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Wilfried Engemann: Der Mensch ist anders (Leseprobe)

Menschen sind um ihres Lebens willen religiös, nicht um der Götter willen. Welche Erzählungen auch immer für eine Religion prägend werden, sie haben ihre Wurzeln in der von jedem Menschen zu bewältigenden Herausforderung, unter vorgegebenen Bedingungen ein nicht vorgegebenes Leben zu führen. Die Brauchbarkeit einer Theologie für das Verständnis, die Gestaltung und Bewertung religiöser Praxis steht und fällt daher mit ihrer Anthropologie. Es gilt, in Theologie und Kirche von der latenten Diffamierung des Menschseins als Handicap eines Lebens aus Glauben Abstand zu nehmen. Wer an der religiösen Praxis des Christentums partizipiert, sollte die Erfahrung machen, als Mensch zum Vorschein zu kommen. Die Beiträge dieses Buches gehen der Frage nach, was das für den Ansatz der Praktischen Theologie und für Seelsorge, Predigt und Gottesdienst bedeutet.

Menschen sind um ihres Lebens willen religiös, nicht um der Götter willen. Welche Erzählungen auch immer für eine Religion prägend werden, sie haben ihre Wurzeln in der von jedem Menschen zu bewältigenden Herausforderung, unter vorgegebenen Bedingungen ein nicht vorgegebenes Leben zu führen. Die Brauchbarkeit einer Theologie für das Verständnis, die Gestaltung und Bewertung religiöser Praxis steht und fällt daher mit ihrer Anthropologie. Es gilt, in Theologie und Kirche von der latenten Diffamierung des Menschseins als Handicap eines Lebens aus Glauben Abstand zu nehmen. Wer an der religiösen Praxis des Christentums partizipiert, sollte die Erfahrung machen, als Mensch zum Vorschein zu kommen. Die Beiträge dieses Buches gehen der Frage nach, was das für den Ansatz der Praktischen Theologie und für Seelsorge, Predigt und Gottesdienst bedeutet.

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<strong>Wilfried</strong> <strong>Engemann</strong><br />

<strong>Der</strong> <strong>Mensch</strong><br />

<strong>ist</strong> <strong>anders</strong><br />

Anthropologie im Fokus<br />

des Pfarrberufs


Inhaltsverzeichnis<br />

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9<br />

I. Prämissen<br />

Als <strong>Mensch</strong> zum Vorschein kommen.<br />

Anthropologische Implikationen religiöser Praxis . . . . . . . . . . . . 17<br />

1. Vorbemerkungen: Zum Vorschein kommen –<br />

ein Leben führen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17<br />

2. <strong>Mensch</strong> sein und leben können.<br />

Zur Dimension der Lebenskunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19<br />

3. <strong>Mensch</strong> sein und religiös sein.<br />

Zur Dimension der Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23<br />

4. Als <strong>Mensch</strong> zum Vorschein kommen.<br />

Zur Pointe des Evangeliums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26<br />

5. <strong>Mensch</strong>sein und chr<strong>ist</strong>lich sein. Ambivalente<br />

Beobachtungen 500 Jahre nach der Reformation . . . . . . . . . . . . . . 28<br />

6. <strong>Mensch</strong> sein im Blickpunkt der religiösen Praxis<br />

des Chr<strong>ist</strong>entums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35<br />

Lebensgefühl und Glaubenskultur. <strong>Mensch</strong>sein<br />

als Vorgabe und Zweck der religiösen Praxis<br />

des Chr<strong>ist</strong>entums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41<br />

1. Vorbemerkungen zu einer verbreiteten<br />

Selbstdiagnose: »Religiös unmusikalisch« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41<br />

2. <strong>Mensch</strong>sein oder religiös sein?<br />

Konturen eines Dilemmas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43<br />

3. Prämissen und Zwecke religiöser Praxis<br />

in Theologie und Kirche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46<br />

4. <strong>Mensch</strong>enwürde als Vorgabe religiöser Praxis? . . . . . . . . . . . . . . . . 53


6 Inhaltsverzeichnis<br />

5. Zur Faktizität von Glaubenskulturen und ihre<br />

Wirkung auf das Lebensgefühl von <strong>Mensch</strong>en . . . . . . . . . . . . . . . . 55<br />

6. Glauben als Ressource eines guten Lebensgefühls<br />

und als Kategorie der Leidenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59<br />

II. Seelsorgliche Perspektiven<br />

Aneignung der Freiheit. Lebenskunst und<br />

Willensarbeit in der Seelsorge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65<br />

1. Basiskompetenzen der Lebenskunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65<br />

2. Neugier auf das Selbst. Die schöne Kunst zu leben . . . . . . . . . . . . . 69<br />

3. Das befreite, aber erschöpfte Selbst. <strong>Der</strong> bipolare<br />

Diskurs der Seelsorge im 20. Jahrhundert und die<br />

psychosozialen Herausforderungen der Gegenwart . . . . . . . . . . . . 73<br />

4. Das werdende Selbst und die Aneignung des Willens . . . . . . . . . . . 81<br />

Das Lebensgefühl im Blickpunkt der Seelsorge.<br />

Zum seelsorglichen Umgang mit Emotionen . . . . . . . . . . . . . . . . 88<br />

1. Emotionalität und Seelsorge.<br />

Einschlägige Reflexionsperspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88<br />

2. Freiheit und Liebe als Beweggründe des Lebens.<br />

Zum Verständnis und zur Aufgabe der Seelsorge . . . . . . . . . . . . . . 92<br />

3. Das Lebensgefühl und die Faktoren<br />

leidenschaftlichen Lebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93<br />

Die emotionale Dimension des Glaubens.<br />

Zu einer Grundfrage seelsorglicher Begleitung . . . . . . . . . . . . . 105<br />

1. Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105<br />

2. Seelsorgliche Hypotheken des protestantischen<br />

Glaubensbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106<br />

3. Emotionale Grundbezüge des Glaubens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112


Inhaltsverzeichnis<br />

7<br />

III. Homiletische Perspektiven<br />

Erschöpft von der Freiheit – Zur Freiheit berufen.<br />

Predigt als Lebens-Kunde unter den Bedingungen<br />

der Postmoderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121<br />

1. Freiheit als Dienstvermächtnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121<br />

2. Erfahrungsmuster in der postmodernen<br />

Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128<br />

3. Konsequenzen für die Wahrnehmung<br />

des Predigtamtes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134<br />

4. Zum Selbstverständnis, zur Berufsrolle und<br />

Berufssprache des Predigers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143<br />

Emotive Aspekte der Predigt.<br />

Gegebenheiten – Beobachtungen – Folgerungen . . . . . . . . . . . 147<br />

1. Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147<br />

2. Zur Diskurslinie zwischen »Wohlgefühl«<br />

und »Lebensgefühl« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150<br />

3. Zum emotiven Profil der chr<strong>ist</strong>lichen Religion . . . . . . . . . . . . . . . . 152<br />

4. Emotionen im Überlieferungs- und Predigtgeschehen . . . . . . . . . 155<br />

5. Emotionsgesättigter Glaube . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162<br />

6. Predigt als Genre: Ein leidenschaftliches Plädoyer . . . . . . . . . . . . . 165<br />

7. Problemlagen und Desiderate . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167<br />

IV. Liturgische Perspektiven<br />

Vom Umgang mit <strong>Mensch</strong>en im Gottesdienst.<br />

Probleme der impliziten liturgischen Anthropologie . . . . . . . . 173<br />

1. Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173<br />

2. <strong>Mensch</strong>en im Gottesdienst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174<br />

3. Probleme der impliziten liturgischen Anthropologie . . . . . . . . . . 176<br />

4. Exkurs: Anthropologische Positionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182<br />

5. Hintergründe der impliziten Anthropologie<br />

des Gottesdienstes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184<br />

6. <strong>Mensch</strong> sein im Gottesdienst.<br />

Konturen einer praktisch-theologischen Anthropologie . . . . . . . 190


8 Inhaltsverzeichnis<br />

<strong>Mensch</strong>enwürde und Gottesdienst.<br />

Anthropologie als Herausforderung liturgischer Ethik. . . . . . . 195<br />

1. Vorüberlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195<br />

2. <strong>Mensch</strong>enwürde als liturgisch-homiletische<br />

Herausforderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197<br />

3. Verletzung der <strong>Mensch</strong>enwürde in der<br />

gottesdienstlichen Praxis? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201<br />

4. Gottebenbildlichkeit und erstes Gebot als<br />

Ideenkonzepte für menschenwürdige Gottesdienste . . . . . . . . . . 204<br />

V. Didaktische Perspektiven<br />

Religiöse Kommunikation und theologische Kompetenz.<br />

Zur Didaktik einer zeitgenössischen akademischen<br />

Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213<br />

1. »Kommunikation des Evangeliums« als Grundidee<br />

des Chr<strong>ist</strong>entums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213<br />

2. Zu den Konsequenzen für die Vermittlung<br />

von Praktischer Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216<br />

3. Problemzonen der Kommunikation des Evangeliums . . . . . . . . . . 221<br />

4. Zum kommunikativen Anspruch theologischer<br />

Kompetenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224<br />

Verzeichnis der Erstveröffentlichungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231


Vorwort<br />

Die protestantische Theologie hat ein Problem mit ihrer Anthropologie. Dabei<br />

handelt es sich weniger um ein internes Problem, das aus Unsicherheiten bei<br />

der dogmatischen Entfaltung des sogenannten »biblischen <strong>Mensch</strong>enbildes« resultierte,<br />

welches entschlossen »dem human<strong>ist</strong>ischen <strong>Mensch</strong>enbild« gegenübergestellt<br />

wird, als hätten beide nichts miteinander zu tun. Es handelt sich vielmehr<br />

um ein Problem, das sich aus den Spannungen zwischen einer reformations -<br />

theologisch geprägten Anthropologie und den Bilanzen etwa der philosophischen<br />

Anthropologie, der Kulturanthropologie und nicht zuletzt der biologischen Anthropologie<br />

ergibt – um nur einige der Disziplinen zu benennen, die sich ihrerseits<br />

um ein wissenschaftlich konvergentes Verständnis vom <strong>Mensch</strong>sein des<br />

<strong>Mensch</strong>en bemühen. Diese Spannung bliebe ein theoretisches, interdisziplinäres<br />

Problem und könnte sogar eine Zeitlang mit Verweis auf unterschiedliche<br />

Prämissen als »logisch« beiseite geschoben werden, wenn es nicht Professionen<br />

gäbe, in denen unmittelbar an und mit <strong>Mensch</strong>en gearbeitet wird, die – ganz<br />

gleich, ob ihnen nun ein Arzt, ein Pädagoge oder eben ein Pfarrer gegenübersteht –<br />

in gewisser Hinsicht immer die gleichen sind. Ihr <strong>Mensch</strong>sein <strong>ist</strong> die unabänderliche<br />

Vorgabe für jegliche Art von Kommunikation, Interaktion, Kooperation oder<br />

Beratung.<br />

Wer sich anschickt, <strong>Mensch</strong>en mit Bezug auf sein medizinisches Wissen,<br />

seine philosophischen Einsichten oder theologischen Überzeugungen in ihrem<br />

<strong>Mensch</strong>sein zur Seite zu stehen, sollte sich in den Voraussetzungen und Facetten<br />

ihres <strong>Mensch</strong>seins gut auskennen. Er kann sich seine Anthropologie nicht nach<br />

Belieben zurechtlegen. Theologinnen und Theologen, die mit gediegen protestantischer<br />

Theologie im Gepäck Gottesdienste inszenieren, Predigten erarbeiten, für<br />

seelsorgliche Gespräche zur Verfügung stehen oder chr<strong>ist</strong>liche Religion unterrichten,<br />

können sich jedenfalls nicht damit begnügen, auf eine Anthropologie zurückzugreifen,<br />

die ihre Motive (auf den ersten Blick) in der lutherischen Soteriologie<br />

bzw. in der Rechtfertigungslehre hat. Andernfalls würden sie ausgerechnet<br />

im Kontext der Kommunikation des Evangeliums darauf verzichten, <strong>Mensch</strong>en<br />

an den gegebenen, aber gleichwohl stets gefährdeten inneren Zusammenhang ihres<br />

Sehnens, Wollens, Urteilens, Entscheidens und Handelns heranzuführen und<br />

es ihnen damit schwer machen, sich als Subjekt ihres Lebens zu erfahren und dabei<br />

»gegenwärtig« zu werden.<br />

Analysen der impliziten Anthropologie von Gottesdiensten lassen den Schluss<br />

zu, dass den gerade Anwesenden fatalerweise ihr <strong>Mensch</strong>sein selbst zum Problem


10 Vorwort<br />

gemacht wird. Mit dem <strong>Mensch</strong>sein gegebene Grenzen (z. B. des Verstehens oder<br />

der Hingabe) werden häufig als Sünde apostrophiert. Gottesdienstbesucher werden<br />

von Sonntag zu Sonntag damit konfrontiert, dass sie angeblich »zu wenig geliebt«,<br />

»zu wenig geholfen«, »zu wenig vertraut« oder »zu wenig gehofft« hätten. Gleichzeitig<br />

wird ihr Grundimpuls zur Freundschaft mit sich selbst bzw. zur Selbstliebe<br />

überwiegend in ego<strong>ist</strong>ischen Verfremdungen präsentiert. Außerdem erscheint der<br />

Wille eines <strong>Mensch</strong>en fast ausschließlich als Instrument einer unangemessenen<br />

Eigensinnigkeit sowie als Affront gegen göttliche und gemeinschaftliche Interessen.<br />

Die Anwesenden werden – in ungewollter Verschärfung einer gesetzlichen<br />

theologischen Praxis – an ein Ideal vom <strong>Mensch</strong>sein herangeführt, das sie nur<br />

abschrecken kann. Es <strong>ist</strong> u. a. von beharrlicher Dauernettigkeit, betroffenem Allesverstehertum<br />

und ichloser Hingabe ohne Resonanzerwartungen geprägt: »Nicht<br />

dass ich geliebt werde, sondern dass ich liebe.« – Wer will schon so sein?! Nicht<br />

einmal »Gott« mutet sich das zu.<br />

Mit der anthropologischen Frage eng verbunden <strong>ist</strong> die Frage nach der Funktion<br />

der religiösen Praxis des Chr<strong>ist</strong>entums für das <strong>Mensch</strong>sein des <strong>Mensch</strong>en. Es<br />

gibt Religion(en), weil es <strong>Mensch</strong>en gibt, die sich religiös äußern, die religiös<br />

agieren und kommunizieren, religiös empfinden, sich religiös verhalten usw. Deshalb<br />

steht und fällt die Brauchbarkeit und Relevanz der Wissenschaften, die sich<br />

mit dem Wesen der Religion befassen, die korrigierende und gestaltende Impulse<br />

geben und dem <strong>Mensch</strong>en als <strong>Mensch</strong>en helfen wollen, mit der Stimmigkeit ihrer<br />

Anthropologie.<br />

Religion gibt es praktisch immer nur als jemandes Religion, wobei es h<strong>ist</strong>orisch<br />

gesehen natürlich nicht nur um einzelne Personen geht, sondern auch um Gruppen,<br />

Familienverbände, Gemeinden, Völker. Bestimmte Wahrnehmungen, Erfahrungen,<br />

Deutungsversuche, Erkenntnisse und daraus abgeleitete Folgerungen von<br />

<strong>Mensch</strong>en sind gleichwohl der Nährboden für die großen Erzählungen der Religionen<br />

und die darin jeweils aufscheinende Rolle des <strong>Mensch</strong>en. Seit es <strong>Mensch</strong>en<br />

gibt, sehen sie sich dazu herausgefordert, sich und ihre Welt auf einen Nenner zu<br />

bringen, sich auf Katastrophen einen Reim zu machen, mit der Erfahrung von<br />

Schuld zu leben, Reue zu artikulieren, sich auf den Tod einzustellen und last but<br />

not least ein Arrangement mit den Kräften zu suchen, die sie als größer erfahren<br />

als sich selbst. <strong>Mensch</strong>en fühlen sich dementsprechend dazu herausgefordert,<br />

Opfer zu bringen, gefürchtete Mächte zu besänftigen und ihr Wohlwollen zu gewinnen,<br />

Schuld zu bekennen, Versuchungen als solche zu empfinden und ihnen<br />

zu widerstehen, sich zu bestrafen, wenn sie scheitern – und jene <strong>Mensch</strong>en, die<br />

die eigene religiöse Welt in Frage stellen, als fremd zu empfinden oder gar zu bekämpfen.<br />

Kurz: <strong>Mensch</strong>en sind um ihrer selbst, um ihres Lebens willen religiös.<br />

Wer Religion lehrt, vermittelt, für sie wirbt, sie mit anderen kultisch inszeniert,<br />

steht daher grundsätzlich vor der Herausforderung, ihrem Grundmotiv der Lebensdienlichkeit<br />

gerecht zu werden.


Vorwort<br />

11<br />

Vor diesem Hintergrund nehmen die in diesem Band zusammengefassten Vorträge<br />

zunächst anthropologische Implikationen religiöser Praxis (I. Teil) in den Blick, wie<br />

sie in der pastoralen Praxis anzutreffen sind. Darüber hinaus geht es darum,<br />

diese Praxis zu hinterfragen und mit anthropologischen Prämissen und Argumenten<br />

außertheologischer Wissenschaften zu konfrontieren, die so basal sind,<br />

dass sie schlechterdings auch für das Verständnis eines Lebens aus Glauben nicht<br />

ausgesetzt werden können. Das hat Konsequenzen für die praktisch-theologische<br />

Theoriebildung und für sämtliche Handlungsfelder der Kirche.<br />

Im Weiteren (II. Teil) kommen zunächst seelsorgliche Perspektiven in den Blick.<br />

Sofern jeder <strong>Mensch</strong>, auch jeder Glaubende, vor der Herausforderung steht, unter<br />

vorgegebenen Bedingungen ein nicht vorgegebenes Leben zu führen, <strong>ist</strong> die elementare<br />

Erfahrung von Freiheit genau in diesem Kontext zu erörtern. Dabei spielt<br />

die weithin vernachlässigte Frage nach der Aneignung eines gewissenskonformen<br />

Willens eine herausragende Rolle. Glauben hat darüber hinaus nicht nur mit kognitiv<br />

artikulierbaren Gewissheiten zu tun, sondern manifestiert sich fundamental<br />

auch im Lebensgefühl eines <strong>Mensch</strong>en, wobei der Erfahrung des Gewähren-Könnens<br />

und des Empfangens von Liebe eine besondere Bedeutung zukommt.<br />

Angesichts der Tatsache, dass die Bewusstmachung und Stärkung der Freiheit<br />

eines Chr<strong>ist</strong>enmenschen in der evangelischen Kirche gewissermaßen zum »Dienstvermächtnis«<br />

des Pfarrberufs gehört (die einschlägigen Dokumente für Ordinationen<br />

nehmen ausdrücklich darauf Bezug), gehen die homiletischen Untersuchungen<br />

(III. Teil) der Frage nach, welches Freiheitsverständnis dabei eigentlich<br />

vorausgesetzt wird bzw. welcher Freiheitsbegriff in der Predigtarbeit zum Tragen<br />

kommen sollte. Wie in dem Fragen der Seelsorge gewidmeten Teil wird auch hier<br />

auf die Rolle der Emotionen Bezug genommen, sowohl hinsichtlich der Hörerschaft<br />

als auch in Bezug auf das Subjekt der Predigt.<br />

In welchem Maße sich die anthropologischen Prämissen der für den Gottesdienst<br />

Verantwortlichen auf den Zuschnitt seiner Sequenzen auswirken, wird anhand<br />

von Momentaufnahmen liturgischer Schlüsselsituationen verdeutlicht<br />

(IV. Teil). <strong>Der</strong> Umgang mit den je Anwesenden selbst entscheidet über die Glaubwürdigkeit<br />

der Kommunikation des Evangeliums mit. Dabei steht nicht nur der<br />

Zugang zu den chr<strong>ist</strong>lichen Ressourcen der Erfahrung von Freiheit und Liebe auf<br />

dem Spiel; ein inadäquater Umgang mit <strong>Mensch</strong>en im Gottesdienst steht auch in<br />

der Gefahr, ihre Würde nicht zu respektieren. Dabei kann doch den Anwesenden<br />

gerade durch einen Gottesdienst ihre eigene Würde neu zu verstehen gegeben<br />

und erfahrbar gemacht werden.<br />

Im letzten Beitrag dieses Buches (V. Teil) wird noch einmal grundsätzlich auf<br />

die Kommunikation des Evangeliums als Grundidee des Chr<strong>ist</strong>entums eingegangen.<br />

Sie trägt bei denen, die in sie involviert sind, dazu bei, als <strong>Mensch</strong> zum<br />

Vorschein zu kommen – nicht als fehlerfreier Übermensch, nicht als demütiger<br />

Gehorsamsmensch, auch nicht mit dem Primärziel eines frommen Glaubensmenschen:<br />

Die <strong>Mensch</strong>werdung des <strong>Mensch</strong>en mit der ihm eigenen Würde steht im<br />

Fluchtpunkt des Evangeliums. Daraus ergeben sich weitreichende didaktische


12 Vorwort<br />

Konsequenzen für die theologische Ausbildung. Akademische Theologie muss entschlossener<br />

als dies geschieht mit Bezug auf die Bedingungen menschlicher Ex<strong>ist</strong>enz<br />

gelehrt und studiert werden. Das erfordert sowohl seitens der Lehrenden als<br />

auch der Studierenden einen wirklich gewollten bzw. verabredeten Subjektbezug<br />

theologischer Arbeit, um auf diese Weise zu einer in sich stimmigen und dialogfähigen<br />

Theologie zu gelangen. Diese Aufgabe kann nicht an die Lehrveranstaltungen<br />

der Praktischen Theologie delegiert werden. Alle theologischen Fächer<br />

haben ihren je eigenen Anteil daran, dass Pfarrerinnen und Pfarrer dazu in die<br />

Lage versetzt werden, eine ebenso situationsgerechte wie <strong>Mensch</strong>en gerecht werdende<br />

Theologie zu treiben.<br />

Wie sich aus diesem Überblick ergibt, bieten die für diesen Band ausgewählten<br />

Vorträge keine systematische Abhandlung anthropologischer Themen. Die Beiträge<br />

gehen me<strong>ist</strong> von Einzelbeobachtungen auf einschlägigen Handlungsfeldern<br />

der Kirche aus, die auf einen theologisch fragwürdigen, anthropologischen Klischees<br />

folgenden und letztlich evangelisch unglaubwürdigen Umgang mit <strong>Mensch</strong>en<br />

schließen lassen. Im Dialog insbesondere mit philosophischen, psychologischen,<br />

soziologischen und neurobiologischen Ansätzen werden die dabei zutage<br />

tretenden Irritationen vertieft und als praktisch-theologische Herausforderung<br />

zugespitzt.<br />

Dass dabei bestimmte Referenzen und Begründungszusammenhänge – in<br />

wechselnden Kontexten – mehrmals auftauchen, hat mit ihrer Funktion als Argumentationsmuster<br />

zu tun und wurde daher im Zuge der Aufbereitung der Texte<br />

für diesen Band nicht verändert. Die Gründe für den Bedarf an einer stimmigen,<br />

im Diskurs der Wissenschaften dialogfähigen theologischen Anthropologie wechseln<br />

ja nicht von Aufgabenbereich zu Aufgabenbereich, sondern sind im Idealfall<br />

integraler Bestandteil einer kohärenten theologischen Positionsbestimmung.<br />

Als der anglikanische Bischof John A. T. Robinson (1919–1983) mit seinem Buch<br />

»Gott <strong>ist</strong> <strong>anders</strong>« 1 seine Leserschaft dazu ermutigte, von »metaphysischen«, »supranatural<strong>ist</strong>ischen«<br />

und »mythologischen« Gottesvorstellungen abzurücken, sich<br />

gleichsam »ehrlich zu machen« und Gott nicht länger in einer Art Überwelt zu<br />

denken, sondern ihn als Teil der einen Wirklichkeit zu begreifen, in der wir leben<br />

(und die vor allem in den personalen Beziehungen von <strong>Mensch</strong>en zum Tragen<br />

komme), wurde dieser Vorstoß als derart heikel empfunden, dass die DDR-Ausgabe<br />

des Werkes nur mit dem skeptischen Vorwort eines Dogmatikers 2 erscheinen<br />

konnte. Dass die offenbar befürchtete »Sprengstoffwirkung« ausblieb, hing wohl<br />

1 John A. T. Robinson: Gott <strong>ist</strong> <strong>anders</strong>, Berlin 1965; Titel der englischen Originalausgabe:<br />

Honest to God, London 1963.<br />

2 Vgl. die ganz im Stil einer Rezension verfasste Einleitung von Heinrich Benckert: Einführung,<br />

in: John A. T. Robinson: Gott <strong>ist</strong> <strong>anders</strong>, Berlin 1965, 7–17.


Vorwort<br />

13<br />

nicht zuletzt damit zusammen, dass auch Robinson bei der Erläuterung seines<br />

Gottesverständnisses auf die symbolische Sprache der Religion, ihren Interpretationsspielraum<br />

und die damit gegebene Offenheit nicht verzichten konnte.<br />

Ich nehme auf diesen Buchtitel Bezug, um darauf aufmerksam zu machen,<br />

dass wir vom <strong>Mensch</strong>en – im Dialog mit anderen Disziplinen und auf Basis empirischer<br />

Daten – etwas verbindlicher und eindeutiger als über Gottes Gottsein<br />

reden können. Natürlich können wir auch vom <strong>Mensch</strong>en in Bildern, in symbolischer<br />

Sprache und in religiösen Metaphern sprechen, ihn als »Ebenbild Gottes«<br />

betrachten und darin eine Begründung für sein besonderes Faible für Freiheit<br />

und Liebe erkennen. Und wie vieles in der Welt der Wissenschaft <strong>ist</strong> auch das<br />

Wesen des <strong>Mensch</strong>en noch in mancherlei Hinsicht geheimnisvoll. Wir müssen<br />

aber nicht darüber spekulieren, was es im Einzelnen für einen <strong>Mensch</strong>en bedeutet<br />

– um diese Formulierung nochmals aufzugreifen –, unter vorgegebenen Bedingungen<br />

ein nicht vorgegebenes Leben zu führen, sich mit seinen Wünschen<br />

auseinanderzusetzen, sich seiner Grenzen und Möglichkeiten bewusst zu werden,<br />

von seiner Phantasie und seiner Vernunft Gebrauch zu machen und zu klären,<br />

was er aus welchen Überzeugungen heraus guten Gewissens wollen kann. Von<br />

daher besteht ein berechtigtes Interesse an einer diese Zusammenhänge berücksichtigenden<br />

Anthropologie im Kontext des Pfarrberufs.<br />

Inwieweit die im Folgenden unternommenen Versuche dazu beitragen, hierfür<br />

Impulse zu setzen, wird jeder Leser, jede Leserin für sich selbst entscheiden. Eine<br />

Warnung wie für die Lektüre von Robinson wird jedenfalls nicht ausgesprochen.<br />

Wien, im Oktober 2023<br />

<strong>Wilfried</strong> <strong>Engemann</strong>


I. Prämissen


Als <strong>Mensch</strong> zum Vorschein kommen<br />

Anthropologische Implikationen religiöser Praxis<br />

Zusammenfassung: Was in der religiösen Praxis und Anthropologie des Protestantismus<br />

weithin fehlt, <strong>ist</strong> ein anthropologisch stimmiger Begriff vom <strong>Mensch</strong>sein, der nicht nur soteriologisch<br />

durchdekliniert <strong>ist</strong> und jenseits des Selbstrechtfertigungs- und Le<strong>ist</strong>ungsprinzips<br />

entfaltet wird, sondern der den <strong>Mensch</strong>en als Subjekt seines Lebens in den Blick<br />

nimmt, wozu u. a. eigene Urteile, begründete Entscheidungen und ein geklärter eigener<br />

Wille gehören. Ohne diese Instrumente der Lebenskunst können sich <strong>Mensch</strong>en ihrem Leben<br />

nicht mit Hingabe und Leidenschaft zuwenden, nicht wirklich in ihrem Leben präsent<br />

sein. <strong>Der</strong> Glaubenskultur des Chr<strong>ist</strong>entums entspricht nur eine religiöse Praxis, die den<br />

<strong>Mensch</strong>en als <strong>Mensch</strong>en zum Vorschein kommen lässt.<br />

1. Vorbemerkungen: Zum Vorschein kommen –<br />

ein Leben führen<br />

Wenn im Alltag oder in der Wissenschaft davon die Rede <strong>ist</strong>, dass etwas zum Vorschein<br />

kommt, geht es um etwas, das zwar schon irgendwo irgendwie gegeben,<br />

aber bisher nicht präsent war. Wer oder was zum Vorschein kommt, tritt unerwarteterweise<br />

mit seiner eigenen Wahrheit und seinem eigenen Anspruch aus<br />

der Verborgenheit hervor, spielt plötzlich eine Rolle und wird unabweisbar Teil<br />

der Gegenwart.<br />

Wenn in der Literatur erzählt oder im Film gezeigt wird, unter welchen Umständen<br />

eine bestimmte Person zum Vorschein kommt, die verschwunden, vorher<br />

gar nicht bekannt war oder auch nur verkannt wurde, <strong>ist</strong> das ähnlich: Prinzessinnen,<br />

Schuldner, verschollen Geglaubte, Totgesagte, Rächer, Erlöser usw. – sie<br />

treten mit einem Mal mit ihrer wirklichen Identität aus dem Schatten hervor, erscheinen<br />

auf der Bühne und geben der Handlung eine neue Richtung. 1 Dabei er-<br />

1 Diese Erzählstrukturen finden sich wohl auch deshalb in vielen großen Erzählungen,<br />

Abenteuerromanen und in der internationalen Filmgeschichte wieder, weil sie eine<br />

biographische Notwendigkeit bzw. Grunddynamik menschlicher Ex<strong>ist</strong>enz widerspie-


18 I. Prämissen<br />

wecken sie nicht selten den Eindruck, dass sie das, was gerade mit ihnen bzw.<br />

durch sie geschieht, auch selbst ein bisschen überrascht. Solche Akte des Wiederoder<br />

Erstmals-zum-Vorschein-Kommens von Identitäten vollziehen sich in drei<br />

verschiedenen Stufen:<br />

• Oftmals fängt dieser Prozess damit an (1. Stufe), dass <strong>Mensch</strong>en in ihrer eigenen,<br />

ganz persönlichen Welt, also mit sich selbst etwas Unerwartetes erleben.<br />

Sie werden aufgrund von Wahrnehmungen, Informationen, Irritationen, Konfrontationen,<br />

manchmal scheinbar auch »einfach so«, von eigenen Gedanken,<br />

Ideen, Worten und Sympathien überrascht, von denen sie nicht geahnt hätten,<br />

dass sie zu ihnen gehören.<br />

• Wenn man als »jemand Bestimmtes« zum Vorschein kommt, <strong>ist</strong> es bei diesen<br />

Selbst-Wahrnehmungen nicht geblieben. Man versucht früher oder später<br />

(2. Stufe), sich auf das, was in einem vor sich geht, einen »Reim« zu machen.<br />

Dazu muss man sich zum Beispiel mit widerstreitenden Empfindungen, Wünschen<br />

und Zukunftserwartungen, mit möglichen Entscheidungen und ihren<br />

Folgen ausein<strong>anders</strong>etzen, um so zu klären, was man eigentlich will, um her -<br />

auszufinden, was zu dem <strong>Mensch</strong>en gehört, der man geworden <strong>ist</strong>, zu der<br />

Identität, auf die hin man sich zu entwickeln scheint. Von alldem bekommt<br />

die Umwelt me<strong>ist</strong> noch wenig mit.<br />

• Das geschieht dann in der dritten Stufe dieses Prozesses: Wenn Personen mit<br />

einer bestimmten Identität zum Vorschein kommen, treten sie schließlich<br />

auch in einer bestimmten Haltung und mit einer entsprechenden Rolle auf.<br />

Sie handeln aus einem bestimmten Selbstverständnis heraus, weil sie es »müssen«,<br />

genauer gesagt, weil sie so sein wollen. Und weil sie gute Gründe dafür<br />

haben, an die sie sich binden. Sie leben als jemand Bestimmtes.<br />

Das macht Arbeit. »Wie schön wäre es,« schreibt Martin Walser in seinem Bodensee-Roman,<br />

»wenn man sich allem anpassen könnte. Auf nichts Eigenem bestehen.<br />

Nichts Bestimmtes sein. Das wäre Harmonie. [...] Ichlosigkeit. [...] Aber nein,<br />

dauernd muss man tun, als wäre man der und der.« 2 So <strong>ist</strong> es – und das <strong>ist</strong> noch<br />

nicht einmal alles: Indem wir im Laufe eines Lebens dies und das abwägen, diese<br />

und jene Entscheidung treffen, dies und das wollen, so und so handeln, tun wir ja<br />

nicht nur so, als wären wir der und der. Wir werden der und der.<br />

geln, die von Moses über den Grafen von Monte Chr<strong>ist</strong>o bis hin zu den frappierenden<br />

personalen »Offenbarungen« in den Romanen Theodor Fontanes führt. Die Brüder<br />

Grimm führen ihrerseits illustre Beispiele dafür an, was es heißt, in einer bestimmten<br />

Rolle zum Vorschein zu kommen. Vgl. Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und<br />

Wilhelm Grimm, Leipzig u. Mannheim 1995, Bd. 26, Sp. 1453.<br />

2 Martin Walser: Heimatlob. Ein Bodensee-Buch (mit Bildern von André Ficus), Friedrichshafen<br />

1982, 13.


Als <strong>Mensch</strong> zum Vorschein kommen<br />

19<br />

2. <strong>Mensch</strong> sein und leben können. Zur Dimension<br />

der Lebenskunst<br />

Was in Romanen, Märchen und biblischen Geschichten, in denen <strong>Mensch</strong>en im<br />

Laufe der Handlung mit einer bestimmten Identität zum Vorschein kommen, erzählt<br />

wird, kehrt in modifizierter Form im Leben eines jeden <strong>Mensch</strong>en wieder.<br />

Die Umstände am Tag unserer Geburt mögen sein, wie sie wollen – sie legen nicht<br />

fest, wer wir werden. Jeder von uns steht vor der Herausforderung, unter vorgegebenen<br />

Bedingungen ein nicht vorgegebenes Leben zu führen, wobei er als ein ganz<br />

bestimmter <strong>Mensch</strong> zum Vorschein kommt. Für diesen Prozess <strong>ist</strong> es nicht unerheblich,<br />

• ob man sich darauf versteht, von Wünschen und Erwartungen begleitet zu leben,<br />

die von der grundsätzlichen Offenheit der eigenen Zukunft ausgehen,<br />

• ob man sagen kann, was man will, welche Gründe man dafür hat und in diesem<br />

Sinne eigenwillig <strong>ist</strong>,<br />

• ob man eingesehen hat, im Einklang mit eigenen Überzeugungen leben zu<br />

müssen, um gern leben und die Erfahrung von Freiheit machen zu können,<br />

• ob man dem Grundimpuls der Liebe Raum geben kann und weiß, auch selbst<br />

auf Zuwendung angewiesen zu sein,<br />

• ob man mit sich selbst befreundet <strong>ist</strong> und sich auf die Tugend der Selbstliebe<br />

versteht – oder ob dies alles nicht der Fall <strong>ist</strong>.<br />

Damit stehen uns nicht nur elementare Facetten unseres <strong>Mensch</strong>seins vor Augen,<br />

sondern gleichzeitig substantielle Aspekte der ars vitae, der Kunst namens Leben.<br />

<strong>Mensch</strong> sein und leben können sind untrennbar miteinander verwoben. 3 Als<br />

<strong>Mensch</strong> zum Vorschein zu kommen heißt auch, sich nolens volens in der Kunst<br />

namens Leben üben zu müssen. Dabei geht es nicht um elitäre Zusatz- oder Sonderkompetenzen<br />

des <strong>Mensch</strong>seins in einer Zivilisation des Wohlstands, um die<br />

man sich erst dann kümmert, wenn man sonst keine Probleme hat. Im Begriff der<br />

Lebenskunst wird die einfache Tatsache auf den Punkt gebracht, dass sich jeder<br />

von uns insoweit auf sein Leben verstehen können muss, als er es führt, weil er Subjekt<br />

seines Lebens <strong>ist</strong> und sich in dieser Funktion schlechterdings nicht vertreten<br />

lassen kann.<br />

Als Subjekte sind wir – wie im Subjektbegriff selbst zum Ausdruck kommt –<br />

Bedingungen ausgesetzt und ihnen in dem Sinne »unterworfen«, als sie unserem<br />

In-Erscheinung-Treten objektiv vorausliegen. Wir müssen uns zu den Dingen ver-<br />

3 Zu den Basiskompetenzen von Lebenskunst sowie zur begrifflichen Klärung und systematischen<br />

Analyse der Standardsituation von Lebenskunst vgl. <strong>Wilfried</strong> <strong>Engemann</strong>:<br />

Aneignung der Freiheit. Lebenskunst und Willensarbeit in der Seelsorge, in diesem<br />

Band S. 65–87, bes. 65–69.


20 I. Prämissen<br />

halten, wie sie sind. Aber was dabei herauskommt, wer wir dabei werden, <strong>ist</strong> damit<br />

nicht festgelegt. Im Subjektbegriff kommen diese beiden Aspekte zum Tragen:<br />

sowohl unser Geworfen- und Bezogensein auf Vorgegebenes als auch die Unausweichlichkeit,<br />

unter diesen Umständen ein eigenes Leben zu führen und dabei jemand<br />

Bestimmtes zu werden. Im Kern geht es dabei um die Herausforderung,<br />

das Leben jeweils als unser Leben zu führen, als zu uns gehörendes und insofern<br />

stimmiges, von uns verantwortetes Leben. 4<br />

<strong>Der</strong> vielleicht wichtigste Indikator für gelingendes Leben <strong>ist</strong> nicht die Kühnheit<br />

der Phantasie im Blick auf das Potential möglicher Identitäten, nicht ein eiserner<br />

Wille, nicht der fragwürdige Ruf der Unbeeinflussbarkeit oder einer ungehemmten<br />

Durchsetzungskraft im Handeln. Wer nur etwas davon kann, hat nichts gekonnt.<br />

Unverzichtbar für die Erfahrung gelingenden Lebens und eines leidenschaftlichen<br />

Lebensgefühls 5 , auch Glück genannt, <strong>ist</strong> die Erfahrung der Stimmigkeit, der Kongruenz<br />

und Kontinuität zwischen dem, was wir für wünschenswert und sinnvoll<br />

halten, dem, wozu wir ja oder nein sagen, dem, was wir daraufhin wollen – und<br />

dem Handeln, in dem wir uns schließlich wiederfinden. <strong>Mensch</strong>en entgleitet der<br />

Begriff vom Sinn ihres Lebens auch aufgrund der hingenommenen Risse und<br />

Brüche dieses Zusammenhangs.<br />

Beim Thema Lebenskunst vom Begriff einer Handlung auszugehen bietet sich deshalb<br />

an, weil die Frage danach, was alles geschieht, wenn ein <strong>Mensch</strong> als Subjekt in Erscheinung<br />

tritt, sowohl Aspekte der Lebensführung als auch der Haltung dem eigenen<br />

4 Aus vielerlei Gründen, die das Auseinanderdriften von Theologie und Philosophie<br />

nach dem 1. Weltkrieg zur Folge hatten, war die Dimension der Lebenskunst nachhaltig<br />

aus den systematischen und praktisch-theologischen Diskursen um ein Leben aus<br />

Glauben verschwunden. Es erscheint mir dringender denn je, dieses Thema wieder<br />

stärker auch in der Theologie zu verankern. Zur theologischen Begründung sowie zu<br />

Orten und Wegen der Umsetzung dieses Anliegens <strong>Wilfried</strong> <strong>Engemann</strong>: Die Lebenskunst<br />

und das Evan gelium. Über eine zentrale Aufgabe kirchlichen Handelns und deren<br />

Herausforderung für die Praktische Theologie, in: ThLZ, 129. Jg., H. 9 (2004),<br />

875‒896 sowie ders.: Lebenskunst als Beratungsziel. Zur Bedeutung der Praktischen<br />

Philosophie für die Seelsorge der Gegenwart, in: Michael Böhme (Hg.): Entwickeltes<br />

Leben. Neue Herausforderungen für die Seelsorge. FS für Jürgen Ziemer, Leipzig 2002,<br />

95‒125.<br />

5 Das Besondere an diesem Begriff <strong>ist</strong> die Doppelseitigkeit der emotionalen Erfahrung,<br />

auf die er sich bezieht: Unser Lebensgefühl <strong>ist</strong> das emotionale Gesamtfazit unserer<br />

Selbst- und Weltwahrnehmung, und je nachdem wie es ausfällt, vermittelt sich <strong>Mensch</strong>en<br />

der Eindruck, eher glücklich oder eher unglücklich zu sein, ein gutes oder ein<br />

schlechtes Leben zu führen. Zum Begriff des Lebensgefühls und seiner religionspsychologischen<br />

Relevanz vgl. <strong>Wilfried</strong> <strong>Engemann</strong>: Das Lebensgefühl im Blickpunkt der<br />

Seelsorge. Zum seelsorglichen Umgang mit Emotionen, in diesem Band S. 88–104,<br />

93–95, sowie ders.: Lebensgefühl und Glaubenskultur. <strong>Mensch</strong>sein als Vorgabe und<br />

Zweck der religiösen Praxis des Chr<strong>ist</strong>entums, in diesem Band S. 41–62.


Als <strong>Mensch</strong> zum Vorschein kommen<br />

21<br />

Leben gegenüber einschließt. <strong>Mensch</strong> zu sein und leben zu können, dies gehört aufs<br />

Engste zusammen. Ich möchte das mit Bezug auf ein paar zentrale Aspekte der Lebenskunst<br />

kurz erläutern:<br />

Die Freiheit, ein Leben zu führen, das zu dem <strong>Mensch</strong>en gehört, genauer gesagt,<br />

das zu der Identität passt, die man für sich in Anspruch nehmen möchte, weil sie den<br />

eigenen Vorstellungen und Überzeugungen entspricht, macht Arbeit. Freiheit setzt<br />

unter anderem voraus, sich mit den eigenen Wünschen auseinanderzusetzen, sie buchstäblich<br />

zu sondieren, sich nicht von ihnen treiben zu lassen, sondern herauszufinden,<br />

welche Wünsche nur abgeguckt, gerade in Mode oder nur vorübergehend von Bedeutung<br />

sind, und welche uns wirklich am Herzen liegen, weil in ihnen zum Ausdruck<br />

kommt, wer wir sind. Diese immer wieder übrig bleibenden, favorisierten Wünsche<br />

sind eine unverzichtbare Grundlage dafür, klären zu können, was wir schließlich eines<br />

Tages wollen.<br />

Um das herauszufinden, machen wir von unserer Phantasie einerseits und unserer<br />

Vernunft andererseits Gebrauch. 6 Angesichts der grundsätzlichen Offenheit und Weite<br />

unseres Lebens stellen wir uns immer wieder die Was-Wäre-Wenn-Frage: Mit Hilfe<br />

unserer Phantasie versuchen wir, uns mit Bezug auf Märchen und Mythen, Geschichten<br />

und Gleichnisse, Zukunftsvisionen und Schreckensszenarien, Erfahrungen und Erwartungen<br />

ein Bild von der Zukunft zu machen, in der wir zum Vorschein kommen<br />

könnten. Damit wir uns dabei nicht verlieren, gleichen wir diese Optionen vernünf -<br />

tigerweise mit unseren äußeren und inneren, individuellen Voraussetzungen ab, die<br />

unser Leben gegenwärtig bestimmen. Diese Voraussetzungen sind nicht nur Ressourcen,<br />

sie ziehen uns auch Grenzen im Blick auf das, was wir allen Ernstes im Rahmen<br />

unseres Lebens wollen und wofür wir uns mit ganzer Kraft einsetzen können.<br />

Damit kommt unser Wille als eine der signifikantesten Äußerungsformen unseres<br />

<strong>Mensch</strong>seins in den Blick. Er <strong>ist</strong> Ausdruck unseres Subjektseins und unserer Freiheit.<br />

Er <strong>ist</strong> eine bewegende Kraft unseres Tuns und hat eine bestimmende Funktion für die<br />

Haltung, die wir in konkreten Situationen einnehmen. Wir müssen wollen können,<br />

was wir tun, sonst stimmt mit unserem Tun etwas Entscheidendes nicht: Es <strong>ist</strong> dann<br />

nämlich nicht unser Tun, kein Handeln, das unserer Überzeugung entspricht – und<br />

das daher auch nicht die Qualität leidenschaftlichen Tuns gewinnen kann. Bei allem,<br />

was wir gleichsam willenlos tun – ohne sagen zu können, warum wir es tun sollten,<br />

wobei wir gegen bessere Einsicht und gegen den Willen handeln, den wir für unseren<br />

eigentlichen Willen halten –, machen wir die Erfahrung von Unfreiheit. Es <strong>ist</strong> die Erfahrung,<br />

nicht mehr Herr im eigenen Haus zu sein, das Gefühl, im eigenen Leben ein<br />

Fremder zu sein, was ein flaues Gefühl hinterlässt. Wir sind dann »nicht ganz da«,<br />

nur halbherzig präsent und nicht in der Stimmung, uns erwartungsvoll in unser Leben<br />

zu werfen.<br />

6 Zur Dynamik dieser Spannung vgl. Peter Bieri: Das Handwerk der Freiheit. Über die<br />

Entdeckung des eigenen Willens, München/Wien 2001, 281‒290.


22 I. Prämissen<br />

Hier kommt die emotionale Dimension bzw. Grundierung unseres Daseins ins Spiel,<br />

die in der philosophischen und psychologischen Anthropologie unter anderem als Lebens-<br />

oder Daseinsgefühl bezeichnet wird. Dieses Grundgefühl hängt aufs Engste mit<br />

den gerade in den Blick genommenen Kategorien zusammen: Mit dem Subjektsein,<br />

mit der Neugier auf sich selbst, mit der Erfahrung der eigenen Freiheit und Würde,<br />

mit der Kohärenz zwischen dem, was wir tun, und dem, was wir für wünschenswert<br />

halten sowie mit der Aneignung eines eigenen Willens und ihm entsprechenden, stimmigen<br />

Entscheidungen. Auch die Frage, ob wir in dem, was wir tun, ganz bei uns sind<br />

und darum mit bzw. aus Leidenschaft handeln können, <strong>ist</strong> ein Faktor des Lebensgefühls<br />

als Grundgefühl unseres Daseins.<br />

Lebenskunst hat also nichts mit Erfolgsmaximierung in einem Leben ohne Scheitern<br />

und Krankheit zu tun, nichts mit Erstklassigkeit oder einer Me<strong>ist</strong>erschaft im<br />

Umsetzen von Plänen. Im Gegenteil, Brüche, Misslingen, Richtungsänderungen,<br />

Irrtümer, das Verwerfen von Plänen, das Verlieren der Geduld, die Entscheidung<br />

für das geringere Übel – alles das kann Teil von Lebenskunst, von Unterwegssein,<br />

von notwendigem Innehalten und Nicht-Weiter-Wissen sein, ohne dass sich dabei<br />

je die Frage erübrigte, wer wir angesichts dessen sein wollen, welche Wünsche wir<br />

verwerfen, hintanstellen oder favorisieren – und wie der morgige Tag aussehen<br />

soll. Dass wir diese Fragen nicht immer wie aus der P<strong>ist</strong>ole geschossen beantworten<br />

können, oder dass uns das, was wir einmal wollten, plötzlich nicht mehr stimmig<br />

erscheint, nicht mehr trägt, zeigt an, dass wir wieder einmal unterwegs sind –<br />

ohne schon sagen zu können, was wir stattdessen wollen. Das <strong>ist</strong> Bestandteil der<br />

Erfahrung von Freiheit. 7 Nach einer wichtigen Entscheidung, nach einem großen<br />

Schritt, durch den wir uns wieder ein Stück weit verändert haben, werden wir in<br />

unserer Entwicklung nicht eingefroren. Die Zukunft bleibt offen.<br />

Die Erfahrung, dass Beweggründe, denen man einmal ein großes Gewicht<br />

beigemessen hat, an Bedeutung verlieren und dazu veranlassen, sich erneut damit<br />

zu befassen, wer man <strong>ist</strong> und wohin man unterwegs <strong>ist</strong>, <strong>ist</strong> freilich eine grundsätzlich<br />

andere als die, sich im eigenen Leben als Fremder wahrzunehmen und<br />

gar keinen Anlass zu sehen, sich mit der Frage zu befassen, was man wollen<br />

könnte.<br />

7 Vgl. <strong>Wilfried</strong> <strong>Engemann</strong>: Aneignung der Freiheit, a. a. O. (s. o. Anm. 3), in diesem Band<br />

S. 85–87.


Lebensgefühl und Glaubenskultur<br />

<strong>Mensch</strong>sein als Vorgabe und Zweck der religiösen<br />

Praxis des Chr<strong>ist</strong>entums<br />

Zusammenfassung: In der religiösen Praxis des Chr<strong>ist</strong>entums geht es im Kern um das<br />

<strong>Mensch</strong>sein des <strong>Mensch</strong>en. Glauben schließt die Erfahrung ein, als <strong>Mensch</strong> zum Vorschein<br />

zu kommen. Daher sollte <strong>Mensch</strong>en im Zusammenhang ihres Glaubens nichts zugemutet<br />

werden, was sich gegen ihr <strong>Mensch</strong>sein richtete oder es ihnen zum Vorwurf machte. Glauben<br />

<strong>ist</strong> vielmehr eine Kategorie leidenschaftlichen <strong>Mensch</strong>seins. In der chr<strong>ist</strong>lichen Glaubenskultur<br />

kommt es gleichwohl vor, dass <strong>Mensch</strong>en den Eindruck gewinnen, sie stünden<br />

vor der Alternative, entweder ganz <strong>Mensch</strong> oder – um Gottes willen – religiös zu sein. <strong>Der</strong><br />

folgende Text zeigt einige Hintergründe dieser Erfahrung auf und erläutert, inwiefern eine<br />

der Funktionen des Glaubens darin zu sehen <strong>ist</strong>, Grundlage eines guten Lebensgefühls zu<br />

sein.<br />

1. Vorbemerkungen zu einer verbreiteten<br />

Selbstdiagnose: »Religiös unmusikalisch«<br />

Das akademische Ritual der »Vorstellung und Begrüßung des Referenten« vermittelt<br />

Vortragenden in der Regel den angenehmen Eindruck des Willkommenseins<br />

und der Wertschätzung. Das gilt in besonderem Maße beim Auftakt zu einer Antrittsvorlesung.<br />

1 Mit dem folgenden Text will ich versuchen, mich dafür ein bisschen<br />

zu revanchieren und den Scheinwerfer auf ein Thema richten, das auch<br />

etwas von dem zum Vorschein bringt, was Sie – nun auch als Leserinnen und<br />

Leser – gut dastehen lässt.<br />

Das sollte eigentlich zu den üblichen Effekten der religiösen Praxis des Chr<strong>ist</strong>entums<br />

gehören: Die »Kommunikation des Evangeliums«, wie man diese Praxis<br />

im Fachjargon gelegentlich nennt, hat unter anderem zur Folge, dass <strong>Mensch</strong>en<br />

gern leben, dass sie ihr Leben als großartiges, persönliches Geschenk empfinden,<br />

1 Bei dem hier vorliegenden Text handelt es sich um meine Wiener Antrittsvorlesung<br />

vom 4. Juni 2011, gehalten anlässlich meines Wechsels vom Lehrstuhl für Praktische<br />

Theologie an der Universität Münster auf die entsprechende Professur an der Evangelisch-Theologischen<br />

Fakultät der Universität Wien.


42 I. Prämissen<br />

dass sie neu an ihr Leben herangeführt werden und sich infolgedessen auch »auf<br />

ihr Leben verstehen«. Dazu gehört, dass sie einen Schritt in die Freiheit tun, Wertschätzung<br />

erfahren – und spüren, wie die Leidenschaft in ihr Leben zurückkehrt.<br />

Die biblischen Texte sind (teilweise) illustre Erfahrungsdokumente dafür, was das<br />

heißt. Wie die kirchliche Praxis des Chr<strong>ist</strong>entums im Einzelfall zu bewerten <strong>ist</strong>,<br />

hängt also nicht nur von der Lehre ab, auf die sie sich dabei beruft, sondern auch<br />

davon, ob diese Praxis einen Umgang mit <strong>Mensch</strong>en impliziert, der ihnen beispielsweise<br />

Freiheit einräumt, der ihre Fähigkeit zu lieben stärkt und ihrer Abhängigkeit<br />

von Zuwendung Rechnung trägt – oder eben nicht.<br />

Wenn sich <strong>Mensch</strong>en für »religiös unmusikalisch« halten und erklären, warum<br />

sie das kirchliche Repertoire religiöser Praxis »lieber nicht« in Anspruch nehmen,<br />

<strong>ist</strong> nie davon die Rede, dass sie mit Freiheit nichts am Hut hätten oder dass sie<br />

mit der Kategorie eines leidenschaftlichen Lebens nichts anzufangen wüssten. Es<br />

erscheint ihnen nur als höchst unwahrscheinlich, dass ausgerechnet die Glaubenskultur,<br />

die sie als Religion kennengelernt haben, dazu beitragen könnte,<br />

ihrem Leben Weite und Tiefe zu geben. Eine Ärztin, evangelisch, brachte es in einem<br />

Behandlungsgespräch auf den Punkt: Nachdem sie diagnostiziert hatte, dass<br />

ich Theologe bin, meinte sie, sich dafür entschuldigen zu müssen, dass sie, wie<br />

sie sagte, »nicht mehr hingehe«, und fügte dann hinzu: »Wissen Sie, es tut mir<br />

einfach nicht gut. Es fühlt sich nicht gut an, wenn ich mir jeden Sonntag zum Vorwurf<br />

gemacht werde.«<br />

Diese Frau <strong>ist</strong> wahrscheinlich kein Einzelfall. Es kommt wohl öfter vor, dass<br />

sich jemand vor der grotesken Alternative sieht, gerne <strong>Mensch</strong> oder religiös zu sein.<br />

Sich für das Letztere zu entscheiden, hieße, sich mit einem dumpfen Lebensgefühl<br />

zu arrangieren und damit abzufinden, im eigenen Leben Gast zu sein. Warum<br />

sollte man sich dazu überreden lassen? Das wäre – im nicht-konfessionellen Sinn<br />

– unevangelisch.<br />

Das Beste, was durch religiöse Praxis geschehen kann, <strong>ist</strong>, dass ein <strong>Mensch</strong><br />

als <strong>Mensch</strong> zum Vorschein kommt, mit allem, was zu seinem <strong>Mensch</strong>sein gehört:<br />

Nicht als Gutmensch, nicht als Allesversteher, sondern als <strong>Mensch</strong>, der mit einem<br />

geheimnisvollen Faible für Freiheit und Liebe ausgestattet <strong>ist</strong> und deswegen seit<br />

Jahrtausenden den Verdacht hegt, in dieser Hinsicht Gottes Ebenbild zu sein. Zum<br />

<strong>Mensch</strong>sein gehören ferner: Erfüllbare und unerfüllbare Wünsche, die mit Egoismus<br />

nichts zu tun haben, ein begründeter eigener Wille, der einem nicht als<br />

Affront gegen einen ominösen Willen Gottes abgeschwatzt werden sollte, souveräne<br />

Entscheidungen, die zu dem <strong>Mensch</strong>en passen, der man geworden <strong>ist</strong> – und<br />

das Glück, sich in ein Tun hineinwerfen zu können, von dessen Sinn man überzeugt<br />

<strong>ist</strong> – ohne deswegen sogleich der Werkgerechtigkeit verdächtigt werden zu<br />

dürfen.<br />

Im Folgenden möchte ich (1.) die umrissene Problemanzeige zuspitzen, (2.) das<br />

latente Religionsverständnis einer verbreiteten Gottesdienstpraxis unter die Lupe<br />

nehmen, (3.) <strong>Mensch</strong>enwürde als eine Vorgabe religiöser Praxis skizzieren,


Lebensgefühl und Glaubenskultur<br />

43<br />

(4.) den Zusammenhang von Lebensgefühl und Glaubenskultur erläutern und daraus<br />

(5.) exemplarische Konsequenzen für die theologische Arbeit ableiten.<br />

2. <strong>Mensch</strong>sein oder religiös sein?<br />

Konturen eines Dilemmas<br />

Spätestens nach der Begrüßung wird es in vielen Gottesdiensten ernst. Da war<br />

eben noch die Rede vom schönen Wetter. Und als besuchte man einen Markt der<br />

Möglichkeiten, wurde in den munter daherkommenden Veranstaltungshinweisen<br />

zur regen Beteiligung aufgerufen, zum Kuchenbacken fürs Gemeindefest und zur<br />

Unterbringung der ökumenischen Gäste aus dem Ausland.<br />

Doch nach spätestens acht Minuten stellt der Liturg eine ernste Diagnose, in<br />

deren Zeichen der ganze Gottesdienst zu stehen scheint: Gott und <strong>Mensch</strong> haben<br />

schon wieder ein Beziehungsproblem. <strong>Der</strong> <strong>Mensch</strong> <strong>ist</strong> aber auch ... freiheitsbesessen,<br />

anerkennungssüchtig, mit einem notorischen Hang zur Selbstliebe ausgestattet.<br />

Kein Wunder, dass Gott betrübt, beleidigt, gekränkt und zornig sein muss<br />

– zumal, wenn unter der Woche keiner mit ihm redet. Eine schwierige Beziehungsk<strong>ist</strong>e,<br />

die jede Woche zur Durchsicht muss. 2<br />

Dieses Problem kommt gleich im »Vorbereitungsgebet« – in der ›kleinen Evaluation<br />

der Woche‹ – auf den Tisch. Das Ergebnis <strong>ist</strong> jedes Mal dasselbe: <strong>Der</strong><br />

<strong>Mensch</strong> lässt sich sein <strong>Mensch</strong>sein einfach nicht abgewöhnen: Er war die Woche<br />

über wieder zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Er war wieder nicht offen genug<br />

für andere – und hat sich wieder zu wenig um Gott gekümmert. Und was das<br />

Schlimmste <strong>ist</strong>: Er <strong>ist</strong> – wenigstens manchmal – seinem eigenen Willen gefolgt.<br />

Dann waren da noch: Zu viel Sorge um sich selbst und zu wenig Hingabe, zu viel<br />

Rücksicht auf die eigene Person und zu wenig Nachfolge. Man hat immer in der<br />

falschen Angelegenheit zu viel bzw. zu wenig getan oder unterlassen. Dieser »Sieblowa-Komplex«<br />

(Sieblowa = »Sieh bloß, was du angerichtet hast!«) 3 wird in der<br />

Standarderöffnung eines Gottesdienstes sowie im Kyrie, im Fürbittengebet und<br />

beim Abendmahl facettenreich kultiviert.<br />

2 In dieser Hinsicht ähnelt das, was in manch einem Gottesdienst vor sich geht, jener<br />

unfruchtbaren Praxis politischer Parteien, mit der die Agierenden permanent »Personalfragen«<br />

bearbeiten, statt sich den andrängenden alltäglichen Herausforderungen<br />

des gesellschaftlichen Lebens zu stellen.<br />

3 Stereotype Interaktionsmuster, die in bestimmten Kommunikationssituationen zur<br />

Anwendung kommen und den beteiligten Partnern von vornherein bestimmte Rollen<br />

zuweisen, werden in der Transaktionsanalyse Eric Bernes nach einem typischen<br />

Schlüsselsatz benannt, der schlaglichtartig den me<strong>ist</strong> unausgesprochenen Klartext offenlegt.<br />

Vgl. Eric Berne: Spiele der Erwachsenen, Hamburg 8 2006, 109–114.


44 I. Prämissen<br />

Auffälligerweise wird die Perpetuierung dieser Praxis von den Personen, die einen<br />

Gottesdienst leiten, oftmals nicht wahrgenommen, bei kritischen Rückfragen geleugnet<br />

oder als seltene, dem Proprium geschuldete Ausnahme dargestellt. Vielleicht <strong>ist</strong> das<br />

ein Zeichen für die gleichermaßen unbewusste wie unkritische Akzeptanz traditioneller<br />

liturgischer und anthropologischer Muster, denen eine eigene Legitimität jenseits<br />

der Diskurse zeitgenössischer Theologie zugestanden wird. Dabei mag die jahrtausendealte<br />

soziale Funktion der Religion, <strong>Mensch</strong>en zu disziplinieren, eine nicht unwesentliche<br />

Rolle spielen.<br />

Kurz: <strong>Der</strong> <strong>Mensch</strong> – exemplarisch in einem jeden der Gottesdienstbesucher präsent<br />

– hat sich wiederum als eine Zumutung für Gott erwiesen. Es scheint, als sei<br />

das <strong>Mensch</strong>sein des <strong>Mensch</strong>en ein ewiger Dorn im Auge Gottes, das alle acht<br />

Tage versorgt werden muss, um dann wieder in neuem Glanz erstrahlen zu<br />

können.<br />

Aber – so scheint es – zum Glück gibt’s ja Gottesdienste, in denen Gott endlich<br />

wieder zu Wort kommen kann, und dem <strong>Mensch</strong>en die gelbe Karte gezeigt wird.<br />

<strong>Der</strong> <strong>Mensch</strong> <strong>ist</strong> schließlich schuld an der Beziehungsstörung, die nun – mit dem<br />

Pfarrer als Mediator – wieder in Ordnung kommen soll. Nicht, dass der Liturg<br />

sich nicht auch solidarisch zeigen könnte. Sein anteilnehmendes Verständnis gilt<br />

aber in dieser Gottesdiensttradition nicht den Anwesenden, sondern Gott als Leidtragendem<br />

der Woche.<br />

Diese Form der religiösen Praxis des Chr<strong>ist</strong>entums <strong>ist</strong> nicht die einzige, aber<br />

zweifellos eine gängige. 4 Sie <strong>ist</strong> lieblos und theologisch nicht bis zu Ende gedacht.<br />

Sie wird gleichwohl durch ein breites Sortiment bereitgestellter liturgischer Texte<br />

und Lieder gefördert und implizit durch eine ganze Reihe fragwürdiger anthropologischer<br />

Prämissen am Leben erhalten. Dadurch wird in einem großen und wichtigen<br />

Bereich der chr<strong>ist</strong>lichen Glaubenskultur ein Dilemma perpetuiert: Es besteht<br />

darin, dem <strong>Mensch</strong>en sein <strong>Mensch</strong>sein nicht nur vorzuwerfen, sondern ihm darüber<br />

hinaus das Repertoire madig zu machen, das er für sein <strong>Mensch</strong>sein<br />

braucht – zum Beispiel einen eigenen Willen. Dabei gehört es unausweichlich<br />

zur Praxis des <strong>Mensch</strong>seins, Subjekt des eigenen Lebens, Herr im eigenen Haus<br />

zu sein, was ein Sich-Bewähren in Freiheit und eine Kultur der Selbst-Wertschätzung<br />

einschließt – wichtigen Faktoren eines »guten Lebensgefühls«. Wir kommen<br />

darauf zurück.<br />

Ein »schlechtes Lebensgefühl« aber <strong>ist</strong> ein unangemessener Tribut an eine<br />

Religion, zu deren Theologie es doch gehört, <strong>Mensch</strong>en in ihr Leben hinein zu begleiten,<br />

und deren Zentralbegriffe »Freiheit« und »Liebe« sind. Wer sich nach wie-<br />

4 Eine detailliertere Darstellung dieser Praxis findet sich in: <strong>Wilfried</strong> <strong>Engemann</strong>: Vom<br />

Umgang mit <strong>Mensch</strong>en im Gottesdienst. Probleme der impliziten liturgischen Anthropologie,<br />

in diesem Band S. 173–194.


Lebensgefühl und Glaubenskultur<br />

45<br />

derholten Annäherungsversuchen an die kirchliche Praxis des Chr<strong>ist</strong>entums des<br />

Eindrucks nicht erwehren kann, dass die ihm vermittelte Glaubenskultur auf einen<br />

rigorosen Umgang mit sich selbst hinausläuft, wird die entsprechenden Angebote<br />

freilich eher als Bedrohung denn als Einladung empfinden: Die Erfahrung<br />

einer Grenze der Geduld, die Erfahrung aufkeimender Aggression, die Erfahrung<br />

einer D<strong>ist</strong>anz zu <strong>Mensch</strong>en, die man nicht verstehen kann – Stichworte aus der<br />

›Evaluation der Woche‹ –, all das soll man als Form der Gottesverärgerung erkennen<br />

und sich abgewöhnen? Viele <strong>Mensch</strong>en muten sich eine derart penetrante Infragestellung<br />

ihres <strong>Mensch</strong>seins nicht mehr zu. Aber <strong>ist</strong> damit schon besiegelt,<br />

dass sie »religiös unmusikalisch« sind?<br />

Was die verschiedenen Erklärungen oder Entschuldigungen der eigenen ›religiösen<br />

Unmusikalität‹ miteinander verbindet, <strong>ist</strong> der Versuch, das Unbehagen zu beschreiben,<br />

das <strong>Mensch</strong>en empfinden, wenn sie (im Rückblick) der faktischen Wirkung von Religion<br />

in ihrem Leben gewahr werden. Es sind ihre Geschichten eines »Unbehagens in<br />

der Religion«. Daher <strong>ist</strong> es müßig, solche Interpretationen eines bei sich selbst wahrgenommenen<br />

Abstands von der Religion als »falsch« zu qualifizieren, indem man diesen<br />

<strong>Mensch</strong>en etwa ein unzutreffendes bzw. unzureichendes Verständnis von Religion<br />

bescheinigt, dessentwegen sie etwa »nicht richtig erlebt« hätten.<br />

Die religiöse Praxis des Chr<strong>ist</strong>entums <strong>ist</strong> eine Form des <strong>Mensch</strong>seins bzw. der <strong>Mensch</strong>werdung<br />

des <strong>Mensch</strong>en. Sie <strong>ist</strong> um des <strong>Mensch</strong>en willen da, nicht umgekehrt. 5 Sie<br />

hat keinen Selbstzweck und <strong>ist</strong> kein Regelwerk zur Bändigung von Heils- und Unheilshysterien.<br />

Weil sie jedoch genau diesen Eindruck erwecke, so Max Weber<br />

vor etwa 100 Jahren, halte er sich lieber für religiös unmusikalisch, als weitere<br />

Übungsstunden zu nehmen. 6 Wenn nun chr<strong>ist</strong>liche Religion als eine zutiefst menschengemäße<br />

Form der Annäherung an das eigene Leben wahrgenommen würde,<br />

das, von den Ressourcen Freiheit und Liebe gespe<strong>ist</strong>, sogar nach Ewigkeit<br />

schmeckt – wer wollte sich dann noch für religiös unmusikalisch halten?<br />

5 Diese Maxime widerspiegelt sich in Hunderten kleiner Weichenstellungen der Glaubenskultur<br />

der jüdisch-chr<strong>ist</strong>lichen Tradition. Sie reichen von der klarstellenden Funktionsbestimmung<br />

der Sabbatruhe im Alten und Neuen Testament bis hin zu den<br />

Gründen für die Gottesdienstrefor m Lut hers. Welche (zum Beispiel religionspsychologischen)<br />

Gründe dazu führten, dass die Züge der Entwicklung religiöser Praxis trotz<br />

der erwähnten »Weichenstellungen« so oft auf anderen Geleisen rollten, wäre einer eigenen<br />

Untersuchung wert.<br />

6 Die Idee, sich als »religiös absolut ›unmusikalisch‹« zu bezeichnen, geht auf Max<br />

Weber zurück. Vgl. Max Webers Brief an Ferdinand Tönnies vom 19. 2. 1909, in: Max<br />

Weber: Briefe 1909–1910. Gesamtausgabe, Abt. 2, Bd. 6., Tübingen 1994, 63–66. Allerdings<br />

hält Weber in dem gleichen Brief fest, dass er dennoch »weder antireligiös<br />

noch irreligiös« sei (65).


46 I. Prämissen<br />

Bevor diejenigen, die sich theologisch, seelsorglich und in sonstiger Weise für die<br />

Kirche verantwortlich fühlen, darum sorgen, dass scheinbar immer mehr <strong>Mensch</strong>en<br />

vom Glauben abfallen, sollten sie sich gefragt haben, ob sie nicht eine religiöse<br />

Praxis kultivieren, bei der der Glaube vom <strong>Mensch</strong>en abfällt, weil er keinerlei<br />

Anhaltspunkte am <strong>Mensch</strong>sein des <strong>Mensch</strong>en hat. Einen solchen Glauben kann<br />

man nur verlieren. Und es gibt keinen Grund, das zu beklagen.<br />

3. Prämissen und Zwecke religiöser Praxis<br />

in Theologie und Kirche<br />

3.1 Zur Frage nach dem Zweck religiöser Praxis<br />

Im Hinblick auf die Religion nach einem Zweck zu fragen, versteht sich nicht von<br />

selbst. Man kann empirische und theologische Einwände vorbringen. Empirische,<br />

weil sich <strong>Mensch</strong>en – je nachdem, in welcher Familie, Gemeinde oder Region sie<br />

aufwachsen und welche Schule sie besuchen – als religiös erfahren, ohne damit<br />

von vornherein Zwecke zu verfolgen. Sie werden durch Religion an ein Daseinsverständnis<br />

herangeführt, zu dem sie sich früher oder später verhalten: zustimmend,<br />

dankbar, ablehnend, verbittert, trauernd, kränkelnd. Sie bekommen durch<br />

eine bestimmte religiöse Praxis, die sie an Leib, Seele und Ge<strong>ist</strong> erleben, ein Repertoire<br />

dafür vermittelt, ihr Leben zu betrachten, sich zu den anderen und zu<br />

sich selbst in Beziehung zu setzen usw. Aus der Gesamtheit dieser Erfahrung ergibt<br />

sich dann allerdings ein impliziter Zweck dessen, was <strong>Mensch</strong>en jeweils als<br />

»religiös« vermittelt wurde.<br />

Wer sich darüber hinaus von Berufs wegen mit Religion befasst, kann auf<br />

klare Begriffe bezüglich des Zwecks von Religion für die Daseinserfahrung von<br />

<strong>Mensch</strong>en erst recht nicht verzichten. Wie wollte man sonst einem <strong>Mensch</strong>en zur<br />

Seite stehen, der – obwohl unter anderem auch durch seine Partizipation an einer<br />

bestimmten religiösen Praxis psychisch erkrankt – nun gesunden, aber auf Religion<br />

nicht verzichten will?<br />

Theologisch wurde die Frage nach dem Zweck religiöser Praxis unter anderem<br />

mit dem Argument zurückgewiesen, dass der <strong>Mensch</strong> in Fragen des Glaubens<br />

gar nicht vor der Wahl stehe, dieses oder jenes ›durch Religion‹ zu erreichen, sondern<br />

dass es nur um sein Ja oder Nein gegenüber dem Anspruch Gottes an ihn<br />

gehe. Gleichwohl hat die Frage nach dem Zweck religiöser Praxis in der Glaubens-<br />

und Theologiegeschichte faktisch immer eine Rolle gespielt, dreht sie sich<br />

doch um deren Sinn und Gewinn, um ihre Motive – und um die Absichten derer,<br />

die die religiöse Praxis des Chr<strong>ist</strong>entums seelsorglich, liturgisch usw. verantwor-


II. Seelsorgliche<br />

Perspektiven


Aneignung der Freiheit<br />

Lebenskunst und Willensarbeit in der Seelsorge<br />

Zusammenfassung: <strong>Der</strong> vorliegende Beitrag führt einen Dialog zwischen Seelsorge und<br />

Praktischer Philosophie und knüpft damit an die Anfänge der Pastoralpsychologie bei<br />

Oskar Pf<strong>ist</strong>er an. Dabei werden die Hintergründe für die weithin fehlende Integration praktisch-philosophischer<br />

Impulse in die Seelsorge diskutiert. <strong>Der</strong> Aufsatz erörtert, was es<br />

heißt, Lebenskunst ins Blickfeld der Seelsorge zu rücken und an Basiskompetenzen zu arbeiten,<br />

derer es bedarf, um unter vorgegebenen Bedingungen ein nicht vorgegebenes Leben<br />

zu führen. In diesem Zusammenhang spielt die Aneignung eines eigenen Willens eine<br />

wichtige Rolle, die angesichts spezifischer sozialpsychologischer Veränderungen in der<br />

Gesellschaft vor besondere Herausforderung stellt.<br />

1. Basiskompetenzen der Lebenskunst<br />

Es <strong>ist</strong> schon erstaunlich, dass sich die Theorie und Praxis der Seelsorge, die grundsätzlich<br />

auf Beratung um des Lebens willen ausgerichtet <strong>ist</strong>, im Laufe ihrer Geschichte<br />

zwar mit der Psychologie, mit der Soziologie und neuerdings auch mit<br />

den Kulturwissenschaften verschw<strong>ist</strong>ert, aber den Dialog mit der Philosophie<br />

weitgehend gescheut hat. Dabei <strong>ist</strong> doch die Philosophie neben der Theologie diejenige<br />

Disziplin, die sich wie keine andere die fundamentale Frage nach einer<br />

dem <strong>Mensch</strong>en angemessenen Lebensweise zu eigen gemacht hat. <strong>Der</strong> Philosophie<br />

verdanken wir die Idee der kunstvollen Unterredung in Lebensfragen. Praktische<br />

Philosophen sehen es als ihre Aufgabe an, <strong>Mensch</strong>en darin zu unterstützen, leben<br />

zu können.<br />

Wenn sich Seelsorgerinnen und Seelsorger dazu entschließen, Lebenskunst<br />

zum Thema einer Tagung zu machen, <strong>ist</strong> dies ein geeigneter Anlass, den vor<br />

ca. 100 Jahren abgerissenen Dialog zwischen (Praktischer) Theologie und (Praktischer)<br />

Philosophie – zwischen Seelsorge in chr<strong>ist</strong>lichem und philosophischem<br />

Kontext – wieder aufzunehmen. Anknüpfungspunkte für diesen Dialog gibt es<br />

mehr als genug. Zu ihnen gehört die in der jüdisch-chr<strong>ist</strong>lichen wie in der philosophischen<br />

Tradition gleichermaßen beheimatete Kultur der Ausein<strong>anders</strong>etzung<br />

des <strong>Mensch</strong>en mit sich selbst. Γνῶθι σεαυτόν – Erkenne dich selbst! –, lautet der


66 II. Seelsorgliche Perspektiven<br />

Wahlspruch der sokratischen Philosophie. Μετανοεῖτε – Denkt radikal um, besinnt<br />

euch, macht von eurem µετα-νοῦς, von eurem Meta-Verstand Gebrauch! –, so<br />

klingt es im Umkehrruf des Chr<strong>ist</strong>entums der Spätantike. Überdies gibt es eine<br />

Fülle philosophisch-theologischer Parallelen im Bemühen um die Lebenskunst,<br />

auf die ich hier nicht im Detail eingehen möchte. 1<br />

Dabei wäre auch an Jesus aus Nazareth zu erinnern, der mit seinem Evangelium<br />

nicht nur etwas zum Glauben, sondern auch etwas zum Verstehen bietet,<br />

das dem Leben dienen soll, eine Lebens-Kunde. Und wie es sich für eine ordentliche<br />

»Kunde« gehört, wird sie in philosophischer Manier gelehrt, u. a. im Gespräch.<br />

Jesus macht das Lehren zu seiner Hauptbeschäftigung. 2 Sein Motto lautet: »Ich<br />

lebe – und ihr sollt auch leben« (Joh 14,19). Was das heißt und wie das geht, versteht<br />

sich nicht von selbst. Um das zu können, muss man ein paar Dinge wissen:<br />

»Niemand lebt davon, dass er viele Güter hat« (Lk 12,15). »Selig sind, die sich ihr<br />

Leben nicht vom Zeitge<strong>ist</strong> diktieren lassen – das Himmelreich gehört ihnen« (Mt<br />

5,6). »Wer sein Leben für sich allein haben will, der wird’s verlieren; wer zulässt,<br />

dass es sich verbraucht, der wird’s gewinnen« (Joh 12,25). »Wer in seinem Leben<br />

zuerst nach dem Reich Gottes und seiner Gerechtigkeit trachtet, wird mit dem<br />

Übrigen gut zu Rande kommen« (Mt 6,33).<br />

Es gibt einen Durchbruch ins eigene Leben, der nicht unmittelbar auf Erlösung<br />

oder Heilung zurückzuführen <strong>ist</strong>, sondern auf die Vermittlung einer Lebenskunde,<br />

die darauf zielt, Spielräume wahrzunehmen, von denen man gar nicht wusste,<br />

dass man sie hat. <strong>Mensch</strong>en fangen an, sich und ihre Ex<strong>ist</strong>enz neu zu verstehen<br />

und aus jenem Meta-Verstand 3 heraus zu leben, für den die Seligpreisungen und<br />

andere Lebensweisheiten nicht das Ende der Vernunft, sondern Paradoxien gelingenden<br />

Lebens sind. Sofern solches Lehren auch in der Seelsorge seinen Ort hat,<br />

könnte man von einer Lehrdimension oder philosophischen Dimension der Seelsorge<br />

sprechen.<br />

1 Näheres dazu in: <strong>Wilfried</strong> <strong>Engemann</strong>: Die Lebenskunst und das Evangelium. Über<br />

eine zentrale Aufgabe kirchlichen Handelns und deren Herausforderung für die Praktische<br />

Theologie, in: ThLZ, 129. Jg., 2004, H. 9, 875‒896, bes. 875‒879. Über die dort<br />

genannten Beispiele hinaus wäre insbesondere auf die Analogie zwischen philosophischer<br />

und religiöser Lebenspraxis, z. B. zwischen Meditation und Gebet, zu verweisen.<br />

2 54-mal wird im Neuen Testament erwähnt, dass Jesus lehrte (ἐδίδασκεν). Wenn in der<br />

Pastoraltheologie die Lehre Jesu in den Blick genommen wurde, wurde sie zume<strong>ist</strong> als<br />

Ausrichtung der Botschaft an die Seele (!) dargestellt. So z. B. bei Eduard Thurneysen:<br />

Seelsorge und Psychotherapie, in: Volker Läpple/Joachim Scharfenberg (Hg.): Psychotherapie<br />

und Seelsorge, Darmstadt 1977, 137‒158, 151. Angesichts der Tatsache, dass<br />

die Botschaft Jesu auf radikales Umdenken (µετάνοια) zielt und dem <strong>Mensch</strong>en auch<br />

sich selbst neu zu verstehen gibt, <strong>ist</strong> dies eine deutliche funktionale Verkürzung.<br />

3 Von hier aus ließe sich eine ex<strong>ist</strong>entiale Hermeneutik zum Verständnis des »Heiligen<br />

Ge<strong>ist</strong>es« entfalten.


Aneignung der Freiheit<br />

67<br />

<strong>Der</strong> Bezug auf die Lehrdimension der chr<strong>ist</strong>lichen Religion <strong>ist</strong> in diesem Kontext<br />

kein Symptom für einen neuerlichen neokerygmatischen Schwächeanfall der Seelsorge,<br />

sondern trägt der Tatsache Rechnung, dass Ungeübtheit in Fragen der<br />

Selbsterkenntnis, Ratlosigkeit angesichts widerstreitender Wünsche oder unsinnige<br />

Vorstellungen von einem erfüllten Leben keine Krankheiten sind. 4 Ungekonnte<br />

Lebensführung bedarf nicht der Heilung oder Linderung, auch nicht einfach<br />

der Vergebung, sondern einer das Leben betrachtenden Unterredung mit<br />

dem Ziel, es führen zu können. Dazu gehört es, die Selbsterkenntnis und damit<br />

die Urteils- und Entscheidungsfähigkeit eines <strong>Mensch</strong>en zu stärken, ihm zu helfen,<br />

seine Wünsche zu bewerten und sich einen Willen anzueignen, um leben zu<br />

können.<br />

Vor diesem Hintergrund ergeben sich vielfältige Möglichkeiten, die Theorie und<br />

Praxis der Seelsorge im Dialog mit der Praktischen Philosophie weiterzuentwickeln.<br />

Angefangen bei der erwähnten Kultur der kritischen Selbstwahrnehmung<br />

über gemeinsame Grundelemente sokratisch-philosophischer und seelsorglicher<br />

Gespräche bis hin zu der einzigartigen, fast singulären Gesprächskultur der Gemeinde<br />

als privilegiertem Lernort für die ars vivendi et moriendi, um nur einige<br />

Möglichkeiten zu nennen.<br />

Eine Möglichkeit, diesen Dialog wieder zum Leben zu erwecken, besteht darin,<br />

die Frage nach der Bedeutung des Willens für das Leben eines <strong>Mensch</strong>en zu stellen.<br />

Mit dieser Frage rückt ein Thema in den Blick, das in der Philosophie viel<br />

diskutiert, vom Protestantismus verworfen und vergessen wurde und in der Seelsorge<br />

aus dem Blick geraten <strong>ist</strong>. Für Oskar Pf<strong>ist</strong>er, den Begründer der Pastoralpsychologie,<br />

war die Beschäftigung mit dieser Frage so wichtig, dass er ihr ein eigenes<br />

Buch widmete. 5 Darin erläutert er, was es heißt, wenn ein <strong>Mensch</strong> unter<br />

Berücksichtigung seiner äußeren Lebensumstände 6 und seiner inneren, persönlichkeitsspezifischen<br />

Konditionen 7 darum bemüht <strong>ist</strong>, sich mit seinen Gefühlen<br />

4 Vorüberlegungen dazu in: <strong>Wilfried</strong> <strong>Engemann</strong>: Lebenskunst als Beratungsziel. Zur Bedeutung<br />

der Praktischen Philosophie für die Seelsorge der Gegenwart, in: Michael<br />

Böhme u. a. (Hg.): Entwickeltes Leben. Neue Herausforderungen für die Seelsorge. FS<br />

für Jürgen Ziemer, Leipzig 2002, 95‒125.<br />

5 Oskar Pf<strong>ist</strong>er: Die Willensfreiheit. Eine kritisch-systematische Untersuchung, Zürich<br />

1904. In diesem Buch legt Pf<strong>ist</strong>er eine Theorie der Willensfreiheit vor, die die falsche<br />

Alternative zwischen natural<strong>ist</strong>ischem Determinismus und radikalem Indeterminismus<br />

überwindet. Pf<strong>ist</strong>er erörtert die Prinzipien des natural<strong>ist</strong>ischen Determinismus<br />

auch anhand physiologischer Forschungsergebnisse. Seine subtile, unpolemische Kritik<br />

hat angesichts der neo-determin<strong>ist</strong>ischen, philosophisch ummantelten Thesen aus<br />

dem Bereich der Hirnforschung nichts an Aktualität verloren (a. a. O., 130).<br />

6 A. a. O., 29‒115.<br />

7 Vgl. a. a. O., 2f., 8, 10, 27f., 135 sowie 115‒223.


68 II. Seelsorgliche Perspektiven<br />

und Wünschen auseinanderzusetzen 8 und darin zu üben, etwas zu wollen. Dabei<br />

entwickelt er die Idee eines »organischen Determinismus«, wonach ein Wille –<br />

um mein Wille zu sein – mit dem Rest meiner Person verbunden und auf die Umstände<br />

bezogen sein muss, in denen ich lebe. 9<br />

Warum sollten wir uns in der Seelsorge mit solchen Fragen beschäftigen? Ein<br />

Grund dafür wäre, dass die Frage nach dem Willen eines <strong>Mensch</strong>en im Kern die<br />

Frage nach seiner Identität berührt. »<strong>Der</strong> Wille« – so Pf<strong>ist</strong>er – »<strong>ist</strong> meine im Wollen<br />

sich betätigende Persönlichkeit.« 10 Wenn wir etwas ganz aus unserem Willen<br />

heraus tun, wenn es, wie wir zu sagen pflegen, »ganz nach uns geht«, wenn wir für<br />

unser Verhalten aus freien Stücken Gründe geltend machen, die ausschlaggebend<br />

sind für unser Wollen, dann sind wir zugleich in besonderem Maße bei uns selbst –<br />

und können uns in unserem Wollen wiedererkennen. Ein <strong>Mensch</strong> weiß Wesentliches<br />

über sich selbst, wenn er weiß, was er will und welche Gründe er für diesen Willen<br />

hat. Auf diese Weise kann er zugleich Rechenschaft über sein Tun und Lassen ablegen.<br />

Es sei denn, wir müssen einem <strong>Mensch</strong>en aus ganz bestimmten Gründen,<br />

etwa, weil er den Verstand verloren hat, seine Berechenbarkeit absprechen, also<br />

seine Fähigkeit, etwas aus Gründen zu wollen und aus Einsicht zu handeln.<br />

Ein anderer Grund für die Beschäftigung mit dem Willen in der Seelsorge <strong>ist</strong><br />

seine Bedeutung für die Frage nach der Freiheit. »Persönliche Freiheit« und »Willensfreiheit«,<br />

so auch das Résumé Pf<strong>ist</strong>ers, 11 gehören zusammen, sofern wir Freiheit<br />

nicht nur als Freiheit von etwas, sondern auch als Freiheit zu etwas verstehen,<br />

gespe<strong>ist</strong> von der Erfahrung, dass wir Urheber unseres Handelns sind und unsere<br />

Zukunft als offen erleben. 12 Wenn wir als Subjekt in Erscheinung treten, lassen<br />

wir uns in unserem Handeln von unserem Willen bestimmen; und wir sind unglücklich,<br />

verzweifelt, verzagt – und erfahren uns als unfrei –, wenn uns das<br />

nicht glückt. Je besser es uns gelingt, umso mehr gewinnen wir Anteil an unserer<br />

Gegenwart, umso mehr haben wir den Eindruck, unser Leben zu leben, umso<br />

mehr Leidenschaft kommt in unser Leben, umso freiere <strong>Mensch</strong>en sind wir. – Je<br />

besser »es« uns gelingt? Was <strong>ist</strong> dieses »es«, das es zu können gilt?<br />

Wir könnten es Basiskompetenzen der Lebenskunst nennen und damit folgende<br />

Fähigkeiten in den Blick nehmen: Das Sondieren von Wünschen, das Wahrnehmen<br />

8 A. a. O., bes. 119‒122, 130.<br />

9 Vgl. a. a. O., 138, 141. Was Pf<strong>ist</strong>er als »organischen Determinismus« bezeichnet, we<strong>ist</strong><br />

viele Ähnlichkeiten zu dem von Peter Bieri etwa 100 Jahre später entfalteten Konzept<br />

der »bedingten Freiheit« auf. Vgl. Peter Bieri: Das Handwerk der Freiheit. Über die<br />

Entdeckung des eigenen Willens, München/Wien 2001, 27‒151.<br />

10 Oskar Pf<strong>ist</strong>er: Die Willensfreiheit, a. a. O. (s. o. Anm. 5), 136.<br />

11 Vgl. a. a. O., 12, 29.<br />

12 Weil der Gebrauch des eigenen Willens »Selbsttäterschaft« impliziert, <strong>ist</strong> es für Pf<strong>ist</strong>er<br />

auch aus ethischen Gründen wichtig, die organische »Kausalität des Willens«, d. h.<br />

den Zusammenhang mit der ganzen Person, zu festigen (vgl. a. a. O., 147).


Aneignung der Freiheit<br />

69<br />

von Spielräumen und ihrer Grenzen, das Bilden von Entscheidungen, die Parteinahme<br />

für einen Wunsch, der auf diese Weise die Qualität eines Willens erhält,<br />

das Abwägen von Möglichkeiten, einem Willen Gestalt zu geben, das Ergreifen<br />

der Initiative, das Heraustreten aus dem Prozess des Überlegens in den des Handelns.<br />

Solche Basiskompetenzen setzen einiges voraus, was durch die Inanspruchnahme<br />

von Seelsorge und Beratung praktiziert, erworben und gefestigt werden<br />

kann: Ausreichendes Wissen über sich selbst, Selbstwahrnehmung und Selbst -<br />

erkenntnis, aber auch schöpferische Phantasie, die man braucht, um die Entwicklung<br />

von Vorstellungen über die eigene Zukunft im gemeinsamen Gespräch entfalten<br />

zu können, und – last but not least – die Aneignung eines eigenen Willens.<br />

Darunter versteht der Philosoph Peter Bieri die »Gesamtheit der Dinge, die man<br />

unternehmen kann«, um aus einem Willen zu leben, den man nicht als fremd<br />

empfindet, sondern aus einem Willen, den man haben möchte, mit dem man sich<br />

identifizieren kann. 13<br />

Es <strong>ist</strong> kein Geheimnis, dass man damit Probleme haben kann. Sie manifestieren<br />

sich in dem Eindruck, unter Zwängen zu handeln, in Erwartungslosigkeit gegenüber<br />

der eigenen Zukunft – oder darin, dass <strong>Mensch</strong>en ihr Verhalten als fremd<br />

erleben: »Das wollte ich nicht.« »Ich hatte keine Wahl.« »Ich tat es gegen meinen<br />

Willen.« Mit solchen Sätzen drücken wir aus, dass unser Tun und Lassen nicht<br />

mit unserem Selbst zusammenstimmt. – Hat das mit Schwierigkeiten hinsichtlich<br />

jener Basiskompetenzen der Lebenskunst zu tun? Die Antwort auf diese Frage<br />

setzt voraus, den Begriff der Lebenskunst etwas genauer zu fassen.<br />

2. Neugier auf das Selbst. Die schöne Kunst zu leben<br />

Meine Arbeitshypothese lautet: Lebenskunst <strong>ist</strong> die Kunst, unter vorgegebenen<br />

Bedingungen ein nicht vorgegebenes Leben zu führen, indem ich in Ausein<strong>anders</strong>etzung<br />

mit meinen Möglichkeiten und Grenzen einerseits und meinen Wünschen<br />

andererseits einen Spielraum erkenne und auf der Basis eigener Urteile freie Entscheidungen<br />

treffe, die meinen Willen widerspiegeln und mich in meinem Verhalten<br />

bestimmen. Die Ausübung dieser Kunst <strong>ist</strong> mit einem intensiven Erleben<br />

der Gegenwart verbunden und ermöglicht ein Leben aus Leidenschaft. 14 – Schauen<br />

wir uns die Elemente dieser Definition etwas genauer an:<br />

1. Die vorgegebenen Bedingungen: Lebenskunst hat damit zu tun, in Kenntnis<br />

meiner Grenzen zu leben. Was je in meinem Leben je durch mich geschehen<br />

13 Peter Bieri: Das Handwerk der Freiheit, a. a. O. (s. o. Anm. 9), 383f.<br />

14 Vgl. zum Folgenden die »Idee einer Handlung« nach Peter Bieri, a. a. O., 31‒36.


<strong>Wilfried</strong> <strong>Engemann</strong>, Dr. theol., Jahrgang 1959, <strong>ist</strong><br />

Professor für Praktische Theologie am Institut für<br />

Praktische Theologie und Religionspsychologie der<br />

Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität<br />

Wien. Zu seinen Schwerpunkten gehören u. a. die<br />

semiotische und psychologische Erforschung theologischer<br />

und religiöser Kommunikationsprozesse,<br />

die Verknüpfung seelsorglicher, homiletischer und<br />

liturgischer Konzepte mit Fragen der Lebenskunst<br />

sowie – auf der Suche nach einer <strong>Mensch</strong>en gerecht<br />

werdenden, interdisziplinär stimmigen Anthropologie<br />

– die Analyse und Kritik des <strong>Mensch</strong>enbildes<br />

in Theologie und Kirche. Er <strong>ist</strong> Autor und Herausgeber<br />

zahlreicher Schriften, die zum Teil auch in<br />

verschiedene Sprachen übersetzt vorliegen.<br />

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek<br />

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der<br />

Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten<br />

sind im Internet über http://dnb.de abrufbar.<br />

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Das Werk einschließlich aller seiner Teile <strong>ist</strong> urheberrechtlich geschützt.<br />

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Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung<br />

und Verarbeitung in elektronischen Systemen.<br />

Das Buch wurde auf alterungsbeständigem Papier gedruckt.<br />

Cover: makena plangrafik, Leipzig/Zwenkau<br />

Satz: Steffi Glauche, Leipzig<br />

Druck und Binden: BELTZ Grafische Betriebe GmbH, Bad Langensalza<br />

ISBN 978-3-374-07607-9 // eISBN (PDF) 978-3-374-07608-6<br />

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