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Jennifer Wasmuth| Frank Zeeb: Ökumenische Herausforderungen der Lutherforschung (Leseprobe)

Zu ökumenischen Dialogen gehört es, sich der je eigenen Tradition bewusst zu sein, da nur so ein »differenzierender Konsens« möglich ist. Beides gehört zu den Grundprinzipien ökumenischer Arbeit, wie sie im Institut für Ökumenische Forschung in Straßburg entwickelt wurden und manche der ökumenischen Fortschritte der letzten Jahrzehnte erst ermöglicht haben. In diesem Sinne widmet sich die Festgabe für Theodor Dieter, den langjährigen Direktor des Instituts, den ökumenischen Herausforderungen gegenwärtiger Lutherforschung. Namhafte internationale Expertinnen und Experten vor allem aus Deutschland und den USA tragen aus ihrer Sicht aktuelle Forschungsergebnisse und ökumenische Gesichtspunkte zu diesem Band bei, der auf eine Tagung am Straßburger Institut im März 2022 zurückgeht.

Zu ökumenischen Dialogen gehört es, sich der je eigenen Tradition bewusst zu sein, da nur so ein »differenzierender Konsens« möglich ist. Beides gehört zu den Grundprinzipien ökumenischer Arbeit, wie sie im Institut für Ökumenische Forschung in Straßburg entwickelt wurden und manche der ökumenischen Fortschritte der letzten Jahrzehnte erst ermöglicht haben. In diesem Sinne widmet sich die Festgabe für Theodor Dieter, den langjährigen Direktor des Instituts, den ökumenischen Herausforderungen gegenwärtiger Lutherforschung. Namhafte internationale Expertinnen und Experten vor allem aus Deutschland und den USA tragen aus ihrer Sicht aktuelle Forschungsergebnisse und ökumenische Gesichtspunkte zu diesem Band bei, der auf eine Tagung am Straßburger Institut im März 2022 zurückgeht.

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<strong>Jennifer</strong> Wasmuth | <strong>Frank</strong> <strong>Zeeb</strong> (Hrsg.)<br />

ÖKUMENISCHE<br />

HERAUSFORDERUNGEN<br />

DER LUTHERFORSCHUNG


Vorwort<br />

Theodor Dieter war über mehrere Jahrzehnte als Forschungsprofessor und Direktor<br />

am Institut für <strong>Ökumenische</strong> Forschung in Strasbourg tätig und hat die<br />

Arbeit des Instituts in dieser Zeit maßgeblich geprägt. Im Wissen um sein bevorstehendes<br />

70-jähriges Geburtstagsjubiläum gab es am Institut verschiedene<br />

Überlegungen, wie sein Leben und sein Werk angemessen gewürdigt werden<br />

können. In Hinblick auf dieThemenwahl wurde schnelldeutlich, dass es um eine<br />

Verbindung dessen gehen muss, was ihn bis heute als Forscherpersönlichkeit<br />

auszeichnet und was für sein kirchliches Engagement bestimmend ist: wegweisende<br />

Beiträge auf dem Gebiet <strong>der</strong> <strong>Lutherforschung</strong> einerseits, eine intensive<br />

Beteiligung an verschiedenen ökumenischen Dialogen an<strong>der</strong>erseits. Das Oberthema<br />

ergab sich von diesen beiden Schwerpunkten her wie von selbst und<br />

mündete in die Titelformulierung: »<strong>Ökumenische</strong> <strong>Herausfor<strong>der</strong>ungen</strong> <strong>der</strong> <strong>Lutherforschung</strong>«.<br />

Um dieses Thema zu erschließen, bot sich am ehesten eine Veranstaltung<br />

an, die nicht nur auf die Präsentation neuester wissenschaftlicher<br />

Ergebnisse zielte, son<strong>der</strong>n eine lebendige Rede und Gegenrede erlaubte – wie<br />

auch Theodor Dieter als einem akribischen Quellenforscher immer an einem<br />

regen Austausch mit an<strong>der</strong>en Forschern gelegen war. Als Veranstaltungsform<br />

wurde deshalb ein Symposium gewählt, dessen Beiträge in dem vorliegenden<br />

Sammelband nun in teils leicht überarbeiteter Form veröffentlicht sind.<br />

Das Symposium war ursprünglich für das Jubiläumsjahr 2021 geplant und<br />

sollte im Château Klingenthal stattfinden, das sich als Tagungsort bereits vielfach<br />

bewährt hatte. Aufgrund <strong>der</strong> Corona-Pandemie musste es dann jedoch verschoben<br />

werden und fand schließlich vom 22.–25. März 2022 statt – nun nicht mehr<br />

im Château Klingenthal, son<strong>der</strong>n als Hybridveranstaltung in den Räumen des<br />

Instituts für <strong>Ökumenische</strong> Forschung in Strasbourg. Dem Symposium hat das<br />

insgesamt jedoch keinen Abbruch getan, den hier gehaltenen, ausnahmslos<br />

höchst anregenden Referaten folgte jeweils eine lebendige Diskussion.<br />

Das Symposium hätte in dieser Form nicht stattfinden können, wenn nicht<br />

die Bereitschaft dagewesen wäre, sich auf die vorgeschlagenen Themen einzulassen<br />

und Referate auszuarbeiten. Dass die Einladung zum Symposium oft


6 Vorwort<br />

prompt mit einer Zusage beantwortet wurde, darin sehen wir als Organisatoren<br />

des Symposiums einen Ausdruck <strong>der</strong> beson<strong>der</strong>en Wertschätzung von Theodor<br />

Dieter und seinem Wirken am Institut für <strong>Ökumenische</strong> Forschung, für die wir<br />

sehr dankbar sind. Ohne die großzügige finanzielle Unterstützung <strong>der</strong> Thyssen-<br />

Stiftung wäre das Symposium nicht möglich gewesen, weshalb auch ihr unser<br />

beson<strong>der</strong>er Dank gilt. Schließlich danken wir <strong>der</strong> VELKD, dem DNK/LWB, dem<br />

Lutherischen Weltbund und<strong>der</strong> Evangelischen Landeskirche in Württemberg für<br />

großzügige Druckkostenzuschüsse.<br />

Theodor Dieter, von dem auch wir selbst viele wichtige Impulse sowohl in<br />

Hinblick auf neuere Entwicklungen in <strong>der</strong> <strong>Lutherforschung</strong> als auch ein vertieftes<br />

Verständnis von Ökumene erhalten haben, möchten wir mit dieser Festgabe<br />

danken und ihm Gottes Segen für seinen weiteren Lebensweg wünschen.<br />

Göttingen und Strasbourg, den 3. Januar 2024<br />

<strong>Jennifer</strong> Wasmuth und <strong>Frank</strong> <strong>Zeeb</strong>


Inhalt<br />

Vorwort .................................................. 5<br />

Teil I: Beiträge zur <strong>Lutherforschung</strong><br />

Florian Bruckmann<br />

Selbst-Gabe: Eucharistie in nachmetaphysischer Zeit ................ 13<br />

Bo Kristian Holm<br />

Reziprozität im Rechtfertigungsgeschehen? ....................... 31<br />

Frie<strong>der</strong>ike Nüssel<br />

Geschenkte Reziprozität<br />

Luthers Kritik am Messopfer im Licht des Gabediskurses ............ 47<br />

Martin Wendte<br />

Wirklichkeit als ansprechende Gabe und als Resonanzraum<br />

Die umfassende Abendmahlstheologie des späten Luther – im Gespräch<br />

mit Jean-Luc Marion und Hartmut Rosa .......................... 63<br />

Gunther Wenz<br />

Strittiges Schriftprinzip<br />

Zur Geschichte und Systematik einer Kontroverse .................. 81<br />

Robert Kolb<br />

Gegenwärtige Perspektiven zu Luthers Schriftauslegung ............. 103<br />

Irene Dingel<br />

Konfliktstrategien zur Bewältigung von Lehrdifferenzen im Luthertum<br />

des 16. Jahrhun<strong>der</strong>ts<br />

Ein Blick auf die Bekenntnisentwicklung ......................... 125<br />

Volker Leppin<br />

Zwischen konfessioneller Selbstvergewisserung und ökumenischer<br />

Legitimation<br />

Zur Verschränkung historischer Methodik und theologischer Motive in<br />

<strong>der</strong> <strong>Lutherforschung</strong> ........................................ 139


10 Inhalt<br />

Klaus Unterburger<br />

Zum gegenwärtigen Stand katholischer <strong>Lutherforschung</strong> ............. 155<br />

Timothy J. Wengert<br />

<strong>Lutherforschung</strong> in den USA: Ein Kurzbericht ..................... 181<br />

Walter Sparn<br />

Zur Aufgabe ökumenisch-lutherischer Theologie heute .............. 197<br />

Teil II: Theodor Dieter – Würdigungen und Grußworte<br />

Peter De Mey<br />

Laudatio anläßlich <strong>der</strong> Verleihung <strong>der</strong> Ehrendoktorwürde <strong>der</strong> Universität<br />

Leuven (BE) am 15. Februar 2017 .............................. 209<br />

Matthieu Arnold<br />

Theodor Dieter als Kirchenhistoriker ............................ 213<br />

Grußworte ................................................ 219<br />

Anhang<br />

Veröffentlichungen von Theodor Dieter .......................... 235<br />

Abkürzungsverzeichnis ...................................... 245<br />

Verzeichnis <strong>der</strong> Autorinnen und Autoren ......................... 249


Teil I: Beiträgezur<br />

<strong>Lutherforschung</strong>


Selbst-Gabe: Eucharistie in<br />

nachmetaphysischer Zeit<br />

Florian Bruckmann<br />

Die Feier <strong>der</strong> Eucharistie gibt zu denken; jedenfalls gibt es einige, die über sie<br />

nachdenken und dies im Horizont von an<strong>der</strong>en, fachexternen Denkbewegungen<br />

tun. Die vorliegendenAusführungen beginnen mit einigen Vorbemerkungen, um<br />

dann das, was sich im »Gebungs-Geschehen« <strong>der</strong> Eucharistie zeigt, vor dem<br />

Hintergrund des phänomenologischen Gabe-Diskurses zu beleuchten. Dies gelingt<br />

nur, indem zuerst das Verhältnis von Phänomenologie und Metaphysik<br />

geklärt wird. Danach hilft uns das Gabe-Denken, Eucharistie jenseits überkommener<br />

Denkmuster zu versprachlichen. Im Anschluss wird die Fruchtbarkeit des<br />

Gabe-Denkens im Hinblick auf die Opfer-Terminologie dargelegt und in seiner<br />

ökumenischen Relevanz geprüft.<br />

0. Vorbemerkungen<br />

0.1 Denken im Grenzgebiet<br />

Gesagtes,Gedachtes, Geschriebenes ist in hohem Maße abhängig von dem Ort, an<br />

dem es gesagt, gedacht, geschrieben, gehört, verstanden bzw. missverstanden<br />

wird. Ich hörein<strong>der</strong> Oper an<strong>der</strong>s als im Gemeindesaal meiner Vorstadtkirche; ich<br />

rede auf dem Friedhof an<strong>der</strong>s als im Fußballstadion; ich denke am Strand an<strong>der</strong>s<br />

als im Gefängnis. Orte sind also konstitutiv für das Gesagte und Verstandene.<br />

Was macht Strasbourg als Ort aus? Wir wissen hier nicht, ob wir Deutsch<br />

o<strong>der</strong> Französisch sprechen sollen – ici, on ne sait pas, faut-il parler allemand ou<br />

français? Vielleicht müssten und sollten wir hier Französisch sprechen, denn<br />

Strasbourg liegt in einem Landstrich, in dem beide Sprachen gängig sind und<br />

verstanden werden. Esist bekannt, dass das Elsass und mit ihm die Stadt<br />

Strasbourg immer wie<strong>der</strong> in die Kriege zwischen <strong>Frank</strong>reich und Deutschland<br />

verwickelt waren – ähnliches gilt von Flensburg, dem Standort meiner Universität,<br />

das bald dänisch, bald deutsch war. Um die kriegerischen Auseinan<strong>der</strong>setzungen<br />

sind beide Städte, Strasbourg und Flensburg, nicht zu beneiden; umso


14 Florian Bruckmann<br />

schöner ist es, heute in einer mindestenszweisprachigen Gemeinde zu leben und<br />

die Früchte des kulturellen Austausches genießen zu können.<br />

0.2 Ökumenesensibel<br />

Wenn wir im Folgenden einige Überlegungen zur Fragestellung <strong>der</strong> Gabe vortragen,<br />

dann steht dies vermeintlich unter einem schlechten Vorzeichen. Die<br />

Aussage: »Kirche des Wortes – Kirche des Sakramentes« birgt viele Missverständnisse.<br />

Man könnte nun meinen, dass die Gabe eindeutig zur »Kirche des<br />

Sakramentes« – also zum Katholizismus – gehört und wir mit dem Rekurs auf die<br />

Gabe einen ur-, wenn nicht gar erzkatholischen Diskurs in das Luthertum bzw.<br />

die protestantischenKirchen (ein)tragen wollen. Nichts liegt uns ferner. Auf <strong>der</strong><br />

einen Seite ist das angesprochene Diktum von <strong>der</strong> »Kirche des Wortes« und <strong>der</strong><br />

»Kirche des Sakramentes« viel zu grobschlächtig, um unsere facetten- und traditionsreichen<br />

Kirchen zu verstehen. Natürlich kennen auch die protestantischen<br />

Kirchen nicht nur Sakramente,son<strong>der</strong>n auch das, was wir gewöhnlich als »Geste«<br />

bezeichnen; die protestantischen Kirchen kennen die Taufe mit Wasser, das<br />

Abendmahl, in dem Brot und Wein gereicht und empfangen werden, den Segen<br />

mit den erhobenen Händen etc. Und auch die römisch-katholische Kirche ist<br />

natürlich nicht wortlos, son<strong>der</strong>nbedarf vieler Worte undbedient sich ihrer nicht<br />

nur in <strong>der</strong> Predigt und im Jesuitentheater. Wenn es im Folgenden also um die<br />

Gabe geht, dann geht es nicht einfach um ein Ding, ein namenloses Etwas,<br />

son<strong>der</strong>n um dieBedeutung,umden Sinn, den ein Ding haben kann o<strong>der</strong> hat. Wir<br />

Menschen sind in <strong>der</strong> Lage, Dinge sprechen zu lassen und in unterschiedlichen<br />

Situationen je unterschiedlich zu verstehen und deuten. Ein Stein kann unbedacht<br />

am Strand liegen und hier einfach nichts bedeuten; er kann im Mittelpunkt<br />

eines Zen-Gartens liegen und hier eine Insel darstellen, er kann zum Geschenk<br />

werden unduns Freude bereiten, wenn wir ihn finden und uns an ihm ergötzen;<br />

ein Stein kann zur Waffe werden o<strong>der</strong> ein Briefbeschwerer sein. Ein Stein ist also<br />

bedeutungsvoll und wandlungsfähig. Andiesem Punkt ist eine kurze Pause<br />

geboten, denn wir kommen auf das weite Feld von sacrum und signum: Sacramentum<br />

id est sacrum signum. Ist das Sakrament Zeichen des Heils, bezeichnet<br />

und bewirkt es das Heil und wie hängt dies mit den heiligenZeichen zusammen?<br />

Bewirkt etwa das Sprechen <strong>der</strong> Worte, dass das Brot nicht mehr einfach Brot<br />

ist, son<strong>der</strong>n Zeichen <strong>der</strong> Gegenwart Christi und diese im Glaubenden bewirkt<br />

o<strong>der</strong> noch einmal ganz an<strong>der</strong>s diesem zum Unheil wird, wenn er ohne Reue und<br />

Umkehr davon isst (vgl. 1. Korinther 11,27 f.)? Wahrscheinlich könnte uns an<br />

diesem Punkt Notger Slenczka weiterhelfen, denn bei ihm haben wir viel über die<br />

verwickelte Geschichte von Zeichen und Bedeutung gelernt. Im Kontext <strong>der</strong> Gabe<br />

wollen wir an diesem Punkt einen Vorschlag aufgreifen, den Franz-Josef Nocke<br />

bereits 1983 gemacht hat. Damals war die Symboltheologie in aller Munde, je-


Selbst-Gabe: Eucharistie in nachmetaphysischer Zeit 15<br />

denfalls in katholischen Kreisen. Franz-Josef Nocke schlägt vor, Sakramente als<br />

Gesten zu verstehen. Auch bei ihm ist dieser Vorschlag kein Gegenvorschlag<br />

zu einer Theologie des Wortes o<strong>der</strong> <strong>der</strong> performativen Worte, es geht vielmehr<br />

darum, wie eine inwendige Realität zum Ausdruck kommt, gleichsam ins Wort.<br />

Es liegt hier – wie<strong>der</strong> einmal – <strong>der</strong> eigentümliche Umstand zu Grunde, dass <strong>der</strong><br />

Mensch ein leibhaftiges Wesen ist und Unausgesprochenes und vielleicht sogar<br />

Unaussprechliches in einer Geste verleiblichen kann. Etwas zuallererst Leibliches<br />

– eineBerührung, ein Schlag, ein Kuss – wird zum Ausdruck von etwas, das<br />

nicht leiblich ist. In diesem Sinne gleichen sich Wort und Geste: Beide drücken<br />

etwas aus, beide sind leibhaftig und bedürfen <strong>der</strong> plumpen Materie, um zum<br />

Ausdruck werden zu können: Das Wort brauchtdie Luft – im luftleeren Raum ist<br />

es nicht zu hören – und die Geste bedarf des Leibes – ohne ihn kann sie nicht<br />

ausgeführt werden. Wir zitieren kurz Franz-Josef Nocke, um diese Verflechtung<br />

von Sinn und Materie im Leibhaftigen genauer festzuhalten; es folgt ein kurzer<br />

Abschnitt aus seinem Aufsatz und so werden drei Aspekte eingefangen, die uns<br />

in diesem Zusammenhang wichtig sind: 1. Die Einladung zu einem Essen ist eine<br />

Geste undschafftVertrauen; 2. Gesten haben keinen praktischen Nutzen, sie sind<br />

zwecklos und umsonst; 3. Gesten sind Vollzug <strong>der</strong> leibhaftigen Existenz des<br />

Menschen:<br />

»Gesten dieser Art spielen in zwischenmenschlichen Begegnungen eine große Rolle.<br />

Sie kommen in vielerlei Formen vor: Man lädt jemanden zum Essen ein und stiftet<br />

dadurch Vertrautheit. […] Für all diese Gesten gilt: Sie haben eigentlich keinen<br />

praktischen Zweck, sind nicht ›Instrumente‹,son<strong>der</strong>n eher zweckfreies Spiel; sie sind<br />

Zeichen für eine wenigstens ansatzweise schon vorhandene Wirklichkeit […] und<br />

schaffen doch gleichzeitig diese Wirklichkeit […] Der Mensch als leibhaftige Person<br />

verwirklicht sich in solchen Gesten. Wohlgemerkt: er läßt nicht nur nach außen erkennen,<br />

was in ihm vorgeht, son<strong>der</strong>n in dieser Äußerung realisiert er sich selbst.<br />

Gesten sind nicht nur informierende Zeichen, bloße Signale, son<strong>der</strong>n wirksame<br />

Zeichen.« 1<br />

So wird es möglich, im Centre d′Études Œcuméniques auch im Rückgriff auf den<br />

Gabe-Diskurs keinen Fauxpas zu begehen. Geste ist leibhaftiger Ausdruck von<br />

etwas Ungesagtem, weil <strong>der</strong> Mensch als leibliches Wesen ganz fundamental auf<br />

Materie angewiesen ist, um sich zu verwirklichen. Der Mensch ist nicht einfach<br />

nur Körper, son<strong>der</strong>n Leib, ein compositum mixtum aus Sinn/Bedeutung undDing/<br />

Materie und im selben Maße haben auch die Dinge um ihn herum Zeichencharakter<br />

und werden von ihm zu sich und untereinan<strong>der</strong> in Beziehung gesetzt, sie<br />

werden in Wort und Ausdruck verwandelt.<br />

1<br />

Franz-Josef Nocke: Wort und Geste. Zum Verständnis <strong>der</strong> Sakramente, München: Kösel<br />

1985, S. 25.


16 Florian Bruckmann<br />

1. Phänomenologie und Metaphysik<br />

Die vorliegenden Überlegungen bedienen sich nicht einer soziologischen Rezeption<br />

des Gabe-Denkens, son<strong>der</strong>n tun dies in einem phänomenologischen<br />

Kontext.ImPrinzip kommt diese Denkrichtung von Edmund Husserl, verbreitete<br />

sich in <strong>Frank</strong>reich aber unter Bezugnahme auf Martin Heidegger. Dies ist natürlich<br />

deshalbproblematisch, weil Heideggers Denken (in Teilen) antisemitisch<br />

ist und deshalb – zumindest in Deutschland – nicht ohne Beigeschmack rezipiert<br />

werden kann. Die französische Heidegger-Rezeption tut sich hier erstaunlicherweise<br />

leicht, und so kann sich z. B. auch Emmanuel Levinas auf Heidegger<br />

beziehen, obwohl er selbst Jude war, seine Familie in <strong>der</strong> Shoah ausgelöscht<br />

wurde und er persönlich den Krieg nur deshalb überlebt hat, weil er als französischer<br />

Soldat in deutscher Kriegsgefangenschaft nahezu unentdeckt durch<br />

den Krieg kam.<br />

Jedenfalls speist sich die Metaphysik-Kritik <strong>der</strong> Phänomenologie sehr explizit<br />

aus Heideggerund dessen Kritik <strong>der</strong> Ontotheologie. Diese Kritikmuss hier<br />

nicht wie<strong>der</strong>holt werden, allerdings ist erstaunlich, wie klar und fast naiv diese<br />

Kritik innerhalb <strong>der</strong> Phänomenologie geteilt wird.Inihrer Grundintuitiongeht es<br />

darum, dass jegliches metaphysisches Denken von Gott verdinglichendes Denken<br />

ist und deshalb – zuweilen mit dem Hinweis auf das biblische Bil<strong>der</strong>verbot –<br />

abgelehntwird.Theologisch gesprochen verzichtet Gott darauf, alles zu sein, und<br />

lässt so dem Geschaffenen Raum, um selbständig zu sein, ohne dass darum aus<br />

dem Geschaffenen bruchlos auf den Schöpfer zurückgeschlossen werden könnte.<br />

Deshalb hat in <strong>der</strong> Phänomenologie die Metapher <strong>der</strong> »Spur« einen so hohen<br />

Stellenwert.<br />

Die Phänomenologie ist keine einheitliche geistesgeschichtliche Strömung,<br />

son<strong>der</strong>n kennzeichnet sich in je individueller Ausprägungdes Autors durch den<br />

Bezug auf für sie klassische Texte (vor allem Edmund Husserl), das methodische<br />

Vorgehen <strong>der</strong> Reduktion und einige Motive, wie z. B. Ereignis, Entzug, Antwort<br />

und eben Gabe. Für die vorliegenden Überlegungen soll es ausreichend sein,<br />

wenn wir die Phänomenologie als Versuch verstehen, das Subjekt neu zu denken,<br />

wobei »neu« auf das Bewusstsein einer verän<strong>der</strong>ten geistesgeschichtlichen<br />

Situation hinweist und auf das Bemühen, über das Subjektdenken bei René<br />

Descartes und Immanuel Kant hinauszukommen und die transzendentale Erkenntnisordnung<br />

gleichsam umzukehren, indem nicht das Subjekt dem Erscheinenden<br />

vorschreibt, wie es erscheinen kann, son<strong>der</strong>n vielmehr das Subjekt<br />

von dem her gedacht wird, was sich ihm wie zeigt: »›Phänomenologie‹ ist<br />

die Erkenntnis und sprachliche Darstellung <strong>der</strong> Erkenntnis von Erscheinendem<br />

(Offenbarem) als solchem, d. h. in seinem Erscheinen.« 2 Für uns sind in einer<br />

2<br />

Eilert Herms: Theologie als Phänomenologie des christlichen Glaubens. Über den Sinn und<br />

die Tragweite dieses Verständnisses von Theologie,in: Wilfried Härle/Reiner Preul (Hgg.):


Selbst-Gabe: Eucharistie in nachmetaphysischer Zeit 17<br />

phänomenologisch gewendeten Theologie die Aspekte Passivität, Zeitlichkeit<br />

und Leiblichkeit zentral und imHinblick auf die Eucharistie erscheint es sehr<br />

lohnend, die Methode <strong>der</strong> Reduktion anzuwenden und nicht in metaphysischer<br />

Manier diedahinterliegendeUrsache zu suchen.Wer dasDahinter-Liegendesucht,<br />

verliert dasPhänomenaus demBlick;wer allerdings nurdas Phänomen betrachtet<br />

undnicht auch das, wassich in ihmzeigt,<strong>der</strong> reduziertesbis zurBelanglosigkeit.<br />

Klaus Hemmerle 3 hat sich selbst als notwendig Fragenden verstanden und<br />

hat die Phänomenologie als Methode entdeckt, die von <strong>der</strong> notwendigen Fragwürdigkeit<br />

menschlichen Denkens ausgeht und diesem auf dem WegzuGott<br />

hin weiterhilft, indem sie über die Bedingungen dessen reflektiert, was erscheint.<br />

Im Prinzip handelt es sich hierbei um eine konsequente Weiterführung <strong>der</strong> anthropologischen<br />

Wende, die Karl Rahner <strong>der</strong> Theologie ins Stammbuch geschrieben<br />

hat.<br />

Wir gehen dabei davon aus, dass wir nicht hinter die hohen Ansprüche <strong>der</strong><br />

Metaphysik bzw. <strong>der</strong> Ontologie zurückfallen. Diesen Verdacht hat z. B. Notger<br />

Slenczka geäußert, wenn er die Phänomenologie in seinem beachtenswerten<br />

Buch zu Realpräsenz und Ontologie auf <strong>der</strong> Seite <strong>der</strong> sogenannten Transsignifikationslehre<br />

verortet. So schreibt Slenczka z. B. zu Eduard Schillebeeckx’ Interpretation<br />

<strong>der</strong> Eucharistie:<br />

»Es handelt sich also um einen im Blick auf die Beschreibung des Zustandekommens<br />

<strong>der</strong> Realpräsenz und im Blick auf die ontologische Dignität des eucharistischen<br />

Wesenswandels wenig überzeugenden, im Blick auf die Sinnlosigkeit <strong>der</strong> Deuteworte<br />

nicht akzeptablen Versuch <strong>der</strong> Neuinterpretation <strong>der</strong> eucharistischen Gegenwart.« 4<br />

Im Hintergrund zu den unterschiedlichen Spielarten <strong>der</strong> Transsignifikationslehre<br />

macht Slenczka sehr überzeugendeine Substanzontologie aus, die von den<br />

Vertretern <strong>der</strong> Transsignifikationslehre unbewusst mitgetragen wird 5 .Wir gehen<br />

davon aus, dass das im Folgenden vertretene Verständnis <strong>der</strong> Eucharistie als<br />

Phänomen reiner Gabe nicht unter das Verdikt von Slenczka fällt, weil die Methode<br />

<strong>der</strong> Reduktion nicht auf eine dahinter liegende Substanz schließen lässt.<br />

3<br />

4<br />

5<br />

Phänomenologie. Über den Gegenstandsbezug <strong>der</strong> Dogmatik, Marburger Jahrbuch Theologie<br />

6=MThS 38, Marburg: Elwert 1994, S. 69–99, S. 70.<br />

Klaus Hemmerle: Phänomenologie – die Plausibilität des Sich-Gebens, in: Ders.: Ausgewählte<br />

Schriften, Bd. 2: Unterwegs mit dem dreieinen Gott. Beiträge zur Religionsphilosophie<br />

und Fundamentaltheologie 2(hg. v. Reinhard Feiter), Freiburg i.Br.: Her<strong>der</strong> 1996,<br />

S. 164–198.<br />

Notker Slenczka: Realpräsenz und Ontologie. Untersuchung <strong>der</strong> ontologischen Grundlagen<br />

<strong>der</strong> Transsignifikationslehre, FSÖTh 66, Göttingen: Vandenhoeck &Ruprecht 1993,<br />

S. 270.<br />

A.a. O., S. 542.


18 Florian Bruckmann<br />

Der Geber vergisst sich, weil er nicht an<strong>der</strong>s kann als zu geben, <strong>der</strong> Empfänger<br />

wird nicht zum Schuldner, weil er selbst die Bedingung <strong>der</strong> Möglichkeit <strong>der</strong><br />

Gabe ist, und die Gabe ist Gabe, weil sie gegebenund nicht, weil sie gedeutet wird.<br />

Nach unserer Auffassung ist bei Slenczka ein sehr ähnliches Anliegen zu erkennen,<br />

wenn er zum Schluss seiner Arbeit den eigentlichen Gehalt von Luthers<br />

Abendmahllehre im gläubigen Ergreifen <strong>der</strong> in ihr ergangenen Zusage – promissio<br />

– <strong>der</strong> Sündenvergebung sieht 6 .ImSinne des heiligen Tauschesgeht es um<br />

die »vom Glauben ergriffene Verheißung« 7 ,sodass im Geschehen des Abendmahles<br />

dem Sün<strong>der</strong> die eigentlich Christus zukommende Eigenschaft des Gerechten<br />

zugesprochen wird.Wenn sich reine Gabe ereignet, vergessen sich Geber<br />

und Empfänger, ist <strong>der</strong> eine <strong>der</strong> an<strong>der</strong>e, so dass im Sinne Luthers dem empfangenden<br />

Sün<strong>der</strong> die Eigenschaft des sich selbst Gebenden zugeschrieben<br />

werden kann. Christus vergisst sich selbst und macht sein Gegenüber nicht zum<br />

Schuldner; dieser ist nicht mehrSchuldner, son<strong>der</strong>n durchdie Gabe selbst Geber<br />

und damit sündlos. Bei Slenczka liest sich dieser Tausch, dieses Verschwinden<br />

<strong>der</strong> sich unvermischt gegenüberstehenden Rollen folgen<strong>der</strong>maßen:<br />

»[D]ie Einheit mit Christus basiert gerade nicht auf <strong>der</strong> bleibenden Differenz von<br />

demselben, die eine beständige Vorhandenheit Christi, und des Glaubenden, voraussetzte,<br />

son<strong>der</strong>n hebt diese Differenz zu einer Einheit <strong>der</strong> vollständigen gegenseitigen<br />

Selbstmitteilung auf: <strong>der</strong> peccator iustus ist eins mit Christus und darin nicht<br />

mehr er selbst; ebenso ist Christus als conglutinatus peccatori nicht mehr <strong>der</strong>selbe,<br />

<strong>der</strong> <strong>der</strong> von ihm getrennten Seele als iudex und legislator gegenübersteht.« 8<br />

Wie kann nun <strong>der</strong> fröhliche Rollentausch innerhalbdes Eucharistie-Geschehens<br />

gedacht werden?<br />

2. Die Eucharistie als Gabe<br />

Marcel Mauss war Anthropologe, Soziologe und Ethnologe ineinem und hat<br />

in seinem 1925 veröffentlichten »Essai sur le don« 9 das Geschehen rund um das<br />

Geben und Empfangen vor allem bei indonesischen und nordamerikanischen<br />

Völkern untersucht. Er beginnt mit einem Stück aus den sogenannten Edda-<br />

6<br />

7<br />

8<br />

9<br />

A.a. O., S. 566.<br />

A.a. O., S. 567.<br />

A.a. O., S. 572.<br />

Marcel Mauss: Essai sur le don. Forme et raison de l’échange dans les sociétés archaïques.<br />

ASoc.NS 1, 1923/24, S. 30–186 (online verfügbar: https://gallica.bnf.fr/ark:/12148/<br />

bpt6k93922b; eingesehen: 22.02. 2023); dt.: Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs<br />

in archaischen Gesellschaften, stw 743, <strong>Frank</strong>furt: Suhrkamp 1990.


Reziprozität im<br />

Rechtfertigungsgeschehen?<br />

Bo Kristian Holm<br />

0. Vorbemerkung<br />

Unter den ökumenischen <strong>Herausfor<strong>der</strong>ungen</strong> heutiger lutherischer Theologie<br />

lassen sich viele unter dem Stichwort »Reziprozität im Rechtfertigungsgeschehen«<br />

verorten. Die Diskussion darüber, inwiefern Reziprozitätsdimensionen im<br />

Rechtfertigungsgeschehen Platz haben, ist nach rund 25 Jahren noch nicht abgeschlossen.<br />

Auch dieser Beitrag wird die Diskussion wohl nicht beenden. 1<br />

Aber dass die Reformation auch als ein Aufbegehren gegen allzu ökonomisierende<br />

Theologie- und Heilsverständnisse zu verstehen ist, ist nur allzu deutlich<br />

und wohl auch unstrittig. DerAblassstreit war im Kern auch ein ökonomischtheologischer,<br />

wie Theodor Dieter in seinem Aufsatz »Martin Luther’s95Theses on<br />

Indulgences. Overcoming Economic Thought Structures in Theology and Economic<br />

Practices ofthe Church« 2 dargestellt hat, und wirkte gerade deshalb in wechselndem<br />

Sinne nicht nur theologie-, son<strong>der</strong>n auch gesellschaftsverän<strong>der</strong>nd.<br />

Als Ausgangspunkt für die folgenden Überlegungen möchte ich zwei kurze<br />

Zitate heranziehen. Das erste stammt von Theodor Dieter, das zweite aus einer<br />

1<br />

2<br />

Für einen Überblick über die Diskussion siehe Risto Saarinen: Luther’s Theology of<br />

Giving and Gift, in: Stephen Hultgren u.a. (Hgg.): Luther @500 and Beyond: Martin<br />

Luther’s Theology Past, Present and Future, Adelaide: ATF Theology 2019, S. 143–166<br />

(online verfügbar: http://hdl.handle.net/10138/310401; eingesehen: 12. 06.2023). und<br />

Bo Kr. Holm: Gift inMartin Luther’s Theology, in: Derek R. Nelson/Paul R. Hinlicky<br />

(Hgg.): Oxford Encyclopedia of Martin Luther I, Oxford (UK): Oxford University Press 2017,<br />

S. 558–573.<br />

Theodor Dieter: Martin Luther’s95Theses on Indulgences. Overcoming Economic Thought<br />

Structures in Theology and Economic Practices of the Church, in: Bo Kr. Holm/Nina J.<br />

Koefoed (Hgg.): Lutheran Theology and the Shaping of Society: The Danish Monarchy as<br />

Example, Refo500 Academic Studies 33, Göttingen: Vandenhoeck &Ruprecht 2018,<br />

S. 25–48.


32 Bo Kristian Holm<br />

Antwort, die ein sehr alter Freund aus Strasbourg, Regin Prenter, vor 80 Jahren<br />

einem Journalisten gegeben hat.<br />

Theodor Dieter formuliert am Ende des erwähnten Aufsatzes über die ökonomischen<br />

Dynamiken im Ablassstreit einige Überlegungen zu den Konsequenzen<br />

für die menschliche Selbstwahrnehmung:<br />

»Later, Luther did not so much emphasize the aspect of penance and contrition as the<br />

divine promise of forgiveness in the sacrament of penance. Every promise requires<br />

that the person to whom the promise is given trusts in this promise. […] What is<br />

constitutive comes from outside the person – the promise of grace – but this promise<br />

must become internal, as faith in it, in trusting it«. 3<br />

Im Folgenden werde ich zeigen, wie zentral diese klassische Betonung von<br />

promissio und fides für das Verständnis des Verhältnisses von Reziprozität und<br />

Rechtfertigungsgeschehen ist. Dazu werde ich argumentieren, dass die Frage<br />

nach <strong>der</strong> Reziprozität imRechtfertigungsgeschehen nur in einem betont trinitarischen<br />

Vollzug angemessen – d. h. ohne die Rechtfertigung Gottes zu gefährden<br />

– beantwortet werden kann. Wenn die Rede von Reziprozität im<br />

Rechtfertigungsgeschehen sich nicht dem Vorwurf des Synergismus aussetzen<br />

will, ist es entscheidend, dass sie trinitarisch eingebunden ist. 4<br />

1. Der trinitarische Fokus: Das Geistliche nicht näher<br />

als das Leibliche<br />

Um den trinitarischen Ton anzuschlagen, möchte ich auch mit einem kleinen<br />

Zitat des dänischen Theologen Regin Prenter beginnen. Prenter erhielt in<br />

Strasbourg 1960 seine erste Ehrendoktorwürde und hatte bereits seit seiner<br />

Studienzeit 1932/33 eine lange Beziehung zu Strasbourg. Zwischen ihm und dem<br />

ersten Direktordes Instituts für <strong>Ökumenische</strong> Forschung, Vilmos Vajta, bestand<br />

eine kollegiale Verwandtschaft, nicht nur in<strong>der</strong> <strong>Lutherforschung</strong>, son<strong>der</strong>n auch<br />

in <strong>der</strong> liturgischen Theologie. Es liegt nahe, mit einem passenden Zitat von<br />

Prenter zu beginnen, und so die historische Verbindung nicht nur zwischen<br />

Dänemark und Strasbourg – die beson<strong>der</strong>s durch das Engagement des Kopenhagener<br />

Professors Skydsgaard im Institut stark war – son<strong>der</strong>n auch zwischen<br />

Strasbourg und Aarhus zuverdeutlichen.<br />

Prenter verteidigte seine bahnbrechende Habilitationsschrift Spiritus Creator<br />

im Jahre 1944 und wurde in diesem Zusammenhang von einem Journalisten<br />

befragt. Der Journalist stellte ihm die Frage, was die These des Buches sei. Prenter<br />

3<br />

4<br />

A.a. O., S. 44.<br />

Zu diesem (m. E. fehlzielenden) Vorwurf siehe Saarinen (s.o. FN 1), S. 158


Reziprozität imRechtfertigungsgeschehen? 33<br />

gab eine längere Antwort. Ich finde einen Satz daraus beson<strong>der</strong>s anregend zum<br />

Nachdenken:<br />

»Für Luther dagegen war <strong>der</strong> Heilige Geist in einem beson<strong>der</strong>en Sinn nicht dem<br />

geistlichen Menschen näher als dem leiblichen.« 5<br />

Hier spricht m. E. ein Lutheraner, <strong>der</strong> sowohl die lutherische Schöpfungstheologie<br />

als auch die lutherische Pneumatologie ernst nimmt und <strong>der</strong> die inkarnationstheologischen<br />

Konsequenzen für die Schöpfungslehre und die Pneumatologie<br />

entsprechend zur Sprache bringen will.<br />

Folgt man dieser Linie, so muss sich die Theologie dieser doppelten Spur<br />

sehr bewusst bleiben: Einerseits die An<strong>der</strong>sartigkeit des Geistlichen und Göttlichen<br />

gegenüber dem Leiblichen und Menschlichen zu betonen, an<strong>der</strong>erseits<br />

aber auch das Göttliche in <strong>der</strong> leiblichen Wirklichkeit wahrzunehmen – nicht nur<br />

(aber auch!) als intellektuelle Leistung, son<strong>der</strong>n vor allem, weil die promissio nach<br />

Luther ein leibliches Wort ist, das sowohl theologisch als auch liturgisch zur<br />

Sprache kommen muss.<br />

Wenn es um die Rolle <strong>der</strong> Sprache <strong>der</strong> Gabe bzw. <strong>der</strong> Metaphern <strong>der</strong> Gabe in<br />

<strong>der</strong> Theologie geht, so gibtesm.E.eine Unterscheidung zwischen denjenigen, die<br />

am metaphorischen Charakter <strong>der</strong> Metapher <strong>der</strong> Gabe festhalten, und denjenigen,<br />

die berücksichtigen, dass die Gabe nicht nur verbal,son<strong>der</strong>n auch real, das<br />

heißt: leiblich zu fassen ist, und dass es vor allem die leibliche Präsenz <strong>der</strong> Gabe<br />

ist, die die Reziprozität des Gabentausches trägt. Im letzteren Sinn wird es in <strong>der</strong><br />

Sozialanthropologie vor allem seit Marcel Mauss verstanden. 6<br />

Es bleibt also die Frage, inwiefern die Rechtfertigungsbotschaft indie gemeinschaftlichen<br />

und als solche reziproken Strukturen menschlichen Lebens<br />

inkorporiert werden kann. Dass es zu einer Einverleibung kommen muss, wird<br />

als Primiz einer konsequent gedachten Inkarnationstheologie verstanden.<br />

Um sich innerhalb<strong>der</strong> Fragestellung richtig orientieren zu können, sind noch<br />

verschiedene Zugänge und Perspektiven zu unterscheiden:<br />

5<br />

6<br />

Siehe Ådne Njå: »Det ån<strong>der</strong> himmelsk over støvet«: faser iRegin Prenters grundtvigske<br />

paktsteologi, Acta Theologica 21, Oslo: Det teologiske fakultet, Universitetet iOslo 2008.<br />

S. 54.<br />

Marcel Mauss: Essai sur le don. Forme et raison de l’échange dans les sociétés archaïques,<br />

ASoc.NS 1, 1923/24, S. 30–186 (online verfügbar: https://gallica.bnf.fr/ark:/12148/<br />

bpt6k93922b; eingesehen: 22.02. 2023); dt.: Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs<br />

in archaischen Gesellschaften, stw 743, <strong>Frank</strong>furt a. M.: Suhrkamp 1990.


34 Bo Kristian Holm<br />

(1) Es gibt in <strong>der</strong> Tat einen Unterschied zwischen jenen Forschern, die sich auf den<br />

Begriff <strong>der</strong> Gabe konzentrieren und fokussieren und deshalb den Begriff <strong>der</strong> reinen<br />

Gabe als beson<strong>der</strong>s rechtfertigungskompatibel hervorheben, und jenen, die vom Text<br />

(o<strong>der</strong> von <strong>der</strong> Liturgie) ausgehen und fragen, welche Art von Gabe darin zum Ausdruck<br />

kommt und welche Art von Gabenstruktur darin verwendet wird.<br />

(2) Ferner gibt es einen Unterschied zwischen denjenigen, die die Gabe grundsätzlich<br />

metaphorisch verstehen, und denjenigen, die dazu neigen, metaphysische o<strong>der</strong> ontologische<br />

Dimensionen einzubeziehen – o<strong>der</strong> zumindest die Theologie dafür offen zu<br />

halten.<br />

In diesem Beitrag ist es mir lei<strong>der</strong> nicht möglich, auf alle hier genannten Positionen<br />

und Unterpositionen einzugehen. Ich werde mich darauf beschränken<br />

müssen, meinen eigenen Ansatz deutlich zu machen und damit zu zeigen, was ich<br />

für den besseren Ansatz halte.<br />

Wenn wir die Realität des Gabe-Tausches als Hintergrund seiner metaphorischen<br />

Verwendung ernst nehmen, dann müssen Theologinnen und Theologen<br />

von <strong>der</strong> Sozialanthropologie lernen, ohne sich belehrenzulassen. Hermeneutisch<br />

kommt es also darauf an, erstens von <strong>der</strong> Gabensprache <strong>der</strong> Texte auszugehen<br />

und diese so zu interpretieren, dass die reale Leiblichkeit <strong>der</strong> Gabe und vor allem<br />

des gelingenden Gabentausches theologisch reflektiert wird – was aber nur<br />

möglichist, wenn die Entfaltung trinitarisch erfolgt. Wenn Gott nicht nur im Geist<br />

bleibt, son<strong>der</strong>n sich in <strong>der</strong> Welt verleiblicht, dann ist ein an<strong>der</strong>er Zugang zur<br />

Gabe-Thematik möglich, wie viele theologische Studien zur Gabe bereits gezeigt<br />

haben. 7<br />

7<br />

Mit positiver, aber unterschiedlicher Würdigung <strong>der</strong> Tragweite <strong>der</strong> Reziprozitäts-Dimension<br />

<strong>der</strong> Gabe: Siehe Bo Kr. Holm: Wechsel ohnegleichen. Über die Grundstruktur <strong>der</strong><br />

Rechtfertigung und Heiligung und das Austauschen von »Gaben« in Luthers »Tractatus de<br />

libertate christiana«, NZSTh 40, 1998, S. 182–196; Risto Saarinen: God and the Gift. An<br />

Ecumenical Theology of Giving,Unitas Books, Collegeville (MN): Liturgical Press 2005; Bo<br />

Kr. Holm: Gabe und Geben bei Luther. Das Verhältnis zwischen Reziprozität und reformatorischer<br />

Rechtfertigungslehre, TBT 134, Berlin/New York: de Gruyter 2006; Piotr J.<br />

Malysz: Exchange and Ecstasy: Luther’seucharistic theology in light of Radical Orthodoxy’s<br />

critique of gift and sacrifice, SJTh 60, 2007, S.294–308; Veronika Hoffmann (Hg.): Die<br />

Gabe. Ein »Urwort« <strong>der</strong> Theologie?,<strong>Frank</strong>furt a. M.: Lembeck 2009; Dies.: Skizzen zu einer<br />

Theologie <strong>der</strong> Gabe. Rechtfertigung – Opfer – Eucharistie – Gottes- und Nächstenliebe,<br />

Freiburg i.Br. u. a.: Her<strong>der</strong> 2013; Martin Wendte: Die Gabe und das Gestell. Luthers<br />

Metaphysik des Abendmahls im technischen Zeitalter, Collegium Metaphysicum 7, Tübingen:<br />

Mohr Siebeck 2013; Veronika Hoffmann u.a. (Hgg.): Die Gabe: Zum Stand <strong>der</strong><br />

interdisziplinären Diskussion, Scientia &Religio 14, Freiburg/München: Karl Alber 2017;<br />

Risto Saarinen: Luther and the Gift, SMHR 100, Tübingen: Mohr Siebeck 2017.


Reziprozität imRechtfertigungsgeschehen? 35<br />

2. Rechtfertigung und Heiligung als Musterbeispiel<br />

Ein Musterbeispiel für diese Problematik finden wir in <strong>der</strong> Diskussion um das<br />

Verhältnis von Rechtfertigung und Heiligung. Die Schwierigkeit, diese beiden<br />

Loci zueinan<strong>der</strong> in Beziehung zu setzen, steht in engem Zusammenhang mit <strong>der</strong><br />

Schwierigkeit, Aktivität und Passivität miteinan<strong>der</strong> zu verbinden.<br />

Ich nehme das Gespräch zwischen Ingolf Dalferth, Bernt Hamm und Risto<br />

Saarinen als Beispiel. Sowohl Berndt Hamm als auch Risto Saarinen haben Dalferth<br />

– angeregt durch die Art und Weise, wie Dalferth das reformatorische mere<br />

passive alsrechtfertigungstheologischen Kernbegriff pointiertfesthält – kritisiert.<br />

Das macht die Diskussion exemplarisch und z.B. auch Veronika Hoffmann argumentiert<br />

in ihren Skizzen zueiner Theologie <strong>der</strong> Gabe in ähnlicher Weise. 8<br />

Sowohl Hamm als auch Saarinen sind <strong>der</strong> Meinung, dass Dalferths scharfe<br />

Trennungzwischen Gottes Handeln in <strong>der</strong> Rechtfertigung und dem menschlichen<br />

Handeln in <strong>der</strong> Heiligung große Probleme für Luthers entscheidende Einsicht<br />

schafft, dass <strong>der</strong> Mensch allein durch den Glauben ohne Werke gerechtfertigt<br />

wird. Interessant ist in unserem Zusammenhang, dass beide Dalferth kritisieren,<br />

ohne sich auf eine Form <strong>der</strong> Reziprozität zu stützen, obwohl sich bei beiden auf<br />

breiter Spur reziproke Aspekte finden – bei Saarinen bewusster als bei Hamm.<br />

Dalferth hat seine Position vor allem in zwei Aufsätzen mit den Titeln<br />

»Umsonst« und »Mere Passive« entwickelt, die später in eine Sammelausgabe<br />

eingingen 9 ;Hamm bezieht sich auf die erste, Saarinen auf die letztere Veröffentlichung.<br />

Das Anliegen Dalferths ist jedoch in beiden Aufsätzen dasselbe,<br />

weshalb ich mich im Folgenden auf den Sammelband beziehen werde. Dalferth<br />

unterscheidet hier kategorisch zwischen dem rechtfertigenden Handeln Gottes<br />

und dem empfangenden Handeln des Menschen.<br />

»Der Christ wird also geradezu durch das definiert, was er wird,und nicht durch das,<br />

was er tut: ›Christianus es homo mere passivus, non activus. Wendwnymmer entpfehest,<br />

non es Christianus, Nicht von Bethen, Fasten, Wallen c. sunst werest dw eyn<br />

Bether, […]‹ […] Das ›empfangen‹ wird hier gerade nicht als eine Aktivität des Men-<br />

8<br />

9<br />

Hoffmann: Skizzen … (s.o. FN 7).<br />

Ingo U. Dalferth: Umsonst. VomSchenken, Geben und Bekommen, StTh 59, 2005, S. 83–<br />

103; Ders.: Mere passive. Die Passivität <strong>der</strong> Gabe bei Luther, in: Bo Kr. Holm/Peter<br />

Widmann (Hgg.): Word – Gift – Being. Justification – Economy – Ontology, Religion in<br />

Philosophy and Theology 37,Tübingen: Mohr Siebeck 2009, S. 43–71.Beide sind später<br />

in leicht überarbeiteter Fassung integriert in dem Sammelband Ders.: Umsonst. Eine<br />

Erinnerung an die kreative Passivität des Menschen, Tübingen: Mohr Siebeck 2011. Die<br />

Hinweise auf Dalferths Aufsätze folgen dieser Sammelausgabe.


36 Bo Kristian Holm<br />

schen verstanden, son<strong>der</strong>n passive, als ein gar ›nichts tun‹. Man wird Christ nicht<br />

dadurch, dass man etwas empfängt, son<strong>der</strong>n allein durch das, was man von Gott<br />

empfängt: Gottes Gabe,nicht das Empfangen dieser Gabe macht Sün<strong>der</strong> zu Christen.« 10<br />

Dalferth meint nun, mit Luther als Grundlage diese Unterscheidung konsequent<br />

durchführen zu können, so dass alles, was die Rechtfertigung betrifft, als Tat<br />

Gottes bezeichnet werden kann. Alles, was die menschlicheAntwortbetrifft, wird<br />

zusammen mit allem menschlichen Tununter dieHeiligunggestellt, die von <strong>der</strong><br />

Rechtfertigung scharf getrennt ist. DieseOrdnung glaubt Dalferth mit einer Reihe<br />

von Lutherzitaten herstellen zu können, z.B. Luthers Auslegung von Ps. 90:<br />

»Zuerst erbitten wir dein Werk, Herr. Da tun wir nichts, son<strong>der</strong>n sind nur Zuschauer<br />

und Empfängern, sind wir rein passiv«. 11<br />

Dalferth stört sich nichtdaran, dass <strong>der</strong> erste Teil dieser Ordnung den Menschen<br />

und nichtGott zum Subjekt hat. Der Mensch ist Subjekt <strong>der</strong> Fürbitte, die Gott als<br />

den allein Handelnden zulässt. M. E. muss ein aufmerksamer Leser hier zu dem<br />

Schluss kommen, dass das Verhältnis zwischen dem ersten unddem zweiten Teil<br />

komplexer sein könnte, als Dalferth es zulässt. Die einfache Dichotomie greift<br />

hier zu kurz.<br />

Dalferth kommt aber zu diesem Schluss:<br />

»Im Blick auf Gott wird also betont: Im ersten und entscheidenden Werk (<strong>der</strong><br />

Rechtfertigung) wirkt Gott allein,imzweiten dagegen (<strong>der</strong> Heiligung) wirkt Gott auch,<br />

so dass dort wie hier allein Gott sich als <strong>der</strong> dominus erweist.« 12<br />

Gott, so Dalferth, gibt nicht nur, son<strong>der</strong>n schafft auch die Bedingungen für den<br />

Empfang <strong>der</strong> Gabe. Gleichzeitig, und darauf hat Saarinen mit seiner Unterscheidung<br />

zwischen einer Gabe pro me und propter me in »The languageofGiving<br />

in Theology« zuRecht aufmerksam gemacht, 13 ist es für Dalferth entscheidend,<br />

10<br />

11<br />

12<br />

13<br />

Dalferth, Umsonst (s.o. FN 9), S. 55 f.; vgl. auch die Fortsetzung: »Und damit ist nicht<br />

aus- son<strong>der</strong>n eingeschlossen, dass Menschen dabei nicht aufhören, all die Aktivitäten<br />

auszuführen, ohne die ihr Leben nicht Leben wäre. Nur sind all diese Aktivitäten nicht<br />

das, was einen Menschen zum Christianus macht, son<strong>der</strong>n das bewirkt allen Gottes Gabe<br />

selbst.«<br />

WA 40 III,588,2 f: »[…] primum petimus opus tuum, Domine. Ibi nos nihil agimus, sed<br />

tantum sumus spectatores et receptatores, sumus mere passivi«. Vgl. Dalferth, a. a. O.,<br />

S. 56 f. (Latein S. 56, dt. S. 57 FN 12).<br />

A.a. O., S. 57; vgl. das Folgende.<br />

Risto Saarinen: The Language of Giving in Theology, NZSysTh 52, 2010, S. 268–301,<br />

S. 290.


Geschenkte Reziprozität<br />

Luthers Kritik am Messopfer im Licht des<br />

Gabediskurses<br />

Frie<strong>der</strong>ike Nüssel<br />

0. Vorbemerkungen<br />

Wenngleich »Gabe« mit Oswald Bayer als »ein Urwort <strong>der</strong> Theologie« 1 gelten<br />

kann, ist <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>ne Diskurs über die Gabe nicht aus <strong>der</strong> Theologie heraus<br />

entstanden, son<strong>der</strong>n im Bereich <strong>der</strong> Kulturanthropologie und philosophischen<br />

Phänomenologie. Den Anstoß gab 1923 <strong>der</strong> französische Soziologe, Ethnologe<br />

und Religionswissenschaftler MarcelMauss mit seinem Essay über die Gabe als<br />

Form und Funktion des Austausches inarchaischen Gesellschaften. 2 Hier erschloss<br />

er die Gabe als eine konstitutive, integrative, stabilisierende soziale<br />

Praktik und darin als »totales gesellschaftliches Phänomen«, das nicht nur alle<br />

Dimensionen des sozialen Lebens umfasse, son<strong>der</strong>n in allen Kulturen zu finden<br />

sei. Das beson<strong>der</strong>e Interesse von Mauss galt dabei <strong>der</strong> Frage, warum das empfangene<br />

Geschenk zwangsläufig erwi<strong>der</strong>t werde. In <strong>der</strong> Reziprozität von Gabe<br />

und Gegengabe und den im Hintergrund stehenden Ȋsthetischen, moralischen,<br />

religiösen und wirtschaftlichen Triebfe<strong>der</strong>n« 3 sah er die wesentliche Grundlage<br />

für eine zivile, staatsbürgerliche Gesellschaft. Den sich anschließenden Gabediskurs<br />

in den Sozialwissenschaften (bei Maurice Godelier, Alain Caillé, Pierre<br />

Bourdieu), in <strong>der</strong> Philosophie (bei Jaques Derrida und Jean-Luc Marion) und<br />

1<br />

2<br />

3<br />

Oswald Bayer: Art. »Gabe«, in: RGG 4 3, Sp. 445f., Sp. 445. Der Satz lautet im Original: »G.<br />

ist ein Urwort <strong>der</strong> Theol. (Röm 6,23; Joh 3,16) – was von dieser aber erst noch zu entdecken<br />

und bis in die Ontologie hinein zu ermessen ist«.<br />

Marcel Mauss: Essai sur le don. Forme et raison de l’échange dans les sociétés archaïques,<br />

ASoc.NS 1, 1923/24, S. 30–186 (online verfügbar: https://gallica.bnf.fr/ark:/12148/<br />

bpt6k93922b; eingesehen: 22.02. 2023); dt.: Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs<br />

in archaischen Gesellschaften, stw 743, München: Suhrkamp 1968 (online verfügbar:<br />

https://monoskop.org/images/d/db/Mauss_Marcel_Die_Gabe_Form_und_Funktion_<br />

des_Austauschs_in_archaischen_Gesellschaften.pdf; eingesehen: 20.06. 2023); i.F. zit.<br />

nach <strong>der</strong> Auflage von 1990.<br />

A.a. O., S. 182.


48 Frie<strong>der</strong>ike Nüssel<br />

schließlich auch in <strong>der</strong> Theologie (bei Oswald Bayer, Risto Saarinen,BoKr. Holm,<br />

Ingolf U. Dalferth und an<strong>der</strong>en) hat Veronika Hoffmann in ihrer Erfurter Habilitationsschrift<br />

eingehend untersucht. 4 Ein von ihr mit Ulrike Link-Wieczorek<br />

und Christof Mandry herausgegebener Sammelband von 2016 führt die inzwischen<br />

erreichte Breite des interdisziplinären Forschungsfeldes zum Thema Gabe<br />

vor Augen. 5<br />

Eine theologische Auseinan<strong>der</strong>setzung mit dem sozialwissenschaftlichen<br />

und philosophischen Gabediskurs legt sich insofern nahe, als die sozialanthropologischen<br />

und wahrnehmungsphänomenologischen Überlegungen zur Gabe<br />

die Angewiesenheit des Menschen auf Gabe und Gaberelationen untermauern.<br />

Auf diesem Boden bietet sich zugleich die Chance und Herausfor<strong>der</strong>ung, die<br />

kategoriale Unterschiedenheit <strong>der</strong> Gabe Gottes von menschlichen Gaben und<br />

menschlichem Geben herauszuarbeiten (so bei Bayer). Zum an<strong>der</strong>en erscheint<br />

die durch die Eigenart <strong>der</strong> Gabe gesetzte Relationalität von Empfangen und<br />

Gegengabe geeignet, die in <strong>der</strong> lutherischen Theologie nie völlig befriedigend<br />

geklärte Frage nach <strong>der</strong> Rolle menschlicher Aktivität im Glauben so aufzuschlüsseln,<br />

dass ein Synergismus vermieden wird.<br />

Die unter diesem Gesichtspunkt entwickelten Überlegungen von Risto Saarinen<br />

6 und Bo Kr. Holm 7 trafen allerdings auf den entschiedenen Wi<strong>der</strong>spruch<br />

von Ingolf U. Dalferth, <strong>der</strong> im Gegenzug das »mere passive« von Gnade und<br />

Rechtfertigung herausstellte. 8 Das Verständnis <strong>der</strong> Gnade als Gabe bei Luther ist<br />

4<br />

5<br />

6<br />

7<br />

8<br />

Vgl. Veronika Hoffmann, Skizzen zu einer Theologie <strong>der</strong> Gabe: Rechtfertigung – Opfer –<br />

Eucharistie – Gottes- und Nächstenliebe, Freiburg u. a.: Her<strong>der</strong> 2013, S. 27–109.<br />

Veronika Hoffmann u.a. (Hgg.): Die Gabe, Scientia &Religio 14, Freiburg/München: Karl<br />

Alber 2017.<br />

Risto Saarinen: God and the Gift. An Ecumenical Theology of Giving, Unitas Books,<br />

Collegeville (MN): Liturgical Press 2005; Ders.: Communicating in the Grace of God in a<br />

Pluralistic Society, in: Niels H. Gregersen u.a. (Hgg.): The Gift ofGrace. The future of<br />

Lutheran Theology,Minneapolis (MN): Fortress Press 2005, S. 67–77; Ders.: Partizipation<br />

als Gabe. Zwanzig Jahre neue finnische <strong>Lutherforschung</strong>,ÖR57, 2008, S. 131–143; Ders.:<br />

Luther and the Gift, SMHR 100, Tübingen: Mohr Siebeck 2017.<br />

Bo Kr. Holm: Luther’sTheology of the Gift,in: Niels Henrik Gregersen u.a. (Hgg.): The Gift<br />

of Grace. The future of Lutheran Theology,Minneapolis (MN): Fortress Press 2005, S. 78–<br />

86. Siehe auch Ders.: Art. »Gabe«, in: Volker Leppin/Gury Schnei<strong>der</strong>-Ludorff (Hgg.): Das<br />

Luther-Lexikon, Regensburg: Bückle &Böhm 2 2014, S. 235–236.<br />

Vgl. Ingolf U. Dalferth: Mere passive. Die Passivität <strong>der</strong> Gabe bei Luther,in: Bo Kr. Holm/<br />

Peter Widmann (Hgg.): Word – Gift – Being. Justification – Economy – Ontology,Religion in<br />

Philosophy and Theology 37,Tübingen: Mohr Siebeck 2009, S. 43–71.Siehe auch Ders.:<br />

Umsonst. VomSchenken, Geben und Bekommen, StTh 59, 2005, S. 83–103.


Geschenkte Reziprozität 49<br />

aktuell nicht zuletzt im Horizont <strong>der</strong> ökumenischen Rezeption 9 <strong>der</strong> »Gemeinsamen<br />

Erklärung zur Rechtfertigungslehre« 10 von neuem Interesse, weil inzwischen<br />

die Methodistische Weltkonferenz, <strong>der</strong> Reformierte Weltbund und die<br />

Anglikanische Gemeinschaft <strong>der</strong> GER zugestimmt haben, diejeweils die Aktivität<br />

des Menschen im Gnadengeschehen stärker betonen, als dies in <strong>der</strong> traditionellen<br />

lutherischen Theologie <strong>der</strong> Fall ist. Im Folgenden soll die Frage, wie die<br />

gabetheoretischen Überlegungen und Anliegen von Luthers Theologie her aufgenommen<br />

werden können, anhand von Luthers Messopferkritik erörtert werden.<br />

1. Luthers Kritik am Verständnis <strong>der</strong> Messe als Opfer<br />

Luthers reformatorische Kritik an <strong>der</strong> spätmittelalterlichen Messe und Eucharistietheologie<br />

richtete sich auf das Verständnis <strong>der</strong> Messe als Opfer, die Verweigerungdes<br />

Kelchs für die Laien unddie theologische Begründung <strong>der</strong> Präsenz<br />

Christi durch die Transsubstantiationslehre. In den Schriften bis in die frühen<br />

1520er Jahre hinein steht die Messopferkritik imZentrum, so beson<strong>der</strong>s in De<br />

captivitate Babylonica ecclesiae praeludium (1520) 11 ,im Sermon vom Neuen Testament,<br />

das heißt: von <strong>der</strong> heiligen Messe (1520) 12 ,in<strong>der</strong> Schrift VomMissbrauch<br />

<strong>der</strong> Messe (1521) 13 und in <strong>der</strong> Formula missae et communionis pro ecclesia Wittembergensi<br />

(1523) 14 .Man kann Luthers Kritik an <strong>der</strong> Messe als Opfer dabei als<br />

kriteriologische Anwendung seiner Rechtfertigungslehre lesen, <strong>der</strong>en gnadentheologische,<br />

christologische und worttheologische Dimensionen er seit <strong>der</strong> Zeit<br />

<strong>der</strong> ersten Psalmenvorlesung bis hin zu den reformatorischen Hauptschriften<br />

sukzessive entfaltet hat.<br />

Den argumentativen Ausgangspunkt von Luthers <strong>der</strong> Messopferkritikbildet<br />

die Reflexion auf die grundlegende Bedeutung des Wortes Gottes für die Begründung<br />

des rechten Verhältnisses des Menschen zu Gott im Glauben. Luther<br />

formuliert in De captivitate:<br />

9<br />

10<br />

11<br />

12<br />

13<br />

14<br />

Vgl. in Johannes Oeldemann u.a (Hgg.): Dokumente wachsen<strong>der</strong> Übereinstimmung,Bd. 5,<br />

Pa<strong>der</strong>born: Bonifatius/Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2021, S. 1144–1152 (Zustimmung<br />

<strong>der</strong> Reformierten).1153–1157 (Zustimmung <strong>der</strong> Anglikaner).<br />

GER (s. Abkürzungsverzeichnis).<br />

WA 6, (484–496.)497–573, i.F. zit. nach LDStA 3, 173–375.<br />

WA 6, (349–352.)353–378, i.F. zit. nach DDStA 2, (153–155.)156–205.<br />

WA 8, (477–481.)482–563, i.F. zit. nach DDStA 2, (207–209.)210–381.<br />

WA 12, (197–205.)205–220, i.F. zit. nach LDStA 3, 649–679.


50 Frie<strong>der</strong>ike Nüssel<br />

»Das Wort Gottes ist von allem das Erste, dem folgt <strong>der</strong> Glaube, dem Glauben folgt die<br />

Liebe, die Liebe schließlich tut jedes gute Werk; […] Nicht <strong>der</strong> Mensch ist durch irgendwelche<br />

selbst vollbrachten Werke <strong>der</strong> Urheber <strong>der</strong> Seligkeit, son<strong>der</strong>n Gott durch<br />

seine Verheißung.« 15<br />

Im Sermon vom Neuen Testament erklärt er noch grundsätzlicher:<br />

»Wenn <strong>der</strong> Mensch mit Gott in ein wirkliches Verhältnis kommen und von ihm etwas<br />

empfangen soll, so darf nicht <strong>der</strong> Mensch anfangen und den ersten Stein legen.<br />

Vielmehr muss ihm Gott allein und ohne alles Bitten und Begehren des Menschen<br />

zuvorkommen und eine Zusage geben. Dieses Wort Gottes ist das Erste, <strong>der</strong> Grund, <strong>der</strong><br />

Fels, auf den sich dann alle Werke, Worte und Gedanken des Menschen aufbauen.<br />

Dieses Wort muss <strong>der</strong> Mensch dankbar aufnehmen und <strong>der</strong> göttlichen Zusage in<br />

Treue glauben und ja nicht daran zweifeln, dass es so sei und geschehe, wie er es<br />

zusagt. Diese Treue und dieser Glaube ist Anfang, Mitte und Ende aller Werke und<br />

aller Gerechtigkeit. Denn weil er Gott ehrt, indem er ihn für wahrhaftig hält und<br />

anerkennt, macht er ihn zu einem gnädigen Gott, <strong>der</strong> wie<strong>der</strong>um ihn ehrt und anerkennt<br />

und für wahrhaftig hält. Somit ist es unmöglich, dass ein Mensch aus <strong>der</strong> Kraft<br />

seiner Vernunftund dank seiner Macht durch Werke in den Himmel steigen kann, um<br />

Gott zuvorzukommen und ihn zur Gnade zu bewegen. Vielmehr muss Gott allen<br />

Werken und Gedanken zuvorkommen und eine klare, ausdrückliche Zusage geben<br />

mit Worten, welche dann <strong>der</strong> Mensch mit einem rechten, festen Glauben ergreifen<br />

und behalten soll. Sodann folgt <strong>der</strong> Heilige Geist, <strong>der</strong> ihm wegen dieses Glaubens<br />

gegeben wird.« 16<br />

Der in <strong>der</strong> Verheißung Gottes ergehenden zuvorkommenden Gnade Gottes entspricht<br />

mithin allein <strong>der</strong> Glaube.<br />

Aus <strong>der</strong> worttheologischen Besinnung ergibt sich das Grundproblem <strong>der</strong><br />

Messopferpraxis. Indem die Messe als ein Opfer und darin als Werk begriffenund<br />

zelebriert wird, stehen das Werk des Menschen und seine Gabe an Gott im<br />

Vor<strong>der</strong>grund. Damit aber wird die Verheißung Gottes als die Gabe verkannt, die<br />

<strong>der</strong> eigentliche Grund und Gegenstand <strong>der</strong> Messfeier ist. Voller Empörung<br />

schreibt Luther in De captivitate:<br />

»Welcher Erbe käme auf die Idee, er erwiese seinem Vater, als dem Testator, eine<br />

Wohltat, indem er die Testamentsurkunde samt Erbschaft inEmpfang nimmt? Wie<br />

können wir dann so verworfen und frech sei, zum Empfang des göttlichen Testaments<br />

in <strong>der</strong> Absicht zu kommen, für Gott ein gutes Werk zu tun? […] Wowir dankbar zu<br />

sein hätten für die Dinge, die wir empfangen haben, kommen wir voller Dünkel, um zu<br />

geben, was empfangen werden soll, und dadurch in unerhörter Perversität <strong>der</strong><br />

15<br />

16<br />

LDStA 3, 219,24–31.<br />

DDStA 2, 161,32–163,9.


Geschenkte Reziprozität 51<br />

Barmherzigkeit des Gebers zu spotten, indem wir, was wir als Geschenk empfangen,<br />

als ›Werk‹ verschenken, so dass <strong>der</strong> Erblasser nicht mehr als Spen<strong>der</strong> seiner eigenen<br />

Güter dasteht, son<strong>der</strong>n als Empfänger <strong>der</strong> unseren. Oweh, welche Gottlosigkeit!« 17<br />

Die Gottlosigkeit imVerständnis und in <strong>der</strong> Zelebration <strong>der</strong> Messe als Opfer<br />

besteht für Luther elementar darin, dass die Rollen von Gebendem und Empfangenden<br />

vertauscht und die Eigenart <strong>der</strong> Gabe Gottes als Ausdruck seiner<br />

Gnade und Barmherzigkeit von Grund auf verkannt werden. Beson<strong>der</strong>s drastisch<br />

beschreibt er den Missbrauch des Sakramentes in De captivitate:<br />

»Aber welcher Priester vollbringt das Messopfer in dem Sinne, dass er allein seine<br />

Gebete darzubringen glaubte? Alle bilden sich ein, sie brächten Christus selbst Gott<br />

dem Vater dar, gleichsam als absolut hinlängliches Opfer, und täten somit ein gutes<br />

Werk für alle, denen sie dadurch erklärtermaßen einen Nutzen erweisen wollen. Denn<br />

sie vertrauen darauf, dass sie durch das Werk vollbracht hätten, was sie dem Gebet<br />

nicht zugestehen. So wucherte <strong>der</strong> Irrtum immerzu fort, bis sie schließlich dem Sakrament<br />

beilegten, was den Gebeten gehört. Und die Wohltat, die sie empfangen<br />

sollten, die brachten sie nun Gott selbst dar.« 18<br />

Solcher Perversion gegenüber betont Luther, dass die Messe ein solches Testament<br />

und Sakrament ist, »worin Gott sich uns gegenüberdurch ein Versprechen<br />

verpflichtet und Gnade und Barmherzigkeit gibt«. 19 Es ist darum eine eklatante<br />

Verkehrung, »dass wir ein gutes Werk o<strong>der</strong> ein Verdienst daraus machen. Denn<br />

ein Sakrament ist nicht beneficium acceptum, sed datum: nicht eine angenommene<br />

Wohltat, son<strong>der</strong>n eine gegebene. Es nimmt keine Wohltat von uns, son<strong>der</strong>n<br />

bringt uns Wohltat.« 20 Darum kann »die Verheißung allein durch den Glauben<br />

ohne alle Werke empfangen und angenommen« 21 werden, nicht durch menschliche<br />

Leistungen bzw. Opfer und Verdienste. Pointiert stellt Luther in Vom<br />

Missbrauch <strong>der</strong> Messe den Gegensatz zwischen Opfer und Zusage heraus. Opfer<br />

und Zusage seien »weiter voneinan<strong>der</strong> entfernt als Sonnenaufgang und Sonnenuntergang«<br />

22 .Während im Opfer als menschliche Leistung Gott etwas gegeben<br />

werde, was dem Menschen zur Verfügung steht, sei die Zusage »Gottes<br />

Wort, das dem Menschen Gottes Gnade und Barmherzigkeit gibt.« 23 Angesichts<br />

<strong>der</strong> Tatsache, dass es keine Ähnlichkeit gebe »zwischen dem Wort Gottes und<br />

17<br />

18<br />

19<br />

20<br />

21<br />

22<br />

23<br />

LDStA 3, 235,32–237,3.<br />

LDStA 3, 241,17–26.<br />

DDStA 2, 177,35f.<br />

DDStA 2, 177, 37–40.<br />

DDStA 2, 273,42–275,1.<br />

DDStA 2, 275,9 f.<br />

DDStA 2, 275,11 f. (Hervorhebung FN).


52 Frie<strong>der</strong>ike Nüssel<br />

unserer Leistung«, hält Luther es nicht nur für irrig, son<strong>der</strong>n für irrational, »aus<br />

Gottes Verheißung ein menschliches Opfer und aus dem Wort <strong>der</strong> göttlichen<br />

Majestät die Leistungeiner armen Kreatur zu machen«. 24 Gottes Verheißung und<br />

menschliches Opfer sind dabei nicht nur kategorial unterschieden, sie lassen sich<br />

schon aus gabe-logischen Gründen auch nicht verbinden. Denn<br />

»(e)in und dieselbe Sache kann […] nicht zugleich empfangen und dargebracht<br />

werden, auch nicht von ein und <strong>der</strong>selben Person zugleich gegeben und entgegengenommen<br />

werden – bestimmt nicht mehr, als ein Gebet identisch sein kann mit <strong>der</strong><br />

erlangten Sache sowie Beten mit dem Empfang dessen, worum gebetet wird.« 25<br />

Mit dieser Überlegung ist zum einen logisch ausgeschlossen, dass die dem<br />

Menschen in Gottes Verheißung zugesagte Gabe Gegenstand menschlichen Opferns<br />

sein kann, weil dann <strong>der</strong> Mensch darbringen würde, was er nur empfangen<br />

kann. Zum an<strong>der</strong>en schließt die gabe-logische Überlegung es für Luther aus, die<br />

Elemente Brot und Wein, die im Abendmahl empfangenwerden,als Opfergaben<br />

zu verstehen. Denn: »Was wir aber essen und trinken, das opfern wir nicht. Wir<br />

behalten es vielmehr für uns selbst und nehmen es zu uns.« 26 Die Elemente sind<br />

vielmehr »Unterpfand und Zeichen« 27 <strong>der</strong> Zusage Christi, <strong>der</strong> zur Erlösung <strong>der</strong><br />

Menschen von <strong>der</strong> Sünde den TodamKreuz auf sich genommen und darin die<br />

Vergebung <strong>der</strong> Sünde begründet hat. Die Elemente symbolisieren so nicht nur die<br />

im Leben, Leiden und in <strong>der</strong> Auferweckung gegebene Zusage <strong>der</strong> Erlösung und<br />

Rechtfertigung, son<strong>der</strong>n sind selbst Gaben, die zum Empfang bestimmt sind.<br />

Unter den Elementen von Brot und Wein hat Christus<br />

»uns das edelste und teuerste Siegel und Unterpfand, seinen wahren Leib und sein<br />

wahres Blut, […] gegeben – eben dasselbe, womit er erworben hat, dass uns dieser<br />

teure, gnadenreiche Schatz geschenkt und verheißen ist. Er hat sein Leben dahingegeben,<br />

damit wir die verheißene Gnade annehmen und empfangen.« 28<br />

Die Selbstgabe Jesu Christi unter den Elementen von Brot und Wein zielt nach<br />

Luther darauf, dass »wir dieser Zusage Christi gewiss sind und uns ohne jeden<br />

Zweifel vollkommen auf sie verlassen können«. 29 Die Gewissheit des Glaubens<br />

hängt an <strong>der</strong> in den Einsetzungsworten und in <strong>der</strong> folgenden Austeilung jedem<br />

24<br />

25<br />

26<br />

27<br />

28<br />

29<br />

DDStA 2, 275,14–17.<br />

LDStA 3, 245,12–17.<br />

DDStA 2, 281,32–34.<br />

DDStA 2, 283,23.<br />

DDStA 2, 283,38–285,2.<br />

DDStA 2, 283,38–40.


Wirklichkeit als ansprechende Gabe<br />

und als Resonanzraum<br />

Die umfassende Abendmahlstheologie des späten<br />

Luther –imGesprächmit Jean-Luc Marion und<br />

Hartmut Rosa<br />

Martin Wendte<br />

1. Einleitung: Die Wirklichkeit als Gabegeschehen –<br />

o<strong>der</strong>: Der späteLuther entwickelt eine neue<br />

Terminologie für seine Theologie als Ganze<br />

Die Wirklichkeit als Ganze kann in <strong>der</strong> Terminologie <strong>der</strong> Gabe verstanden werden.<br />

Denn Gott gibt sich selbst und er gibt die Schöpfung als gute Gabe für die<br />

Menschen. Nachdem die Menschen dies aufgrund des Sündenfalls nicht mehr<br />

erkennen, gibt Gott sich in Jesus Christus und gegenwärtig im Abendmahl. Dadurch<br />

können die Menschen die Wirklichkeit wie<strong>der</strong>um als gute Gabe wahrnehmen<br />

und sich entsprechend verhalten. So zumindest lautet <strong>der</strong> Kern <strong>der</strong><br />

Theologie des späten Luther, <strong>der</strong>en Grundzüge im Folgenden dargelegt werden.<br />

Diese Theologie ist nicht nur in sich selbst faszinierend und bietet Möglichkeiten,<br />

die Rechtfertigungslehre in neuer und ansprechen<strong>der</strong> Weise zur Sprache zu<br />

bringen. Sie ist zugleich anschlussfähig an gegenwärtige philosophische und<br />

soziologische Debatten um die Gabe und die Resonanz, die wir bei Jean-Luc<br />

Marion 1 und Hartmut Rosa antreffen. Damit bringt sie die Theologie in ein<br />

wechselseitig bereicherndes Gespräch mit einigen <strong>der</strong> gegenwärtig am intensivsten<br />

diskutierten geistes- und sozialwissenschaftlichen Theorien überhaupt.<br />

Um diese Überlegungen etwas genauer darzulegen, werde ich nach einigen<br />

einleitenden Bemerkungen im Hauptteil dieses Aufsatzes Grundzüge <strong>der</strong> Theologie<br />

des spätenLuther im Anschluss an seine wichtige Schrift»VomAbendmahl<br />

Christi. Bekenntnis« 2 von 1528 darlegen. Dabei wird deutlich werden, dass <strong>der</strong><br />

1<br />

2<br />

In <strong>der</strong> Soziologie wird <strong>der</strong> Diskurs über die Gabe u. a. durch verschiedene Beiträge von<br />

Jacques Godbout o<strong>der</strong> Pierre Bourdieu geführt, in <strong>der</strong> Philosophie durch die Einsichten<br />

von Jacques Derrida und Jean-Luc Marion und in <strong>der</strong> Theologie durch die Einwürfe von<br />

John Milbank und Miroslav Volf. Siehe als erste Einführung etwa Iris Därmann: Theorien<br />

<strong>der</strong> Gabe. Zur Einführung, Hamburg: Junius e2016. In diesem Aufsatz konzentriere ich<br />

mich auf die Beiträge von Derrida und Marion.<br />

Martin Luther: VomAbendmahl Christi. Bekenntnis (1528), WA 26, [241–260.]261–510.


64 Martin Wendte<br />

späte Luther die Theologie als Ganze als Gabegeschehen fasst und somit die<br />

Gotteslehre, aber auch die Lehre von <strong>der</strong> Schöpfung, die Christologie, die Sakramentenlehre<br />

und die Lehre von <strong>der</strong> Kirche unter dieser Perspektive rekonstruiertund<br />

dafür zugleich in aufregen<strong>der</strong> Weise neu konzeptioniert. 3 Indem ich<br />

im abschließenden Abschnitt Bezüge zu Marion und Rosa entwickle, möchte ich<br />

zugleich zu weiteren Entdeckungen <strong>der</strong> Gegenwärtigkeit dieser Theologie einladen.<br />

4<br />

Doch zuerst sei kurz erklärt, warum <strong>der</strong> späte Luther seine gesamte Theologie<br />

und damit auch seine Gabe-Terminologie gerade unter Fokussierung auf<br />

das Abendmahl entwickelt – wo doch das Abendmahl in gegenwärtigen Debatten<br />

protestantischer Theologie eine eher randständige Existenz führt. Der späte<br />

Luther ist darin mittelalterlicher Theologe, dass er seine gesamte Theologie anhand<br />

<strong>der</strong> Abendmahlslehre entwickelt. Dass mittelalterliche Theologie ihre<br />

Theologie von <strong>der</strong> Eucharistie aus entwickelt, liegt (auch) daran, dass im Mittelalter<br />

die zentralen Fragen von Sinn und Sein, von Identität, Gemeinschaftund<br />

Gott anhand des Abendmahls verhandelt werden. Mit Jochen Hörisch gesprochen<br />

war das Abendmahl im Mittelalter damit das »ontosemiologische Leitmedium« 5<br />

dieser Zeit. Hörisch geht davon aus, dass zu allen Zeiten die großen Fragen des<br />

Menschseins und des Verständnisses <strong>der</strong> Wirklichkeit und somit die Frage <strong>der</strong><br />

Zuordnung von Sinn und Sein, von Grund und Ziel <strong>der</strong> Wirklichkeit etc. verhandelt<br />

werden – dass dies aber zu unterschiedlichen Zeiten unter Fokussierung<br />

auf unterschiedliche Themengebiete o<strong>der</strong> eben »Leitmedien« passiert. Während<br />

im 19. und 20. Jahrhun<strong>der</strong>t das Geld o<strong>der</strong> das Kapitaldieses Leitmedium wurde,<br />

anhand dessen wir diese grundlegenden Fragen verhandeln und heute wohl<br />

die Neuen Medien dieses Leitmedium sind, wurdensie zu Zeiten des Mittelalters<br />

3<br />

4<br />

5<br />

Adolf von Harnack hat <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen <strong>Lutherforschung</strong> eingeschrieben, dass mit dem<br />

Namen »Luther« weniger ein einheitlicher Sachverhalt bezeichnet wird als vielmehr ein<br />

in sich hochkomplexes Gebilde verschiedener Stimmen. Denn von Harnack etablierte<br />

(Adolf von Harnack: Lehrbuch <strong>der</strong> Dogmengeschichte, Bd. 3: Die Entwicklung des<br />

kirchlichen Dogmas II und III, Freiburg i.Br.: Akademische Verlagsbuchhandlung 1890;<br />

mehrere Nachdrucke) für die Forschung mit großer Verve die Unterscheidung zwischen<br />

dem frühen und dem späten Luther; siehe dazu auch Eginhard P. Meijering: Der »ganze«<br />

und <strong>der</strong> »wahre« Luther. Hintergrund und Bedeutung <strong>der</strong> Lutherinterpretation A. von<br />

Harnacks, MNAW.L.NS 46/3, Amsterdam: Noord-Hollandsche Uitgevers Maatschappij<br />

1983.<br />

Dieser Aufsatz legt damit in verkürzter Form Überlegungen dar, die ich ausführlicher in<br />

meiner Habilitationsschriftentwickelt habe, siehe dazu Martin Wendte: Die Gabe und das<br />

Gestell. Luthers Metaphysik des Abendmahls im technischen Zeitalter, Collegium Metaphysicum<br />

7, Tübingen: Mohr Siebeck 2013.<br />

Jochen Hörisch: Brot und Wein. Die Poesie des Abendmahls, edition suhrkamp 1692,<br />

<strong>Frank</strong>furt a. M.: Suhrkamp 1992, S. 13.


Wirklichkeit als ansprechende Gabe und als Resonanzraum 65<br />

anhand des Abendmahls verhandelt. Daher entwickelt auch <strong>der</strong> späte Luther in<br />

Differenz zum Protestantismus heute undingroßer Nähe zu den Orthodoxen <strong>der</strong><br />

Gegenwart und in einiger Nähe zu einigen Strömungen imgegenwärtigen römischen<br />

Katholizismus seine gesamte Theologie vom Abendmahl her und in <strong>der</strong><br />

Auseinan<strong>der</strong>setzung mit seinen oberdeutschen Gegnern wie Zwingli, Karlstadt<br />

und Oekolampad. 6<br />

2. Wirklichkeit als Gabe: Die Gabetheologie des<br />

späten Luther<br />

2.1 Ein erster Überblick über Luthers späteGabetheologie<br />

Luther resümiert seine späte Theologie in dem berühmten »Bekenntnis« als dem<br />

abschließenden Teil seiner wichtigsten abendmahlstheologischen Schrift »Vom<br />

Abendmahl Christi. Bekenntnis«von 1528. Innerhalb dieses Bekenntnisses ist <strong>der</strong><br />

folgende Text noch einmal ein Resümee seines Resümees, da er eine eigene<br />

Reformulierung des Glaubensbekenntnisses präsentiert. Sie erfolgt durchgehend<br />

mithilfe des semantischen Feldes <strong>der</strong> Gabe und bildet somit in eins eine<br />

Zusammenfassung seiner späten Theologie und die Matrix für ausführlichere<br />

Überlegungen Luthers an an<strong>der</strong>en Stellen. Der Text soll im Folgenden zuerst<br />

zitiert werden. Dann soll er <strong>der</strong>gestalt ausgelegt werden, dass Grundzüge von<br />

Luthers gabetheologischen Überlegungen zum ersten, zweiten und dritten Artikel<br />

unter Rekurs auf verschiedene Schriften des späten Luther näher entfaltet<br />

werden.<br />

Luther schreibt:<br />

»Das sind die drey person und ein Gott, <strong>der</strong> sich uns allen selbs gantz und gar gegeben<br />

hat mit allem, das er ist und hat. Der Vater gibt sich uns mit hymel und erden sampt<br />

allen creaturen, das sie dienen und nütze sein müssen. Aber solche Gabe ist durch<br />

Adams fal verfinstert und unnütze worden. Darumb hat darnach <strong>der</strong> son sich selbs<br />

auch uns gegeben, alle sein werck, leiden, weisheit und gerechtickeit geschenckt und<br />

uns dem Vater versunet, damit wir wid<strong>der</strong> lebendig und gerecht, auch den Vater mit<br />

seinen gaben erkennen und haben möchten. Weil aber solche gnade niemand nütze<br />

were, wo sie so heymlich verborgen bliebe, und zu uns nicht komen kündte, So kompt<br />

<strong>der</strong> heilige geist und gibt sich auch uns gantz und gar, <strong>der</strong> leret uns solche wolthat<br />

Christi, uns erzeigt, erkennen, hilfft sie empfahen und behalten, nützlich brauchen<br />

und austeilen, mehren und fod<strong>der</strong>n. Und thut dasselbige beide ynnerlich und eusserlich:<br />

Ynnerlich durch den glauben und an<strong>der</strong> geistlich gaben.<br />

6<br />

Siehe dazu ausführlicher Wendte (s.o. FN 3), S. 3–12.


66 Martin Wendte<br />

Eusserlich aber durchs Euangelion, durch die tauffe und sacrament des altars,<br />

durch welche er als durch drey mittel od<strong>der</strong> weise er zu uns kompt und das leiden<br />

Christi ynn uns ubet und zu nutz bringet <strong>der</strong> seligkeit.« 7<br />

2.2 Schöpfung als ansprechende Gabe: Luthers Theologie des<br />

1. Artikels<br />

Der dreieinige Gott schafft durch sein schöpferisches Wort ex nihilo, und das<br />

bedeutet für die Schöpfung zum einen, dass sie nicht ewig ist, son<strong>der</strong>n von Gott<br />

her hervorgebracht wurde. Zum an<strong>der</strong>en ist das Geschaffene in sich selbst <strong>der</strong>gestalt<br />

nichts, dass es nicht in sich selbst steht, son<strong>der</strong>n von Anfang an und<br />

bleibend in seiner Existenz von Gott abhängig ist. 8<br />

Luther betont, dass alles Geschaffene deshalb, weil es sich vom guten Gott her<br />

empfängt, selbst gut ist. 9 Dass die Geschöpfe Gottes überhaupt sind und dass<br />

ihnen das von Gott verliehene Gutsein zukommt, ist für Luther so eindrücklich,<br />

dass er es mit dem Begriff des Wun<strong>der</strong>s bezeichnet. 10 Recht besehen ist auch das<br />

unscheinbarste Ding ein Wun<strong>der</strong>, etwa jedes kleine Körnlein auf dem Felde, das<br />

wächst – und indem Luther das betont, wird sichtbar, dass er das Überwältigende,<br />

die Überfülle jedes unscheinbarsten natürlichen Dinges wahrnimmt. 11 Erst nach<br />

dem Sündenfall und aufgrund <strong>der</strong> damit einsetzenden Gewöhnung verliert<br />

<strong>der</strong> Mensch die Fähigkeit, im Entstehen und in <strong>der</strong> Verfasstheit <strong>der</strong> alleralltäglichsten<br />

Dinge wahre Wun<strong>der</strong> zu entdecken. Seit dem Sündenfall bedarf es des<br />

augenöffnenden Glaubens, um dieser Wun<strong>der</strong> wie<strong>der</strong> gewahr zuwerden.<br />

Zu dem wun<strong>der</strong>baren Gutsein des Geschaffenen gehört, dass es selbst in<br />

eigener Weise worthaft ist, da es von Christus als dem Schöpfungsmittler und<br />

Logos geschaffenwurde. Luther betont, dass »die Sonne, <strong>der</strong> Mond, <strong>der</strong> Himmel,<br />

die Erde, Petrus, Paulus, du und ich usw. alles Worte Gottes sind.« 12 »Je<strong>der</strong> Vogel<br />

7<br />

8<br />

9<br />

10<br />

11<br />

12<br />

WA 26, 505,38–506,12.<br />

Siehe dazu auch Sammeli Juntunen: Luther and Metaphysics: What is the Structure of<br />

Being according to Luther? in: Carl E. Braaten/Robert W. Jenson (Hgg.): Union with Christ.<br />

The New Finnish Interpretation of Luther,Grand Rapids (MI): Eerdmans 1998, S. 129–160,<br />

S. 152.<br />

Siehe dazu auch David Löfgren: Die Theologie <strong>der</strong> Schöpfung bei Luther, FKDG 10,<br />

Göttingen: Vandenhoeck &Ruprecht 1960, S. 45–60.<br />

Siehe zu diesem Abschnitt auch a. a. O., S. 54–57 sowie Oswald Bayer: Martin Luthers<br />

Theologie. Eine Vergegenwärtigung, Tübingen: Mohr Siebeck 2003, S. 97–106.<br />

Siehe WA 19, 488,9–12.<br />

WA 42, 17,17–19: »Sic Sol, Luna, Coelum, terra, Petrus, Paulus, Ego, tu etc. sumus vocabula<br />

Dei.« (dt. Übers. M.W.).


Wirklichkeit als ansprechende Gabe und als Resonanzraum 67<br />

und je<strong>der</strong> Fischsind daher nichtsan<strong>der</strong>esals Worte <strong>der</strong> göttlichen Grammatik.« 13<br />

Das erste Zitat führt vor Augen, dass tatsächlich die ganze geschaffene Wirklichkeit<br />

als Worte Gottes zu gelten hat. Das zweite Zitat betont, dass alles Geschaffene<br />

nicht nur in sich selbst jeweils ein eigenes Wort Gottes ist, son<strong>der</strong>n<br />

damit zugleich in die göttliche Grammatik als einen größeren Gesamtzusammenhang<br />

eingeordnet wird. Wie Luther in einer Predigt sagen kann, ist somit<br />

»unser Haus, Hoff, Acker, Garten und alles vol Bibel.« 14<br />

Luther stellt heraus, dass die Dinge nicht nur in sich selbst Worte Gottesund<br />

somit Bibel sind, son<strong>der</strong>n dass sie gerade als diese Worte den Menschen anreden.<br />

Noch genauer: Letztlich redet nicht das Wun<strong>der</strong>werk des Korn-Wortes den<br />

Menschen an, son<strong>der</strong>n es ist Gott selbst, <strong>der</strong> durch das Medium des Korns den<br />

Menschen anredet. 15 Dabei sagt Gott, dass die Dinge selbst gute Gaben sind, die<br />

von Gott auf den Menschen hin geschaffen wurden, damit <strong>der</strong> Mensch sie zu<br />

seinem Genuss und Nutzen gebrauchen möge. Entsprechend formuliert Luther in<br />

einer an<strong>der</strong>en Predigt, dass dann,wenn wir Augen und Ohren dafür hätten, »uns<br />

das Korn anreden würde: ›Sei fröhlich inGott, iss, trink, gebrauche mich und<br />

diene mit mir dem Nächsten.‹« 16 WieLuther betont, sollen wir die Schöpfung auf<br />

folgende Weise sehen: »las ein donum sein […]schreib drann: ›Dedit‹.« 17 Damit ist<br />

Entscheidendes für den Schöpfungsbegriff Luthers gewonnen: Sie ist ansprechende<br />

Gabe. 18<br />

Ein wichtiger Aspekt des Gabecharakters <strong>der</strong> Schöpfung besteht darin, dass<br />

sie eine insich differenzierte, harmonisch aufeinan<strong>der</strong> abgestimmte Gesamtordnung<br />

darstellt, die gerade in ihrer Geordnetheit Gabe für den Menschen ist.<br />

Die gesamte Schöpfung ist so geordnet, dass sie wie ein Haus ist, in dem <strong>der</strong><br />

Mensch wohnen kann. 19 Zum einen kommt dieser Ordnung ein zeitlicher Aspekt<br />

zu. Denn Gott schafft nicht alles in einem Augenblick, son<strong>der</strong>n ruft die Welt<br />

in sechs Tagen und im Wechsel von Tagund Nacht ins Dasein. 20 Dieser Ordnung<br />

13<br />

14<br />

15<br />

16<br />

17<br />

18<br />

19<br />

20<br />

WA 42, 37,6–8: »Quaelibet igitur avis, piscis quilibet sunt nihil nisi nomina divinae<br />

Grammaticae.« (dt. Übers. M.W.).<br />

WA 49, 434,13 f.<br />

Siehe WA 49, 434,13–16.<br />

WA 46, 494,15 f., zitiert nach Bayer (s. o. FN 10), S. 100.<br />

WA 40 III, 250,1.251,5 und siehe Albrecht Beutel: In dem Anfang war das Wort. Studien zu<br />

Luthers Sprachverständnis, HUTh 27, Tübingen: Mohr Siebeck 1991, S. 112.<br />

Mit Bayer (s.o. FN 10), S. 101 gesprochen: »Dass die ganze Welt und alle Kreaturen rufen<br />

und durch diese Medien Gott selbst sich uns ganz und gar zusagt und gibt, ist <strong>der</strong> Inbegriff<br />

von Luthers Verständnis <strong>der</strong> Schöpfung.« (Hervorhebung im Original)<br />

Siehe zum Folgenden auch Johannes Schwanke: Creatio ex nihilo. Luthers Lehre von <strong>der</strong><br />

Schöpfung aus dem Nichts in <strong>der</strong> Großen Genesisvorlesung (1535–1545),TBT 126, Berlin/<br />

New York 2004, S. 109.<br />

Siehe WA 42, 4,26–5,25.


68 Martin Wendte<br />

kommt zum an<strong>der</strong>en ein gleichsam räumlicher Aspekt zu, durch den die ganze<br />

Welt als »wun<strong>der</strong>bares Domizil« 21 für den Menschen erscheint; und es ist ein<br />

Befehl Gottes anden Menschen, alle im Überfluss vorhandenen guten Gaben zu<br />

genießen. 22<br />

2.3 Idiomenkommunikation als Gabegeschehen: Grundzüge von<br />

Luthers Theologie des 2. Artikels<br />

Der Sündenfall bewirkt, dass die Menschen gegenüber <strong>der</strong> guten Gabeordnung<br />

<strong>der</strong> Schöpfung ebenso blind werden, wie sie Gott nicht mehr als ihren Schöpfer<br />

erkennen, <strong>der</strong> sich ihnen selbst inguter Weise gibt. Stattdessen erscheint ihnen<br />

die Welt als feindlicher, abweisen<strong>der</strong> Ort, dem man sich nur mit Mühe und Arbeit<br />

zu stellen hat. Die Mitmenschen erscheinen vor allem als Konkurrenten, und<br />

die Menschen meinen, dass sie sich selbst in ihrer Existenz und Identität aus<br />

ihrem eigenen Tunerhalten müssen, nicht als gute Gabe Gottes. Es ist dieAufgabe<br />

<strong>der</strong> Selbstgabe Gottes in Jesus Christus, dass die Menschen wie<strong>der</strong> Schöpfer,<br />

Schöpfung und Mitgeschöpfe als ansprechende Gabe erkennen und sich entsprechend<br />

verhalten.<br />

Die genauere Explikation wird verdeutlichen, warum die Christologie Luthers<br />

in <strong>der</strong> Sekundärliteratur bisweilen als <strong>der</strong> vielleicht aufregendste und<br />

innovativste Bereich seiner Theologie angesehen wird. 23 Denn in methodischer<br />

Hinsicht werden die Person, die Naturen und das Werk Jesu Christi aufs engste<br />

dialektisch miteinan<strong>der</strong> verbunden. 24 Dafür betont Luther die Personeneinheit<br />

<strong>der</strong> zwei Naturen und fasst die Personeneinheit als dynamische, heilbringende<br />

Idiomenkommunikation. 25 In materialer Hinsicht führt dies zu so radikalen Bestimmungen<br />

wie denjenigen, dass Gott stirbt und dass die Menschheit Jesu all-<br />

21<br />

22<br />

23<br />

24<br />

25<br />

WA 42, 29,28: »domicilium […] elegans«.<br />

Siehe WA 42, 29,30f.: »iubetur frui omnibus diviciis«.<br />

Siehe dazu nur die Beiträge von Jörg Baur: Lutherische Christologie im Streit um die neue<br />

Bestimmung von Gott und Mensch, in: Ders.: Luther und seine klassischen Erben. Theologische<br />

Aufsätze und Forschungen, Tübingen: Mohr Siebeck 1993, S. 145–163, sowie<br />

Ders.: Ubiquität,in: Oswald Bayer/Benjamin Gleede (Hgg.): Creator est Creatura. Luthers<br />

Christologie als Lehre von <strong>der</strong> Idiomenkommunikation, TBT 138, Berlin/New York 2007,<br />

S.186–302.<br />

Siehe dazu auch Oswald Bayer, Das Wort ward Fleisch. Luthers Christologie als Lehre<br />

von <strong>der</strong> Idiomenkommunikation,in: <strong>der</strong>s./Gleede (Hgg.) (s.o. FN 23), S. 5–34, S. 32: »In<br />

ihrem kommunikativen Charakter ist die ›Person‹ Jesu Christi mit seinem ›Werk‹ identisch.«<br />

(Hervorhebung im Original)<br />

Siehe dazu auch Albrecht Peters,Realpräsenz. Luthers Zeugnis von Christi Gegenwart im<br />

Abendmahl, AGTL 5, Berlin: Lutherisches Verlagshaus 1960, S. 68–74.


Zum Jubilar:<br />

Dr. Theodor Dieter, Jahrgang 1951, studierte Evangelische Theologie und Philosophie in Heidelberg<br />

und Tübingen. Er war Pfarrer <strong>der</strong> Evangelischen Landeskirche in Württemberg und<br />

von 1994 bis 2018 Forschungsprofessor am Institut für <strong>Ökumenische</strong> Forschung in Straßburg,<br />

von 1997 bis 2018 dessen Direktor. Forschungs- und Tätigkeitsschwerpunkte sind die Theologie<br />

Martin Luthers vor ihrem spätmittelalterlichen Hintergrund sowie <strong>der</strong> lutherisch/römischkatholische<br />

und <strong>der</strong> lutherisch-mennonitische Dialog. Dieter ist Träger des Joseph-Ratzinger-<br />

Preises (2017) und Ehrendoktor <strong>der</strong> Universitäten Erfurt und Leuven (Belgien). Derzeit arbeitet<br />

er an einer Edition von Texten zum Ablassstreit.<br />

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Satz: 3w+p, Rimpar<br />

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ISBN 978-3-374-07592-8 eISBN (PDF) 978-3-374-07593-5<br />

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