Neuigkeit. „Wir haben auch Pflanzen<br />

wiederentdeckt, die als ausgestorben galten, wie zum Beispiel die Faden-Segge“, erzählt der Wissenschaftler.<br />

HOLUNDER-FINGERWURZ<br />

Dactylorhiza sambucina<br />

Die Holunder-Fingerwurz kam ehemals<br />

im Wipptal und den angrenzenden Seitentälern<br />

vor. Aktuell kennt man nur noch<br />

zwei Vorkommen bei Ellbögen, wobei<br />

das größere davon 2023 durch Wegebau<br />

stark beeinträchtigt wurde. Die Holunder-<br />

Fingerwurz gibt es in zwei Farbvarianten,<br />

einerseits (hell)gelb und andererseits rötlich<br />

mit gelblichen Schlund.<br />

STUFENBLÄTTRIGER<br />

SUMPFLÖWENZAHN<br />

Taraxacum trilobifolium<br />

Die Gattung Löwenzahn (Taraxacum) gehört zu<br />

den komplexesten Pflanzengruppen mit hunderten<br />

Arten in Europa. Neben den vertrauten<br />

„Löwenzähnen“, die im Frühjahr unsere Wiesen<br />

prägen und deren Massenvorkommen auf intensiv<br />

bewirtschaftetes Grünland hinweisen, gibt<br />

es auch andere, sehr seltene Arten. So ist Taraxacum<br />

trilobifolium in Tirol nur von einer Stelle<br />

bekannt und zwar erst seit 2<strong>01</strong>8.<br />

GROSSER VENUSSPIEGEL<br />

Legousia speculum veneris<br />

Viele der ehemals in Tirol vorkommenden<br />

Arten von Getreidefeldern sind<br />

stark zurückgegangen und heute oft<br />

vom Aussterben bedroht oder sind<br />

bereits ausgestorben. So ist auch der<br />

Große Venusspiegel in Osttirol bereits<br />

verschwunden, in Nordtirol ist die stark<br />

bedrohte Art trotz großer Rückgänge<br />

noch gelegentlich zu finden.<br />

20<br />

zukunft forschung <strong>01</strong>/24<br />

SUMPFQUENDEL<br />

Lythrum portula<br />

Leicht zu übersehen ist der Sumpfquendel,<br />

besonders dann, wenn die Pflanzen<br />

nur ein bis drei Zentimeter groß sind. Die<br />

Art war in Tirol immer selten und galt<br />

zuletzt als ausgestorben. 2021 konnte<br />

jedoch ein aktuelles Vorkommen in Nordtirol<br />

entdeckt werden. Am Foto sind fast<br />

alle damals gefundenen Pflanzen erkennbar<br />

als zarte Pflanzen mit den elliptischen<br />

Blättern.


TITELTHEMA<br />

DUFT-LAUCH<br />

Allium suaveolens<br />

Der Duft-Lauch wurde erstmals in den<br />

1990er-Jahren an zwei Standorten in<br />

Nordtirol entdeckt. Aktuell kennt man<br />

nur mehr ein Vorkommen bei Zirl. Die<br />

Art von Feuchtwiesen und Niedermooren<br />

kommt erst im August zur Blüte und wird<br />

häufig noch vor der Samenreife gemäht.<br />

Die Tiroler Vorkommen liegen inmitten<br />

einer großen Verbreitungslücke zwischen<br />

dem Bodenseegebiet und dem Osten<br />

Österreichs.<br />

NATTERNZUNGE<br />

Ophioglossum vulgatum<br />

Die Natternzunge mit ihrer eigentlich<br />

auffälligen Erscheinung fügt<br />

sich unauffällig in das Grün der<br />

umgebenden Vegetation ein.<br />

Als Art magerer Feuchtwiesen,<br />

Moorwiesen und wechselfeuchter<br />

Standorte hat sie, wie viele andere<br />

Arten ähnlicher Standorte, einen<br />

Großteil ihrer Lebensräume in Tirol<br />

verloren und ist heute vom Aussterben<br />

bedroht.<br />

<br />

GNADENKRAUT<br />

Gratiola officinalis<br />

Ehemals auch im Raum Innsbruck bzw.<br />

westlich davon verbreitet, hat sich die<br />

Art nur mehr an einer Stelle bis heute behaupten<br />

können. Das Vorkommen liegt im<br />

Schutzgebiet „Loar“ bei Kramsach, doch<br />

auch hier sind nur noch Restbestände vorhanden.<br />

Durch das massive Aufkommen<br />

von Schilf und Verbuschung ist auch dieses<br />

Vorkommen akut gefährdet und die<br />

Art in Tirol vom Aussterben bedroht.<br />

BERBERITZEN-SOMMERWURZ<br />

Orobanche lucorum<br />

Das Fehlen von Chlorophyll weist<br />

Sommerwurz-Arten als Vollschmarotzer<br />

aus. Im Falle der Berberitzen-Sommerwurz<br />

ist die Berberitze<br />

die Wirtspflanze. Ehemals in Berberitzengebüschen<br />

auf Weiden im<br />

mittleren und westlichen Nordtirol<br />

verbreitet, kommt sie heute nur<br />

mehr verstreut vor. Die historischen<br />

Vorkommen bei Lienz existieren<br />

nicht mehr.<br />

BIENEN-RAGWURZ<br />

Ohrys apifera<br />

Die Bienen-Ragwurz war in Tirol immer schon sehr selten<br />

und ist nur von einem eng regional begrenzten Vorkommen<br />

im Außerfern und da auch nur von drei Stellen<br />

bekannt. Als Art von Halbtrockenrasen und wechseltrockenen<br />

Magerrasen besiedelt sie extensiv genutzte<br />

Grünlandflächen. Solche Grenzertragsflächen gehören<br />

heute zu den am stärksten bedrohten Lebensräumen in<br />

unserer Kulturlandschaft.<br />

<br />

Fotos: Konrad Pagitz (9), Pixabay / jplenio (1)<br />

zukunft forschung <strong>01</strong>/24 21


KURZMELDUNGEN<br />

RESÜMEE ZUR<br />

MITTELSCHULE<br />

Bildungsforscher:innen untersuchten die Auswirkungen der Neuen<br />

Mittelschule auf die Unterrichtsqualität.<br />

SCHNELL MAL aufs Smartphone schauen,<br />

ist für Inhaftierte in Gefängnissen nicht<br />

möglich.<br />

DIGITALISIERUNG<br />

IM GEFÄNGNIS<br />

Häftlinge in Österreich haben keinen<br />

oder nur sehr eingeschränkten Zugang<br />

zu digitalen Geräten, dabei könnte dieser<br />

Zugang für die Resozialisierung und die Vorbereitung<br />

auf die Entlassung sehr hilfreich<br />

sein. Ein Projekt des Instituts für angewandte<br />

Rechts- und Kriminalsoziologie unter der<br />

Leitung von Kriminalsoziologin Veronika<br />

Hofinger untersucht nun Voraussetzungen<br />

und Umsetzungsmöglichkeiten für eine<br />

sinnvolle Digitalisierung hinter Gittern.<br />

Zur Vorbereitung wurden Gespräche mit<br />

rund 40 (zum Teil ehemaligen) Inhaftierten<br />

geführt, darüber hinaus nationale und<br />

internationale Fachleute interviewt sowie<br />

das Strafvollzugspersonal in einer Online-Erhebung<br />

befragt. „Nun startet gerade das<br />

Pilotprojekt in einer oberösterreichischen<br />

Justizanstalt, das wir sozialwissenschaftlich<br />

begleiten werden. Mit Jahresende ist das<br />

Projekt abgeschlossen, bis dahin formulieren<br />

wir Lessons Learned für zukünftige<br />

Digitalisierungsschritte in österreichischen<br />

Justizanstalten“, berichtet Projektleiterin<br />

Hofinger über den Status des Projekts.<br />

Eine Studie von Claudia Schreiner<br />

vom Institut für LehrerInnenbildung<br />

und Schulforschung der Uni Innsbruck<br />

und Christoph Helm von der JKU<br />

Linz wirft zehn Jahre nach Einführung der<br />

Neuen Mittelschule (NMS) als Regelschule<br />

Licht auf die langfristigen Auswirkungen<br />

des neuen Schultyps auf die Unterrichtsqualität.<br />

Im Mittelpunkt des kürzlich publizierten<br />

Sammelbandbeitrags stand die<br />

Frage, inwieweit die neue Lernkultur, die<br />

eine Stärkung der Individualisierung und<br />

das selbstständige Lernen der Schüler:innen<br />

fördern sollte, Wirkung zeigte. „Unsere<br />

Ergebnisse verdeutlichen, dass mit der<br />

Einführung der NMS sich lediglich im<br />

Deutschunterricht die aufgrund des NMS-<br />

Konzepts erwarteten positive Veränderungen<br />

im Unterrichtsbetrieb eingestellt haben“,<br />

resümiert Helm. „In den Fächern<br />

Mathematik und Englisch dagegen ist seither<br />

keine relevante Zunahme der Lernunterstützung<br />

beobachtbar.“ Claudia<br />

Schreiner ergänzt: „Diese Studie zeigt,<br />

dass strukturelle Reformen viel Zeit benötigen,<br />

um die Praxis im Klassenzimmer<br />

nachhaltig zu verändern. Schön ist zu sehen,<br />

dass die Verbesserungen im Deutschunterricht<br />

die Potenziale der Reformen<br />

widerspiegeln.“ Für die Untersuchung<br />

führten die Wissenschaftler:innen eine<br />

längsschnittliche Analyse der von 2009 bis<br />

2<strong>01</strong>8 erhobenen Daten aus den Bildungsstandardüberprüfungen<br />

des Bundes<br />

durch. Dies ermöglichte detaillierte Einblicke<br />

über einen längeren Zeitraum. <br />

SEIT ZEHN JAHREN ist die (Neue) Mittelschule Regelschule in Österreich.<br />

DAS TEAM um Eva Zangerle analysierte<br />

rund 12.000 Songtexte.<br />

LIEDTEXTE EINFACHER UND EMOTIONALER<br />

Englischsprachige Liedtexte sind immer simpler gestrickt und leichter zu verstehen, auch<br />

aufgrund eines geringeren Wortschatzes – insbesondere bei Rap- und Rocksongs. Außerdem<br />

wurden die Texte tendenziell emotionaler und persönlicher: Das zeigt ein Team um<br />

Eva Zangerle vom Institut für Informatik in einer im Fachblatt Scientific Reports veröffentlichten<br />

Studie, in der die Entwicklung von Liedtexten in den vergangenen 40 Jahren unter<br />

die Lupe genommen wurde. Die Wissenschaftler:innen analysierten für die Untersuchung<br />

12.000 englischsprachige Rap-, Country-, Pop-, R&B- und Rocksongs (je 2.400 Songs pro<br />

Genre), die zwischen 1980 und 2020 veröffentlicht wurden. Im Fokus standen Wortschatz,<br />

Lesbarkeit, Komplexität und die Anzahl der wiederholten Zeilen.<br />

22<br />

zukunft forschung <strong>01</strong>/24<br />

Fotos: pexels / Max Fischer, pexels / cottonbro studio, pexels / Adrienn


ZAHLEN<br />

UNIVERSITÄT<br />

INNSBRUCK<br />

International vernetzt:<br />

70 Prozent<br />

der wissenschaftlichen<br />

Publikationen entstehen<br />

gemeinsam mit internationalen<br />

Co-Autor:innen.<br />

Top <strong>Forschung</strong> beim<br />

renommierten Shanghai-Ranking in<br />

17 Fachbereichen<br />

Spitzenforschung in den <strong>Forschung</strong>sschwerpunkten<br />

Alpiner Raum und Physik.<br />

Über<br />

4600 Abschlüsse im<br />

Studienjahr 2022/23 Bachelor,<br />

Master, Diplom und Doktorat.<br />

Bereits zum<br />

8. Mal in Folge<br />

zählt die Universität Innsbruck<br />

dank spannender<br />

Arbeitsinhalte, einem<br />

familienfreundlichen und<br />

internationalen Arbeitsumfeld<br />

sowie attraktiver<br />

Zusatzleistungen zu den<br />

beliebtesten Arbeitgebern<br />

in Österreich.<br />

Kooperation mit 9 europäischen Universitäten<br />

von Reykjavik bis Neapel in der Aurora European<br />

Universities Allianz. Von dieser Zusammenarbeit<br />

profitieren Studierende, Wissenschaftler:innen<br />

und Verwaltungsmitarbeiter:innen.<br />

Beteiligung an<br />

3 FWF-Exzellenzclustern<br />

Die Universität Innsbruck koordiniert den<br />

Exzellenzcluster für Quantenwissenschaften und ist an<br />

zwei Exzellenzclustern zu politischen, sozialen und<br />

kulturellen Entwicklungen Eurasiens und zu Materialien<br />

für Energiekonversion und Speicherung beteiligt.<br />

Beste Spin-off-Strategie:<br />

Österreichweit führend mit aktuell<br />

22 Unternehmensbeteiligungen<br />

durch die 2008 gegründete<br />

Beteiligungsholding der Universität.<br />

51,6 Millionen Euro<br />

öffentlicher <strong>Forschung</strong>smittel<br />

national und international<br />

eingeworben.<br />

Mehr als 25 Prozent Steigerung<br />

in 5 Jahren.<br />

© BfÖ <strong>2024</strong><br />

Wir arbeiten vernetzt.<br />

Seit 1669<br />

/uniinnsbruck<br />

www.uibk.ac.at


STANDORT<br />

FREUDVOLLE<br />

KNOCHENARBEIT<br />

<strong>Forschung</strong>s-Attachée Elisabeth Smits über ihre Arbeit in Brüssel, aktuelle forschungspolitische Fragen<br />

auf EU-Ebene und die Performance heimischer Universitäten in europäischen <strong>Forschung</strong>sprogrammen.<br />

„Die Universität Innsbruck ist<br />

ein Top-Player, sie hat das<br />

Beteiligungsprofil und die<br />

Beteiligungszahlen deutlich<br />

gestärkt.“<br />

ZUKUNFT: Was sind die Aufgaben einer<br />

<strong>Forschung</strong>s-Attachée in Brüssel?<br />

ELISABETH SMITS: Ich arbeite für das Bundesministerium<br />

für Bildung, Wissenschaft<br />

und <strong>Forschung</strong> an der Ständigen Vertretung<br />

Österreichs bei der Europäischen<br />

Union. Jedes Ministerium hat Mitarbeiterinnen<br />

und Mitarbeiter vor Ort, meine<br />

Aufgabe ist es, Österreich bei Verhandlungen<br />

zu <strong>Forschung</strong>sthemen auf europäischer<br />

Ebene zu vertreten. <strong>Forschung</strong> ist<br />

eine zwischen der EU und den Mitgliedstaaten<br />

geteilte Kompetenz, es ist vertraglich<br />

geregelt, dass es Programme gibt, um<br />

die Zusammenarbeit mit und zwischen<br />

Unternehmen, <strong>Forschung</strong>szentren und<br />

Hochschulen zu fördern. Diese Programme<br />

müssen ausverhandelt werden. Dazu<br />

gibt es eine Ratsarbeitsgruppe mit den 27<br />

Mitgliedstaaten, der Europäischen Kommission<br />

und zum Teil auch Expertinnen<br />

und Experten, in der ganz konkret Rechtstexte<br />

auf Basis von Kommissionsvorschlägen<br />

verhandelt werden. So ist etwa das<br />

EU-<strong>Forschung</strong>srahmenprogramm Horizon<br />

Europe über unseren Tisch gegangen.<br />

ZUKUNFT: Das klingt nach harter Knochenarbeit<br />

vor politischen Entscheidungen.<br />

SMITS: Ja, aber es ist sehr freudvolle Knochenarbeit<br />

– wir verhandeln und gestalten<br />

von Anfang an mit. Wichtig bei den Verhandlungen<br />

ist, dass man Verbündete hat.<br />

Zu meinen Aufgaben zählt daher auch,<br />

den Kontakt zu den anderen Mitgliedstaaten<br />

und in die Kommission zu pflegen,<br />

um rechtzeitig Entwicklungen zu erfahren<br />

und Partner zu finden. Das bedeutet auch,<br />

dass ich bei Veranstaltungen bin und mich<br />

mit Stakeholdern treffe – meine Antennen<br />

sind immer auf Empfang gestellt. Zudem<br />

betreue ich österreichische Delegationen,<br />

sei es vom Ministerium, von Universitäten<br />

oder <strong>Forschung</strong>seinrichtungen. Wir<br />

haben auch ein Netzwerk von Österreicherinnen<br />

und Österreichern, die in Brüssel<br />

im Bereich Bildung, Wissenschaft und<br />

<strong>Forschung</strong> arbeiten, die wir regelmäßig<br />

bei unserem Runden Tisch <strong>Forschung</strong> zusammenbringen.<br />

ZUKUNFT: Welche forschungspolitischen<br />

Fragen werden in Brüssel diskutiert?<br />

SMITS: Wissenschaft und <strong>Forschung</strong> sind<br />

immer mehr in „übergeordneten“ Themen<br />

zu Hause. Jahrelang war der Green<br />

Deal das Schlagwort, nun ist die Wettbewerbsfähigkeit<br />

on everybody‘s lips. Wobei<br />

die zwei Themen sich nicht ausschließen<br />

oder ablösen, sondern Hand in Hand gehen<br />

sollen. Da kommt die <strong>Forschung</strong> ins<br />

Spiel, sie kann die Brücke zu ambitionierten<br />

Klimazielen bauen – mit innovativen<br />

Technologien sollte es gelingen, dass die<br />

Industrie grün werden und wettbewerbsfähig<br />

bleiben kann. Ein weiteres übergeordnetes<br />

Thema ist die offene strategische<br />

Autonomie. Die russische Invasion in der<br />

Ukraine und die Corona-Pandemie waren<br />

zwei deutliche Weckrufe, dass wir in vielen<br />

Bereichen abhängig sind und nun unabhängiger<br />

werden wollen, zum Beispiel<br />

im Bereich der Halbleitertechnologie.<br />

ZUKUNFT: Gibt es Themen, die speziell den<br />

Bereich <strong>Forschung</strong> betreffen?<br />

SMITS: Das wäre zum einen die Research<br />

Security, also <strong>Forschung</strong>ssicherheit. Das<br />

EU-<strong>Forschung</strong>srahmenprogramm Horizon<br />

2020 (2<strong>01</strong>4 – 2020) hatte noch das<br />

Motto „open to the world“. Man ist nun<br />

vorsichtiger geworden, da es internationale<br />

Partner im Bereich <strong>Forschung</strong> und Innovation<br />

nicht automatisch gut mit einem<br />

meinen. Man muss sorgsam abwägen,<br />

Das gesamte Interview finden Sie auf<br />

der Homepage der Uni Inns bruck unter:<br />

www.uibk.ac.at/forschung/magazin<br />

24 zukunft forschung <strong>01</strong>/24<br />

Fotos: Zahra Reismüller


STANDORT<br />

mit wem man in welchen Bereichen kooperiert.<br />

Es ist ein schmaler Grat zwischen<br />

naiv und paranoid, denn gerade die Wissenschaft<br />

lebt von Offenheit und internationaler<br />

Zusammenarbeit, dennoch muss<br />

man sich internationale Partner genau<br />

aussuchen. Zum anderen wird das Thema<br />

Dual-Use diskutiert. Bislang ist es so, dass<br />

Horizon Europe rein zivile <strong>Forschung</strong><br />

fördert. Im Zuge der geopolitischen Entwicklungen<br />

ist man aber aufmerksam geworden,<br />

dass viele Technologien, die für<br />

die wirtschaftliche Sicherheit bedeutend<br />

sind, mitunter auch militärisch genutzt<br />

werden können. Das ist eine sehr sensible<br />

Thematik. Es gibt dazu eine öffentliche<br />

Konsultation, bei der die Mitgliedstaaten<br />

und Stakeholder aufgerufen sind, ihre<br />

Sichtweise einzubringen.<br />

ZUKUNFT: Inwieweit spielt das Thema<br />

Knowledge Valorisation eine Rolle?<br />

SMITS: Das wird intensiv diskutiert. Europa<br />

ist sehr gut in exzellenter <strong>Forschung</strong>,<br />

hat aber noch Potenzial, dies mehr auf<br />

den Markt zu bringen. Es gibt einen aktuellen<br />

Bericht führender Ökonomen, die<br />

warnen, dass die EU im globalen Innovationswettlauf<br />

verliert und dass man qualitativ<br />

sowie quantitativ mehr tun muss,<br />

um <strong>Forschung</strong>sergebnisse auf den Markt<br />

zu bringen. In diesem Zusammenhang<br />

sind auch die Karrieren von Forschenden<br />

ein Thema: Wie gelingt es uns, exzellente<br />

Leute in Europa zu halten, sie nach Europa<br />

zu holen oder zurückzuholen?<br />

ZUKUNFT: Die <strong>Forschung</strong>srahmenprogramme<br />

der EU sind die maßgeblichsten<br />

Instrumente der <strong>Forschung</strong>sförderung auf<br />

europäischer Ebene. Wie schneiden Österreichs<br />

Universitäten beim Einwerben von<br />

Mitteln aus EU-Programmen ab?<br />

SMITS: Grundsätzlich sind Forschende<br />

und Unternehmen aus Österreich sehr<br />

erfolgreich beim Einwerben: In Horizon<br />

2020 war Österreich in den Top 3 unter<br />

den EU-Mitgliedstaaten. Auch in Horizon<br />

Europe ist Österreich gut unterwegs, zu<br />

diesem Abschneiden tragen die Universitäten<br />

maßgeblich bei. Seit dem Start von<br />

Horizon Europe haben die Universitäten<br />

rund 330 Millionen Euro eingeworben,<br />

das ist rund ein Drittel der Horizon-Europe-Gelder,<br />

die nach Österreich geflossen<br />

sind. Diese Verteilung entspricht auch<br />

dem europäischen Schnitt.<br />

ZUKUNFT: Wie sind die Top 3 zu verstehen?<br />

SMITS: Österreich zählte in Horizon 2020<br />

zu den Top 3, wenn man die Erfolgsquote<br />

bei den Beteiligungen an Projekten als<br />

Maßstab heranzieht.<br />

ZUKUNFT: Und wie schaut es mit der Universität<br />

Innsbruck aus?<br />

SMITS: Auch hier gibt es natürlich viele<br />

Kriterien: Wie viel Fördergeld erhält sie,<br />

wie viele Projektbeteiligungen und wie<br />

viele – prestigeträchtige – Projektkoordinationen<br />

hat sie. Wie man es aber dreht<br />

und wendet, die Universität Innsbruck ist<br />

ein Top-Player, sie hat das Beteiligungsprofil<br />

und die Beteiligungszahlen deutlich<br />

gestärkt. Vergleicht man etwa die<br />

österreichischen Universitäten nach Fördermitteln<br />

pro 100 Forschenden, war die<br />

Universität Innsbruck bei Horizon 2020<br />

auf Platz acht, bei Horizon Europe bisher<br />

auf Platz drei. Das ist beachtlich!<br />

ZUKUNFT: Luft nach oben besteht immer<br />

– wie kann das Potenzial besser ausgeschöpft<br />

werden?<br />

ELISABETH SMITS ist vom Bundesministerium<br />

für Bildung, Wissenschaft<br />

und <strong>Forschung</strong> (BMBWF) entsendete<br />

<strong>Forschung</strong>s-Attachée an der Ständigen<br />

Vertretung Österreichs bei der EU in<br />

Brüssel und vertritt damit Österreich in<br />

der Ratsarbeitsgruppe <strong>Forschung</strong> sowie<br />

der Ratsarbeitsgruppe <strong>Forschung</strong>/Atomfragen.<br />

Davor war sie in der Österreichischen<br />

<strong>Forschung</strong>sförderungsgesellschaft<br />

FFG, im österreichischen Parlament sowie<br />

im Wissenschafts- und <strong>Forschung</strong>sministerium<br />

(u.a. als Pressesprecherin des damaligen<br />

Wissenschafts- und <strong>Forschung</strong>sministers<br />

Karlheinz Töchterle) tätig. Die<br />

Vorarlbergerin hat an der Universität<br />

Wien Politikwissenschaften studiert.<br />

SMITS: Zufriedenheit ist sicher nichts, was<br />

der <strong>Forschung</strong> innewohnt. Sie will immer<br />

besser werden. In Vorarlberg sagen wir<br />

„Vo nüt kut nüt“ – das sieht man auch<br />

an der Universität Innsbruck. Diese oben<br />

angesprochene Steigerung kommt nicht<br />

von ungefähr. Die Universität Innsbruck<br />

unterstützt junge Forschende sehr professionell<br />

und ermutigt sie, sich an den<br />

europäischen Programmen zu beteiligen.<br />

Einrichtungen wie das projekt.service.büro<br />

sind in diesem Zusammenhang Gold<br />

wert, im besten Sinne des Wortes sogar<br />

Geld wert und viel mehr: Es geht um den<br />

Zugang zu Know-how und neuen Märkten,<br />

den Austausch von Wissen, die Vernetzung,<br />

Benchmarks etc. Die Universität<br />

Innsbruck erntet nun die Früchte dieser<br />

gezielten Unterstützung.<br />

ZUKUNFT: Horizon Europe hat sozusagen<br />

Halbzeit. Gibt es schon Überlegungen zu<br />

einem Nachfolgeprogramm?<br />

SMITS: Das Nachfolgeprogramm, derzeit<br />

noch FP10 genannt, wird mit 2028 starten.<br />

Das klingt weit weg, es biegt aber schon<br />

um die Ecke. Inhaltliche Überlegungen zu<br />

FP10 gibt es auf mehreren Ebenen: Zum<br />

einen in den Mitgliedstaaten, die sich<br />

selbst auf nationaler Ebene vorbereiten<br />

und sich auch untereinander in einem<br />

Gremium der Generaldirektorinnen und<br />

Generaldirektoren austauschen und eine<br />

Stellungnahme erarbeiten. Zum anderen<br />

laufen natürlich die Vorbereitungen in<br />

der Europäischen Kommission auf Hochtouren,<br />

die schlussendlich den Vorschlag<br />

für FP10 vorlegen wird. Es gibt noch einen<br />

weiteren aktiven Player, das Europäische<br />

Parlament, dazu kommen zahlreiche<br />

universitäre und außeruniversitäre Interessenvertretungen,<br />

die Positionspapiere<br />

verfassen. Denn jetzt ist sicherlich die Zeit,<br />

um gehört zu werden.<br />

ZUKUNFT: Wie schätzen Sie den Zeitplan<br />

ein?<br />

SMITS: Wir erwarten, dass Mitte 2025 ein<br />

erster Vorschlag für FP10 auf dem Tisch<br />

liegen wird. Dann beginnen die Verhandlungen<br />

und Gespräche mit den Mitgliedstaaten,<br />

mit dem Parlament, mit den Interessenvertretungen.<br />

Mit 1. Jänner 2028 soll<br />

das neue <strong>Forschung</strong>srahmenprogramm in<br />

Kraft treten.<br />

ZUKUNFT: Die Namensfindung wird dabei<br />

das geringste Problem sein.<br />

SMITS: Ich denke, dass man mit einem Namen<br />

viel ausdrücken kann – es ist aber<br />

wohl eher die Kür als die Pflicht. ah<br />

zukunft forschung <strong>01</strong>/24 25


SPORTWISSENSCHAFT<br />

DURCH KRAFTTRAINING<br />

BESSER GAMEN<br />

Skills mit Bewegung schärfen: Der Sportwissenschaftler Felix Wachholz untersucht, wie Sport die<br />

Gaming-Performance verbessern kann. Damit sollen vor allem wieder mehr junge Menschen zu<br />

körperlichen Aktivitäten motiviert werden.<br />

26 zukunft forschung <strong>01</strong>/24<br />

Foto: Andreas Friedle


SPORTWISSENSCHAFT<br />

Ob Konsole oder Computer – selbst<br />

wer nicht selbst „zockt“, hat mit<br />

großer Wahrscheinlichkeit Menschen<br />

im Umfeld, für die digitale Spiele<br />

eine große (zeitliche) Rolle in ihrem Leben<br />

einnehmen. Gaming ist also längst<br />

ein „Breitensport“ und insbesondere bei<br />

jüngeren Generationen in der Gesellschaft<br />

stark verankert. Inzwischen beschäftigen<br />

sich mehrere wissenschaftliche<br />

Disziplinen unter dem Sammelbegriff der<br />

Game Studies auch an der Universität<br />

Innsbruck mit diesem Phänomen.<br />

Die Perspektive der Sportwissenschaft<br />

nimmt Felix Wachholz ein und stellt die<br />

Frage, wie sportlich denn E-Sportler:innen<br />

sind oder sein könnten, in den Mittelpunkt<br />

seines Interesses. „Der professionalisierte<br />

und kompetitive E-Sport und<br />

das geradezu flächendeckend verbreitete<br />

Gaming beschäftigen mich in meiner Arbeit<br />

schon mehrere Jahre. Die Anzahl der<br />

spielenden, vor allem jungen Menschen<br />

nimmt kontinuierlich zu und von vielen<br />

wird das sehr kritisch gesehen. Es ist aber<br />

nun mal nicht wegzureden und gesellschaftlich<br />

sehr relevant“, sagt Felix Wachholz<br />

vom Institut für Sportwissenschaft.<br />

„Ich finde es wichtig, dass wir auch aus<br />

sportwissenschaftlicher Perspektive genau<br />

hinsehen, weil wir sonst eine sehr<br />

große Gruppe in unserer Gesellschaft,<br />

nämlich all jene, die jetzt heranwachsen,<br />

aus den Augen verlieren. Gerade in dieser<br />

Altersgruppe ist aber eine Sensibilisierung<br />

für gesundheitsrelevante Themen,<br />

die immer auch mit körperlicher Aktivität<br />

in Verbindung stehen, sehr wichtig. Und<br />

hier setzen wir an: Wir nutzen diese wei-<br />

FELIX WACHHOLZ kann für sein<br />

Projekt auf eine neu geschaffene<br />

<strong>Forschung</strong>sinfrastruktur am Fürstenweg<br />

zugreifen.<br />

zukunft forschung <strong>01</strong>/24 27


SPORTWISSENSCHAFT<br />

FELIX WACHHOLZ (*1991) studierte<br />

Sportmanagement und Sportwissenschaft<br />

in Innsbruck. Wachholz promovierte<br />

2022 in der Neurophysiologie-Gruppe<br />

von Peter Federolf. Seit Februar 2022 ist<br />

er Universitätsassistent im Bereich Sportmanagement<br />

rund um Martin Schnitzer<br />

mit Fokus auf Digitalisierung im Sport.<br />

Wachholz ist zudem zertifizierter Kletter-,<br />

Leichtathletik- und Skilehrer und arbeitet<br />

als Dozent für verschiedene Sportorganisationen.<br />

Er ist Mitautor des Buches<br />

E-Sport-Fitness.<br />

te Verbreitung, um darüber Zugang zu<br />

den vielen Gamerinnen und Gamern zu<br />

erhalten und ihnen die Vorzüge des physischen<br />

Sports für ihren digitalen Sport<br />

nahezubringen.“ Dass häufig diskutiert<br />

wird, ob man E-Sport als „echten“ Sport<br />

bezeichnen kann, findet Felix Wachholz<br />

nicht zielführend: „Es gibt viele Sportarten,<br />

die auch offiziell – zum Beispiel vom<br />

„Künftig könnte es auf das<br />

jeweilige digitale Spielgenre<br />

zugeschnittene körperliche<br />

Trainingsprogramme geben.“ <br />

<br />

Felix Wachholz, Institut für Sportwissenschaft<br />

Internationalen Olympischen Komitee –<br />

als solche anerkannt sind, wo körperliche<br />

Bewegung nicht im Vordergrund steht,<br />

zum Beispiel Schach. Die Definition von<br />

Sport ist daher unheimlich schwierig,<br />

aber ich finde es wichtig zu verstehen,<br />

dass auch Sport ein stets soziales, gesellschaftliches<br />

Konstrukt ist.“<br />

Körper und Geist trainieren<br />

Wie die Performance von E-Sportler:innen<br />

durch das Einbauen von gezielten<br />

körperlichen Aktivitäten potenziell verbessert<br />

werden kann, ist ein noch junges<br />

<strong>Forschung</strong>sfeld. Bekannt ist allerdings,<br />

dass sowohl die kardiovaskuläre als auch<br />

die kognitive Leistungsfähigkeit durch<br />

Bewegung verbessert werden kann. Gerade<br />

Letztere ist für den Gaming-Bereich<br />

von großem Interesse: „Während des<br />

Spielens sind viele Fähigkeiten gefragt,<br />

egal ob First-Person-Shooter oder Strategiespiel:<br />

Aufmerksamkeit, Reaktionsfähigkeit<br />

und Hand-Augen-Koordination<br />

spielen in unterschiedlichen Gewichtungen<br />

je nach Spiel eine zentrale Rolle, um<br />

erfolgreich zu sein“, erklärt der Sportwissenschaftler.<br />

„Letztlich betreiben die Nutzer:innen<br />

also genauso Sport, nur eben<br />

auf einem digitalen Endgerät.“ Dennoch:<br />

E-Sport wird fast ausschließlich sitzend<br />

ausgeführt, daher sind die potenziell<br />

förderlichen körperlichen Betätigungen<br />

nicht nur mit einem Fokus auf mentale<br />

Performance angelegt. Auch Nachteile<br />

für den Stütz- und Bewegungsapparat<br />

durch das viele Sitzen sollen möglichst<br />

gut ausgeglichen werden.<br />

Trainingsprogramm für zu Hause<br />

Wie genau sich die körperlichen Aktivitäten<br />

auf die verschiedenen relevanten Bereiche<br />

für den Spielerfolg auswirken, untersucht<br />

Wachholz mit seinem Team aktuell<br />

in der durch eine Sonderförderung<br />

des Vizerektorats für <strong>Forschung</strong> der Uni<br />

Innsbruck unterstützte Studie E-SPORT –<br />

Evaluating the Sportive Potential Of Relevant<br />

new Talents, in der 30 Teilnehmerinnen<br />

und Teilnehmer in drei Kontrollgruppen<br />

über mehrere Wochen neben ihrem üblichen<br />

Spielpensum sportwissenschaftlich<br />

begleitet werden. „Unser Ansatz ist eine<br />

sportliche Interventionsstudie, in der wir<br />

High Intensity Training – also kurze, aber<br />

intensive Trainingseinheiten – mit Reaktionstraining,<br />

Antizipationstraining und<br />

Handkrafttraining in den verschiedenen<br />

Kontrollgruppen kombinieren. Alle<br />

Übungen können ohne spezielle Ausstattung<br />

zu Hause durchgeführt werden,<br />

alle Beschreibungen und dazugehörigen<br />

Videos sind in einer App hinterlegt, über<br />

die wir als Studienleiter auch immer erreichbar<br />

sind“, so Wachholz.<br />

Die Probandinnen und Probanden machen<br />

im Rahmen dieser Studie am Anfang<br />

und Ende spezifische Tests, die ihre Fortschritte<br />

sowohl kardiovaskulär als auch<br />

kognitiv dokumentieren sollen. „Insbesondere<br />

auf die Ergebnisse bezüglich des<br />

Handkrafttrainings sind wir schon sehr<br />

gespannt: Unsere Hypothese ist hier, dass<br />

eine höhere Handkraft die Geschicklichkeit<br />

begünstigen könnte. Denn ist die intramuskuläre<br />

Koordination gut, können<br />

die Finger auch besser und genauer angesteuert<br />

werden. Hier werten wir aktuell<br />

noch die Ergebnisse unserer Studie aus.“<br />

In langfristiger Perspektive sieht Wachholz<br />

das Potenzial in der Entwicklung<br />

von spezifischen Sport-Programmen für<br />

E-Sportler:innen – je nach Spielgenre auf<br />

die ideale Performance-Steigerung ausgelegt.<br />

mb<br />

28<br />

zukunft forschung <strong>01</strong>/24<br />

Foto: Andreas Friedle


KURZMELDUNGEN<br />

DIE SCHLAUCHSEESCHEIDE (Ciona intestinalis) ist ein wichtiger Modellorganismus.<br />

MOLEKULARE<br />

EINBLICKE<br />

Forschende klären zentrale molekulare Grundlagen der<br />

Zellentwicklung in den Larven von Manteltieren.<br />

Wie das Blättern durch ein altes<br />

Familienalbum Einblicke in die<br />

Vergangenheit gewährt, so ermöglicht<br />

die <strong>Forschung</strong> an den weltweit<br />

verbreiteten Manteltieren, insbesondere<br />

der Schlauchseescheide (Ciona intestinalis),<br />

einen Blick in die evolutionäre Geschichte<br />

vor der Entstehung der Wirbeltiere.<br />

In einer aktuellen Studie von Ute<br />

Rothbächer von der Universität Innsbruck<br />

und Forschenden am Georgia Tech<br />

wurden die molekularen Grundlagen der<br />

Zellentwicklung in Manteltierlarven untersucht.<br />

Die im Fachjournal PLOS Biology<br />

publizierten Ergebnisse bieten wichtige<br />

Einblicke in die Evolution von mehrzelligen<br />

Organismen und sind ein wesentlicher<br />

Schritt zum Verständnis der Genregulation<br />

und deren Auswirkungen auf<br />

die Zellfunktionen, die den Übergang von<br />

mobilen Larven zu sesshaften Manteltieren<br />

steuern. Im Zentrum der Untersuchungen<br />

standen die Papillen, mit denen<br />

sich die Larven auf dem Untergrund festkleben;<br />

die Zellen in den Papillen produzieren<br />

nicht nur den Klebstoff, sie ermöglichen<br />

den Larven auch Sinneswahrnehmungen.<br />

„Mit diesen Organen können<br />

die Larven fühlen und auch schmecken,<br />

indem sie mechanische und chemische<br />

Signale wahrnehmen“, erklärt Ute Rothbächer<br />

vom Institut für Zoologie.<br />

KLIMAKRISE GEFÄHRDET<br />

ALPINE ÖKOSYSTEME<br />

Gebirge sind vom Klimawandel besonders<br />

betroffen: Mit der Erwärmung<br />

schwindet die Schneedecke und Zwergsträucher<br />

dringen in höhere Lagen vor – mit<br />

Auswirkungen auf die jahreszeitlichen<br />

Abläufe der alpinen Ökosysteme. Das zeigt<br />

eine Studie, die auf Daten von Versuchsflächen<br />

auf 2. 500 Metern im Ötztal basiert.<br />

Die Kombination aus reduzierter Schneedecke<br />

und der Ausbreitung von Zwergsträuchern<br />

stört das zeitliche Zusammenspiel<br />

von Pflanzen und Bodenmikroorganismen.<br />

„Es gibt eine mikrobielle Winter-Gemeinschaft<br />

und eine Sommer-Gemeinschaft.<br />

Eine frühere Schneeschmelze führt zu einem<br />

abrupten saisonalen Übergang der mikrobiellen<br />

Gemeinschaften. Die Funktion des<br />

Winter-Ökosystems wird dadurch verkürzt<br />

und seine Wirkweise eingeschränkt. Das hat<br />

Auswirkungen auf den Stoffhaushalt und<br />

die Pflanzenproduktivität und bringt das<br />

Gleichgewicht des Ökosystems in Gefahr“,<br />

erklärt Michael Bahn, Leiter der <strong>Forschung</strong>sgruppe„Funktionelle<br />

Ökologie, der an der<br />

im Journal Global Change Biology veröffentlichten<br />

Untersuchung beteiligt war.<br />

DURCH DIE ERWÄRMUNG dringen<br />

Zwergsträucher in höhere Lagen vor.<br />

VERBESSERTE QUANTENSENSORIK<br />

Die Quantensensorik verspricht noch genauere Messungen physikalischer Größen. Die<br />

empfindlichen quantenmechanischen Eigenschaften, die für die Sensorik benötigt<br />

werden, können allerdings durch Rauschen überdeckt werden – verursacht durch schnelle<br />

Wechselwirkungen zwischen Sensor und Umgebung, welche die Informationen im Sensor<br />

stören und das Quantensignal unleserlich machen. In einer neuen Arbeit stellen Physiker:innen<br />

um Christian Roos vom Institut für Experimentalphysik gemeinsam mit Partnern in Israel<br />

und den USA eine Methode vor, wie diese Informationen mithilfe der Korrelationsspektroskopie<br />

wieder zugänglich gemacht werden können. „Die Schlüsselidee ist hier, dass wir<br />

nicht nur einen einzelnen Sensor verwenden, sondern ein Netzwerk von bis zu 91 Sensoren,<br />

die jeweils aus einem einzelnen Atom bestehen“, schildert Helene Hainzer, die Erstautorin<br />

der Arbeit, die in der Fachzeitschrift Physical Review X erschienen ist.<br />

Fotos: Yale Peabody Museum / Eric A. Lazo-Wasem, Michael Bahn, Helene Heinzer<br />

zukunft forschung <strong>01</strong>/24 29


SCHULFORSCHUNG<br />

KLASSE HANDELN<br />

LERNEN<br />

Gabriele Schauer zeigt angehenden Lehrer:innen Möglichkeiten, wie man<br />

mit vieldeutigen Situationen im Schulalltag kompetent umgehen kann.<br />

Begleitend erforscht sie, inwieweit sich pädagogisches Ethos als Teil von<br />

Professionalität an der Universität vermitteln lässt.<br />

Nach einem Lehramtsstudium sollte<br />

man im Unterrichtsfach versiert<br />

sein, über didaktische Kompetenzen<br />

verfügen, mit den formalen Aspekten der<br />

Leistungsbeurteilung vertraut sein und viele<br />

weitere Fähigkeiten erworben haben. Zum<br />

Handwerkszeug von Lehrer:innen gehört<br />

auch – zumindest finden sich im allgemeinen<br />

Teil des Curriculums Beschreibungen dazu –<br />

eine Haltung, die das Handeln im Schulalltag<br />

durchdringt und unter dem Begriff „pädagogisches<br />

Ethos“ zusammengefasst werden<br />

kann.<br />

„In Schule und Unterricht begegnen wir<br />

ständig Situationen, für die es keine vorgefertigten<br />

Rezepte gibt. Vielmehr erfordern<br />

diese Reflexion vor, während und nach dem<br />

Handeln“, erklärt Gabriele Schauer vom<br />

Institut für LehrerInnenbildung und Schulforschung.<br />

– Ein reales Beispiel dazu: Eine<br />

Englisch-Lehrperson wurde von der Unruhe<br />

in einer Klasse überrascht und darüber informiert,<br />

dass gerade eine Mathematikschularbeit<br />

stattgefunden hat. Auf Nachfrage der<br />

Schüler:innen entschied sie, das Grammatikthema<br />

zu verschieben und stattdessen ein<br />

30 zukunft forschung <strong>01</strong>/24<br />

Fotos: Andreas Friedle


SCHULFORSCHUNG<br />

englisches Spiel durchzuführen. Was bedeutet<br />

es für ihre Rolle als Lehrperson, wenn sie<br />

von ihrem Plan abweicht? Welche verschiedenen<br />

Perspektiven, Regeln und Werte, auch<br />

die eigenen, treffen im Konfliktgeschehen<br />

aufeinander? Was ist legal, was ist legitim?<br />

Was ist hier pädagogisch gutes Handeln?<br />

Auf Fragen wie diese kann es nicht die eine<br />

richtige Antwort, jedoch eine reflektierende<br />

Auseinandersetzung mit dem Geschehenen<br />

geben. „Als urteilsfähiges Können schlägt<br />

pädagogisches Ethos eine Brücke zwischen<br />

Regeln, Werten, den daraus resultierenden<br />

Handlungen sowie der Reflexion darüber“,<br />

erläutert Gabriele Schauer den komplexen<br />

Begriff. Weil die Entwicklung von pädagogischem<br />

Ethos als bedeutender Teil von<br />

Professionalität betrachtet wird, haben Bildungswissenschaftler:innen<br />

verschiedener<br />

Universitäten ein Handbuch mit dem Titel<br />

ELBE – Ethos im Lehrberuf erarbeitet. Finanziert<br />

durch die Robert-Bosch-Stiftung wurde<br />

es für den Einsatz in der Lehrer:innenbildung<br />

an Hochschulen konzipiert. Es kombiniert<br />

theoretische wissenschaftliche Konzepte mit<br />

Praxisbeispielen und Reflexionen dazu.<br />

Ethos lehren<br />

„Mit dem Handbuch wollten wir eine<br />

Grundlage schaffen, die es Dozierenden erleichtern<br />

sollte, das Thema pädagogisches<br />

Ethos in ihre Lehre einzubauen“, sagt Gabriele<br />

Schauer, die an der Erstellung des EL-<br />

BE-Manuals mitgewirkt hat und es in ihren<br />

Seminaren im Lehramtsstudium auch selbst<br />

einsetzt. Begleitend erforscht sie in ihrem<br />

neuen Projekt Pädagogisches Ethos angehender<br />

Lehrpersonen, was der Einsatz des Handbuchs<br />

in der Lehre und die Auseinandersetzung<br />

mit dem Thema denn tatsächlich bringt.<br />

Die Fragen, die in diesem vom Land Tirol<br />

geförderten <strong>Forschung</strong>svorhaben im Mittelpunkt<br />

stehen, boten im Übrigen bereits dem<br />

ETHOS IM LEHRBERUF (ELBE) war ein<br />

Kooperationsprojekt der Universität Innsbruck,<br />

der Humboldt Universität zu Berlin, der Universität<br />

Wien sowie der Universität für Musik<br />

und darstellende Kunst Wien und wurde von<br />

2020 bis 2022 durch die Robert-Bosch-Stiftung<br />

gefördert. Ziel war es, ein Handbuch zur<br />

Übung von pädagogischem Ethos zu erstellen.<br />

Das Folgeprojekt Pädagogisches Ethos angehender<br />

Lehrpersonen (PEtaL) wird aus der<br />

Tiroler Nachwuchsförderung des Landes Tirol<br />

unterstützt und evaluiert als Aufbauprojekt die<br />

praktische Arbeit mit dem Manual.<br />

„Als urteilsfähiges Können schlägt pädagogisches Ethos<br />

eine Brücke zwischen Regeln, Werten, den daraus<br />

resultierenden Handlungen sowie der Reflexion darüber.“ <br />

<br />

Gabriele Schauer, Institut für LehrerInnenbildung<br />

antiken Philosophen Sokrates Gesprächsstoff.<br />

In seinem berühmten fiktiven Dialog<br />

mit Menon diskutiert er, inwieweit Tugend<br />

denn überhaupt gelehrt oder geübt werden<br />

kann. Ob man pädagogisches Ethos lehren<br />

kann, gilt es noch heute zu erforschen. „Im<br />

neuen Projekt ging es im ersten Schritt darum,<br />

einen geeigneten methodischen Ansatz<br />

zu finden, um pädagogisches Ethos zu<br />

analysieren“, berichtet Gabriele Schauer. Ihr<br />

hauptsächlicher Untersuchungsgegenstand<br />

sind Texte, in denen Master-Studierende<br />

ihr Verständnis von pädagogischem Ethos<br />

reflektieren. Diese entstehen im Zuge eines<br />

Pflichtseminars, das in diesem Sommersemester<br />

von 30 Teilnehmer:innen belegt und<br />

auch im Wintersemester wieder angeboten<br />

wird. Überprüfen will die Wissenschaftlerin,<br />

wie die intensive Auseinandersetzung mit<br />

pädagogischem Ethos über das Semester<br />

hinweg die Reflexionen der Studierenden<br />

verändert.<br />

„Ob die Studierenden etwas mitgenommen<br />

haben, kann ich nur teilweise anhand ihrer<br />

Entscheidungen oder Lösungsvorschläge erkennen.<br />

Aber ich kann mithilfe von qualitativer<br />

Textanalyse die Dichte und Vielfalt der<br />

Beschreibungen und der Begrifflichkeiten,<br />

die sie verwenden, vergleichen“, verdeutlicht<br />

Schauer. Methodisch kann sie dabei auf ein<br />

Verfahren zurückgreifen, das ebenfalls an der<br />

Universität Innsbruck maßgeblich mitentwickelt<br />

wurde: Das Verfahren GABEK – die Abkürzung<br />

steht für Ganzheitliche Bewältigung<br />

von Komplexität – ermöglicht eine computergestützte<br />

Auswertung der Texte.<br />

Dass diese Vorgehensweise funktioniert,<br />

hat Gabriele Schauer bereits in einer Probestudie<br />

mit vorhandenen Texten überprüft.<br />

Ende Mai sind dann alle Texte für die Analyse<br />

bereit, positives Feedback von Studierenden<br />

zu den Seminarinhalten bekommt sie<br />

laufend. „Für die Studierenden ist pädagogisches<br />

Ethos ein wichtiges Thema. Am Anfang<br />

ihrer Ausbildung wollen sie meist noch<br />

genaue Anleitungen für bestimmte Unterrichtssituationen,<br />

im Laufe des Seminars erkennen<br />

sie die Bedeutung von (moralischen)<br />

Entscheidungen im schulischen Handeln<br />

und die Notwendigkeit für Reflexionen hierbei“,<br />

freut sich Schauer.<br />

ef<br />

GABRIELE SCHAUER studierte<br />

während ihrer Tätigkeit<br />

als Leiterin eines Schülerhortes<br />

Pädagogik an der Universität<br />

Innsbruck, wo sie 2<strong>01</strong>7 auch<br />

ihr Doktoratsstudium abschloss.<br />

Sie war mehrere Jahre<br />

in der Aus- und Weiterbildung<br />

an verschiedenen Hochschulen<br />

tätig. Seit 2<strong>01</strong>6 lehrt und<br />

forscht sie als Senior Lecturer<br />

am Institut für LehrerInnenbildung<br />

und Schulforschung und<br />

ist u.a. Mitglied der Curriculumskommission<br />

Lehramt.<br />

zukunft forschung <strong>01</strong>/24 31


GERMANISTIK<br />

TV-SERIEN, frei verfügbar und am Stück konsumierbar, sind Gegenstand der <strong>Forschung</strong> von Maren Lickhardt.<br />

MARATHON<br />

IM FERNSEHEN<br />

Jedes Monat erscheinen auf unterschiedlichen Streamingplattformen dutzende neue Serienfolgen.<br />

Mit deren Rezeption in Form des „Binge Watchings“ befasst sich die Germanistin Maren Lickhardt.<br />

Sie gelten als Romane des 21. Jahrhunderts,<br />

als Wiederkehr des ausgestorben<br />

geglaubten Fernseh-Lagerfeuers,<br />

bei dem alle mitreden können:<br />

Fernsehserien sind kulturell wirkmächtig<br />

– am besten solche, die möglichst „bingeable“<br />

sind, also für Serienmarathons geeignet.<br />

Was diese „Bingeability“ eigentlich<br />

ausmacht, hat sich die Germanistin<br />

Maren Lickhardt näher angesehen:<br />

„Binge Watching meint den Konsum<br />

einer Fernsehserie, eben nicht zeitversetzt<br />

mit einer wöchentlich neuen Folge,<br />

sondern in einem Rutsch hintereinander.<br />

Dafür muss natürlich ein bestimmtes Maß<br />

an Material vorhanden sein, das man in<br />

einem kleinen oder größeren ‚Exzess‘<br />

schauen kann – wobei der Begriff ‚Exzess‘<br />

hier drastischer klingt, als er gemeint ist.“<br />

Bingeability<br />

„Bingen“ ist dabei ein autonomes und<br />

selbstbestimmtes Phänomen: Kein lineares<br />

Programm gibt vor, was man schaut.<br />

„Auch das Zappen durch Fernsehkanäle<br />

ist ein Moment der Wahl, aber das damit<br />

verbundene Viel-Sehen ist kein Binge<br />

Watching, weil man da ja immer noch<br />

daran gebunden ist, was das Fernsehen<br />

bietet. Beim Binge Watching sucht man<br />

selbst einen Inhalt aus und schaut den<br />

gezielt“, sagt die Germanistin. Sehr zur<br />

Popularisierung des „Bingens“ beigetragen<br />

hat der Streamingdienst Netflix, der<br />

in den 2<strong>01</strong>0er-Jahren massiv expandiert<br />

hat und heute nahezu weltweit verfügbar<br />

ist: Serienstaffeln erscheinen dort bis auf<br />

wenige Ausnahmen jeweils komplett am<br />

selben Tag, und die einzelnen Folgen laufen<br />

auch durch, wenn man nicht bewusst<br />

abbricht. „Binge Watching gab es auch<br />

schon vor Netflix, auf DVDs konnte man<br />

32<br />

zukunft forschung <strong>01</strong>/24


GERMANISTIK<br />

genauso mehrere Serienfolgen am Stück<br />

schauen. Diese automatische Funktion<br />

von Netflix, dass Folgen praktisch ohne<br />

Unterbrechung durchlaufen, gab es in<br />

den 1990ern mit DVDs allerdings noch<br />

nicht.“ Netflix trug auch wesentlich dazu<br />

bei, „Binge Watching“ als Begriff zu<br />

popularisieren: Kevin Spacey, damals<br />

noch gefeierter Star der ersten großen<br />

Netflix-Serie „House of Cards“, äußerte<br />

sich in Interviews zur Serie explizit zu<br />

Binge Watching, Netflix machte die Praktik<br />

zum Teil ihres Marketings.<br />

Das heutige Binge Watching hat eindeutige<br />

Vorläufer, wie die Germanistin<br />

betont: „Eine gewisse Autonomisierung,<br />

dass man eben nicht mehr auf das Fernsehprogramm<br />

angewiesen ist, setzt schon<br />

mit den ersten Videorekordern ein, und<br />

später spielen natürlich DVD-Boxen von<br />

Serien eine Rolle.“ Auch die Idee von<br />

Netflix, eine ganze Serienstaffel auf einmal<br />

online zu stellen, kommt nicht aus<br />

dem Nichts: „Für bestimmte Serien gab<br />

es schon früh Fan-Conventions. Star<br />

Trek ist da ein sehr frühes Beispiel, Conventions<br />

gab es da bereits in den frühen<br />

1970ern. Auf diesen Conventions wurden<br />

Screeningräume eingerichtet, wo mehrere<br />

Stunden etwas durchlief und man sich<br />

gemeinsam etwas angeschaut hat.“<br />

Eine fortlaufende Handlung über mehrere<br />

Episoden oder Staffeln hinweg gilt<br />

ebenfalls als Merkmal von „binge-baren“<br />

Serien. Das stimme zwar zum Gutteil,<br />

aber dass viele als qualitativ hochwertig<br />

gesehene Serien seit den späteren 1990ern<br />

fortlaufend erzählt werden, hat weniger<br />

mit beabsichtigtem Binge-Konsum zu tun<br />

als mit Finanzierungsmodellen vor allem<br />

im amerikanischen Bezahlfernsehen, wie<br />

Maren Lickhardt erläutert: „Qualitätsserien<br />

gibt es natürlich, aber sie sind nicht<br />

wegen dem oder für das Binge Watching<br />

IN DER REIHE Digitale Bildkulturen<br />

(Verlag Klaus Wagenbach) ist 2023 das<br />

Buch Binge Watching von Maren Lickhardt<br />

erschienen – sie befasst sich mit dem<br />

Phänomen des Binge Watchings, mit<br />

seiner Geschichte und den Freiräumen und<br />

Abhängigkeiten, die von starren Fernseh-<br />

Programmplänen unabhängiger Medienkonsum<br />

bringen kann. Das Buch entstand,<br />

als Lickhardt an der Universität Innsbruck<br />

tätig war, seit April <strong>2024</strong> ist sie Professorin<br />

an der Universität Siegen.<br />

entstanden, sondern haben ihren Ursprung<br />

im linearen US-Abofernsehen.<br />

Die Entstehung von gefeierten Serien wie<br />

‚Sopranos‘ und ‚Breaking Bad‘, die ihre<br />

Handlung durchlaufend erzählen, hängt<br />

an den Finanzierungsmodellen ihrer Sender<br />

und nicht am Rezeptionsverhalten.<br />

Der Begriff der ‚Qualitätsserie‘ kommt<br />

auch aus den 1990ern, als Bezahlsender<br />

wie HBO ihrer zahlenden Kundschaft<br />

eben Qualität liefern wollten.“<br />

Qualität und Quantität<br />

So ergibt sich auch, dass die Qualität<br />

einer Serie nicht ihre „Bingeability“ bestimmt<br />

– auch Nicht-Qualitätsserien werden<br />

gebingt: „Heutige Streamingdienste<br />

haben kein allzu großes Interesse daran,<br />

nur Glanzstücke zu produzieren, allein<br />

schon aus finanziellen Gründen. Sie müssen<br />

auch auf Masse produzieren. Dafür,<br />

dass Leute schnell weiterschauen, ist es<br />

nicht nötig, immer Qualität zu liefern“,<br />

sagt Maren Lickhardt. So sind Qualitätsserien<br />

im Streaming-Zeitalter immer<br />

noch Zugpferde, die auch Abonnements<br />

generieren. „Um Leute im Abo zu behalten,<br />

muss es aber auch eine Masse an<br />

„Man braucht nicht nach jeder<br />

Folge einen Cliffhanger und<br />

muss nicht immer aufpassen,<br />

dass ein bestimmtes Narrativ<br />

in einer Folge abgeschlossen<br />

wird. Eine Serienstaffel bildet als<br />

Ganzes einen großen Bogen, das<br />

erlaubt erzählerisch mehr.“ <br />

<br />

Maren Lickhardt<br />

günstiger produzierten, inhaltlich eingängigen<br />

Serien geben, die man durchkonsumieren<br />

kann.“<br />

Die Praktik des Serienmarathons hat<br />

inzwischen auch die Art, wie Serien produziert<br />

und gezeigt werden, geändert:<br />

So fehlt zum Beispiel bei vielen Serien<br />

auf Streamingdiensten der früher übliche<br />

Rückblick am Anfang einer neuen<br />

Folge, weil man verpasste Folgen ohnehin<br />

auch selbst nochmals nachsehen<br />

kann. „In neueren Serien ist auch zu beobachten,<br />

dass Erklärungsdialoge immer<br />

häufiger wegfallen – wenn Charaktere<br />

etwa früher in einem Satz eine Information<br />

liefern, die sie in der Serie ihrem<br />

Gegenüber erzählen, die aber eigentlich<br />

dazu da ist, Zuseher:innen auf Stand zu<br />

bringen.“ Und auch die Folgenstruktur<br />

verliert an Bedeutung, wie die Germanistin<br />

erläutert: „In einer Serie, die ich<br />

vor einer Weile geschaut habe, stirbt<br />

zum Beispiel am Ende einer der ersten<br />

Folgen ein Charakter. Das hätte man<br />

früher keinesfalls am Ende einer Folge<br />

gezeigt – da wäre ein Cliffhanger gewesen,<br />

es wäre unklar gelassen worden, ob<br />

der Charakter wirklich tot ist und wer<br />

ihn ermordet hat, damit man auch eine<br />

Woche später wieder einschaltet. Das ist<br />

in dieser neuen Rezeptionsform nicht<br />

mehr nötig. Außerdem verschwimmt<br />

durch einen Serienmarathon auch die<br />

Folgenzahl, man weiß als Zuseher:in oft<br />

nicht mehr, bei welcher Folge man genau<br />

stehen geblieben ist.“<br />

Das erlaubt auch Durchhänger in der<br />

Handlung: Nicht jede Serienfolge benötigt<br />

einen dramaturgischen Höhepunkt. „Man<br />

braucht nicht nach jeder Folge einen Cliffhanger<br />

und muss nicht immer aufpassen,<br />

dass ein bestimmtes Narrativ in einer Folge<br />

abgeschlossen wird. Eine Serienstaffel<br />

bildet als Ganzes einen großen Bogen, das<br />

erlaubt erzählerisch mehr“, sagt Maren<br />

Lickhardt. <br />

sh<br />

Fotos: AdobeStock / Celt Studio, Axel Sprunger<br />

zukunft forschung <strong>01</strong>/24 33


WIRTSCHAFTSWISSENSCHAFT<br />

MIT OFFENHEIT<br />

AUS DER KRISE<br />

Die Wirtschaftswissenschaftlerin Julia Hautz untersucht, wie Open Strategy zu einer erfolgreichen<br />

Umsetzung von Restrukturierungsprozessen in Unternehmen führen kann.<br />

Als Ashok Vaswani 2<strong>01</strong>2 zum CEO<br />

von Barclays Retail and Business<br />

Banking ernannt wurde, stand<br />

der Manager vor einer gewaltigen Herausforderung:<br />

Er musste das 1690 in<br />

London gegründete Bankhaus vom analogen<br />

ins digitale Zeitalter überführen.<br />

Beispiele aus anderen Branchen wie<br />

Print oder Telekommunikation zeigten,<br />

dass ein Verharren in Gewohntem, ein<br />

Ignorieren neuer (digitaler) Technologien<br />

zu massiven wirtschaftlichen Einbrüchen<br />

führen würde. Vaswanis Ansatz,<br />

Barclays ein modernes „Gesicht“<br />

zu geben, bedeutete eine Revolution für<br />

das traditionsreiche britische Unternehmen.<br />

Statt mit seinen Vorstandskollegen<br />

im stillen Kämmerlein eine Strategie auszuhecken,<br />

band er die Mitarbeiter:innen<br />

ein: Abteilungsübergreifende Teams<br />

wurden eingesetzt, Arbeitsgruppen eingerichtet,<br />

Mitarbeiter:innen mit direktem<br />

Kund:innenkontakt zu Rate gezogen,<br />

digitale Austauschplattformen geschaffen,<br />

ja sogar große Mitarbeiter:innenversammlungen<br />

wurden einberufen. Selbst<br />

ein externer Pizzadienst spielte eine – zugegeben<br />

kleine – Rolle: Wie kann es sein,<br />

dass dieser in Echtzeit seine Kund:innen<br />

über den Stand ihrer Bestellung informieren<br />

kann, Barclays aber nicht in der<br />

Lage ist, seinen Kund:innen ebenso zeitnahe<br />

Auskunft über deren Kreditantrag<br />

zu geben?<br />

Es blieb nicht beim Ideensammeln.<br />

Apps wurden entwickelt, digitale Geschäftsmodelle<br />

etabliert etc. – und die<br />

Kund:innen reagierten positiv. Vaswanis<br />

schlussendlich erfolgreiche Restrukturierung<br />

des Einzelhandelsgeschäfts<br />

„Die Strategieentwicklung ist der<br />

letzte Bereich in Unternehmen,<br />

der sich zu öffnen beginnt.“ Julia Hautz<br />

34<br />

zukunft forschung <strong>01</strong>/24<br />

Fotos: Andreas Friedle


WIRTSCHAFTSWISSENSCHAFT<br />

von Barclays fußte auf einer neuen Art,<br />

Unternehmensstrategien zu entwickeln –<br />

der Open Strategy.<br />

Vielfalt, Inklusion & Transparenz<br />

„Open Strategy kommt aus der Tradition<br />

der Offenheit, wie sie etwa in Open<br />

Innovation oder Open Government umgesetzt<br />

wird. Die Strategieentwicklung<br />

ist der letzte Bereich in Unternehmen,<br />

der sich zu öffnen beginnt“, weiß Julia<br />

Hautz, Professorin für Strategisches Management<br />

an der Universität Innsbruck.<br />

Strategieentwicklung sei bislang eine klare<br />

Aufgabe des Managements gewesen,<br />

„über die viele Führungskräfte ihre Rolle<br />

und sich selbst definiert haben.“ Doch<br />

zunehmend öffnen Unternehmen und<br />

Organisationen ihre Strategieprozesse,<br />

sehen in Vielfalt, Inklusion und Transparenz<br />

Vorteile.<br />

Wobei Open Strategy älter ist als ihr<br />

Namen. So beschreibt der US-Ökonom<br />

Gary Hamel in seinen Arbeiten Unternehmen,<br />

die diesen Ansatz schon in den<br />

1990er erfolgreich verfolgt und umgesetzt<br />

haben. Geprägt wurde der Begriff dann<br />

2<strong>01</strong>1 vom englischen Wirtschaftswissenschaftler<br />

Richard Whittington. „Es dauerte<br />

noch einige Jahre, bis man sich auf<br />

eine Definition geeinigt hat“, sagt Hautz,<br />

die seit mehr als zehn Jahren zum Thema<br />

Open Strategy forscht: „Im Kern geht es<br />

darum, dass Informationen von innerund<br />

außerhalb des Unternehmens breit<br />

zur Verfügung gestellt werden und dass<br />

Menschen, ebenso von innen und außen,<br />

die Möglichkeit bekommen, ihr Wissen<br />

einzubringen.“ Doch kann dieser zeitaufwendige<br />

Ansatz auch bei Restrukturierungsprozessen<br />

gewählt werden? Schließlich<br />

stehen Unternehmen ja meist unter<br />

Druck, wenn es darum geht, sich selbst<br />

und das gewohnte Geschäftsmodell neu<br />

aufzustellen. „Wir sehen ein Spannungsfeld:<br />

Worin bestehen diese Spannungen,<br />

wo überwiegen sie, wie können sie überwunden<br />

werden?“, beschreibt Hautz einige<br />

Fragen, die sie und ihr Team in einem<br />

von der Österreichischen Nationalbank<br />

geförderten Projekt beschäftigen.<br />

Erfolgreiche Restrukturierungsmaßnahmen<br />

hängen unter anderem davon<br />

ab, dass, so Hautz, „die beteiligten Stakeholder<br />

Verständnis dafür aufbringen und<br />

die Veränderung mittragen.“ Offenheit,<br />

das Bereitstellen von Information, das<br />

Gefühl, mit seinem Wissen ernst genommen<br />

zu werden, erzeugt ein Sense of Ownership:<br />

Mitarbeiter:innen sehen sich als<br />

Teil des Unternehmens und zeigen mehr<br />

Bereitschaft, Veränderungen mitzutragen.<br />

„Aber auch Offenheit gegenüber Kunden,<br />

Lieferanten, Banken etc. hilft, diese in den<br />

Restrukturierungsprozess einzubinden“,<br />

betont Hautz. Der Weg zu diesem Prozess<br />

sei auf diese Art zwar länger, vielleicht<br />

auch aufwendiger, dafür erfolge aber die<br />

Umsetzung und Realisierung der getroffenen<br />

Maßnahmen schneller. Hautz: „Die<br />

sonst notwendige, lange Überzeugungsund<br />

Rechtfertigungsarbeit fällt weg.“<br />

Von Vorteil ist, wenn Unternehmen<br />

Offenheit schon vor der Krise gelebt haben.<br />

Ein niederländisches KMU, dessen<br />

Restrukturierungsprozess Hautz nun<br />

wissenschaftlich nachvollzieht, lebt „radikale<br />

Transparenz“. Die Mitarbeiter:innen<br />

werden kontinuierlich über sämtliche<br />

Zahlen zum Unternehmen informiert. So<br />

erkannten auch die Mitarbeiter:innen,<br />

dass gehandelt werden musste. „Die<br />

Akzeptanz für radikale Schritte war gegeben.<br />

Einige waren so eher dazu bereit,<br />

das Unternehmen zu verlassen, damit es<br />

weiter bestehen kann“, berichtet Hautz.<br />

Die Restrukturierung war erfolgreich, es<br />

konnten sogar ehemalige Mitarbeiter:innen<br />

wieder eingestellt werden. Wobei<br />

die Forscherin auch feststellen konnte,<br />

dass Transparenz und Information nicht<br />

in jedem Unternehmen zu erhöhtem Verständnis,<br />

sondern auch zu einem – negativen<br />

– Information Over load führen<br />

können. Erste Beobachtungen, die das<br />

Team von Hautz gemacht hat, weisen<br />

darauf hin, „dass dies in Zusammenhang<br />

JULIA HAUTZ (*1984) studierte nach<br />

der Matura an der HTL für Bau & Kunst in<br />

Innsbruck Internationale Wirtschaftswissenschaften<br />

an der Universität Innsbruck,<br />

wo sie 2<strong>01</strong>0 dissertierte. Im Anschluss<br />

war sie bis zu ihrer Habilitation im Jahr<br />

2<strong>01</strong>7 Postdoc und Assistenzprofessorin<br />

am Institut für Management, Marketing<br />

und Tourismus. 2<strong>01</strong>7 übernahm sie für<br />

zwei Jahre eine Vertretungsprofessur<br />

an der Universität zu Köln, seit 2<strong>01</strong>9 ist<br />

Hautz Professorin für Strategisches Management<br />

an der Universität Innsbruck.<br />

mit der Einstellung des Topmanagements<br />

steht und wie Offenheit im Unternehmen<br />

tatsächlich gelebt wird.“<br />

Hier sieht sie auch – neben rechtlichen<br />

Vorschriften, die z. B. in einem Insolvenzfall<br />

gegen Offenheit sprechen – einen der<br />

möglichen Knackpunkte für eine erfolgreiche<br />

Open Strategy: „Für einen Restrukturierungsprozess<br />

kann es negative Konsequenzen<br />

haben, wenn Mitarbeiter:innen<br />

aufgefordert werden, ihren Input zu liefern,<br />

dieser aber in einer Schublade verschwindet.<br />

Natürlich müssen nicht alle<br />

Vorschläge umgesetzt werden, es braucht<br />

aber eine Rückmeldung“, sagt Hautz. Eine<br />

weitere Hürde sei die Skepsis von<br />

Unternehmen, jemanden von außen – Expert:innen,<br />

Lieferanten, Banken etc. – Einblick<br />

ins Unternehmen zu geben, schließlich<br />

handle es sich oft um sensible Informationen.<br />

„Doch gerade in Krisenzeiten<br />

sind Unternehmen bereit, etwas zu tun,<br />

was vorher lange Zeit undenkbar war,“<br />

bemerkt Hautz. Im Fall von Barclays sogar<br />

320 Jahre lang. <br />

ah<br />

zukunft forschung <strong>01</strong>/24 35


BIOCHEMIE<br />

GENETISCHER SCHALTFEHLER<br />

Das Protein mTOR ist ein zentraler Regulator des Stoffwechsels, gerät es außer Kontrolle, kommt<br />

es zu schwerwiegenden Krankheiten wie der Tuberösen Sklerose. Warum diese Erkrankung bei den<br />

Betroffenen unterschiedlich stark ausgeprägt ist, ist unbekannt. Innsbrucker Forscher:innen vermuten,<br />

dass der Lipidstoffwechsel dabei eine entscheidende Rolle spielt.<br />

Wie so oft spielte auch hier der<br />

Zufall – zumindest ein bisschen<br />

– Regie. Kathrin Thedieck stand<br />

2<strong>01</strong>5 mit einem Paper rund um den Proteinkomplex<br />

mTORC1, das Protein TSC1<br />

und den Transforming Growth Factor β<br />

(TGFβ) kurz vor der Einreichung und<br />

suchte jemand zum Gegenlesen. Sie bat<br />

eine medizinische Kollegin darum und<br />

meinte: „Vielleicht interessiert es dich<br />

sogar.“ Die Ärztin fand es nicht nur interessant,<br />

sondern spannend und fragte<br />

die Biochemikerin Thedieck: „Hast<br />

du dir schon einmal überlegt, ob dieser<br />

Zusammenhang auch bei Patientinnen<br />

und Patienten mit Tuberöser Sklerose<br />

relevant sein könnte?“ Neuland für die<br />

– 2<strong>01</strong>5 noch am niederländischen University<br />

Medical Center Groningen tätige –<br />

Grundlagenforscherin Thedieck, die aber<br />

Kontakte zu Patient:innenorganisationen<br />

knüpfte und erste <strong>Forschung</strong>santräge<br />

zur Proteinkinase mTOR, den TSC-Genen<br />

und Tuberöser Sklerose (TSC, siehe<br />

Infobox) einreichte. „Damals wurde auch<br />

die erste Studie durchgeführt“, erinnert<br />

sie sich. Das Interesse am Thema und die<br />

Verbindungen zu Patient:innenorganisationen<br />

nahm Thedieck 2<strong>01</strong>9 mit nach<br />

Innsbruck. Ihre Arbeitsgruppe Metabolic<br />

Signaling erforscht die komplex verschalteten<br />

metabolischen Signalnetzwerke um<br />

mTOR, Postdoc Florian Hatzmann widmet<br />

sich dabei – in einem über die Tiroler<br />

Nachwuchsforscher:innenförderung<br />

unterstützten Projekt – dem Stoffwechsel<br />

von Fetten (Lipiden) bei TSC-Patient:innen.<br />

„Tuberöse Sklerose ist bei TSC-Patientinnen<br />

und -Patienten unterschiedlich<br />

stark ausgeprägt. Tumoren in Herz,<br />

Gehirn, Nieren und Lunge sind häufig,<br />

sehr viele leiden an neurodegenerativen<br />

Erkrankungen wie z. B. Epilepsie. Doch<br />

es gibt auch Betroffene, denen man die<br />

Erkrankung fast nicht anmerkt. Warum<br />

KATHRIN THEDIECK und Florian Hatzmann erforschen die Signal- und Stoffwechselwege<br />

von Tuberöser Sklerose, um neue Therapieansätze für diese Seltene Krankheit zu entwickeln.<br />

36<br />

zukunft forschung <strong>01</strong>/24<br />

Fotos: Andreas Friedle


BIOCHEMIE<br />

das so ist, wissen wir nicht genau“, berichtet<br />

Hatzmann. Eine Möglichkeit sei,<br />

so der Forscher, dass einige Betroffene<br />

die Erkrankung über den Stoffwechsel<br />

besser kompensieren, für Hatzmann<br />

wäre der Fettstoffwechsel ein möglicher<br />

Kandidat.<br />

Für den menschlichen Stoffwechsel<br />

spielt mTOR eine zentrale Rolle, es fungiert<br />

quasi als Sensor für Nährstoffe wie<br />

Aminosäuren und Zucker. Stehen genügend<br />

Nährstoffe zur Verfügung, kurbelt<br />

mTOR den Stoffwechsel an und sorgt für<br />

ausreichend Energie und Bausteine für<br />

Wachstum und Funktion aller Zellen.<br />

Gerät dieser zentrale Regulator jedoch<br />

außer Kontrolle, kommt es zu schwerwiegenden<br />

Krankheiten wie Krebs oder<br />

Diabetes. Eine Überaktivität von mTOR<br />

wird daher durch die zwei Gene TSC1<br />

und TSC2 reguliert. Die von ihnen codierten<br />

Proteine Hamartin (TSC1) und<br />

Tuberin (TSC2) bremsen die Funktion<br />

„Eine Idee des Projekts ist,<br />

dass man möglicherweise<br />

Tuberöse Sklerose mit<br />

Ernährungs interventionen und<br />

metabolischen Interventionen<br />

therapieren kann.“ Kathrin Thedieck<br />

von mTOR ein. Defekte in einem der<br />

zwei Gene lockern aber diese Handbremse,<br />

eine Folge ist Tuberöse Sklerose.<br />

Als mTOR in den 1990er-Jahren von<br />

Mike Hall an der Universität Basel entdeckt<br />

wurde, ahnte der Molekularbiologe<br />

dessen wichtige Rolle in der Tumorgenese<br />

noch nicht. Hall untersuchte 1989 das<br />

Medikament Rapamycin, ein neues Immunsuppressivum,<br />

von dem man wusste,<br />

dass es wirkt, aber nicht wie. „Mike<br />

Hall screente Rapamycin an Hefezellen,<br />

um seine Zielmoleküle zu finden und<br />

nummerierte sie – daher auch der Name<br />

mTOR, mechanistic target of rapamycin“,<br />

weiß Thedieck, die von 2006 bis 2008 als<br />

Postdoc bei Hall in Basel forschte: „Anfang<br />

der 2000er-Jahre war mTOR noch<br />

ein Nischenthema, das wissenschaftliche<br />

Interesse wuchs allerdings, als man seine<br />

Bedeutung für die Stoffwechselfunktion,<br />

die Tumorbiologie und das Zusammenspiel<br />

mit den TSC-Genen erkannte.“<br />

Sogenannte mTOR-Hemmer mit antiproliferativer<br />

Wirkung kommen daher<br />

in der TSC-Therapie zum Einsatz, heilbar<br />

ist die Erkrankung nicht. „Diese<br />

Medikamente haben aber viele Nebenwirkungen“,<br />

erläutert Hatzmann, der<br />

mit seinem <strong>Forschung</strong>sansatz auch die<br />

Möglichkeit einer Therapie mit weitaus<br />

weniger Nebenwirkungen verbindet –<br />

einer ketogenen Diät.<br />

„In einer kleinen Pilotstudie mit 25<br />

TSC-Patient:innen und einer Kontrollgruppe<br />

haben wir große Unterschiede<br />

im Lipidstoffwechsel festgestellt, auch<br />

unter den Betroffenen gab es Unterschiede“,<br />

berichtet Hatzmann. Doch Fett ist<br />

bekanntlich nicht gleich Fett: Welche Fette<br />

sind bei TSC verändert oder erhöht?<br />

Ist dies von Vor- oder von Nachteil?<br />

Über welche Mechanismen kompensieren<br />

Patient:innen das überaktive mTOR?<br />

Können diese beeinflusst werden? Kann<br />

eine Diät darauf Einfluss nehmen?<br />

Zur Klärung der ersten Frage holte sich<br />

Hatzmann Unterstützung bei Andreas<br />

Köberle, dem Spezialisten für Lipidstoffwechsel<br />

an der Universität Innsbruck.<br />

Köberles Team am Michael-Popp-<strong>Forschung</strong>sinstitut<br />

screente die gesamte<br />

Lipid-Palette der Patient:innen-Proben.<br />

„Wir haben nun einige heiße Kandidaten<br />

und verstehen die zugrunde liegenden<br />

Mechanismen schon recht gut“, sagt<br />

Hatzmann. Gleichzeitig will er klinische<br />

Studien rund um das Thema TSC vorantreiben.<br />

Im Auge hat er dabei eine Vergrößerung<br />

der Kohorte, „was bei einer<br />

Seltenen Krankheit wie TSC nicht so einfach<br />

ist“. Interessant sei zudem der Aminosäurestoffwechsel,<br />

bei dem Thediecks<br />

DIE TUBERÖSE SKLEROSE – engl.<br />

Tuberous Sclerosis Complex (TSC) – ist eine<br />

seltene Multisystemerkrankung, die mit<br />

Fehlbildungen und Tumoren des Gehirns,<br />

Hautveränderungen und meist gutartigen<br />

Tumoren in anderen Organsystemen<br />

einhergeht. Zudem ist TSC häufig durch<br />

epileptische Anfälle und kognitive Behinderungen<br />

gekennzeichnet. Auslöser für<br />

die Erkrankung sind Mutationen in einem<br />

von zwei Genen (TSC1- oder TSC2-Gen),<br />

die zu einer Störung des normalen Gewebes<br />

und damit zu einem unkontrollierten<br />

Zellwachstum sowie zur Tumorbildung<br />

führen. TSC ist eine autosomal-dominante<br />

Erbkrankheit, die Mutationen können aber<br />

auch spontan auftreten. Die Prävalenz der<br />

Erkrankung liegt bei Neugeborenen bei<br />

etwa 1:5.000 bis 1:10.000.<br />

FLORIAN HATZMANN: „In einer kleinen<br />

Pilotstudie haben wir große Unterschiede<br />

im Lipidstoffwechsel festgestellt.“<br />

Arbeitsgruppe Unterschiede zwischen<br />

TSC-Patient:innen und der Kontrollgruppe<br />

festgestellt hat. Thedieck: „Das<br />

ist deshalb interessant, weil es einerseits<br />

zugelassene Medikamente gibt, die in<br />

den Aminosäurestoffwechsel eingreifen,<br />

andererseits kann der Aminosäuregehalt<br />

in der Ernährung beeinflusst werden.“<br />

In einer weiteren Studie wollen die Innsbrucker<br />

Forscher:innen zudem TSC-Patient:innen,<br />

die mit Antiepileptika therapiert<br />

werden, mit einer Kontroll-Gruppe<br />

von Epilepsie-Patient:innen mit ähnlicher<br />

Medikation vergleichen. Mit diesem Ansatz<br />

erhofft man sich Ergebnisse, die den<br />

Einfluss der Medikation auf den Stoffwechsel<br />

berücksichtigen.<br />

„Wir arbeiten dabei sehr eng mit belgischen,<br />

niederländischen und deutschen<br />

Patient:innenorganisation wie etwa der<br />

Deutschen Tuberöse Sklerose Stiftung zusammen“,<br />

erzählt Thedieck. Dieser direkte<br />

Kontakt zu Patient:innen und ihren<br />

Angehörigen, so Thedieck und Hatzmann,<br />

eröffnet einen anderen Zugang<br />

zum eigenen <strong>Forschung</strong>sthema. „Die Betroffenen<br />

wissen, dass unsere Arbeit ihr<br />

Leben nicht morgen verändern wird. Sie<br />

sehen aber, dass sich jemand mit ihrer<br />

Seltenen Krankheit beschäftigt.“ ah<br />

zukunft forschung <strong>01</strong>/24 37


WISSENSTRANSFER<br />

PLATTFORM FÜR<br />

BEWEISTECHNOLOGIE<br />

Ob Computerprogramme fehlerfrei sind, ist oft schwer zu überprüfen.<br />

Der Informatiker Cezary Kaliszyk entwickelt eine Webplattform für formale Beweise.<br />

Die Liste von Programmfehlern<br />

mit drastischen Folgen ist lang.<br />

Sie reicht vom Absturz der ersten<br />

Ariane-5-Rakete im Jahr 1996 bis<br />

zum jüngsten Ausfall von Tankstellen in<br />

Neuseeland. Cezary Kaliszyk, assoziierter<br />

Professor am Institut für Informatik,<br />

arbeitet an Methoden, mit denen überprüft<br />

werden kann, ob eine Software<br />

fehlerfrei läuft. „Auch wenn ein Programm<br />

im ersten, zweiten oder dritten<br />

Fall einwandfrei funktioniert, heißt das<br />

nicht, dass es nicht doch einen Fall gibt,<br />

in dem das Programm versagt“, sagt der<br />

Informatiker. Er arbeitet daran, Beweistechnologien<br />

zu automatisieren und mit<br />

Künstlicher Intelligenz zu kombinieren,<br />

damit mehr Programme geprüft und<br />

die hohen Kosten solcher Prüfungen reduziert<br />

werden können. Dies ist umso<br />

wichtiger, als in immer mehr Bereichen<br />

viele Prozesse digitalisiert werden. Als<br />

Beispiel nennt Cezary Kaliszyk selbstfahrende<br />

Autos, hier können Softwarefehler<br />

tödlich sein.<br />

Proof-of-Concept-Grant<br />

Im Jahr 2<strong>01</strong>6 erhielt Cezary Kaliszyk<br />

für seine Arbeit im Bereich der formalen<br />

Beweistechnologie einen Starting<br />

Grant des Europäischen <strong>Forschung</strong>srates<br />

(ERC) – die höchste europäische<br />

Auszeichnung für erfolgreiche Nachwuchswissenschaftler:innen.<br />

Dabei geht<br />

es ganz generell um Verfahren, die zur<br />

Validierung von komplexen mathematischen<br />

Beweisen und zur Verifikation von<br />

Hard- und Software eingesetzt werden.<br />

Mit einem neuen, ebenfalls vom ERC geförderten<br />

Proof-of-Concept-Grant baut<br />

Cezary Kaliszyk nun eine zentrale Plattform<br />

für formale Mathematik im Web<br />

auf. Auf der Plattform können formale<br />

sowie semi-formale mathematische Beweise,<br />

unter anderem unterstützt durch<br />

Künstliche Intelligenz, durchgeführt<br />

werden. „In diesem Projekt entwickeln<br />

wir eine Web3-Plattform für formale Beweise,<br />

die Expertinnen und Experten<br />

aus Mathematik, Formalisierungsforschung<br />

und Unternehmen miteinander<br />

verbindet. Diese Plattform wird auch<br />

modernste Verifikations-, KI- und automatische<br />

Formalisierungswerkzeuge<br />

enthalten, um die Erstellung von computerlesbaren<br />

Beweisen zu unterstützen“,<br />

erzählt Cezary Kaliszyk. Wikis für<br />

formale Mathematik werden integrierte<br />

Blockchain-basierte Token bereithalten,<br />

mit denen Benutzerinnen und Benutzer<br />

für ihre Beiträge belohnt werden. „Wir<br />

werden Übersetzungen für verschiedene<br />

Logiken und Beweissysteme bereitstellen<br />

und die Sicherheit der Plattform zu gewährleisten.“<br />

Darüber hinaus wird das<br />

Team auch das Marktpotenzial der entwickelten<br />

Systeme untersuchen.<br />

Die Proof-of-Concept-Grants des ERC<br />

sind Förderungen im Rahmen des EU-<br />

<strong>Forschung</strong>sprogramms Horizon Europe.<br />

Der Zuschuss in Höhe von 150.000 Euro<br />

hat das Ziel, das kommerzielle oder gesellschaftliche<br />

Potenzial von bahnbrechenden<br />

<strong>Forschung</strong>sprojekten auszuloten. Diese<br />

Förderungen stehen ausschließlich<br />

ERC-Preisträger:innen offen.<br />

38<br />

zukunft forschung <strong>01</strong>/24<br />

Foto: colourbox.de


WISSENSTRANSFER<br />

KREISLAUFWIRT-<br />

SCHAFT AUFBAUEN<br />

Ein Spin-off-Fellowship unterstützt Judith Deriu bei ihrer <strong>Forschung</strong>,<br />

Kreislaufwirtschaft in der Textil- und Druckindustrie zu etablieren.<br />

Judith Deriu vom <strong>Forschung</strong>sinstitut<br />

für Textilchemie und Textilphysik in<br />

Dornbirn hat für ihre <strong>Forschung</strong> zu<br />

nachhaltigen Siebdruckfarben für Textil-<br />

und Papierdruck mit Pigmenten aus<br />

Pflanzenfarbstoffen im Februar ein Spinoff-Fellowship<br />

erhalten. Mit diesem Programm<br />

will das Wissenschaftsministerium<br />

akademische Ausgründungen unterstützen<br />

und so den Wirtschaftsstandort Österreich<br />

stärken. Das Interesse der Industrie<br />

an nachhaltigen Produkten wächst stark.<br />

Das liegt einerseits an der verschärften Gesetzgebung<br />

im Bereich Nachhaltigkeit und<br />

Kreislaufwirtschaft. Andererseits wachsen<br />

das Umweltbewusstsein und die Bereitschaft<br />

der Konsumentinnen und Konsumenten,<br />

mehr Geld für ökologische und<br />

nachhaltige Produkte auszugeben. Judith<br />

Deriu möchte mit ihrer <strong>Forschung</strong> dazu<br />

beitragen, eine Kreislaufwirtschaft in der<br />

Textil- und Druckindustrie zu etablieren.<br />

„Akademische Gründungen sind zentral<br />

für den Transfer zwischen Wissenschaft<br />

und Wirtschaft“, erklärt Henrietta<br />

Egerth, Geschäftsführerin der <strong>Forschung</strong>sförderungsgesellschaft<br />

FFG, die das Programm<br />

abwickelt. Mit dem Programm<br />

Spin-off-Fellowship soll zu einem sehr<br />

frühen Zeitpunkt die Verwertung von<br />

geistigem Eigentum an Hochschulen bzw.<br />

<strong>Forschung</strong>seinrichtungen unterstützt werden,<br />

um eine Unternehmensgründung zu<br />

ermöglichen.<br />

AUF ERFOLGSKURS<br />

Das Spin-off-Unternehmen Innfoliolytix,<br />

gegründet von Matthias Bank und<br />

Jochen Lawrenz vom Institut für Banken<br />

und Finanzen, erhielt Anfang des Jahres<br />

von der Finanzmarktaufsicht eine Konzession<br />

als Wertpapierfirma. Damit darf das<br />

2<strong>01</strong>9 gegründete Unternehmen europaweit<br />

eigenständig Finanzdienstleistungen<br />

anbieten. Bisher hatten die akademischen<br />

Jungunternehmer gemeinsam mit dem<br />

Kooperationspartner BTV Vier Länder Bank<br />

Anlageprodukte entwickelt, die diese bei<br />

der Vermögensverwaltung auch bereits<br />

im Einsatz hat. Innfoliolytix – eine Wortschöpfung<br />

aus Innsbruck, Portfolio und<br />

Analytics – forscht im Bereich der modernen<br />

Kapitalmarkttheorie und macht die <strong>Forschung</strong>sergebnisse<br />

in Form von quantitativen<br />

Anlagestrategien zugänglich. Das inzwischen<br />

fünfköpfige Team darf Finanzprodukte nun<br />

auch selbst verwalten und vertreiben und<br />

will nun europaweit durchstarten. Grundlage<br />

der Veranlagungsstrategie der Wertpapierprofis<br />

sind lange historische Zeitreihen und<br />

fortgeschrittene statistische Verfahren, mit<br />

deren Hilfe Modelle entwickelt werden, die<br />

in der Vergangenheit nachweislich funktioniert<br />

haben.<br />

WISSENSCHAFTSSPIEL BILDET<br />

Sammelkarten erfreuen sich großer Beliebtheit, vor allem bei jungen Menschen, von Pokémon<br />

über Yu-Gi-Oh! bis Magic. Ein Team vom Institut für Theoretische Physik um Hendrik<br />

Poulsen Nautrup, Fulvio Flamini und Lea M. Trenkwalder hat ein neues Sammelkartenspiel<br />

entwickelt, das junge Menschen für wissenschaftliche und technologische Innovationen begeistern<br />

will. Unterstützt wurden sie dabei vom Förderkreis 1669. Der Förderkreis ist mit dem<br />

Career-Service und dem Alumni- Netzwerk Teil des Relationship Managements der Universität<br />

Innsbruck, in dem die Netzwerke und nach außen gerichteten Beziehungsaktivitäten zum<br />

Zweck der Förderung der Wissenschaften, ihrer Lehre sowie deren Vermittlung in die Gesellschaft<br />

gebündelt werden.<br />

Beim Wissenschaftsspiel Seeker Chronicles gibt es auf jeder Karte etwas Spannendes zu<br />

SPIN-OFF: Fulvio Flamini, Lea M. Trenkwalder<br />

und Hendrik Poulsen Nautrup (v.l.)<br />

entdecken: berühmte Wissenschaftler:innen, faszinierende Konzepte aus der Physik und bahnbrechende Technologien. Das Kartenspiel bringt<br />

Wissenschaftsthemen spielerisch näher an die Gesellschaft und soll Jugendliche näher an wissenschaftliche Themen und Fragestellungen<br />

heranführen. Um die Idee weiterzuentwickeln, hat das Dreierteam kürzlich das Spin-off OneStone Studios GmbH gegründet, an dem die Universität<br />

Innsbruck über die Uni-Holding beteiligt ist.<br />

Fotos: Universität Innsbruck (1), Giulia Verdinelli (1), colourbox.de (1)<br />

zukunft forschung <strong>01</strong>/24 39


WISSENSTRANSFER<br />

STARTUPS, INNOVATION<br />

UND NETWORKING<br />

Skinnovation – das Startup & Innovation Festival auf Ski, organisiert von der Universität Innsbruck,<br />

hat bei seiner zehnten Auflage erneut die Erwartungen übertroffen.<br />

SKINNOVATION startete 2<strong>01</strong>5 mit 24 Studierenden, <strong>2024</strong> trafen sich über 600 Begeisterte aus der Startup-Welt im winterlich-alpinen Umfeld.<br />

M<br />

itte März trafen sich in Innsbruck<br />

und der Axamer Lizum über<br />

600 Begeisterte aus der Startup-<br />

Welt, um sich in einer unvergleichlichen<br />

Atmosphäre auszutauschen. Für die Studierenden<br />

war es eine einmalige Möglichkeit,<br />

sich innerhalb der internationalen<br />

Startup-Szene zu vernetzen und von<br />

anderen zu lernen. Diese Veranstaltung<br />

gibt es bereits seit 2<strong>01</strong>5 – ins Leben gerufen<br />

und organisiert von Kathrin Treutinger,<br />

einer Startup-Enthusiastin und<br />

Mitarbeiterin der Universität Innsbruck.<br />

Im ersten Jahr waren es „nur“ 24 Studierende<br />

der Universität Innsbruck, die sich<br />

trafen, um zu diskutieren, wie Innsbruck<br />

innovativer und attraktiver für Startups<br />

werden könnte. In den folgenden Jahren<br />

entwickelte sich daraus eine internationale<br />

Konferenz mit unterschiedlichen Formaten,<br />

von Vorträgen und Workshops zu<br />

Startup-Pitching und Networking.<br />

Von Anfang an mit dabei als Organisatoren,<br />

Partner und Unterstützer waren<br />

die Universität Innsbruck und die Wirtschaftskammer<br />

Tirol. An der Universität<br />

Innsbruck arbeiten zusammen mit<br />

Kathrin Treutinger weitere Mitglieder der<br />

<strong>Forschung</strong>sgruppe Innovation und Entrepreneurship<br />

sowie Mitarbeiter:innen der<br />

Transferstelle Wissenschaft-Wirtschaft-<br />

Gesellschaft an der stetigen Weiterentwicklung<br />

des Formats.<br />

Auch die Standortagentur Tirol und<br />

Startup Tirol sind langjährige Kooperationspartner<br />

und helfen dabei, Skinnovation<br />

als ein über die Grenzen hinweg<br />

bekanntes Leuchtturm-Event in der<br />

Startup-Szene zu etablieren. „Es macht<br />

uns stolz, seit Beginn Teil des Skinnovation-Teams<br />

zu sein. Das Vernetzen von<br />

Menschen, den Austausch von Wissen<br />

und Erfahrung sowie das unternehmerische<br />

Handeln zu fördern, sind unsere<br />

Kernmissionen und daher unterstützen<br />

wir Skinnovation. Wir brauchen solche<br />

Initiativen, um das Bewusstsein für Entrepreneurship<br />

zu stärken“, sagt Sara<br />

Matt, Leiterin der Transferstelle an der<br />

Universität.<br />

Skinnovation <strong>2024</strong> glänzte mit einer Fülle<br />

von Highlights, wie der neu eingeführten<br />

Podcast-Gondel. Benedikt Böhm, CEO<br />

von Dynafit und passionierter Extrembergsteiger,<br />

begeisterte bei der Eröffnung<br />

mit seinen Einblicken in Führung, Risikomanagement<br />

und Nachhaltigkeit. Aus<br />

Sicht der Universität besonders spannend<br />

war auch die Diskussion „From Theory to<br />

Action: Enhancing Entrepreneurial Success<br />

through Academic Collaboration“. Hier<br />

diskutierten Leo Martinez von UnternehmerTUM<br />

München, Ofer Zellermayer vom<br />

ONO College Tel Aviv und Tobias Fredberg<br />

von der Chalmers University mit Sara<br />

Matt, moderiert von Johann Füller, dem<br />

Leiter der <strong>Forschung</strong>sgruppe Innovation<br />

und Entrepreneurship.<br />

Mehr Informationen zu Skinnovation, dem<br />

Startup & Innovation Festival auf Ski,<br />

finden sie auf www.skinnovation.at<br />

40 zukunft forschung <strong>01</strong>/24<br />

Foto: Johannes Zeiler


KURZMELDUNGEN<br />

GEN STEUERT<br />

PARTNERWAHL<br />

Tropische Heliconius-Schmetterlinge wählen ihre Partner nach<br />

optischen Kriterien. Gesteuert wird das Balzverhalten durch ein<br />

spezifisches Gen.<br />

PROFITIEREN ODER VERLIEREN<br />

BEI HITZEWELLEN<br />

Steigende Temperaturen und Hitzewellen<br />

im Sommer infolge des Klimawandels<br />

bringen für viele Organismen große<br />

Einschränkungen, für andere können sie<br />

auch positive Effekte haben. Wer profitiert<br />

und wer verliert, hängt wahrscheinlich<br />

von Umweltfaktoren ab. Nun hat ein<br />

Team um den Ökologen Otto Seppälä<br />

vom <strong>Forschung</strong>sinstitut für Limnologie am<br />

Mondsee experimentell beobachtet, wie<br />

Süßwasserschnecken Hitzewellen bei guten<br />

Futterbedingungen überstehen und neben<br />

den erlittenen negativen Folgen auch so<br />

manchen Vorteil daraus ziehen können: Sie<br />

wachsen beispielsweise schneller und können<br />

sich besser vermehren. Aus der Studie<br />

resultiert, dass Schneckenpopulationen in<br />

den Sommermonaten mit vielen Ressourcen<br />

am besten in der Lage sein werden, die<br />

negativen Auswirkungen hoher Temperaturen<br />

und künftiger Hitzewellen zu vermeiden.<br />

Biolog:innen – unter ihnen Markus<br />

Möst vom <strong>Forschung</strong>sinstitut für<br />

Limnologie in Mondsee – haben<br />

in tropischen Heliconius-Schmetterlingen<br />

eine direkte Verbindung zwischen dem<br />

Gen regucalcin1 und ihrem Balzverhalten<br />

nachgewiesen. „In dieser Studie ist<br />

es zum ersten Mal gelungen, ein Gen zu<br />

identifizieren, das die visuelle Partnerwahl<br />

bei Tieren bestimmt und damit für<br />

die Bildung und Abgrenzung von Arten<br />

eine wichtige Rolle spielt,“ erklärt Markus<br />

Möst, Co-Autor der im Fachmagazin<br />

Science publizierten Arbeit.<br />

Die Forschenden untersuchten in Verhaltensexperimenten<br />

die Paarungspräferenzen<br />

von drei Arten in Kolumbien: Heliconius<br />

melpomene und Heliconius timareta,<br />

die beide ein leuchtend rotes Band auf<br />

dem Vorderflügel tragen, sowie Heliconius<br />

cydno, die ein weißes oder gelbes Vorderflügelband<br />

aufweist. Dabei zeigte sich,<br />

dass Männchen aller Arten jeweils Partnerinnen<br />

bevorzugen, die aussehen wie sie<br />

selbst, wobei es bei den roten Arten keine<br />

Unterschiede in ihren Präferenzen gab.<br />

Durch ihre Analysen demonstrierten<br />

die Wissenschaftler:innen, dass in der<br />

evolutionären Vergangenheit regucalcin1<br />

durch Kreuzung von H. melpomene an H.<br />

timareta weitergegeben wurde, also Artgrenzen<br />

überwunden hat.<br />

AM FORSCHUNGSINSTITUT für Limnologie<br />

in Mondsee wurden Süßwasserschnecken<br />

der Art Lymnea stagnalis experimentell<br />

Hitzewellen ausgesetzt.<br />

DIE UNTERSUCHUNG der Population von<br />

Zuckmücken am Rotmoosferner Gletscher ist<br />

eingebettet in ein Langzeitforschungsprojekt.<br />

ÜBER DAS LEBEN AM GLETSCHER<br />

Ein vom Wissenschaftsfonds FWF gefördertes <strong>Forschung</strong>sprojekt in den Ötztaler Alpen<br />

widmet sich den Zuckmücken, deren Larven im Schmelzwasser von Gletschern leben.<br />

Ihr Vorkommen lässt Rückschlüsse auf das Ökosystem Gletscher und dessen Gefährdung<br />

durch den Klimawandel zu. Neben der Kälte sorgen extreme Wetterereignisse, knappe<br />

Nährstoffe und kurze Wachstumsperioden dafür, dass sich die meisten Lebewesen aus<br />

den Hochgebirgsregionen ab 2. 000 Metern fernhalten – nicht so die Zuckmücke, die sich<br />

den rauen Umständen angepasst hat. Ihre Larven besiedeln den gesamten Verlauf von<br />

Gletscherbächen und machen an manchen Stellen 100 Prozent der Fauna aus. Reinhard<br />

Lackner und sein Team vom Institut für Zoologie untersuchen im Projekt den Lebenszyklus<br />

der Mücken und ihre Überlebensstrategien.<br />

Fotos: Carolin Bleese / LMU, Otto Seppälä, Martin Dvorak<br />

zukunft forschung <strong>01</strong>/24 41


BILDUNGSWISSENSCHAFT<br />

DIE ERSTEN AN DER UNI<br />

Vererbte Bildung: Die Bildungswissenschaftlerin Franziska Lessky beforscht die<br />

Bildungswege von Studierenden aus Haushalten ohne Akademiker:innen.<br />

Bildung wird in Österreich vererbt:<br />

Rund zwei Drittel der Studierenden<br />

an Universitäten sind sogenannte<br />

„First Generation“-Studierende;<br />

ihre Eltern haben keinen Hochschulabschluss.<br />

Was auf den ersten Blick nach<br />

viel klingt, relativiert sich bei genauerer<br />

Betrachtung: Noch immer weisen Kinder<br />

von Akademiker:innen-Eltern eine rund<br />

doppelt so hohe Wahrscheinlichkeit auf,<br />

ein Studium zu beginnen als Kinder von<br />

Eltern ohne Hochschulabschluss.<br />

„Einen pauschalen Weg<br />

gibt es nicht, aber die<br />

Studienentscheidungen sind<br />

meist eng mit den Erfahrungen<br />

in der Familie verbunden.“<br />

Die Bildungswissenschaftlerin Franziska<br />

Lessky untersucht Bildungswege von<br />

„Erst“-Studierenden sowohl quantitativ<br />

als auch qualitativ. Sie arbeitet überwiegend<br />

mit dem Konzept „First in Family“-Studierende<br />

– und das aus mehreren<br />

Gründen: „Der in Statistiken häufig genutzte<br />

Begriff der ‚First Generation‘-Studierenden<br />

kommt vor allem aus der USamerikanischen<br />

quantitativen <strong>Forschung</strong>,<br />

da geht es primär darum, ob die Eltern<br />

ein Hochschulstudium abgeschlossen haben.<br />

‚First in Family‘ geht weiter, kommt<br />

stärker aus der qualitativen <strong>Forschung</strong><br />

und meint alle Personen, mit denen man<br />

aufwächst oder zusammenlebt, zum<br />

Beispiel Eltern, Erziehungsberechtigte,<br />

aber auch Geschwister oder Partner:innen<br />

und eigene Kinder. Es geht darum,<br />

inwiefern man eine gemeinsame Geschichte<br />

von Universitätserfahrung teilt<br />

oder Pionier:in als erste:r Studierende:r<br />

innerhalb der Familie ist. Bei ‚First Generation‘-Studierenden<br />

kann es ja trotzdem<br />

sein, dass Onkel oder Tanten oder<br />

andere Bezugspersonen Hochschulerfahrung<br />

haben und man auf diese Erfahrungen<br />

zurückgreifen kann. Bei der ‚First<br />

in Family‘-Definition geht es vor allem<br />

darum, dass man innerhalb der Familie<br />

nicht oder kaum auf studienbezogene<br />

Erfahrungen zurückgreifen kann, außerdem<br />

spielt die Haltung der Eltern gegenüber<br />

dem Studium eine Rolle. Aber auch<br />

materielle und ökonomische Ressourcen<br />

sind zentral.“<br />

FRANZISKA LESSKY ist seit 2023<br />

Assistenzprofessorin am Institut für<br />

Psychosoziale Intervention und Kommunikationsforschung.<br />

Zu ihren <strong>Forschung</strong>sschwerpunkten<br />

gehören die soziale<br />

Dimension in der Hochschulbildung,<br />

Bildungsübergänge, Studienerfolg und<br />

Beschäftigungsfähigkeit von Absolvent:innen<br />

und Karrieren und Prekarität<br />

im akademischen Bereich.<br />

Vererbte Bildung<br />

Die Weichen für ein Hochschulstudium<br />

werden – gerade in Österreich – oft<br />

schon früh gestellt, erläutert die Wissenschaftlerin:<br />

„Die <strong>Forschung</strong> zeigt, dass<br />

zum Beispiel die Entscheidung, nach der<br />

Volksschule in eine AHS-Unterstufe oder<br />

Mittelschule zu gehen, stark vom Elternhaus<br />

abhängt. Eltern mit akademischer<br />

Bildung schicken ihre Kinder häufiger<br />

in ein Gymnasium – unabhängig davon,<br />

wie die Empfehlungen der Lehrer:innen<br />

in der Volksschule lauten. Schon da zeigen<br />

sich Reproduktionsmechanismen, da<br />

der Weg nach dem Gymnasium für diese<br />

Kinder dann häufig auch in ein Hochschulstudium<br />

führt, so, wie es eben bereits<br />

bei den Eltern war.“<br />

„Den“ oder „die“ First-in-Family-Student:in<br />

(FiF) gibt es allerdings nicht: Die<br />

Gruppe ist sehr heterogen. In ihrer Dissertation<br />

hat Lessky mittels qualitativer<br />

Interviews mit FiF-Studierenden unter<br />

anderem eine Gemeinsamkeit herausgearbeitet,<br />

die auch schon im Begriff „First<br />

in Family“ steckt: Die Rolle der Familie<br />

ist zentral bei der Entscheidung für ein<br />

Studium. „Einige der interviewten Studierenden<br />

berichten, dass ihre Eltern<br />

selbst gern studiert hätten und das nicht<br />

konnten und sie deshalb sehr stark dabei<br />

unterstützt haben, ein Studium aufzunehmen.<br />

In anderen Fällen stehen die<br />

Eltern einem Studium eher ablehnend<br />

gegenüber. Bei diesen Studierenden<br />

führt dann auch gerade deshalb der Weg<br />

ins Studium, weil sie einen anderen Bildungsweg<br />

als ihre Eltern einschlagen<br />

wollen. Einen pauschalen Weg gibt es<br />

nicht, aber die Studienentscheidungen<br />

sind meist eng mit den Erfahrungen in<br />

der Familie verbunden.“<br />

FiF-Studierende weisen außerdem<br />

häufig auch andere Merkmale auf, die<br />

auf unterrepräsentierte Studierendengruppen<br />

zutreffen: Sie sind bei Studienantritt<br />

oft älter, in höherem Ausmaß<br />

während des Studiums erwerbstätig und<br />

haben auch häufiger mehr Verpflichtungen<br />

außerhalb der Universität. Dabei bereichern<br />

die Erfahrungen von FiF-Studierenden<br />

die Universitäten, wie Lessky betont:<br />

„Viele ‚First in Family‘-Studierende<br />

haben zum Beispiel durch Erfahrungen<br />

in der Erwerbstätigkeit bereits vielfältige<br />

Kompetenzen erworben, die auch an der<br />

Universität nützlich sind, wie Selbstorganisation<br />

oder der Umgang mit schwierigen<br />

Situationen. Gleichzeitig sagen<br />

mehrere Betroffene, dass es auch wichtig<br />

wäre, dass die Universität dies in ihrem<br />

Angebot berücksichtigt, damit zum Beispiel<br />

die Vereinbarkeit von Studium, Beruf<br />

und anderen Lebensbereichen besser<br />

gelingen kann.“<br />

Gezielte Förderung<br />

Um den Hochschulzugang und den Verbleib<br />

im Studium von ‚First in Family‘-<br />

Studierenden zu verbessern, sind sowohl<br />

42 zukunft forschung <strong>01</strong>/24<br />

Fotos: Andreas Friedle


BILDUNGSWISSENSCHAFT<br />

strukturelle als auch individuelle Maßnahmen<br />

nötig. Strukturell müsste mehr<br />

in das Bildungssystem investiert werden:<br />

„Bildung fängt schon im Elementarbereich<br />

bzw. bei der frühkindlichen<br />

Betreuung an. Hochwertige und gut<br />

ausgebaute Kinderbetreuung ist zentral,<br />

und später dann entsprechende Unterstützung<br />

an Schulen, damit Laufbahnen<br />

zum Beispiel nicht davon abhängen,<br />

ob die Eltern privat Nachhilfe bezahlen<br />

können oder nicht“, sagt Franziska<br />

Lessky.<br />

Im Studium geht es dann unter anderem<br />

um den Zugang zu implizitem<br />

Wissen, das Studierende mit Akademiker:innen<br />

im unmittelbaren Umfeld oft<br />

schon haben – zum Beispiel Informationen,<br />

wie ein Studium funktioniert<br />

und worauf zu achten ist. „Das betrifft<br />

zum Beispiel auch die Teilhabe an Angeboten,<br />

die extra-curricular stattfinden,<br />

wie soziale Vernetzungsaktivitäten oder<br />

Karrieretrainings. Wenn jemand nebenher<br />

arbeitet und Betreuungspflichten hat,<br />

dann kann diese Person nicht so einfach<br />

am universitären Leben außerhalb der<br />

Lehrveranstaltungen teilnehmen, was<br />

wiederum zu weiteren Benachteiligungen<br />

führen kann. Wichtig ist, strukturelle<br />

Barrieren aufzuzeigen und zu versuchen,<br />

sie abzubauen.“<br />

„Viele ‚First in Family‘-Studierende<br />

bringen durch ihre ‚weniger<br />

geraden‘ Lebensläufe vielfältige<br />

Erfahrungen mit, von denen<br />

die Hochschulen profitieren<br />

können,wenn sie diese als<br />

Potenzial anerkennen.“ <br />

Im Projekt Diversität bewegt die Universität<br />

erforscht Franziska Lessky gerade<br />

gemeinsam mit Kolleg:innen und Studierenden<br />

der Fakultät für Bildungswissenschaften<br />

konkrete Erfahrungen von FiF-<br />

Studierenden in Innsbruck und erhebt<br />

Möglichkeiten, sie mehr zu unterstützen.<br />

„Wichtig ist mir, diese ganze Debatte<br />

nicht defizitorientiert zu führen. ‚First in<br />

Family‘-Studierende bringen durch ihre<br />

‚weniger geraden‘ Lebensläufe vielfältige<br />

Erfahrungen mit, von denen die<br />

Hochschulen profitieren können, wenn<br />

sie diese als Potenzial anerkennen. Auch<br />

dazu will ich mit meiner <strong>Forschung</strong> beitragen.“<br />

sh<br />

BILDUNGSWISSENSCHAFTLERIN Franziska Lessky arbeitet unter anderem zu „First in<br />

Family“-Studierenden und beforscht deren Bildungswege.<br />

zukunft forschung <strong>01</strong>/24 43


BERUFUNG<br />

GEFUNDEN.<br />

Ina Pick<br />

Professorin für Germanistische<br />

Sprach- und Medienwissenschaft<br />

Elwin Huaman<br />

Wissenschaftlicher Mitarbeiter am<br />

Institut für Archäologien<br />

Viele Menschen haben an der Universität Innsbruck ihre Berufung<br />

in <strong>Forschung</strong> und Lehre, aber auch in der Verwaltung gefunden.<br />

Ina Pick und Elwin Huaman sind zwei davon.<br />

Es hätte auch ganz anders kommen können für Ina Pick –<br />

dann stünde sie heute nicht in Hörsälen, sondern an der<br />

Werkbank: „Ich habe nach der Schule eine Ausbildung<br />

als Tischlerin abgeschlossen und wollte eigentlich ins<br />

Handwerk“, erzählt sie.<br />

Heute ist Ina Pick Professorin für Germanistische Sprachund<br />

Medienwissenschaft und beschäftigt sich vorwiegend<br />

mit Kommunikation innerhalb bestimmter beruflicher<br />

Felder, die mündlich, schriftlich und medial vermittelt<br />

stattfindet.<br />

Vor fünf Jahren ist Elwin Huaman für seinen PhD in<br />

Informatik nach Innsbruck gekommen. Aufgewachsen ist<br />

der Peruaner mitten in den Anden. Dort kam der<br />

Informatiker erst relativ spät mit Computern in Kontakt.<br />

Ihren Nutzen erkannte er aber sofort.<br />

Heute hat er sich auf Knowledge Graphs – digitale<br />

Strukturen, die dazu dienen, Informationen so zu<br />

speichern, damit sie sowohl von Menschen als auch<br />

Maschinen gelesen und verarbeitet werden können –<br />

spezialisiert.<br />

Wir fördern Talente.<br />

www.uibk.ac.at/karriere<br />

Seit 1669 /uniinnsbruck


PREISE & AUSZEICHNUNGEN<br />

DOKTORWÜRDE<br />

„SUB AUSPICIIS“<br />

Die Klassische Philologin Irina Tautschnig hat für ihre akademischen<br />

Leistungen den Ehrenring „Sub auspiciis Praesidentis rei publicae“<br />

verliehen bekommen.<br />

Die Klassische Philologin Irina Tautschnig<br />

wurde im März an der Universität<br />

Innsbruck promoviert, ihre<br />

Dissertation verfasste sie über „Moving the<br />

Earth in Song. The Reception of Copernicus in<br />

Latin and Greek Poems, 1543–1873“. Hervorragende<br />

Studienleistungen wie ihre werden<br />

in Österreich seit 1952 mit einer Promotio sub<br />

auspiciis Praesidentis rei publicae (Promotion<br />

unter den Auspizien des Bundespräsidenten),<br />

abgekürzt auch „Sub-auspiciis-Promotion“,<br />

ausgezeichnet. Diese Form der Promotion<br />

ist die höchstmögliche Auszeichnung von im<br />

Studium erbrachten Leistungen in Österreich.<br />

Entsprechend streng sind auch die Voraussetzungen<br />

für die Zulassung zu einer Sub-auspiciis-Promotion.<br />

Seit diesem Jahr findet die Verleihung des<br />

Ehrenrings durch den Bundespräsidenten<br />

nicht mehr an den jeweiligen Universitäten,<br />

sondern einmal im Jahr als gemeinsame Zeremonie<br />

für alle Ausgezeichneten in der Hofburg<br />

in Wien statt. Bundespräsident Alexander<br />

Van der Bellen überreichte den Ehrenring<br />

am 18. März <strong>2024</strong> an 13 Doktor:innen, darunter<br />

die Klassische Philologin Irina Tautschnig.<br />

Die gebürtige Innsbruckerin war Projektmitarbeiterin<br />

an der Universität Innsbruck<br />

und schloss ihr Doktoratsstudium vergangenen<br />

Herbst ab, seither ist sie als Postdoc an<br />

der Universität Bonn tätig. „Irina Tautschnig<br />

hat sich durch ganz besondere Studienleistungen<br />

ausgezeichnet. Ihr Talent wurde<br />

schon früh erkannt, so erhielt sie das Höchstbegabtenstipendium<br />

des Rotary Clubs Innsbruck<br />

und den Ann-Moss-Preis der britischen<br />

Gesellschaft für Neulateinische Studien. Sie<br />

war jahrelang Schriftführerin der Gesellschaft<br />

für Klassische Philologie, also des Vereins, in<br />

dem alle Klassischen Philologen Tirols zusammengeschlossen<br />

sind. So wurde sie einer<br />

breiten Fachöffentlichkeit bekannt“, betonte<br />

Rektorin Veronika Sexl im Rahmen der Promotion.<br />

HÖCHSTMÖGLICHE AUS-<br />

ZEICHNUNG: Dekan Jürgen<br />

Fuchsbauer (Philologisch-Kulturwissenschaftliche<br />

Fakultät),<br />

Philologin Irina Tautschnig,<br />

Rektorin Veronika Sexl sowie<br />

Doktorvater und Laudator<br />

Martin Korenjak (v.l.).<br />

Foto: Die Fotografen<br />

zukunft forschung <strong>01</strong>/24 45


PREISE & AUSZEICHNUNGEN<br />

NATIONALPARK-PREIS<br />

Jakob Britz beschäftigte<br />

sich im Rahmen<br />

seiner Masterarbeit<br />

im Nationalpark Hohe<br />

Tauern mit dem<br />

Zusammenspiel von<br />

Schutzgebieten und<br />

Tourismus in Österreich<br />

und der Frage, welche Charakteristika<br />

der Schutzgebiete darauf Einfluss haben.<br />

Nun wurde seine Arbeit mit dem Nationalparks<br />

Austria <strong>Forschung</strong>spreis ausgezeichnet.<br />

Die Ergebnisse einer umfangreichen<br />

Datenauswertung zeigen, dass Naturschutz<br />

und Tourismus in Schutzgebieten voneinander<br />

profitieren. Betreut wurde die Arbeit<br />

von Katharina Pöll und Robert Steiger am<br />

Institut für Finanzwissenschaft.<br />

THIRRING-PREIS<br />

Im März wurde<br />

Martin Ringbauer<br />

vom Institut für Experimentalphysik<br />

mit<br />

dem Hans-und-Walter-Thirring-Preis<br />

für<br />

seine hervorragenden<br />

wissenschaftlichen Leistungen im Bereich<br />

Quantencomputing ausgezeichnet. Der mit<br />

4.000 Euro dotierte Preis wird von der Österreichischen<br />

Akademie der Wissenschaften<br />

verliehen und erinnert an die beiden österreichischen<br />

Physiker Hans Thirring (1888-<br />

1976) und Walter Thirring (1927-2<strong>01</strong>4).<br />

Ringbauer kam 2<strong>01</strong>8 als Erwin Schrödinger<br />

Quantum Postdoctoral Fellow an die Universität<br />

Innsbruck. Für seine Arbeit an hochdimensionaler<br />

Kodierung für effizientere<br />

Quantencomputer erhielt Ringbauer 2022<br />

einen ERC Starting Grant.<br />

FWF-AUFSICHTSRÄTIN<br />

Die Delegiertenversammlung<br />

des<br />

österreichischen<br />

Wissenschaftsfonds<br />

FWF hat Ulrike Tanzer<br />

einstimmig in den<br />

FWF-Aufsichtsrat<br />

gewählt. Tanzer ist<br />

Professorin für Österreichische Literatur<br />

an der Universität Innsbruck und Leiterin<br />

des <strong>Forschung</strong>sinstituts Brenner-Archiv.<br />

Von 2<strong>01</strong>7 bis 2023 war sie Vizerektorin für<br />

<strong>Forschung</strong> der Universität Innsbruck. Die<br />

Funktionsperiode im Aufsichtsrat des FWF<br />

läuft bis 2027.<br />

DIE LITERATURPREISTRÄGER:INNEN <strong>2024</strong>: Jannis Harjus, Sara Elisabeth Aufinger-<br />

Scheed und Dominik Berrens (v.l.).<br />

LITERATURPREIS<br />

VERLIEHEN<br />

Der Literaturpreis der Universität Innsbruck ging in diesem<br />

Jahr an die beiden Literaturwissenschaftler Dominik Berrens<br />

und Jannis Harjus.<br />

Die nach dem italienischen Unternehmer<br />

Karl Zuegg und dessen<br />

Tochter Hiltraud Märk-Zuegg,<br />

der Frau von Altrektor Tilmann Märk,<br />

benannte H. und K. Zuegg-Stiftung verleiht<br />

seit 2<strong>01</strong>7 jährlich den Literaturpreis<br />

der Universität Innsbruck. Die besondere<br />

Auszeichnung wird abwechselnd an<br />

junge Autor:innen und Literaturwissenschaftler:innen<br />

vergeben. Für das<br />

Jahr 2023 wurde der Literaturpreis für<br />

Sprach- und Literaturwissenschaftler:innen<br />

aller Philologien ausgeschrieben. Er<br />

ging an Dominik Berrens vom Institut<br />

für Klassische Philologie und Neulateinische<br />

Studien und Jannis Harjus vom<br />

Institut für Romanistik.<br />

Dominik Berrens wurde für seine Habilitation<br />

Naming New Things and Concepts<br />

in Early Modern Science. The Case of<br />

Natural History ausgezeichnet, in der er<br />

sich mit der Benennung neuentdeckter<br />

Dinge und Konzepte in den Wissenschaften<br />

beschäftigt. Untersucht hat er<br />

dies an lateinischen Texten vom Beginn<br />

des 16. bis zur ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts,<br />

die sich mit der Naturgeschichte<br />

im weiteren Sinne befassen.<br />

Ebenfalls für seine Habilitationsschrift<br />

wurde Jannis Harjus ausgezeichnet. Im<br />

Zentrum seiner diskurslinguistischen<br />

Untersuchung an der Schnittstelle zwischen<br />

Linguistik, Kulturwissenschaft<br />

und Semiotik stehen Rivalitätskonstruktionen<br />

in medialen Darstellungen der<br />

sogenannten Fußballklassiker in Portugal,<br />

Frankreich und Spanien – unter Einschluss<br />

katalanischer Medien. Einen<br />

Anerkennungspreis der Jury erhielt Sara<br />

Elisabeth Aufinger-Scheed für ihre Dissertation<br />

Neologismen im Deutschen und<br />

Französischen: ein Vergleich.<br />

46 zukunft forschung 02/23 Fotos: Universität Inns bruck (1), Claudia Rauch(1), ÖAW/Elia Zilberberg(1), Eva Fessler(1)


PREISE & AUSZEICHNUNGEN<br />

LIECHTENSTEIN-PREIS<br />

Mit dem Preis des Fürstentums Liechtenstein für wissenschaftliche<br />

<strong>Forschung</strong> wurden heuer Rike Stotten, Monika Messner und<br />

Robert Wild von der Universität Innsbruck sowie Andreas Pircher<br />

von der Medizinischen Universität Innsbruck ausgezeichnet.<br />

DIE DIESJÄHRIGEN Liechtenstein-Preisträger:innen Andreas Pircher, Monika Messner,<br />

Rike Stotten und Robert Wild (v.l.).<br />

Stellvertretend für Bildungsministerin<br />

Dominique Hasler gratulierte<br />

Regierungsrätin Graziella Marok-<br />

Wachter Ende April den Preisträgerinnen<br />

und Preisträgern bei der Übergabe<br />

der Urkunden im Regierungsgebäude<br />

in Vaduz zu ihren herausragenden wissenschaftlichen<br />

Leistungen. „Gerade in<br />

einer Welt mit immer rasanteren Veränderungen<br />

und komplexeren Problemstellungen<br />

ist die Wissenschaft das Fundament,<br />

auf dem wir die Lösungen zu<br />

den Fragen unserer <strong>Zukunft</strong> aufbauen<br />

können“, erklärte Regierungsrätin Graziella<br />

Marok-Wachter. Umso wichtiger<br />

sei es für Liechtenstein, dass man herausragende<br />

Beiträge und <strong>Forschung</strong>sleistungen<br />

mit Preisen wie diesem würdigen<br />

könne.<br />

Die Rektorin der Universität Innsbruck,<br />

Veronika Sexl, bedankte sich für<br />

die langjährige Unterstützung der <strong>Forschung</strong><br />

an der Universität Innsbruck:<br />

„Dieser Preis zählt zu den renommiertesten<br />

Auszeichnungen an der Universität<br />

Innsbruck und wird nun schon seit<br />

über 40 Jahren vergeben. Im Namen der<br />

Universität Innsbruck möchte ich dem<br />

Fürstentum Liechtenstein für die langjährige<br />

Unterstützung danken. Diese<br />

wertvolle Partnerschaft fördert die akademische<br />

Exzellenz und ermöglicht es<br />

uns, <strong>Forschung</strong> auf höchstem Niveau<br />

zu betreiben“, sagte Rektorin Veronika<br />

Sexl.<br />

Auch der Rektor der Medizinischen<br />

Universität Innsbruck, Wolfgang Fleischhacker,<br />

betonte die Bedeutung des Preises:<br />

„Mit der Vergabe dieses Preises setzt<br />

das Fürstentum Liechtenstein seit vielen<br />

Jahren ein wertvolles Zeichen der Anerkennung.<br />

Unsere jungen Forscherinnen<br />

und Forscher werden dadurch nicht nur<br />

motiviert, weiterhin wertvolle, wissenschaftliche<br />

Beiträge zu leisten – sie werden<br />

auch vor den Vorhang geholt. So<br />

wird <strong>Forschung</strong> auch nach außen sichtbar.“<br />

<br />

VERDIENSTORDEN<br />

Auf Vorschlag des italienischen<br />

Botschafters<br />

in Wien, Giovanni<br />

Pugliese, erhielt die<br />

Quantenphysikerin<br />

Francesca Ferlaino<br />

einen Verdienstorden<br />

der Republik Italien.<br />

Mit der Auszeichnung Commendatore<br />

dell‘Ordine della Stella d‘Italia würdigte der<br />

italienische Staat Ferlainos wichtigen Beitrag<br />

zur Stärkung der Rolle von italienischen<br />

Forschenden im Ausland. Die vielfach ausgezeichnete<br />

Wissenschaftlerin findet weltweit<br />

Anerkennung für ihre <strong>Forschung</strong> zu<br />

dipolaren Quantengasen.<br />

CURIE-STIPENDIUM<br />

Für ihr Projekt Einstellungen<br />

zur Intimen<br />

Partnergewalt gegen<br />

Frauen: von Neuronalen<br />

Netzwerken zu<br />

Alltagserfahrungen<br />

erhielt die Psychologin<br />

Sofia Amaoui<br />

ein Marie Skłodowska-Curie-Stipendium. Sie<br />

wird in dem Projekt mit Carmen Morawetz<br />

am Institut für Psychologie zusammenarbeiten.<br />

Die Ergebnisse sind eine wichtige<br />

Grundlage für Interventionen und Politiken<br />

zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen<br />

und zur Förderung der Geschlechtergleichstellung.<br />

BAUHAUS-PREIS<br />

Natalia Piórecka, Senior<br />

Scientist am Institut<br />

für Experimentelle<br />

Architektur, wurde<br />

für ihre Masterarbeit<br />

an der Bartlett School<br />

of Architecture in<br />

London mit dem von<br />

der Europäischen Kommission vergebenen<br />

Neuen Europäischen Bauhaus-Preis <strong>2024</strong><br />

ausgezeichnet. Mit ihrer Arbeit möchte sie<br />

einen Beitrag zur Gestaltung eines kreislauforientierten<br />

Industrieökosystems leisten<br />

und das transformative Potenzial von Biomaterialien<br />

bei der Schaffung nachhaltiger<br />

städtischer Umgebungen aufzeigen. Mit<br />

dem seit 2020 vergebenen Preis will die<br />

Europäische Kommission den Europäischen<br />

Grünen Deal mit dem alltäglichen Leben<br />

und den Lebensräumen sowie Erfahrungen<br />

der EU-Bürger:innen verbinden.<br />

Fotos: Medizinische Universität Innsbruck (1), Universität Innsbruck (1), privat (2)<br />

zukunft forschung <strong>01</strong>/24 47


ZWISCHENSTOPP INNS BRUCK<br />

AHMET SÖZEN ist in Zypern geboren<br />

und hat in Istanbul und in den USA<br />

studiert. Von 1997 bis 20<strong>01</strong> war er<br />

Professor an Universitäten in Ankara und<br />

Istanbul. Von 2000 bis 2004 war Sözen<br />

Direktor des Istanbul Strategic Research<br />

Center und seit 2004 ist er Professor für<br />

Politikwissenschaft und Internationale Beziehungen<br />

an der Eastern Mediterranean<br />

University und Direktor des Cyprus- Policy-<br />

Center in Famagusta, Zypern. Neben<br />

seiner universitären Tätigkeit war Ahmet<br />

Sözen der türkisch-zypriotische Gründungsdirektor<br />

des vom UNDP finanzierten<br />

Programms Cyprus 2<strong>01</strong>5, das später<br />

zum ersten interkommunalen Think-Tank<br />

SeeD – Center for Sustainable Peace and<br />

Democratic Development wurde.<br />

FRIEDEN IST MÖGLICH<br />

Der international bekannte Friedensforscher Ahmet Sözen beschäftigt sich mit der interkulturellen<br />

Dimension der friedlichen Transformation von Konflikten.<br />

Frieden beginnt im Kleinen“, sagt<br />

Ahmet Sözen. „Wir müssen bei einer<br />

Gemeinschaft nach der anderen<br />

beginnen – angefangen bei unserer eigenen,<br />

die der Kolleginnen und Kollegen,<br />

mit denen wir zusammenarbeiten, über<br />

die ethnische oder nationale Gruppe,<br />

mit der wir uns identifizieren, bis hin zu<br />

den Weltbürgerinnen und -bürgern.“ In<br />

diesem Sinn hat dies auch viel mit der<br />

ursprünglichen Mission der Disziplin<br />

der Internationalen Beziehungen zu tun,<br />

in denen sich Sözen in den USA promoviert<br />

hat. „Der ursprüngliche Auftrag des<br />

Fachs bestand darin, wissenschaftlich zu<br />

untersuchen, wie Kriege verhindert werden<br />

können. In diesem Sinne bin ich seit<br />

meiner Kindheit, in der ich das Trauma<br />

von Konflikten und Kriegen in meinem<br />

Heimatland Zypern erlebt habe, ein Verfechter<br />

des Friedens und habe versucht,<br />

sowohl akademisch als auch vor Ort einen<br />

Beitrag zur Lösung der offenen Konflikte<br />

in der Region zu leisten.“<br />

Umfangreiche Erfahrung<br />

Auf Einladung des Arbeitsbereichs für<br />

Friedens- und Konfliktforschung war Sözen<br />

im Sommersemester zu Gast an der<br />

Universität Innsbruck. In einer Lehrveranstaltung<br />

nutzte er den Zypern-Konflikt,<br />

um über Verhandlungs-, Vermittlungsund<br />

Friedensbildungsprozess im Allgemeinen<br />

zu sprechen. „Mein Ziel war es,<br />

den Studierenden die Mechanismen und<br />

die Funktionsweise dieser Prozesse näher<br />

zu bringen. Natürlich haben wir auch die<br />

russische Invasion in der Ukraine und den<br />

Konflikt zwischen Israel und Palästina als<br />

Beispiele verwendet, um die Kenntnisse<br />

auch anzuwenden.“ Daneben brachte der<br />

Friedensforscher seine langjährige Erfahrung<br />

in der Friedensvermittlung auch in<br />

zwei weitere Lehrveranstaltungen ein und<br />

berichtete in öffentlichen Vorträgen unter<br />

anderem über die Entwicklung der türkisch-russischen<br />

Beziehungen.<br />

Die Zeit in Innsbruck war für Sözen<br />

auch eine Gelegenheit, um mit Kolleginnen<br />

und Kollegen Erfahrungen auszutauschen<br />

und von ihnen und den Studierenden<br />

neue Dinge zu lernen. „Ich hoffe,<br />

dass ich mit meinem angesammelten Wissen<br />

und meiner Erfahrung in Konfliktlösungsprozessen<br />

auch etwas zurückgeben<br />

konnte und das ein Lernen in beide Richtungen<br />

war“, blickt Sözen auf seine Zeit<br />

in Innsbruck zurück. Seinen Aufenthalt<br />

konnte er auch für den Abschluss eines<br />

Buches über „Second Track Diplomacy“<br />

nutzen, das er als Herausgeber für die<br />

Zeitschrift EUROpolitika verantwortet.<br />

„Innsbruck ist eine friedliche und malerische<br />

Stadt, in der ich mich in aller Ruhe<br />

auf meine <strong>Forschung</strong> konzentrieren konnte“,<br />

so Sözen abschließend. cf<br />

48<br />

zukunft forschung <strong>01</strong>/24<br />

Foto: Andreas Friedle


SPRUNGBRETT INNS BRUCK<br />

ERFOLGSREZEPT<br />

KOOPERATION<br />

Der Molekularbiologe Jan Karlseder erforscht in den USA die Funktion von Telomeren<br />

bei Alterung und Krebs. Er ist Chief Science Officer des Salk Institute for Biological Studies.<br />

JAN KARLSEDER studierte an der Universität<br />

Innsbruck Biologie und promovierte<br />

in Wien in Genetik. 1996 ging er<br />

als Postdoc an die Rockefeller University<br />

in New York City. 2002 wechselte er<br />

an das Salk Institute in La Jolla, wo sein<br />

Labor die Synergien zwischen Telomeren,<br />

der DNA-Schadensreaktion und<br />

krebsschützenden proliferativen Grenzen<br />

erforscht. Seine <strong>Forschung</strong> konzentriert<br />

sich aktuell auf die Wechselwirkung<br />

zwischen Telomeren, Entzündungen und<br />

der Verhinderung von Krebs während des<br />

Alterungsprozesses.<br />

Das Salk Institute for Biological Studies<br />

in La Jolla, Kalifornien, ist ein<br />

kleines, aber feines <strong>Forschung</strong>sinstitut.<br />

Mehrere Nobelpreisträger sind oder<br />

waren hier aktiv. Rund 50 Arbeitsgruppen<br />

forschen an verschiedenen Richtungen,<br />

von Krebs- und Alternsforschung über<br />

Neurobiologie bis zu Pflanzenbiologie und<br />

Metabolismus. Einer von ihnen ist der Österreicher<br />

Jan Karlseder. Sein <strong>Forschung</strong>sschwerpunkt<br />

liegt auf den Schutzkappen<br />

unserer Chromosomen, den sogenannten<br />

Telomeren. Sie stabilisieren die Chromosomen<br />

und schützen so das Erbgut.<br />

Die Arbeiten des Molekularbiologen<br />

liefern wichtige Erkenntnisse zum Verständnis<br />

des Alterns und Krankheiten<br />

wie Krebs und werden regelmäßig in den<br />

wichtigsten wissenschaftlichen Zeitschriften,<br />

wie Nature, Science und Cell publiziert.<br />

Karlseders Gruppe hat zum Beispiel entdeckt,<br />

wie die Replikation der Telomere<br />

die Stabilität des Genoms reguliert und<br />

wie Reparaturmechanismen der DNA<br />

während des Zellzyklus gesteuert werden.<br />

Auch konnte Jan Karlseder zeigen,<br />

welche Mechanismen das Genom während<br />

der Seneszenz – dem biologischen<br />

Altern – stabil halten. Funktionieren diese<br />

Mechanismen nicht mehr, können sich<br />

Zellen unkontrolliert vermehren und im<br />

Alter zu Tumoren führen. Sie können aber<br />

auch vorzeitiges Altern wie beim Werner-<br />

Syndrom auslösen. Ebenfalls wichtig für<br />

die Entstehung von Krebs ist Karlseders<br />

Erkenntnis, dass Zellen mit sehr kurzen<br />

Telomeren durch den Autophagie-Mechanismus<br />

im Körper entsorgt werden. Diese<br />

zelluläre „Müllabfuhr“ könnte ein Ansatzpunkt<br />

für die Bekämpfung von Tumoren<br />

in einem sehr frühen Krebsstadium sein.<br />

Von Innsbruck nach San Diego<br />

Karlseders Interesse für die Biologie entstand<br />

schon sehr früh. Er wuchs am Land<br />

auf und sein Großvater, ein Botanik-Professor<br />

in Wien, brachte ihm das Wissen<br />

über die Natur nahe. Seine akademische<br />

Karriere begann an der Universität Innsbruck,<br />

wo er von 1986 bis 1989 Biologie<br />

studierte. Gerne erinnert er sich an die<br />

Studienzeit in Innsbruck zurück und<br />

pflegt weiter den Kontakt mit Kollegen<br />

aus jener Zeit. Noch heute besucht der<br />

Wissenschaftler regelmäßig Tirol, wo ein<br />

Großteil seiner Familie lebt.<br />

In Kalifornien und am Salk Institute<br />

fühlt sich der international angesehene<br />

Forscher wohl: „Unsere Wissenschaftler<br />

sind die Besten auf ihrem Gebiet und wir<br />

arbeiten regelmäßig miteinander. Das<br />

führt zu einem Austausch von Ideen und<br />

motiviert uns, neue Richtungen zu erkunden,<br />

die verschiedene <strong>Forschung</strong>srichtungen<br />

vereinen. Damit verhindern wir, dass<br />

sich Gruppen auf ein einziges Problem<br />

fokussieren und den Kontext verlieren.<br />

Die Kombination aus hervorragenden<br />

Gruppen, die intensiv zusammenarbeiten,<br />

ist unser Erfolgsrezept“, zeigt sich der<br />

Molekularbiologe stolz. Als Chief Science<br />

Officer des Salk Institute ist er für die wissenschaftliche<br />

Planung und den Betrieb<br />

des Institutes verantwortlich.<br />

Dem wissenschaftlichen Nachwuchs rät<br />

Karlseder: „Denkt gut darüber nach, was<br />

euch interessiert und welche Fragen sich<br />

auf fundamental wichtige Probleme fokussieren.<br />

Sucht euch die besten Trainingsmöglichkeiten<br />

weltweit. Vermeidet in<br />

Dogmen zu denken – die aufregendsten<br />

Entdeckungen kommen durch unerwartete<br />

Resultate, die ohne Vorurteile interpretiert<br />

werden.“<br />

cf<br />

Foto: Salk Institute<br />

zukunft forschung <strong>01</strong>/24 49


ESSAY<br />

STRIEFSTUM<br />

Zur Frage der Kreativität von Künstlicher Intelligenz<br />

„ChatGPT ist ein<br />

sogenanntes Großes<br />

Sprachmodell.<br />

Mehr als eine Billion<br />

Parameter, so vermutet<br />

man, gewichten<br />

die Verbindungen<br />

zwischen Knoten in<br />

vielen miteinander<br />

verknüpften Schichten.“<br />

BRIGITTE RATH forscht und<br />

lehrt am Institut für Vergleichende<br />

Literaturwissenschaft<br />

der Universität Innsbruck. Sie<br />

interessiert sich für nicht-einsprachige<br />

Literatur, Texte des<br />

18. Jahrhunderts, experimentelle<br />

und zeitgenössische<br />

Dichtung, die Entwicklung des<br />

Fantasy-Genres, Fragen der<br />

Anrede in literarischen Texten,<br />

Methoden des relationalen<br />

Lesens sowie für die Relevanz<br />

Großer Sprachmodelle für die<br />

Literaturwissenschaft.<br />

Ich würde gerne,“ schrieb ich kürzlich,<br />

„mit Dir ein kleines Spiel spielen, in dem<br />

es darum geht, völlig neue Wörter zu erfinden<br />

und ihnen dann eine Bedeutung zu<br />

geben. Ich fange an: Striefstum. Was könnte<br />

dieses Wort bedeuten?“<br />

„Das klingt,“ kam prompt zurück, „nach einem<br />

spaßigen Spiel. Also, Striefstum könnte<br />

bedeuten:<br />

Striefstum (das, -s; kein Plural): Ein plötzlicher,<br />

meist kurzzeitiger Zustand der Desorientierung<br />

oder Verwirrung, der durch eine<br />

unerwartete oder ungewöhnliche Situation<br />

ausgelöst wird. Oft erlebt in komplexen oder<br />

überfordernden sozialen Umgebungen, bei<br />

denen die betroffene Person vorübergehend<br />

‚geistig strauchelt‘.“<br />

Wer mir hier in Form eines erfundenen Lexikoneintrags<br />

antwortet, ist ChatGPT-4, die<br />

aktuell wohl bekannteste Künstliche Intelligenz<br />

zur Produktion sprachlicher Äußerungen.<br />

Doch ist das überhaupt die passende<br />

Formulierung – sollte es nicht heißen: Was<br />

mir hier antwortet? Denn ChatGPT ist ein<br />

sogenanntes Großes Sprachmodell. Mehr als<br />

eine Billion Parameter, so vermutet man, gewichten<br />

die Verbindungen zwischen Knoten<br />

in vielen miteinander verknüpften Schichten<br />

und erlauben so, zu einer Eingabe differenziert<br />

eine kohärente Fortsetzung zu berechnen.<br />

Die Eingabe – wie etwa meine eingangs<br />

zitierte Einladung zum Wort-Spiel – wird<br />

dafür in kleine Teile, „Token“ genannt, zerlegt,<br />

diese werden zu Zahlen umcodiert, und<br />

mit dieser Abfolge von Zahlen rechnet dann<br />

das Billionen-Parameter-Modell. Das Ergebnis<br />

ist das erste Token der Antwort. Weil für<br />

eine kohärente Äußerung alle Teile der Antwort<br />

auf die Eingabe wie auch aufeinander<br />

bezogen sein müssen, bilden die Eingabe und<br />

dieses errechnete Token zusammen dann eine<br />

zweite Eingabe, mit der das zweite Token der<br />

Antwort berechnet wird – und so weiter für<br />

jedes Token der Antwort, bis das errechnete<br />

Ergebnis-Token „Ende“ signalisiert. Für die<br />

obige Antwort braucht es also viele dutzende<br />

Durchläufe. Man versteht sofort, warum Große<br />

Sprachmodelle enorm rechen- und damit<br />

ressourcenaufwendig sind.<br />

ChatGPT ist also „nur“ ein statistisches Modell,<br />

das den im Trainingsprozess aus unglaublich<br />

vielen Texten gewonnenen Gewichtungen<br />

folgt, um eine möglichst wahrscheinliche<br />

Antwort auf eine konkrete Eingabe zu<br />

produzieren. Eine hohe Wahrscheinlichkeit<br />

assoziiert man mit in den Trainingsdaten häufig<br />

auftretenden Verbindungen, und entsprechend<br />

wird ChatGPT zugestanden, Standardtexte<br />

zu Standardthemen recht zuverlässig liefern<br />

zu können. Der gleichen Logik der hohen<br />

Wahrscheinlichkeit folgend nicht zu erwarten<br />

wären daher unvorhergesehene, originelle –<br />

kurz: kreative Reaktionen. Die berechneten<br />

Antworten wären mit einem aus Literaturverrissen<br />

bekannten Urteil „berechenbar“. Es<br />

antwortet ein maschinelles Es.<br />

Nun kommt „Striefstum“ in den Trainingsdaten<br />

ziemlich sicher gar nicht vor. Auch wenn<br />

sich ChatGPTs Antwort mit der Form eines<br />

Lexikoneintrags durchaus vorhersehbar am<br />

üblicheren Teil meiner Frage nach einer Wortbedeutung<br />

orientiert, würde ich doch behaupten,<br />

dass man die mit „Striefstum“ assoziierte<br />

Situation nicht vorausahnt. Natürlich ist diese<br />

Antwort berechnet. Dennoch oder genau deshalb<br />

kann die Reaktion auf die nicht-trainierte<br />

Eingabe überraschend sein, und weil das Billionen-Parameter-Modell<br />

für den unbekannten<br />

Impuls eine möglichst wahrscheinliche Fortsetzung<br />

sucht, zugleich plausibel. „Zugleich<br />

überraschend und plausibel“ aber beschreibt<br />

eine kreative Lösung.<br />

Science Fiction erfindet bisweilen erste Begegnungen<br />

zwischen Menschen und Aliens,<br />

häufig verbunden mit der (xenolinguistischen)<br />

Frage, ob eine Kommunikation mit Wesen, die<br />

über eine völlig andere Weltwahrnehmung<br />

verfügen, überhaupt möglich ist. Mit einem<br />

ausschließlich an Texten und Bildern trainierten<br />

Weltmodell wäre ChatGPT fast wie ein<br />

Alien, mit dem wir uns bequem an unserem<br />

Laptop sitzend unterhalten können. Kein<br />

Wunder, dass wir in der Interaktion mit es/<br />

ihm/ihr manchmal in ein Striefstum geraten.<br />

„Flinsion“ übrigens schlägt ChatGPT für ein<br />

„spezifisches Gefühl von Befriedigung“ vor,<br />

nämlich „das innere Klicken, das sowohl fühlbar<br />

als auch fast hörbar ist.“<br />

50<br />

zukunft forschung <strong>01</strong>/24<br />

Foto: Eva Fessler


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52 zukunft forschung <strong>01</strong>/24<br />

Foto: Andreas Friedle

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