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Politik - Wirtschaft - Europa

Die FH-Schriftenreihe „Wirtschaft und Management“ wurde 2004 im Rahmen des Projektes „Basel II“ ins Leben gerufen und erscheint seitdem zweimal jährlich. Sie fungiert als Veröffentlichungsplattform für Lehr- und Forschungspersonal der Fachhochschule des BFI Wien, externe Autor:innen und Ergebnisse hervorragender Arbeiten unserer Studierenden. Im Fokus stehen wirtschaftswissenschaftliche Themenfelder mit aktueller Relevanz. Ziel der Schriftenreihe ist die Unterstützung der Anwendungs- und Praxisbezogenheit in der wirtschaftswissenschaftlichen Forschung, sowie der Wissenstransfer und Austausch.

Die FH-Schriftenreihe „Wirtschaft und Management“ wurde 2004 im Rahmen des Projektes „Basel II“ ins Leben gerufen und erscheint seitdem zweimal jährlich. Sie fungiert als Veröffentlichungsplattform für Lehr- und Forschungspersonal der Fachhochschule des BFI Wien, externe Autor:innen und Ergebnisse hervorragender Arbeiten unserer Studierenden.

Im Fokus stehen wirtschaftswissenschaftliche Themenfelder mit aktueller Relevanz. Ziel der Schriftenreihe ist die Unterstützung der Anwendungs- und Praxisbezogenheit in der wirtschaftswissenschaftlichen Forschung, sowie der Wissenstransfer und Austausch.

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Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024<br />

<strong>Wirtschaft</strong> und Management<br />

Schriftenreihe zur wirtschaftswissenschaftlichen Forschung und Praxis<br />

<strong>Politik</strong> – <strong>Wirtschaft</strong> – <strong>Europa</strong><br />

Festschrift<br />

für Michael Thöndl zum 65. Geburtstag<br />

ISSN 1812-9056<br />

Herausgegeben von der Fachhochschule des BFI Wien Gesellschaft m.b.H.


<strong>Wirtschaft</strong> und Management<br />

Schriftenreihe zur wirtschaftswissenschaftlichen<br />

Forschung und Praxis<br />

Festschrift für Michael Thöndl<br />

herausgegeben von<br />

Andreas Breinbauer, Elisabeth Springler und Harun Pačić<br />

Wien, 2024


Autor:innenhinweise<br />

Möchten Sie einen Beitrag in „<strong>Wirtschaft</strong> und Management“ veröffentlichen? Wir freuen uns, wenn Sie uns<br />

einen Artikel senden und werden Sie nach besten Kräften unterstützen. Nachfolgend finden Sie einige<br />

Hinweise, um deren Beachtung wir Sie dringend ersuchen.<br />

1. Allgemeine Hinweise<br />

- Dateityp: Word-Dokument<br />

- Schrift: Roboto<br />

- Schriftgröße: 10 Pkt.<br />

- Zeilenabstand: 1,5 Zeilen<br />

- Satz: Blocksatz<br />

- Silbentrennung: Bedingten Trennstrich (Strg und -) verwenden<br />

- Rechtschreibung: Bitte verwenden Sie die neuen deutschen Rechtschreibregeln.<br />

Es ist auf eine geschlechtsneutrale Schreibweise durch die Verwendung des<br />

Doppelpunkts (z.B. der:die Autor:in) zu achten.<br />

- Bilder und Grafiken: Stellen Sie bitte alle Bilder und Grafiken in separaten Dateien bei! Die Bild auflösung<br />

muss für den Druck mindestens 300dpi betragen. Bedenken Sie bei der<br />

Einbindung von Grafiken und Bildern, dass Ihr Beitrag in Farb-Druck erscheinen<br />

wird und wählen Sie starke Kontraste und keine dunklen Hintergründe.<br />

- Lebenslauf und Portrait: Stellen Sie bitte in extra Dateien einen kurzen Lebenslauf (ca. 5 bis max. 10 Zeilen)<br />

und ein Portrait-Foto von Ihnen und Ihren Mitautor:innen bei (mind. 300dpi).<br />

- Bitte schreiben Sie im Fließtext und verwenden Sie nur Standardformate!<br />

2. Gestaltung des Beitrags<br />

- Titel des Beitrags: fett<br />

- Autor:in: Geben Sie Titel Vorname Nachname der Autor:innen sowie Institution/Firma an<br />

- Abstract: Stellen Sie Ihrem Beitrag bitte einen kurzen deutschen und englischen Abstract voran.<br />

- Überschriften: Verwenden Sie maximal drei Gliederungsebenen (1.; 1.1.; 1.1.1.)<br />

- Aufzählungen: Nummerierte Aufzählungen mit 1., 2., 3. usw. nummerieren, Aufzählungen ohne Nummerierung<br />

nur mit vorangestelltem Trennstrich -.<br />

- Fett und Kursivdruck: Nicht nur das Wort, auch die vorne und hinten angrenzenden Silbenzeichen im selben<br />

Format.<br />

- Anmerkungen: Anmerkungen werden als Fußnoten notiert (Menü Einfügen / Fußnote / Fußnote Seitenende;<br />

automatische Nummerierung).<br />

- Zitation im Text: Zitieren Sie nur im Text.<br />

Ein:e Autor:in: (Familienname Jahr); Zwei Autor:innen/Heraus geber:innen: (Familienname/Familienname Jahr);<br />

Mehrere Autor:innen / Herausgeber:innen: (Familienname et al. Jahr);<br />

Mit Seitenangaben: (Familienname Jahr: ##) oder (Familienname Jahr: ##-##) oder (Familien name Jahr:<br />

## f.) oder (Familienname Jahr: ## ff.).<br />

Mehrere Literaturzitate bitte nach Erscheinungsjahr reihen und durch Strichpunkt(e) trennen.<br />

Mehrere Literatur zitate desselben:derselben Autor:in mit Beistrich absetzen.<br />

- Literaturverzeichnis: Das komplette Literaturverzeichnis platzieren Sie am Ende des Textes.<br />

Monographie: Familienname, Vorname (Jahr): Titel. Ort: Verlag.<br />

Zeitschrift: Familienname, Vorname (Jahr): Titel. In: Zeitschrift Vol (Nr.), ##-##.<br />

Zeitung: Familienname, Vorname (Jahr): Titel. In: Zeitung Nr., Datum, ##-##.<br />

Internet-Dokument: Familienname, Vorname (Jahr): Titel. , Datum des Download (= last visit).<br />

Sammelbände: Familienname, Vorname/Familienname, Vorname (Hg. bzw. ed./eds., Jahr): Titel. Ort: Verlag.<br />

Aufsätze in Sammelbänden: Familienname, Vorname (Jahr): Titel. In: Familienname, Vorname (Hg. bzw.<br />

ed./eds.): Titel. Ort: Verlag, ##-##.<br />

Mehrere Autor:innen: Familienname, Vorname/Familienname, Vorname (Rest siehe: ein:e Autor:in)<br />

3. Betreuung durch die Redaktion / Nutzungsrechte<br />

Bitte stimmen Sie Thema und Länge Ihres Beitrags mit der Redaktion ab. Die Redaktion steht Ihnen gerne<br />

für Fragen zur Verfügung. Mit der Einreichung des Manuskripts räumt der:die Autor:in dem Herausgeber<br />

für den Fall der Annahme das unbeschränkte Recht der Veröffentlichung in „<strong>Wirtschaft</strong> und Management“<br />

(in gedruckter und elektronischer Form) ein. Die Beiträge werden zusätzlich Open Access über den<br />

Publikationsserver der FH des BFI Wien zugänglich sein. Vor der Veröffentlichung erhalten Sie die<br />

redi gierte Endfassung Ihres Beitrags zur Freigabe. Sie werden ersucht, diese Version rasch durchzusehen<br />

und die Freigabe durchzuführen. Notwendige Korrekturen besprechen Sie bitte mit der Redaktion. Nach<br />

Erscheinen Ihres Artikels erhalten Sie 5 Autor:innenexemplare der Print-Version durch den Herausgeber.<br />

Mit der Übermittlung des Manuskripts erkennen Sie die Bedingungen des Herausgebers an.<br />

Kontakt: Gabriele Bucher MSc; E-Mail: gabriele.bucher@fh-vie.ac.at; Tel.: +43/1/720 12 86-266<br />

Fachhochschule des BFI Wien, Wohlmutstraße 22; 1020 Wien


Vorwort<br />

<strong>Politik</strong> – <strong>Wirtschaft</strong> – <strong>Europa</strong>.<br />

Unter diesen drei Rubriken umfasst die vorliegende Ausgabe 16 Beiträge aus verschiedenen Disziplinen,<br />

die alle eines gemeinsam haben: Die Autor:innen haben ihre Beiträge aus Anlass des 65. Geburtstags<br />

von Prof. (FH) PD Dr. Michael Thöndl verfasst, der seit fast 23 Jahren den Fachbereich <strong>Politik</strong>wissenschaft<br />

an der FH des BFI Wien leitet, wo er nicht nur langjähriges Mitglied des FH-Kollegiums<br />

war, sondern auch einen interdisziplinären Forschungszirkel veranstaltete, der in kreativer akademischer<br />

Atmosphäre zur Diskussion anregte und Anknüpfungspunkte zu Kooperationen herstellte. Der<br />

Forschungszirkel adressiert(e) damit ein wesentliches strategisches Ziel der Forschung an der FH des<br />

BFI Wien, nämlich die Zusammenarbeit zu bestimmten Themen über verschiedene Fächer hinweg.<br />

Ebenso interdisziplinär sind die Beiträge für diese als Festschrift herausgegebene Sonderausgabe der<br />

FH-Schriftenreihe „<strong>Wirtschaft</strong> und Management“.<br />

Die drei Rubriken spielen auf Thöndls Fachbereich und seine Lehrtätigkeit im Studiengang Europäische<br />

<strong>Wirtschaft</strong> und Unternehmensführung an. Zwar hätte die Mehrzahl der Beiträge mehr als nur<br />

einer Rubrik zugezählt werden können, doch spiegelt die Zuordnung einen Schwerpunkt wider, der den<br />

Leser:innen eine grobe Orientierung ermöglicht.<br />

Alexander Straßner, Gernot Stimmer, Florian Hartleb und Bernhard Zeilinger fokussieren auf Demokratie,<br />

Harun Pačić auf Rechtsstaatlichkeit. Andreas Breinbauer blickt auf 10 Jahre Neue Seidenstraße<br />

zurück, Sandra Eitler und Reinhold Schodl erörtern das Innovationspotenzial des Straßengüterverkehrs,<br />

während Franziska Nemmer und Christopher Kronenberg das Erfordernis der Erweiterung der Kreislaufwirtschaft<br />

um die Kreislaufgesellschaft diskutieren. Die Beiträge von Bernhard Ennser und Kai<br />

Erenli stehen beide im Zeichen der Digitalisierung. Johannes Jäger spannt einen Bogen von Oswald<br />

Spengler zu Karl Marx. Ina Pircher geht in ihrem Beitrag faschistischen <strong>Europa</strong>ideen auf den Grund,<br />

indes beleuchtet Elisabeth Springler die Europäische Integration aus ökonomischer Perspektive. Karl<br />

Wörle befasst sich mit Fragen zur Verbandsklage und Michael Reiner stellt eine Forschungsidee zur<br />

Alterssicherung vor. Judith Brücker gibt eine Einschätzung der Zweckmäßigkeit bisher unternommener<br />

Nachhaltigkeitsstrategien.<br />

Den Fachbeiträgen der genannten Autor:innen geht eine von Franz Eder verfasste persönliche Würdigung<br />

des Jubilars voran.<br />

Die Herausgeber:innen danken allen Autor:innen herzlichst und wünschen Michael Thöndl alles Gute<br />

zu seinem 65. Geburtstag!<br />

<br />

Andreas Breinbauer, Elisabeth Springler und Harun Pačić


Widmung<br />

Franz Eder<br />

Michael Thöndl – Forscher, Lehrer, Mensch<br />

Festschriften gehören im akademischen Bereich zur guten Sitte, den Übertritt einer Person vom<br />

Berufsleben in den Ruhestand zu feiern. Festschriften sind aber auch ein Indikator dafür, wie sehr die<br />

Arbeit einer Person gewürdigt wird und mit welchen Kolleg:innen diese Person in ihrer Laufbahn zu tun<br />

hatte. Es freut mich daher außerordentlich, dass ich für die Festschrift von Michael Thöndl eine kurze<br />

Würdigung beisteuern darf.<br />

Ich kenne Michael Thöndl seit über 15 Jahren und habe ihn in unterschiedlichsten Kontexten als<br />

Forscher, Lehrer und Mensch kennen und vor allem schätzen gelernt. Ich war Mitglied der Habilitationskommission<br />

an der Universität Innsbruck, die dem Rektorat nachdringlich empfahl, Michael Thöndl die<br />

„venia docendi“, also die Lehrbefugnis für das Fach <strong>Politik</strong>wissenschaft zu verleihen. Als Studienbeauftragter<br />

für die politikwissenschaftlichen Studiengänge an der Universität Innsbruck und dann als<br />

Studiendekan habe ich Michael schließlich in unzähligen Lehrveranstaltungen als zuverlässigen und<br />

begeisternden Lehrer erlebt. Seit 2010 hat Michael mich auch jährlich zu Lehrveranstaltungen an die<br />

FH des BFI Wien eingeladen bzw. mir die Gelegenheit gegeben, Teil der Jean Monet Lecture Series sein<br />

zu dürfen. Ich habe Michael Thöndl in diesen Jahren also in seinen vielen unterschiedlichen Facetten<br />

kennengelernt und möchte daher in diesem Rahmen kurz auf diese Facetten und den Menschen eingehen.<br />

Michael Thöndl gehört zu der immer rarer werdenden Kategorie der Politischen Theoretiker im Fach<br />

<strong>Politik</strong>wissenschaft. Während die „Politische Theorie“ neben dem „Vergleich politischer Systeme“ und<br />

den „Internationalen Beziehungen“ eigentlich zu einer der drei tragenden Säulen des Faches zählt, ist<br />

ihre Bedeutung innerhalb der Disziplin abnehmend. Das mag vor allem daran liegen, dass die empirisch<br />

ausgerichtete <strong>Politik</strong>wissenschaft in den letzten Jahrzehnten immer stärker wurde, und Stellenkategorien<br />

an Universitäten und Forschungseinrichtungen immer seltener normativ-orientiert ausgerichtet<br />

und nur in Ausnahmefällen mit einem hauptsächlich theoretischen Fokus gewidmet werden.<br />

Michael Thöndls Forschungsschwerpunkt zeichnet sich aber nicht nur dadurch aus, dass er sich auf<br />

eine der drei tragenden aber zunehmend an Bedeutung und Einfluss verlierenden Säulen des Faches<br />

konzentriert. Er nimmt auch innerhalb der Teildisziplin der Politischen Theorie eine Position ein, die eine<br />

Minderheitenposition, aber dafür umso wichtiger ist. Während die zeitgenössische politische Theorie<br />

sich vor allem auf Themen wie das Aufkommen emanzipatorischer Werte, Gender und Diversität in all


ihren Facetten, Ungleichheiten und neuen Formen der politischen Partizipation sowie post-kolonialen<br />

Theorien konzentriert, setzt sich Michael in seiner Forschung vor allem mit der „konservativen Revolution“,<br />

der Machtstaatsidee des italienischen Faschismus und dem Denken von Menschen wie Oswald<br />

Spengler oder Richard Nikolaus Graf Coudenhove-Kalergi auseinander. Damit leistet er wichtige Beiträge<br />

zum besseren Verständnis dieser faschistischen und konservativen Denker. Deren Denken und<br />

Handeln mag aus normativer und demokratie-politischer Sicht zwar höchst problematisch sein. Trotzdem<br />

ist deren Verständnis und ihr Einfluss auf das politische Denken von heute und die Ereignisse des<br />

20. Jahrhundert unerlässlich.<br />

Michaels Forschung im Bereich der Politischen Theorie ist aber nicht nur aus inhaltlicher Sicht genuin<br />

und von großer Bedeutung. Sein Forschungsansatz unterscheidet sich auch von der Vielzahl seiner<br />

Kolleg:innen in der Teildisziplin, die normative <strong>Politik</strong>wissenschaft betreiben, ihre Forschung also<br />

vor dem Hintergrund normativ erwünschter oder unerwünschter Entwicklungen verstehen. In der<br />

Forschung von Michael Thöndl geht es nicht so sehr um die Frage, wie die Welt idealerweise sein<br />

sollte (oder wie sie besser nicht sein sollte), sondern, wie sie zu einem bestimmten Zeitpunkt war. Sein<br />

Ansatz ist also meist ein empirisch-analytischer, der die Beschreibung und Analyse der Wirklichkeit vor<br />

deren normativer Bewertung stellt. Michael Thöndl ist als politischer Theoretiker und Ideengeschichtler<br />

auch dahingehend eine Ausnahme, dass er viel seiner Forschungszeit nicht hinter einem Schreibtisch,<br />

sondern in Archiven (allen voran in Italien) verbringt und nach empirischen Belegen für seine<br />

Arbeit sucht.<br />

Neben seiner Rolle als Forscher konnte ich Michael Thöndl in diesen vielen Jahren auch als Lehrenden<br />

miterleben. Als Mitglied seiner Habilitationskommission war es unter anderem meine Aufgabe, seine<br />

Lehre an den Universitäten Wien und Innsbruck zu bewerten. Ein Blick in das didaktische Gutachten<br />

von damals unterstreicht meinen Eindruck von ihm als engagierten, kompetenten, zuverlässigen<br />

und sehr beliebten Lehrer. Michael Thöndl wurden von den Studierenden generell große didaktische<br />

Fähigkeiten attestiert, er wurde als kompetenter und immer gut vorbereiteter Lehrer wahrgenommen,<br />

der die Studierenden zwar fordert, aber nie mehr verlangt als angemessen. Besonders gelobt wurde<br />

der Umstand, dass sich Michael Thöndl überdurchschnittlich gut um die Studierenden kümmert und<br />

ihnen viel Zeit und Unterstützung bei der Betreuung ihrer Arbeiten zukommen lässt. Die Noten, die<br />

die Studierenden ihm gaben, lagen meist im Bereich „Sehr gut“ und „Gut“, also über dem Schnitt der<br />

anderen Kolleg:innen des gleichen Studiengangs.<br />

Wie sehr Michaels Lehre geschätzt wurde, zeigt auch der folgende Kommentar eines Studierenden aus<br />

diesem didaktischen Gutachten:<br />

„Dr. Thöndl gab mir einen umfassenden Einblick in die Thematik [i.e., das <strong>Politik</strong>verständnis im<br />

italienischen Faschismus, FE], Interdisziplinarität spielte dabei eine wesentliche Rolle. Neben der politikwissenschaftlichen<br />

Analyse kam es zur Vermittlung von Wissen in den Bereichen der Geschichte,<br />

Geographie und Architektur. Besonderen Wert legte Dr. Thöndl auf die Diskussion, Fragen der Studierenden<br />

wurden stets umfangreich und bemüht beantwortet.“


Forschungsgeleitete Lehre und Interdisziplinarität, gepaart mit Begeisterungsfähigkeit und dem bewussten<br />

Eingehen auf die Interessen und Bedürfnisse der Studierenden, scheinen also die Merkmale<br />

der Lehre von Michael Thöndl zu sein.<br />

Das war auch der Umstand, warum das Institut für <strong>Politik</strong>wissenschaft und die Universität Innsbruck<br />

gerne und wiederkehrend auf Michael als Lehrenden zurückgegriffen haben. Das hatte nicht nur mit<br />

den spannenden und gut aufbereiteten Lehrinhalten und seinen guten Evaluationen zu tun. Michael<br />

zeichnete sich in all den Jahren vor allem als zuverlässiger Lektor aus, der auch mal kurzfristig einspringen<br />

konnte und der seine Aufenthalte in Innsbruck immer aufgrund der didaktischen Bedürfnisse<br />

der betreffenden Lehrveranstaltung plante und nie am Umstand, so selten wie möglich die „beschwerliche“<br />

Reise aus der Bundeshauptstadt nach Tirol auf sich zu nehmen. Michael gehörte und gehört<br />

immer noch zu jener Gruppe an verlässlichen und engagierten Lehrenden, auf die wir in Innsbruck froh<br />

sind, „zurückgreifen“ zu können.<br />

Es gibt neben dem Forscher und Lehrer aber auch den Menschen Michael Thöndl, den ich hier abschließend<br />

würdigen möchte. Gerade im akademischen Umfeld, haben wir es oft mit sehr „besonderen“<br />

Menschen zu tun. Henry Kissinger meinte einmal über Universitäten, „[t]he reason that university politics<br />

is so vicious is because stakes are so small.“ Damit meinte er, dass es gerade im akademischen Bereich,<br />

obwohl es nach Maßstäben der „realen“ Welt von draußen um eigentlich wenig geht, der Grad an<br />

Brutalität im Umgang miteinander doch deutlich zu wünschen übriglässt. Das zeigt sich nicht nur beim<br />

Aufeinandertreffen von Personen des vermeintlich gleichen „Rangs“ (Professor:in vs. Professor:in).<br />

Das spiegelt sich vor allem auch bei unterschiedlich hierarchischen Positionen wider (Professor:in<br />

vs. Doktorand:in). Ich habe Michael Thöndl sowohl als junger Doktorand, frisch ge backener post-doc,<br />

als auch in meinen Funktionen als Studiendekan und Dekan kennengelernt und kann mit Stolz sagen,<br />

dass es immer nur einen Michael Thöndl gab. Michael gehört nicht zu der Kategorie Mensch, der nach<br />

oben kuscht, um dann nach unten zu treten. Er begegnete mir immer auf Augenhöhe und mit Respekt.<br />

Egal ob via eMail, über Telefon oder im direkt Austausch demonstrierte Michael Thöndl immer seine<br />

Freundlichkeit, sein Interesse am Gegenüber und seine Bescheidenheit, was seine eigene Person und<br />

seine Leistungen angeht.<br />

Der menschliche Umgang mit Michael war auch deswegen so gewinnbringend, weil auf ihn schlicht<br />

und einfach immer Verlass war. Wenn man mit Michael etwas vereinbart hat, musste man sich nie<br />

Gedanken machen, ob er seine Zusage auch einhalten würde. Man konnte sicher sein, dass Michael<br />

sich rechtzeitig meldete, alles Organisatorische zur Zufriedenheit aller Beteiligten regelte und bei Problemen<br />

sofort und effizient nach raschen und für alle Beteiligten zufriedenstellende Lösungen suchte.<br />

Michael Thöndl hat sich diese Festschrift daher als Forscher, Lehrer und Mensch mehr als nur verdient.<br />

Es freut mich daher umso mehr, auch eine kurze Würdigung beisteuern zu können. Mir bleibt zu hoffen,<br />

auch weiterhin mit Michael und seinen unterschiedlichen Facetten zu tun zu haben. Es gibt Menschen,<br />

die bereichern durch ihre Art das Leben anderer. Michael Thöndl gehört für mich eindeutig zu dieser<br />

Kategorie.


Inhaltsverzeichnis<br />

Widmung<br />

Michael Thöndl - Forscher, Lehrer, Mensch<br />

Franz Eder<br />

<strong>Politik</strong><br />

Seite<br />

Demokratie in der Krise – alter Wein in neuen Schläuchen? 13<br />

Alexander Straßner<br />

Die EU zwischen parlamentarischer Sklerose und „deliberativer Partizipation“ 31<br />

Gernot Stimmer<br />

Radikalisierung im Kontext einer neuen Weltunordnung 51<br />

Florian Hartleb<br />

Methodologische Annäherung zur Messung der Demokratiequalität von politischen Parteien 67<br />

Bernhard Zeilinger<br />

Politisches Wohlwollen: Eine philosophische Hinführung 91<br />

Harun Pačić<br />

<strong>Wirtschaft</strong>Seite<br />

10 Jahre Neue Seidenstraßeninitiative – das unterschätzte Projekt Chinas<br />

auf dem Weg zur Nummer eins 103<br />

Andreas Breinbauer<br />

Innovationspotenzial des Straßengüterverkehrs 131<br />

Reinhold Schodl und Sandra Eitler<br />

Die Kreislaufgesellschaft als notwendige Erweiterung der Kreislaufwirtschaft 139<br />

Christopher Kronenberg und Franziska Nemmer<br />

Digitalisierung – eine Einordnung in die Konzepte Effizienz und Effektivität 151<br />

Bernhard Ennser<br />

Plattformökonomie im Fokus: Die Auswirkungen von Epic<br />

vs. Apple und Google auf die Videospielbranche 155<br />

Kai Erenli<br />

Ist die Welt noch zu retten? Essay zur These vom Untergang des Abendlandes 171<br />

Johannes Jäger<br />

<strong>Europa</strong>Seite<br />

Faschistische <strong>Europa</strong>ideen und ihre Erben 177<br />

Ina Pircher<br />

Europäische Integration angesichts steigender Asymmetrien und die Bedeutung<br />

eines pluralen ökonomischen Betrachtungswinkels 193<br />

Elisabeth Springler


Kollektivverfahren und gütliche Streitbeilegung im römischen Recht und in der EU 211<br />

Karl Wörle<br />

Gewährleistung der Alterssicherung im Binnenmarkt<br />

Eine Forschungsskizze 223<br />

Michael Reiner<br />

Die globalen ökologischen Krisen: Eine empirisch basierte Einschätzung<br />

von Bearbeitungsstrategien 231<br />

Judith E. Brücker<br />

Verzeichnis der Autor:innen<br />

Seite<br />

Verzeichnis der Autor:innen 253<br />

Michael Thöndl im Porträt<br />

Michael Thöndl im Porträt


Impressum<br />

Medieninhaber, Herausgeber und Verleger:<br />

Fachhochschule des BFI Wien Gesellschaft m.b.H.<br />

A-1020 Wien, Wohlmutstraße 22, Tel.: +43/1/720 12 86<br />

E-Mail: info@fh-vie.ac.at<br />

http://www.fh-vie.ac.at<br />

Geschäftsführung:<br />

Mag. a Eva Schießl-Foggensteiner<br />

Redaktion:<br />

Prof. (FH) Dr. Andreas Breinbauer<br />

Gabriele Bucher, MSc<br />

Martina Morawetz-Wiesinger<br />

Lektorat:<br />

Prof. (FH) Priv.-Doz. Mag. Dr. Harun Pačić<br />

Martina Morawetz-Wiesinger<br />

Gabriele Bucher, MSc<br />

Layout und Druck:<br />

Claudia Kurz, A-2392 Grub im Wienerwald<br />

ISBN: 978-3-902624-71-0 (Printversion)<br />

ISBN: 978-3-902624-72-7 (E-Version)<br />

Hinweis des Herausgebers:<br />

Die in „<strong>Wirtschaft</strong> und Management“ veröffentlichten Beiträge enthalten die persönlichen Ansichten<br />

der Autor:innen und reflektieren nicht notwendigerweise den Standpunkt der Fachhochschule des<br />

BFI Wien.


Alexander Straßner<br />

Demokratie in der Krise – alter Wein in neuen<br />

Schläuchen?<br />

Abstract<br />

Die Krise der Demokratie ist ein Forschungsfeld mit langer Tradition. War sie in der Antike mit<br />

der Intention formuliert, die neue Herrschaftsform in Misskredit zu bringen, so wird das Bild<br />

spätestens mit dem 20. Jahrhundert immer differenzierter und orientiert sich an Teilproblemen<br />

der Demokratie. Dabei weisen ältere, historische Längsschnittstudien ähnliche Ergebnisse auf<br />

wie die kurzfristigen Analysen der wissenschaftlichen Gegenwartsliteratur. So muss konstatiert<br />

werden, dass die Demokratie noch alle ihre Krisen und Verwerfungen in der Lage war zu überwinden;<br />

ein Aspekt, der zu häufig zu kurz kommt.<br />

The crisis of democracy is a research field with a long tradition. While in ancient times it was<br />

formulated with the intention of discrediting the new form of rule, by the 20th century at the latest<br />

the picture has become more and more differentiated and is oriented towards partial problems<br />

of democracy. Both older, historical longitudinal studies show similar results as the short termanalyzes<br />

of contemporary scientific literature. It must be stated that democracy was still able to<br />

overcome all its crises and distortions; an aspect that is too often neglected.<br />

1 Die Tradition der Krise<br />

Die Krise der Demokratie ist so alt wie die Demokratie selbst. In der antiken Ausgestaltung war<br />

die Volksherrschaft der griechischen Polis auch nach ihrer Installierung fundamentaler Kritik<br />

ausgesetzt, Platon favorisierte die Herrschaft der Philosophen und eine ständische Organisation<br />

der Gesellschaft (Platon 2023: 369b-427c), während sein Schüler Aristoteles sie als negative<br />

Spielart der „Herrschaft der Vielen“ (Aristoteles 2018: III, 6-8) interpretierte und ihr gegenüber<br />

die Politie als positive Variante stellte. Im Lauf der Jahrhunderte wurde die Kritik an der Demokratie<br />

zeithistorisch modifiziert (Thomas von Aquin, Thomas Hobbes, John Locke) und subtiler,<br />

und bis in die Moderne hinein hielten sich Kreislaufmodelle von <strong>Politik</strong> und politischen Ordnungen,<br />

die abermals von der Antike (Polybios, Cicero) inspiriert nun Einbettung fanden in holistische<br />

Entwürfe ganzer globaler Ordnungsmodelle, denen eine naturgesetzliche Entwicklung von<br />

Aufstieg und Zerfall innewohne, der sich letztlich auch der Westen und die Demokratie zu unterwerfen<br />

hätten (Spengler 2017 [erstm. 1918]; Thöndl 2010).<br />

Nach den ersten universitären Gehversuchen und der endgültigen „Erfindung“ und universitären<br />

Etablierung der <strong>Politik</strong>wissenschaft nach dem Zweiten Weltkrieg in Kontinentaleuropa (Bleek<br />

2001: 20) differenzierte sich die Kritik an der Demokratie immer weiter aus und hat bis heute eine<br />

nahezu unüberschaubare Vielfalt an Literatur hervorgebracht, die weit über die wissenschaftliche<br />

Beschäftigung mit dem Thema hinausgeht. Die Krise der Demokratie wurde dabei sukzessive<br />

weniger externen Bedrohungen wie z.B. dem internationalen Terrorismus (Hegemann/Kahl 2017)<br />

<strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024<br />

13


Alexander Straßner<br />

oder vor allem populärwissenschaftlich bis vulgär-belletristisch dem Klimawandel (Schätzing<br />

2021) angelastet, sondern richtete sich mehr und mehr auf das Austragen essentieller demokratischer<br />

Gepflogenheiten. Vor allem seit den zunehmenden populistischen Herausforderungen<br />

(Wolf 2017) und entsprechenden Entgleisungen in höchster US-amerikanischer Regierungs ebene<br />

hat sich in der amerikanischen <strong>Politik</strong>wissenschaft eine entsprechende Revitalisierung dieser<br />

pessimistischen Forschungstradition durchgesetzt, die auch schnell ihre Verbreitung in der populärwissenschaftlichen<br />

Literatur fand (Runciman 2020; Levitsky/Ziblatt 2018). Im Gefolge der<br />

Corona-, Ukraine- und Klimakrise zielte der Fokus der Forschung in Kontinentaleuropa punktuell<br />

auf den demokratischen Diskurs. Mehr und mehr wird aktuell moniert, dass das Wesen der Demokratie,<br />

der pluralistische Interessenaustrag, im Lichte der sich ablösenden Krisen szenarien<br />

degeneriere. So wurde wahlweise ein zunehmender „Antagonismus“ (Mouffe 2010: 19), eine<br />

„ungesunde“ (Straßner 2022) oder „dysfunktionale“ (Bein 2024) Polarisierung der Diskussionskultur<br />

moniert. Gemeint war in allen Fällen das Gleiche: Die pluralistische Grunderkenntnis, dass<br />

unhinterfragbare Tatsachen (Menschenrechte, allgemeine Grundsätze des Zusammenlebens;<br />

allgemein der „non-kontroverse Sektor“; Fraenkel 1999 [erstm. 1932]: 496-510) relativ klein gehalten<br />

werden müssen, während der Großteil der politischen Probleme eines Landes den unterschiedlichen<br />

Interessen zur Diskussion gestellt werden müsse, werde zunehmend nicht mehr<br />

akzeptiert. Gerade anlässlich der großen Krisenfragen würde zunehmend emotionalisiert und<br />

moralisiert argumentiert (Gnisa 2023: 24), politische Wahrheit in Anspruch genommen und politische<br />

Gegner stigmatisiert, um sie vom politischen Diskurs auszuklammern. Die essentiell notwendige<br />

Polarisierung in demokratischen Gemeinwesen, die inhaltlichen Streit erst ermöglicht,<br />

sei so einer anderen Art der Polarisierung gewichen, in welcher politische Gegner:innen sich<br />

aus inhaltlichen Gründen wechselseitig die Legitimität absprechen. Insofern sei ein ausufernder<br />

Wertewandel und die sukzessive Atomisierung der Gesellschaft die größte Gefahr der Demokratie,<br />

da ihr die soziale Kohäsion zwischen den Individuen verloren gehe. (Kainz 2021: 377-405)<br />

Über diese internen Verwerfungen und Strukturprobleme hinaus ist es aber auch die internationale<br />

Ordnung, die Auflösung der Bipolarität, der Ukrainekrieg, das Aufstreben von Mittelmächten<br />

und der quantitative globale Rückgang der Demokratien im Vergleich zu autoritären Systemen<br />

inklusive der Infragestellung westlicher Dominanz, die (einmal mehr) zu einer „tiefe[n] Krise der<br />

liberalen Demokratien“ (Encke 2024: 33) zumindest in den großen Feuilletons beigetragen habe.<br />

Ziel des Beitrages ist es, einen historischen Längsschnitt über die multiplen Erzählungen von<br />

demokratischen Krisen darzustellen und vielleicht sich auch der Frage zu widmen, ob es sich tatsächlich<br />

um gravierende Strukturmängel der Demokratie handelt, die ihr Überleben gefährden,<br />

oder aber nicht vielmehr um Krisen, die das Wesen der Demokratie kennzeichnen und an deren<br />

Herausforderungen sie zu wachsen imstande ist.<br />

2 Ältere Einzelbefunde: Werte, Analogien, Dystopien<br />

So interessant und inhaltlich begründet die eingangs nur kurz angedeuteten aktuellen Schwerpunktsetzungen<br />

auch sein mögen, bilden sie jedoch nur die Spitze des Eisbergs und den zeitgenössischen<br />

Endpunkt einer auch im 20. Jahrhundert längeren Entwicklung, welche die Krise<br />

der Demokratie jeweils anders verortete. Die grundlegende Differenz zwischen modernen und<br />

14 <strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024


Demokratie in der Krise – alter Wein in neuen Schläuchen?<br />

„klassischen“ Definitionen von Demokratiekrisen besteht in der schwierigen Definierbarkeit von<br />

Demokratie selbst. Während die „klassischen“ technischen Demokratiedefinitionen (Downs<br />

1957; Dahl 1972; Nozick 1974) aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sie auf ein Minimum<br />

an Variablen reduzieren, ist das moderne Demokratieverständnis durch eine Vielzahl an supplementären<br />

Variablen (direkte Demokratie, Minderheitenschutz, Umwelt etc.; Rawls 1971) geprägt.<br />

All den „klassischen“ Ansätzen gemeinsam war nicht die punktuelle Querschnittsdiagnose, sondern<br />

der historische Längsschnitt.<br />

Der amerikanisch-polnische <strong>Politik</strong>wissenschaftler Adam Przeworski (Przeworski 2019) etwa<br />

argumentierte auf der Basis einer minimalistischen Demokratiedefinition, dass Wahlen kompetitiv<br />

sein müssten und die Demokratie nichts anderes sei als ein System zur Rekrutierung und Abwahl<br />

politischer Eliten (Przeworski 2018). Die Krise der Demokratie sei daher auch stets im Vertrauensverlust<br />

der Bevölkerung in politische Prozesse und Institutionen zu suchen. Während er<br />

die Französischen Republiken und das politische System in seinen Ausführungen als Beispiele<br />

aufführt, die politische und systemische Krisen dauerhaft zu überwinden in der Lage waren,<br />

rekurriert er auch auf Fallbeispiele, die einen (temporären) Zusammenbruch der Demokratien<br />

kannte (Chile 1973, Weimar 1933). Auf der Basis modernisierungstheoretischer Ansätze (Lipset<br />

1994: 1-22) kommt er zu dem Schluss, dass es eine direkte Korrelation zwischen ökonomischer<br />

Prosperität und systemischer Stabilität der Demokratie gebe: Je höher das Einkommen pro<br />

Kopf, desto unwahrscheinlicher der Kollaps der Demokratie. Insofern sind Krisen der Demokratie<br />

stets Aberrationen der demokratischen Geschichte. Pferdefuß und Problem dieser Korrelation<br />

allerdings ist es, dass mit der Verlangsamung oder gar Stagnation der ökonomischen Fortentwicklung<br />

auch die demokratische Qualität und das systemische Vertrauen in Mitleidenschaft<br />

gezogen wird. Waren die meisten westeuropäischen Parteiensysteme durch zwei Akteure oder<br />

Pole geprägt, hat sich das Bild sukzessive ausdifferenziert, naturgemäß besonders dort, wo es<br />

ein Verhältniswahlsystem gibt, aber eben auch in Staaten mit klassischen Zweiparteiensystemen<br />

(Großbritannien) und Mehrheitswahlrecht (Frankreich). Auf dieser Basis lasse sich in fast<br />

allen demokratischen Staaten eine Erosion des systemischen Vertrauens der Bevölkerung messen,<br />

ebenso wie der Aufstieg rechtspopulistischer Akteur:innen, Parteien und Bewegungen beobachten.<br />

Die Erosion des politischen Vertrauens steht auch im Zentrum der stilbildenden Untersuchungen<br />

von Robert D. Putnam. In zwei bis heute einschlägigen und prominenten Untersuchungen<br />

zum Zustand der politischen Kultur in den USA und dem politischen Westen insgesamt (Putnam<br />

1995; Putnam 2000) rückt er das „Sozialkapital“ in den Vordergrund, die affektuelle und emotionale<br />

Verankerung des politischen Systems in der Bevölkerung. Ausgehend von einer der zentralen<br />

Freizeitbeschäftigungen in den USA (Bowling) diagnostiziert er einen Trend der Vereinzelung<br />

und Atomisierung westlicher Gesellschaften (Bowling Alone), die sich sowohl in einer Abnahme<br />

der Partizipationsbereitschaft im politischen wie im sozialen Bereich manifestiere. Dieser „decline<br />

of social capital“ ist deshalb so problematisch, da die Verbindungen unter den Individuen<br />

dialektische Folgen haben. Sie schaffen Vertrauen reziproker Natur in der Gesellschaft selbst,<br />

die dann ihrerseits wieder produktive Individuen formt und sozialisiert. Putnam unterscheidet<br />

<strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024<br />

15


Alexander Straßner<br />

dabei zwischen „bridging social capital“ und „bonding social capital“. Während das Letztere dafür<br />

sorgt, dass Individuen mit ähnlichen Einstellungsmustern sich zusammenfinden, ist ersteres<br />

demokratietheoretisch ungemein wertvoller, sorgt es doch schichtübergreifend für soziale Kohäsion.<br />

Die Tendenz der Überindividualisierung sorgt dafür, dass Menschen in westlichen Demokratien<br />

sich „pulled apart from one another and from our communities“ (Putnam 1995: 27)<br />

wiederfinden. Politisch bedeutsam wird dieser Effekt dann in sinkenden Wahlbeteiligungen,<br />

Partei- und Verbandsmitgliedschaften, sozial vor allem durch die „privatisierte Religion“, die<br />

ihrerseits dann massive Auswirkungen auf die Mitgliederzahlen in den großen Kirchen zeitigt.<br />

Auf der Suche nach den Ursachen diagnostiziert Putnam fünf Problembereiche. Den Niedergang<br />

der traditionellen Familienform und die rasante Zunahme der Ein-Personen-Haushalte, die zunehmende<br />

Knappheit der Ressource „Zeit“, die steigende individuelle Mobilität, das Aufkommen<br />

elektronischer Unterhaltungsmedien, vor allem sozialer Netzwerke, und letztlich am wichtigsten:<br />

der Generationenwandel. Während die Generationen und Jahrgänge zwischen 1930 und 1945,<br />

geprägt von „Great Depression“ und Weltkrieg, dichte Netzwerke der Kommunikation und Solidarität<br />

gebildet hatten, nahmen die Folgegenerationen diesen gemeinsam als soziales Erbe nicht<br />

an. Im Gegenteil manifestierte sich hier eine Verweigerung traditioneller Rollenanforderungen<br />

und eine Absage an den Autoritätsglauben vor allem gegenüber politischen Eliten, die – auch<br />

durch das Fernsehen unterstützt – in einem überkritischen Institutionenmisstrauen mündete.<br />

Dem gegenüber steht eine zunehmende Individualisierung bei hochgeschätzter Toleranz gegenüber<br />

jeglichen Formen von individuellen und devianten Lebensentwürfen. Die Folgen sind vielfältig<br />

und werden empirisch gesättigt dargelegt (Putnam 1995: 296-300). So sinke das Kindeswohl<br />

in westlichen Gesellschaften sukzessive, hohes Sozialkapital „keeps bad things from happening<br />

to good kids“ (Putnam 1995: 296). Dazu kommt es zu sozialer Desorganisation vor allem im urbanen<br />

Raum, während rurale Bereiche als lebenswertere Räume interpretiert werden, in welchen<br />

die Menschen gesünder sind, länger leben und auch das Glücksempfinden stärker ausgeprägt<br />

ist. Es ist eine zentrale Linie in Putnams Organisation, dass die demokratische Qualität unter<br />

diesen Voraussetzungen leiden muss. Die „civic community“, bindungsfähige Individuen und<br />

sozialverantwortliche Gemeinschaften seien deshalb die Grundlage für eine partizipative Ordnung,<br />

da die Individuen in ihnen die Regeln des Systems lernen und es sich so zu reproduzieren<br />

vermag. Vor allem Verbände und Vereine, Institutionen des Intermediären Sektors also, seien<br />

„schools of democracy“ (Putnam 1995: 344). Das darin zum Ausdruck kommende, typisch USamerikanische<br />

Verständnis einer Graswurzeldemokratie, bringt Putnam ebenso wie zahlreiche<br />

seiner Kolleg:innen jenseits des Atlantiks auch zu einer „agenda for social capitalists“ (Putnam<br />

1995: 402), welche die Wiederbelebung aller Bestandteile gemeinschaftlichen Lebens zur Absicht<br />

hat, eine demokratiepraktische Herangehensweise, die in der kontinentaleuropäischen <strong>Politik</strong>wissenschaft<br />

weitgehend unbekannt ist.<br />

Die von Putnam anfangs auf die US-amerikanischen Verhältnisse beschränkten Phänomene<br />

basierten auf grundlegenden Annahmen von Einstellungsveränderungen in der Bevölkerung,<br />

die kaum einmal systematisch erfasst worden waren. Die einzige Ausnahme bildete in diesem<br />

Zusammenhang die auf der Maslowschen Bedürfnispyramide fußende, international bahnbrechende<br />

Darstellung von Ronald Inglehart (Inglehart 1977), die er empirisch unterfüttert zwanzig<br />

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Demokratie in der Krise – alter Wein in neuen Schläuchen?<br />

Jahre später noch einmal auf einer breiten Basis bestätigt hat (Inglehart 1997). Darin formuliert<br />

er die Hypothese, dass westliche Gesellschaften einen Makrotrend des Wertewandels und damit<br />

des Wandels der politischen Kultur vom Materialismus zum Postmaterialismus erleben würden.<br />

Ausschlaggebend dafür seien zwei grundlegende Tendenzen, erstens die ökonomische Prosperität<br />

in der Phase nach dem zweiten Weltkrieg bei gleichzeitiger Abwesenheit von Krieg in der<br />

westlichen Hemisphäre über einen langen Zeitraum hinweg. Aus diesen beiden Variablen entstünden<br />

weitere, den Wertewandel begünstigende bzw. sogar noch beschleunigende Einflussfaktoren:<br />

Technische Innovationen, den Wandel hin zu einer durch den tertiären Sektor geprägten<br />

Dienstleistungsgesellschaft, ein sukzessive steigendes Bildungsniveau und die Expansion der<br />

Massenkommunikation. Bei gleichzeitiger Abwesenheit manifester Risiken setzte sich ein Wertewandel<br />

dahingehend durch, „shifting from an overwhelming emphasis on material well-being<br />

[…] toward greater emphasis on the quality of life“ (Inglehart 1977: 3). Bündig zusammengefasst<br />

standen also in der Ära nach dem Zweiten Weltkrieg die Faktoren Sicherheit, wirtschaftliche<br />

und politische Stabilität und Pflichterfüllung auf der Agenda der Generationen ganz oben, welche<br />

manifeste Gefahr und Krieg noch am eigenen Leibe erfahren hatten. Mit fortschreitendem,<br />

dauerhaften und verlässlichen Wachstumswerten und der als garantiert wahrgenommenen Erfüllung<br />

haben sich aber diese materialistischen Werte hin zu postmaterialistischen verschoben.<br />

Für nachfolgende Generationen stehen Selbstverwirklichung, Partizipation oder die Gleichberechtigung<br />

der Geschlechter und eine dementsprechende Sprache im Mittelpunkt politischer<br />

Zielkoordinaten. Als Erklärung formuliert Inglehart zwei Kernsätze, die Knappheitshypothese<br />

und die Sozialisationshypothese. Erstens orientierten Menschen sich in ihren Wertepräferenzen<br />

stets an der Knappheit der Güter. Elementar dabei ist deren Wichtigkeit zur Existenzsicherung:<br />

„An individual`s priorities reflect the socioeconomic environment: one places the greatest subjective<br />

value on those things that are in relatively short supply“ (Inglehgart 1977: 33). Zweitens<br />

entwickeln sich Wertemuster aus der primären und sekundären Sozialisierung der Individuen<br />

in einem Gemeinwesen. Dabei geht es nicht um die dominanten Werte in der Phase des Heranwachsens,<br />

sondern vor allem um die Reflektion der Werteschemata, die im sozioökonomischen<br />

Umfeld vorherrschen. Wie Inglehart ausführt, sind es diese Wertorientierungen, die das Individuum<br />

zeit seines Lebens prägen und nur durch politisch-kulturelle Brüche (Krieg, Naturkatastrophen<br />

etc.) fundamental geändert werden können: „The relationship between environment and<br />

value priorities is not one of immediate adjustment: a substantial time lag is involved, because<br />

[…] one`s basic values reflect the conditions that prevailed during one`s preadult years.“ (Inglehart<br />

1977: 33) Diese zeitliche Verzögerung von kollektiven Werten ist dabei ein natürliches Phänomen.<br />

Postmaterielle Werte ersetzen nicht schlagartig materialistische, im Gegenteil sterben<br />

diese durch das Ableben der Vorgängergeneration sukzessive aus; ein Phänomen, das aus neutraler<br />

Perspektive als „Wertesubstitution“, aus konservativer Warte als „Werteverlust“ interpretiert<br />

werden kann. (Inglehart 1977: 3-22; Klein 2014: 563-590) Für die Demokratie kann dies auf der<br />

einen Seite förderliche Tendenzen aufweisen. Gut gebildete Mittelschichten mit gesichert hohen<br />

Einkommen und postmateriellen Werteschablonen tendieren eher zu Forderungen nach politischer<br />

Einflussnahme und Mitwirkung. Gleichzeitig aber sind postmaterielle Werte auch eine<br />

Gefährdung der Demokratie. Der beschriebene Trend der Vereinzelung und Toleranz alternativer<br />

Lebensentwürfe führt im Extremfall zur Atomisierung von Gesellschaften, die nur noch das Wohl<br />

<strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024<br />

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Alexander Straßner<br />

des Individuums kennen, nicht aber mehr die für das Gemeinwohl essentiellen Pflichten und das<br />

Verbindende in einem Gemeinwesen. Hier sind bis heute die Analysen von Inglehart und seines<br />

Kollegen Christian Welzel maßgeblich (Welzel/Inglehart 1999; Welzel/Inglehart 2007: 297-316).<br />

Der Fetisch der nur scheinbar grenzenlosen Toleranz gegenüber alternativen Lebensentwürfen<br />

hat sich in <strong>Politik</strong>stil, politischer Kultur und <strong>Politik</strong>verständnis westlicher Demokratien tief eingegraben.<br />

Für Ulrich Beck, der in seinen wegweisenden Betrachtungen zur „Risikogesellschaft“<br />

(Beck 2015) die demokratietheoretischen Konsequenzen angedeutet hat, ist vor allem der Verlust<br />

eines Feindbildes von Bedeutung. Die Bedeutung eines klaren politischen Feindes ist in der<br />

politikphilosophischen Tradition des 20. Jahrhunderts nicht unbekannt und im Vorlauf des Nationalsozialismus<br />

vor allem durch die Schriften Carl Schmitts bis heute nicht ohne fundamentale<br />

Zweifel gelesen worden (Schmitt 2015). Für Schmitt hing das Wesen des Politischen generell,<br />

vor allem aber die soziale Kohäsion einer Gesellschaft nicht zuletzt davon ab, ob es ein klares<br />

physisches Feindbild (lat. hostis) einer Gesellschaft gäbe. Dieser Feind ist in seinem ganzen<br />

Wesen das genaue Gegenteil der freiheitlichen Gesellschaft und dient einer politischen Ordnung<br />

zur Selbstvergewisserung, was den eigenen sozialen Zusammenhang ausmacht und was ihn<br />

in den Augen seines Mitglieds überlegen macht. Mit dem Zusammenbruch des real existierenden<br />

Sozialismus ist dieser hostis verschwunden, und so finden sich die westlichen Demokratien<br />

in einer Situation, die keineswegs so optimistisch angesehen werden kann, wie es gern nach<br />

1989 formuliert worden ist (Fukuyama 2022), denn ohne klaren Feind geht das Selbstverständnis<br />

und die Wertschätzung der Demokratie sukzessive verloren. Das schlägt sich auch in einer<br />

mehr und mehr unpolitischen Sprache nieder, in welcher das politisch-ideologische Gegenüber<br />

nicht mehr als „Feind“, auch nicht als „Gegner“, sondern geschlechtslos als Mitkonkurrent:in<br />

oder Mitbewerber:in interpretiert wird. Für die Diskursqualität in einem Gemeinwesen hat dies<br />

fatale Konsequenzen hinsichtlich des <strong>Politik</strong>austrags und der Sammlungsbereitschaft der Bürger<br />

hinsichtlich mehrheitsfähiger Positionen. Soziologisch kommt es dadurch zu Abwendungen<br />

von kollektiven Lebensformen (Kernfamilie, Klassengesellschaft) und zur Schwächung der<br />

sie repräsentierenden Institutionen (Gewerkschaften, Verbände, Massenmedien), der Feind im<br />

Äußeren wird ersetzt durch den Feind im Inneren, wodurch die gesellschaftliche Kohäsion verloren<br />

geht: Aus dem den Kalten Krieg dominierenden „Gleichgewicht des Schreckens“ wird das<br />

„Gleichgewicht der Nörgler“ (Beck 1993: 106-122). Demokratien geraten so in den Zustand der<br />

Verwirrung mit komplett austauschbaren, temporären Feindbildern, das einmal der Internationale<br />

Terrorismus, dann Corona, dann die globale Migration und letztlich der Klimawandel ist.<br />

In dieser Kausalkette sind der Vertrauensverlust in die <strong>Politik</strong> und die Sehnsucht nach klaren,<br />

dichotomen Weltbildern ein logisches Resultat, was beides einer stabilen partizipativen Kultur<br />

nicht förderlich ist.<br />

All diesen älteren Einzelbefunden ist gemein, dass sie die Grundlage für moderne und aktuelle<br />

Diagnosen von der Krise der Demokratie bilden. Sie setzen nun bei den Einzelbefunden an und<br />

verdichten und fokussieren ihre Kritik auf spezielle Ausprägungen und Konsequenzen der generellen<br />

Entwicklungen, die Inglehart, Putnam, Prezworski und Beck vorgezeichnet haben.<br />

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Demokratie in der Krise – alter Wein in neuen Schläuchen?<br />

3 Zeitgenössische Krisendiagnostik<br />

Auch bei der Darstellung aktueller Szenarien muss eine Auswahl getroffen werden, zu umfangreich<br />

sind so hochspezialisierte Darstellungen und Verästelungen, die einer klaren Struktur im<br />

Wege stünden, gleichwohl sie wichtige Themenfelder wie das Internet und daraus resultierende<br />

Wandlungen in der Medien- und Willensbildungsstruktur betreffen (Rosanvallon 2018). Nicht von<br />

ungefähr ergeht sich die <strong>Politik</strong>wissenschaft auch durch führende Vertreter:innen in allgemeinen<br />

Formulierungen von einer „Aushöhlungs- und Erosionskrise“ (Merkel 2013), die einer näheren<br />

Spezifizierung bedarf und auch in der Forschung geleistet worden ist.<br />

Der griechisch-schweizerische <strong>Politik</strong>wissenschaftler Yannis Papadopoulos setzt bei seiner Krisendiagnostik<br />

an einem streitbaren Punkt der Forschung an. Während zahlreiche Einführungswerke<br />

zu intermediären Organisationen (Sebaldt/Straßner 2004) nicht müde werden zu betonen,<br />

wie elementar für die Funktionsfähigkeit einer Gesellschaft neben den Parteien auch organisierte<br />

Interessen sind, hebt Papadopoulos genau an dieser Stelle zu einer Fundamentalkritik<br />

an ( Papadopoulos 2013). Denn seiner Ansicht nach gibt es eine erhebliche verfassungstheoretische<br />

und damit auch legitimatorische Diskrepanz zwischen Parteien, die in der Regel Verfassungsrang<br />

haben und die Interessen des Volkes vertreten und repräsentieren sollen, und sozialen<br />

Bewegungen, die diesen Anspruch nicht teilen, sondern höchstens partikulare Interessen<br />

vertreten. Ohne die Kenntnis der wirkmächtigen Klimaschutzbewegung argumentiert er, dass vor<br />

allem soziale Bewegungen (organisierte Interessen mit interner demokratischer Willensbildung<br />

im engeren Sinne klammert er aus) zwar keine demokratische Legitimation, aber eine hohe Gestaltungsmacht<br />

vor allem durch mediale Wirksamkeit hätten. Damit würden die einzig demokratisch<br />

legitimierten Institutionen des intermediären Sektors, Parteien, entmündigt; ein Zustand,<br />

den die Parteien selber nicht mehr ändern können oder durch den sie in ihren Funktionen dauerhaft<br />

beschränkt werden. Papadopoulos bezeichnet diesen Zustand als „anwaltliche Demokratie“<br />

(„advocacy democracy“). Dabei ist es kein Zustand der Ohnmacht, der Parteien an dieser<br />

Stelle ausmacht. Als Organisationen, die zu den Wahlterminen und in deren Vorlauf taktisch<br />

stimmenmaximierend vorgehen, folgen sie der inhaltlichen Ausrichtung erfolgreicher sozialer<br />

Bewegungen oder beginnen sukzessive, politisch unliebsame oder besonders komplexe und oftmals<br />

unpopuläre Entscheidungen auszulagern. Besonders im Rahmen der Arbeitsmarktpolitik<br />

(Hartz-Kommission, Rürup-Kommission) oder der Gesundheitspolitik (Corona) wurden demokratisch<br />

nicht legitimierte Akteur:innen, Technokrat:innen, aber auch Personen des öffentlichen<br />

Lebens verbindlich am politischen Prozess beteiligt oder sogar dazu mandatiert, Gesetzesentwürfe<br />

auszuarbeiten, die dann nicht selten faktisch von den nationalstaatlichen Parlamenten unverändert<br />

übernommen wurden. Diese Tendenz zur Expertokratie hat zur Folge, dass die Folgen<br />

der jeweiligen Entscheidungen nicht mehr in die unmittelbare Verantwortung der politischen Institutionen<br />

fallen, sondern nach entsprechender Kritik zurück in die Expertengremien verwiesen<br />

werden kann. Die Legitimation des politischen Systems wird dabei aber kontinuierlich unterminiert.<br />

Als Reaktion auf Papadopoulos Ausführungen sind mehrere Vorschläge zu deren Überwindung<br />

formuliert worden, wie etwa regelmäßige Onlinebefragungen der Bevölkerung oder<br />

die generelle Konsultation der Öffentlichkeit bei besonders öffentlichkeitswirksamen Themen<br />

<strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024<br />

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Alexander Straßner<br />

(Wiesendahl 2012). Generell aber formuliert Papadopoulos selbst die Anschauung, dass auch<br />

zwischen den Wahlterminen Engagement in sozialen Bewegungen sinnvoll ist. Echte qualitative<br />

Veränderungen aber sollten in etablierten Gremien des politischen Systems stattfinden. Um<br />

die Entfremdungsprozesse besonders in bevölkerungsreichen Demokratien aber zu minimieren,<br />

bräuchten Menschen Selbstwirksamkeits-Erfahrungen, die vor allem durch eine größere Volksnähe<br />

und Attraktivität von Parteien Realität werden könnten.<br />

Im Gegensatz zu diesem lösungsorientierten Ansatz kommt der deutsche Soziologe Helmut<br />

W i l l ke zu dem Schluss, dass Demokratien Anzeichen der Überforderung zeigen, denn Globalisierung,<br />

Wissensgesellschaft und die daraus resultierende Hyperkomplexität stellten Herausforderungen<br />

dar, die mit den tradierten Mechanismen der Demokratie nicht mehr bewältigt werden können.<br />

(Willke 2013) Ein wesentlicher Aspekt der „mangelnden Intelligenz“ der Demokratie besteht<br />

in der Unfähigkeit, den Herausforderungen der Globalisierung zu begegnen. Dabei sei es weniger<br />

die sachliche oder inhaltliche Komplexität des jeweiligen <strong>Politik</strong>feldes, die zur Überlastung von<br />

Eliten und Institutionen führe, sondern die Tatsache, dass alle diese partikularen Teilbereiche<br />

miteinander zusammenhängen, es entsteht eine „Konfusion im Sinne des Vermischens und Zusammenfließens“<br />

(Willke 2014: 12). Dies betrifft den Faktor der Internationalisierung, transnationale<br />

Institutionen und Prozesse, globale Kontexte der Vernetzung nehmen immer mehr zu, das<br />

Management der Kollektivgüter (Luft, Wasser, Energiesicherheit, Klima etc.) sei durch nationale<br />

Muster der politischen Steuerung nicht mehr zu bewältigen. <strong>Politik</strong> werde durch diese De-Nationalisierung<br />

grenzenlos, ortlos, auch durch die Verwischung von Verantwortlichkeiten. In diesem<br />

Sinne stößt die Demokratie an ein logisches Dilemma: Nationale Demokratien sind durch heterogene,<br />

pluralistische nationale Interessen gekennzeichnet, die auch von der landestypischen<br />

politischen Kultur und den dort ausgetragenen Konflikten abhängen. Gleichzeitig aber müssen<br />

Demokratien die Kollektivgüter in einem koordinierten Zusammenwirken mit anderen betroffenen<br />

Nationalstaaten erbringen und sichern. Den zweiten Aspekt stellen die Herausforderungen<br />

der Wissensgesellschaft dar. In abstrakter Sprache diagnostiziert Willke eine Verwirrung von<br />

Personen und Organisationen „infolge einer Überforderung ihrer Kapazitäten durch nicht vermeidbares<br />

Nichtwissen einerseits und ein Überangebot an kontingentem […] Wissen“ (Willke<br />

2014: 8) Dem gegenüber ist die Vorstellung eines überforderten Nationalstaates, der aufgrund<br />

der Überforderung seiner Steuerungskompetenz dazu neigt, seine damit „einhergehende[…]<br />

politische Impotenz durch symbolische <strong>Politik</strong>“ (Willke 2014: 8) zu überspielen, das logische<br />

Ergebnis der ersten Hypothese. So fokussiert sich <strong>Politik</strong> in Demokratien mehr und mehr auf<br />

inkrementalistische Prozesse und auf das Tagesgeschäft und verliert so die Fähigkeit, strategische<br />

und langfristige Projekte anzugehen. Dadurch verwischen sich die Verantwortlichkeiten für<br />

negative politische Konsequenzen, das politische System wird intransparent hinsichtlich seiner<br />

Responsivität. Vor allem Regierungseliten neigen dann zum „cuckoo game“ ( Wassenberg 1982:<br />

83-108), zur Verschiebung der Verantwortung auf Koalitionspartner oder föderale Voraussetzungen.<br />

Das hat Auswirkungen auf die einzelnen Bürger:innen, die angesichts der inhaltlichen und<br />

nicht mehr zu überblickenden Komplexität sachunangemessene Wahlentscheidungen treffen<br />

müssen. Politische Entscheidungen werden so mehr und mehr in die Hände von Expert:innen<br />

gelegt, die nun nicht mehr beratend tätig sind, sondern sich legislative und exekutive Befugnisse<br />

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Demokratie in der Krise – alter Wein in neuen Schläuchen?<br />

gleichsam durch die Hintertür aneignen. Es wäre Willke nicht angemessen, diese pessimistische<br />

Darstellung zu präsentieren, ohne seine optimistische Interpretation zu erwähnen. Denn hier<br />

berührt er einen Punkt, der in modernen Demokratien tatsächlich ein Mauerblümchendasein<br />

fristet. Die lange Abwesenheit von Kriegen und elementaren Krisen seit 1945 hat vor allem in<br />

europäischen Demokratien dazu geführt, dass konkurrenzlos ein normativer Demokratiebegriff<br />

vorherrscht, der sich durch Legitimation, Transparenz und Minderheitenschutz auszeichnet. Legitimation<br />

aber wird auch durch das Funktionieren eines politischen Systems hergestellt. Diese<br />

in der Systemtheorie als „Output-Legitimation“ (Westle 2000: 346) bekannte Sichtweise bedarf<br />

der Neubelebung, Effektivität und Effizienz sollten Willke zufolge wieder stärker in den Fokus<br />

gerückt werden („Legitimität durch Expertise“).<br />

Der britische <strong>Politik</strong>wissenschaftler und Soziologe Colin Crouch widmet sich in diesem Zusammenhang<br />

der Suche nach den ersten Ursachen für die mangelnde Fähigkeit moderner Demokratien,<br />

den an sie gestellten Anforderungen adäquat zu begegnen. Auf der Basis einer induktiven<br />

Logik und eines eindimensionalen <strong>Politik</strong>verständnisses, einem spezifisch ideologischen Bild<br />

von <strong>Politik</strong> verpflichtet und erkennbar an der Sozialdemokratie ausgerichtet, dazu methodisch<br />

unausgereift, gelangt er zu der Auffassung, dass die Demokratie bereits der „Postdemokratie“<br />

(Crouch 2020) gewichen sei. Ausgehend allein von seinen Betrachtungen zu einem einzelnen<br />

Nationalstaat definiert er den Begriff als Gemeinwesen, in dem zwar Wahlen abgehalten und<br />

mitunter sogar Regierungen abgewählt werden, in welchem <strong>Politik</strong> aber zu einem Spektakel verkommt,<br />

das als Ergebnis konkurrierender PR-Experten interpretiert werden muss. Die Mehrheit<br />

der Bürger:innen ist hingegen zurückgedrängt auf eine passive und schweigende, ja ins Apathische<br />

zeigende Rolle (Crouch 2020: 10). Hinter dieser demokratischen Fassade regierten ökonomisch<br />

motivierte Eliten, die in einer kapitalistisch geprägten Welt vor allem die Interessen der<br />

<strong>Wirtschaft</strong> verträten und die Demokratie nur als Steigbügel zur Durchsetzung eigener Ansprüche<br />

betrachteten. Hier zeigt sich vor allem ein unterkomplexes Demokratieverständnis, in dem laut<br />

Crouch die Masse der normalen Bürger die Gelegenheit haben sollte, sich deliberativ und im<br />

Rahmen unabhängiger Organisationen an der Gestaltung des öffentlichen Lebens zu beteiligen.<br />

Die moderne liberale Demokratie sei aber gekennzeichnet durch zu große Spielräume für Lobbyisten<br />

und eine Form der <strong>Politik</strong>, die auf Eingriffe in das ökonomische Leben und in das Wirken der<br />

großen Konzerne weitgehend verzichtet (Crouch 2020: 29). Die „Postdemokratie“ sei demzufolge<br />

in den siebziger und achtziger Jahren zur Blüte gekommen und habe durch eine immer mehr<br />

um sich greifende globale Deregulierung, „Reagonomics“ und „Thatcherismus“ in den USA und<br />

Großbritannien, die zunehmende Spaltung von Arm und Reich, die klassische Demokratie abgelöst<br />

(Crouch 2013). Die Vitalität und Selbstbestimmung der Bürger sei so sukzessive durch ein<br />

ökonomisch geprägtes System abgelöst worden, in welchem kapitalistische Leistungs- und Verwertungsprinzipien<br />

alle Lebensbereiche durchdrungen hätten, besonders auch diejenigen, die<br />

von solchen Maximen eigentlich hätten unberührt bleiben sollen (öffentliches Leben, Gesundheit<br />

und Pflege, Kunst, Bildung, Partnerwahl etc.) (Crouch 2017). Die gesamte Analyse liest sich im<br />

Grunde wie eine Generalabrechnung mit der kapitalistisch geprägten Welt und eine Handlungsanleitung<br />

für sozialdemokratische Eliten, die Exzesse des Kapitalismus zu bändigen und einen<br />

stärker interventionistisch ausgeprägten Staat zu legitimieren. Bei all dem blieben allerdings<br />

<strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024<br />

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Alexander Straßner<br />

die ökonomischen Eliten stets die gleichen und hielten sich im Hintergrund auf. Dabei sei eine<br />

schleichende Entstaatlichung beobachtbar, da die demokratischen Institutionen entmachtet<br />

worden seien (Crouch 2020: 10). Staatliche Aufgaben gingen mehr und mehr an Privatfirmen<br />

über, der Wohlfahrtsstaat stirbt ab, weil wenig rentable Aufgaben des Staates eingestellt würden,<br />

kurzum: Der Staat ist nicht mehr der zentrale Akteur, das politische System eine Mischung<br />

aus Inkompetenz, Wahlpropaganda und „parasitärer Strippenzieherei“. Der so zunehmenden<br />

Degeneration der Demokratie kann nur begegnet werden, indem die EU ein eigenständiger politischer<br />

Akteur wird und Parteien wie organisierte Interessen direktdemokratisch kontrolliert<br />

werden (Crouch 2011). Das mag vereinzelt durchaus plausibel und fundiert argumentiert sein,<br />

wissenschaftlichen Ansprüchen aber genügt es angesichts der ideologischen Eindimensionalität<br />

nicht mehr, gleichwohl sich Crouchs Publikationen eines reißenden Absatzes erfreut haben.<br />

Denn, dass globale Unternehmen Nationalstaaten erpressten, Unternehmenskulturen politische<br />

Kulturen abgelöst hätten, Flexibilität und zeitlich befristete Arbeitsverträge das Individuum in<br />

einem Zustand permanenter Unsicherheit zurückließen, gehört zu den salonbolschewistischen<br />

Anschauungen eines modernen Antikapitalismus, der weit verbreitet ist.<br />

Neu an der Forschung zur Krise der Demokratie ist die Tatsache, dass sich benachbarte Disziplinen<br />

dem Phänomen widmen. Und in der Tat entsteht daraus ein gehöriger Mehrwert, der<br />

sich auch intellektuell weit über dem Niveau manch politikwissenschaftlicher Analysen bewegt.<br />

Zu diesen punktgenauen Analysen zählt zunächst einmal die Arbeit des Berliner Soziologen<br />

Andreas Reckwitz. Er begreift die Krise der Demokratie als Phänomen des gesellschaftlichen<br />

Wandels, speziell bedingt durch den Übergang von der Industriellen Moderne zur Spätmoderne<br />

( Reckwitz 2010). Denn mit diesem Übergang habe auch ein signifikanter gesellschaftlicher<br />

Wandel dergestalt Einzug gehalten, dass er sich bis in die Lebensstile der Individuen hinein<br />

ausgewirkt habe. Die Industrielle Moderne sei so durch egalitäre Gesellschaftsstrukturen<br />

(„ nivellierte Mittelstandsgesellschaft“) und hohe soziale Kontrolle geprägt gewesen, in welcher<br />

kulturelle Homogenität herrschte („klassische Kultur“, „Kulturessenzialismus“), die von den Individuen<br />

auch angestrebt wurde. Die Mehrheit diktierte die soziale Norm, die Referenzpunkt für<br />

nachfolgende Generationen wurde. Es ging dabei um das Gefühl individueller Zugehörigkeit zu<br />

einer größeren Gruppe und einem mehrheitlich gesellschaftsfähigen Lebensstil. Das Außergewöhnliche<br />

und Besondere, das an der Mehrheit scheiterte, wurde sukzessive diskriminiert<br />

und von der politischen und gesellschaftlichen Partizipation ausgeklammert oder in Nischen<br />

abgedrängt (Reckwitz 2019a). Mit dem Aufkommen der neuen Mittelschicht infolge ökonomischer<br />

Prosperität mit einem hohen Akademisierungsgrad, die nun in kürzester Zeit massive<br />

Prozesse des Werte wandels durchläuft, das kulturelle Leitmilieu prägt und nach und nach normative<br />

Deutungs hoheit über gesellschaftlich dominante Themen erlangt. Das Ergebnis ist die<br />

heute beobachtbare Gesellschaft der Singularitäten (Reckwitz 2019b), die spiegelbildlich das<br />

Gegenteil der nivellierten Mittelstandsgesellschaft darstellt und die „Hyperkultur“ bedingt. In<br />

ihr streben die Individuen nun genau nicht mehr nach Zugehörigkeit zu einer größeren Gruppe<br />

oder als satisfaktionsfähig definierten Mehrheitskultur. Im Zentrum individueller Lebensauffassung<br />

steht nun nicht mehr der Anschluss an gesellschaftliche Normen, sondern die Definition<br />

eigener, außergewöhnlicher, sich von der Mehrheit absetzender individueller Normen, die ihren<br />

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Demokratie in der Krise – alter Wein in neuen Schläuchen?<br />

Wert durch ihre Singularität gewinnen. Dadurch werden im ursprünglichen Wortsinne exzentrische<br />

Lebensstile normativ angereichert („Valorisierung“) und über die vorherige Mehrheits kultur<br />

gestellt, die ihrerseits „devalorisiert“ wird. Dieses Phänomen wird in der Soziologie auch als<br />

Distinktion bezeichnet, den Trend der Individuen, sich unbedingt von anderen Individuen in Fragen<br />

der Lebensführung, Ernährung, Körperkult und Freizeitgestaltung, aber auch in Berufsbildern<br />

und Werteschablonen abzugrenzen und dadurch an normativer Bedeutung zu gewinnen. Damit<br />

einher geht ein kosmopolitisches Weltbild, das über den eigenen, nationalstaatlich definierten<br />

Rahmen hinausgeht und sich durch Werte wie Toleranz und Wertschätzung anderer Lebensentwürfe<br />

auszeichnet, die ins Dogmatische überschlagen kann. Dieser gesellschaftliche Wandel<br />

birgt politische Sprengkraft, tendieren die Angehörigen der ehemaligen kulturessenzialistischen<br />

Mittelstandsgesellschaft Reckwitz zufolge zum Rechtspopulismus infolge einer Abwehrreaktion<br />

gegenüber jüngeren Eliten. Auch die traditionelle politische Orientierungsachse zwischen<br />

Links und Rechts verschiebt sich zugunsten einer Unterscheidung in „Kommunitaristen“ (Kulturessenzialismus)<br />

und „Kosmopoliten“ (Hyperkultur). Probleme ergeben sich darüber hinaus<br />

besonders für die soziale Kohäsion in großen und auf Repräsentation angelegten Gemeinwesen.<br />

Besonders Akteur:innen im intermediären Bereich (Parteien, organisierte Interessen) leiden angesichts<br />

der Devalorisierung von Mitgliedschaften unter permanenter Mitgliederflucht, generell<br />

wird jedwede Zugehörigkeit zu einer tradierten Form der politischen Interessenvermittlung als<br />

nicht-außergewöhnlich angesehen, so dass grundlegende pluralistische Muster gesellschaftlichen<br />

Zusammenhalts unter Druck geraten. <strong>Politik</strong>wissenschaftlich dürfte darüber hinaus von<br />

Bedeutung sein, dass durch die normative Deutungshoheit von Minderheiten faktische Mehrheiten<br />

von der Artikulation ausgeschlossen werden und kommunikativ nicht mehr durchdringen<br />

können. (Kielmannsegg 2021)<br />

Ein anderer wertvoller und interdisziplinärer Beitrag entstammt der Feder des Jenaer Soziologen<br />

Hartmut Rosa. In seinen Arbeiten zur gesellschaftlichen wie politischen Akzeleration (Rosa 2005)<br />

und Resonanz (Rosa 2016) wirft er das grundlegende Problem auf, dass menschliches Handeln<br />

zumal in der Postmoderne stets durch zeitliche Abläufe geprägt ist. Dabei ist es die Qualität<br />

Beschleunigung (Akzeleration), die ausschlaggebend ist, denn in der Gegenwart beschleunigt<br />

sich soziale Entwicklung innerhalb dreier Dimensionen: technisch, sozial und das allgemeine<br />

Lebenstempo. Die technische Dimension umfasst die Steigerung des individuellen Leistungsoutputs<br />

pro Zeiteinheit und ist Bestandteil der gesellschaftlichen Rationalisierungsprozesse, die<br />

bereits Max Weber als kapitalistischen Wesenskern (Weber 1923-1924) beschrieben hat. Die<br />

soziale Dimension betrifft eine gesteigerte Veränderungsrate sozialer Interaktionen (Freundschaften,<br />

Beziehungen, Berufsoptionen etc.) und führt zu einer „Gegenwartsschrumpfung“<br />

(Rosa 2005: 184), in welcher das Individuum nicht mehr oder nur noch begrenzt in der Lage ist,<br />

seine sozialen Beziehungsmuster zu reflektieren. Daraus resultiert das gesteigerte ndividuelle<br />

Lebenstempo, also die Steigerung der Zahl an Handlungs- und Erlebnisperioden pro Zeiteinheit,<br />

das logische Resultat daraus ist eine manifeste Zeitknappheit angesichts der Vielfalt an Ereignissen<br />

und auf das Individuum einströmenden Informationen. Das darin zum Ausdruck kommende<br />

Paradoxon besteht darin, dass die technische Akzeleration ja zu gesteigerten zeit lichen<br />

Freiräumen des Individuums hätte führen sollen, faktisch ist aber das Gegenteil eingetreten.<br />

<strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024<br />

23


Alexander Straßner<br />

Primär geht es dabei allerdings um die Ebene der Wahrnehmung, denn die gewonnene Zeit<br />

wird nicht als solche wahrgenommen, weshalb sich das gesamte aktuelle Gesellschaftsmodell<br />

laut Rosa als Beschleunigungsgesellschaft definieren lässt. Da sich nun in unterschiedlichen<br />

Subsystemen der Gesellschaft auch verschiedene Akzelerationsgeschwindigkeiten etablieren,<br />

leidet die Leistungsfähigkeit des Gesamtsystems ebenso wie die Orientierungsfähigkeit des<br />

Individuums. Vor allem Wissenschaft und Technik entwickelten sich deutlich schneller als die<br />

Funktionslogik der im Gegensatz dazu schwerfälligen Demokratie, die die anstehenden Probleme<br />

nicht mehr sachlich adäquat, aber auch bezüglich der Erwartungshaltung der Bürger nicht<br />

mehr effizient lösen kann. Das liegt nicht zuletzt auch an der Zeitintensität der Demokratie, die<br />

davon zehrt, dass die Individuen Zeit und Ressourcen aufwenden, um sich dauerhaft in politischen<br />

und vor politischen Organisationen fassen zu lassen. Das Ergebnis daraus ist die zunehmende<br />

Desynchronisation von sozioökonomischer Sphäre und <strong>Politik</strong>, die sukzessive kollektive<br />

Entfremdung vom politischen System (Rosa 2014). Stress und Zeitnot, dazu Bindungs- und Beziehungslosigkeit<br />

führen zu einem Gefühl der Machtlosigkeit und fehlender Wahrnehmung von<br />

Selbstwirksamkeit, dabei wirken die Entfremdungsprozesse des modernen demokratischen Individuums<br />

in die klein teiligsten sozialen Handlungen des Individuums hinein, hinunter bis auf<br />

die private Ebene. (Rosa 2012) Als demokratiepraktischen Ausweg formuliert Rosa das Konzept<br />

der Resonanz als „vibrierender Draht zwischen uns und der Welt“ (Rosa 2016: 24), der die Selbstwirksamkeitserfahrung<br />

wieder möglich macht. In seiner Schwerpunktlegung wird er politikwissenschaftlich<br />

relevant, denn die eigentliche Resonanzsphäre ist doch stets die Demokratie, die<br />

jeder Stimme die Ge legenheit zur Artikulation offeriert, der allein aufgrund ihrer Trägheit das allgemeine<br />

Lebenstempo gegenübersteht. So wird Demokratie zunehmend als starres Konstrukt<br />

wahrgenommen, und die Krise der Demokratie ist prima facie eine Resonanzkrise. Aus diesem<br />

Grund führt fehlende Resonanz in der Demokratie zur Delegitimierung anderer Meinungen und<br />

zur substantiellen Abschottung von anderen ideologischen Verbünden. Politische Entscheidungen<br />

in der Demokratie fußen somit nicht mehr auf der Berücksichtigung zahlreicher Interessen<br />

nach der Artikulation, sondern unter Zeitdruck und erhöhtem Stresslevel setzen sich die Interessen<br />

durch, die in der Lage sind, kurzfristig sich dominant im Interessenaustrag zu positionieren,<br />

bevor das Thema durch ein anderes ersetzt wird (Rosa 2020: 160-188). Für die sachliche Konfliktlösungskompetenz<br />

der Demokratie keine besonders hoffnungsvollen Aussichten.<br />

4 Die ewige Krise der Demokratie<br />

Mit einer gewissen Distanz zur Thematik und bei Berücksichtigung des historischen Längsschnitts<br />

zu den Krisendiagnosen der Demokratie tritt rasch ein Ermüdungseffekt ein. Dies liegt<br />

zum einen daran, dass im Grunde meist gar nicht von einer Krise im griechischen Wortsinne<br />

(Meinung, Beurteilung, Entscheidung, Zuspitzung) gesprochen wird, sondern die Krise gleichbedeutend<br />

mit dem Zerfall, Kollaps oder zumindest der unmittelbar anstehenden Götterdämmerung<br />

der Demokratie synonym ist. Andererseits ist dies aber auch den Redundanzen in der<br />

Krisenliteratur geschuldet. Zu häufig werden Parallelen erkennbar, etwa die logische Verbindung<br />

zwischen den Entfremdungsprozessen, die Rosa beschreibt, und der daraus resultieren-<br />

24 <strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024


Demokratie in der Krise – alter Wein in neuen Schläuchen?<br />

den mangelhaften Problemlösungskapazität bei Willke. Ebenso lassen sich Überschneidungen<br />

erkennen zwischen den Schablonen des Wertewandels bei Putnam und den zeitgenössischen<br />

Diagnosen bei Reckwitz, die ja im Grunde nur die überspitzte Form der Individualisierung von<br />

Werten darstellt, die nur noch als gesellschaftlicher Atomismus beschrieben werden kann.<br />

Der vulgäre, aber öffentlichkeitswirksame, nur notdürftig aufgehübschte Antikapitalismus bei<br />

Crouch ist in dieser Hinsicht nur ein logisches Ergebnis dieser Tradition. Will heißen: Nicht selten<br />

werden ähnliche Symptome, die für eine Krise der Demokratie sprächen, neuformuliert oder<br />

anschlussfähig gemacht, beziehen sich doch aber faktisch auf das gleiche Phänomen. So ist, im<br />

Grunde ein Argument für die Hypothese Rosas, angesichts der Vielfalt der pluralistischen Chöre<br />

eine publizistische Industrie des demokratischen Katastrophismus entstanden, die es unter dem<br />

Niedergang der westlichen Demokratien nicht mehr vermag, wahrgenommen zu werden und<br />

deshalb immer schrillere Töne anschlägt. Mitunter mag es sogar auch ökonomische Motive als<br />

Ausfällprodukt haben, den unmittelbar bevorstehenden Zusammenbruch der Demokratie herbei<br />

zu fabulieren, für Crouch nur eine logische Entwicklung, in welcher er selbst gefangen wäre. Da<br />

ist es bemerkenswert, dass nur wenig betont wird, wie sehr es der Demokratie gelungen ist, mit<br />

den zahlreichen manifesten und eher imaginierten, aber umso salbungsvoller inszenierten Krisen<br />

umzugehen und sie zu überwinden. Nur vereinzelt finden sich – freilich nur am Rande wahrgenommene<br />

– Diagnosen, die optimistisch stimmen, da sie die Plastizität und Problemlösungsfähigkeit,<br />

ja die evolutionäre Überlegenheit von Demokratien beschreiben und betonen, dass<br />

eben nur Demokratien in der Lage sind, neu sich artikulierende Interessen, divergierende Problemlagen<br />

und abrupt auftretende Verwerfungen zu absorbieren und innerhalb der Systemlogik<br />

abzufedern (Sebaldt 2015). So sind in der Tat parallel zu den florierenden Krisenbeschreibungen<br />

manifeste und vor allem in immer kürzeren Zeitabständen Herausforderungen an die Demokratie<br />

deutlich geworden (Sebaldt et al. 2020), doch trotz aller Unkenrufe hat sie es vermocht, die<br />

Bedrohung des internationalen Terrorismus ebenso zu überdauern wie die Corona-Pandemie. Es<br />

steht zu vermuten, dass es ihr bei allen akzelerativ geprägten, aktuellen jugendlichen Subkulturen<br />

gelingt, mit den ihr eigenen Mechanismen auch diese Herausforderung zu bewältigen, schon<br />

allein deshalb, da Optimismus Pflicht ist, besonders in offenen Gesellschaften.<br />

5 Literatur<br />

Aristoteles (2018): <strong>Politik</strong>. Stuttgart: Reclam.<br />

Beck, Ulrich (2022 [erstm 1995]): Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne.<br />

Frankfurt/M.: Suhrkamp.<br />

Beck, Ulrich (1993): Der feindlose Staat. Militär und Demokratie nach dem Ende des Kalten<br />

Krieges. In: Unseld, S. (Hrsg.): <strong>Politik</strong> ohne Projekt. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 106-122.<br />

Bein, Simon (2024): Identität und Demokratie. Polarisierung und Ausgleich im Spannungsfeld<br />

von Liberalismus und Republikanismus. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften.<br />

<strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024<br />

25


Alexander Straßner<br />

Bleek, Wilhelm (2001): Geschichte der <strong>Politik</strong>wissenschaft in Deutschland. München: C.H. Beck.<br />

Crouch, Colin (2011): Das befremdliche Überleben des Neoliberalismus. Postdemokratie II.<br />

Berlin: Suhrkamp.<br />

Crouch, Colin (2013): Jenseits des Neoliberalismus. Ein Plädoyer für soziale Gerechtigkeit. Wien:<br />

Passagen.<br />

Crouch, Colin (2017): Die bezifferte Welt. Wie die Logik der Finanzmärkte das Wissen bedroht.<br />

Postdemokratie III. Berlin: Suhrkamp.<br />

Crouch, Colin (2020): Postdemokratie. Frankfurt: Suhrkamp.<br />

Dahl, Robert (1972): Polyarchy. Participation and Opposition. New Haven: Yale University Press.<br />

Downs, Anthony (1957): An Economic Theory of Democracy. New York: Harper & Brothers.<br />

Encke, Julia (2023): War Hannah Arendt eine Aktivistin?. In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung,<br />

Nr. 39, 33.<br />

Fraenkel, Ernst (1999 [erstm. 1932]): Gesammelte Schriften, Band 1: Recht und <strong>Politik</strong> in der Weimarer<br />

Republik. Baden-Baden: Nomos.<br />

Fukuyama, Francis (2022 [erstm. 1992]): Das Ende der Geschichte und der letzte Mensch. Berlin:<br />

Hoffmann & Campe.<br />

Gnisa, Jens (2023): Nicht mehr recht, nur noch billig. In: Cicero - Magazin für politische Kultur,<br />

Nr. 09, 24-34.<br />

Hegemann, Hendrik / Kahl, Martin (2017): Terrorismus und Terrorismusbekämpfung. Eine Einführung.<br />

Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften.<br />

Inglehart, Ronald (1977): The Silent Revolution. Princeton, NJ: Princeton University Press.<br />

Inglehart, Ronald (1997): Modernization and Postmodernization. Cultural, Economic and Political<br />

Change in 43 Societies, Princeton, NJ: Princeton University Press.<br />

Kainz, Peter (2021): Wertewandel, Relativismus und die Gefährdung der Demokratie. In: Fröhlich,<br />

B. et al. (Hrsg.): Platonisches Denken heute. Festschrift für Barbara Zehnpfennig. Baden-Baden:<br />

Nomos, 377-405.<br />

26 <strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024


Demokratie in der Krise – alter Wein in neuen Schläuchen?<br />

Kielmannsegg, Peter Graf von (2021): Die Schließung der Demokratie. https://www.faz.net/<br />

aktuell/politik/die-gegenwart/cancel-culture-der-raum-des-politischen-diskurses-wirdeng-17344077/professor-dr-peter-graf-17346944.html<br />

(06.10.2023)<br />

Klein, Markus (2014): Gesellschaftliche Wertorientierungen, Wertewandel und Wählerverhalten.<br />

In: Falter, J. / Schoen, H. (Hrsg.): Handbuch Wahlforschung. Wiesbaden: Springer SV, 563-590.<br />

Levitsky, Steven / Ziblatt, Daniel (2018): Wie Demokratien sterben. Und was wir dagegen tun<br />

können. München: DVA.<br />

Lipset, Seymour Martin (1994): The Social Requisites of Democracy Revisited. In: American<br />

Sociological Review, 59 (1), 1-22.<br />

Merkel, Wolfgang (2013), Krise? Krise!. https://www.faz.net/aktuell/politik/die-gegenwart/<br />

zukunft-der-demokratie-krise-krise-12173238.html (20.09.2023)<br />

Mouffe, Chantal (2010): Über das Politische. Wider die kosmopolitische Illusion. Bonn: Bundeszentrale<br />

für politische Bildung.<br />

Nozick, Robert (1974): Anarchy, State and Utopia. New York: Blackwell Publishers.<br />

Papadopoulos, Yannis (2013): Democracy in Crisis? Politics, Governance and Policy. New York:<br />

Red Globe Press.<br />

Platon (2023): Politeia. Stuttgart: Reclam.<br />

Przeworski, Adam (2018): Why bother with elections?. Cambridge: Polity.<br />

Przeworski, Adam (2019): Crises of Democracy. Cambridge: Cambridge University Press.<br />

Putnam, Robert (2000): Bowling Alone: The Collapse and Revival of American Community. New<br />

York: Simon & Schuster.<br />

Rawls, John (1971): A Theory of Justice. Cambridge: Harvard University Press.<br />

Reckwitz, Andreas (2010): Das hybride Subjekt. Eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen<br />

Moderne zur Postmoderne. Weilerswist: Velbrück Wissenschaft.<br />

Reckwitz, Andreas (2019a): Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel in der<br />

Moderne. Frankfurt/M.: Suhrkamp.<br />

<strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024<br />

27


Alexander Straßner<br />

Reckwitz, Andreas (2019b): Das Ende der Illusionen. <strong>Politik</strong>, Ökonomie und Kultur in der Spätmoderne.<br />

Frankfurt/M.: Suhrkamp.<br />

Rosa, Hartmut (2005): Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne.<br />

Frankfurt/M.: Suhrkamp.<br />

Rosa, Hartmut (2012): Weltbeziehungen im Zeitalter der Beschleunigung. Umrisse einer neuen<br />

Gesellschaftskritik. Frankfurt/M.: Suhrkamp.<br />

Rosa, Hartmut (2014): Beschleunigung und Entfremdung. Entwurf einer Kritischen Theorie spätmoderner<br />

Zeitlichkeit. Frankfurt/M.: Suhrkamp.<br />

Rosa, Hartmut (2016): Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung. Frankfurt/M.: Suhrkamp.<br />

Rosa, Hartmut (2020): Demokratie und Gemeinwohl: Versuch einer resonanztheoretischen Neubestimmung.<br />

In: Becker, K. / Netterer, H. (Hrsg.): Was stimmt nicht mit der Demokratie? Eine<br />

Debatte mit Klaus Dörre, Nancy Fraser, Stephan Lessenich und Hartmut Rosa. Frankfurt/M.:<br />

Suhrkamp, 160-188.<br />

Rosanvallon, Pierre (2018): Die Gegen-Demokratie: <strong>Politik</strong> in Zeitalter des Misstrauens. Bonn:<br />

Bundeszentrale für politische Bildung.<br />

Runciman, David (2020): So endet Demokratie. Frankfurt: Campus.<br />

Schätzing, Frank (2021): Was, wenn wir einfach die Welt retten? Handeln in der Klimakrise. Köln:<br />

Kiepenheuer & Witsch.<br />

Schmitt, Carl (2015 [erstm. 1932]): Der Begriff des Politischen. Berlin: Duncker & Humblot.<br />

Sebaldt, Martin (2015): Pathologie der Demokratie. Defekte, Ursachen und Therapie des modernen<br />

Staates. Wiesbaden: Springer.<br />

Sebaldt, Martin et al. (Hrsg.) (2020): Demokratie und Anomie. Eine fundamentale Herausforderung<br />

moderner Volksherrschaft in Theorie und Praxis. Wiesbaden: Springer VS.<br />

Sebaldt, Martin /Straßner, Alexander (2004): Verbände in der Bundesrepublik Deutschland. Eine<br />

Einführung. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.<br />

Spengler, Oswald (2017 [erstm. 1918]): Der Untergang des Abendlandes. Köln: Anaconda.<br />

28 <strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024


Demokratie in der Krise – alter Wein in neuen Schläuchen?<br />

Straßner, Alexander (2022): Forscher warnt vor „ungesunder Polarisierung“. https://www.evan-<br />

gelisch.de/inhalte/207240/22-10-2022/extremismusforscher-warnt-vor-ungesunder-polarisie-<br />

rung (21.09.2023)<br />

Thöndl, Michael (2010): Oswald Spengler in Italien. Kulturexport politischer Ideen der „Konservativen<br />

Revolution“. Leipzig: Universitätsverlag.<br />

Wassenberg, Arthur F. P. (1982): Neo-Corproatism and the Quest for Control: The Cuckoo Game.<br />

In: Lehmbruch, G. /Schmitter, P. (Hrsg.): Patterns of Corporatist Policy-Making. London: Sage,<br />

183-108.<br />

Weber, Max (1923-24): <strong>Wirtschaft</strong>sgeschichte. München: Duncker & Humblot.<br />

Welzel, Christian / Inglehart, Ronald (1999): Analyzing Democratic Change and Stability: A<br />

Human Development Theory of Democracy. Discussion Papers FS III. Berlin: Wissenschaftszentrum<br />

für Sozialforschung.<br />

Welzel, Christian / Inglehart, Ronald (2007): Mass Beliefs and Democratic Institutions. In: Boix,<br />

C. / Stokes, S. (Hrsg.): The Oxford Handbook of Comparative Politics. Oxford: Oxford University<br />

Press, 297-316.<br />

Westle, Bettina (2000): Legitimation. In: Holtmann, E. (Hrsg.): <strong>Politik</strong>-Lexikon. München: Oldenbourg,<br />

346-350.<br />

Willke, Helmut (2013): Regieren. Politische Steuerung komplexer Gesellschaften. Wiesbaden:<br />

Springer.<br />

Willke, Helmut (2014): Demokratie in Zeiten der Konfusion. Frankfurt/M.: Suhrkamp.<br />

Wiesendahl, Elmar (2012): Partizipation und Engagement Bereitschaft in Parteien. In: Mörschel,<br />

T. / Krell, C. (Hrsg.): Demokratie in Deutschland: Zustand – Herausforderungen – Perspektiven.<br />

Wiesbaden: Springer, 121-157.<br />

<strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024<br />

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Gernot Stimmer<br />

Die EU zwischen parlamentarischer Sklerose<br />

und „deliberativer Partizipation“<br />

I Der rote Faden durch die Geschichte der europäischen Integration: Technokraten-<br />

Herrschaft ohne parlamentarische Legitimation<br />

Seit der Gründung der europäischen Integrationsformen ab 1951 waren diese dem ständigen<br />

Vorwurf eines Demokratiedefizits ausgesetzt, eine von den linken resp. rechten Oppositionsparteien<br />

der Mitgliedstaaten und deren Öffentlichkeit getragene Antihaltung, die sich mit der<br />

Einführung der Direktwahl zum Europäischen Parlament (EP) ab 1979 noch verstärkte. Der Generalverdacht<br />

auf permanentes Demokratiedefizit der EG/EU wurde begründet (Bpb 2011: 3-18;<br />

Bpb 2016: 4; Bpb 2021: 14-50): 1<br />

• mit dem Fehlen eines „Europäischen Demos“, gemessen an der geringen bzw.<br />

sinkenden Wahlbeteiligung zum Europäischen Parlament<br />

• mit dem klassischen „Westminster-Modell“ nicht entsprechenden Gesetzgebungsverfahren<br />

der EU (nur „Mitentscheidungskompetenz“ des EP)<br />

• mit der Nominierung und Besetzung „von oben“ der Spitzenpositionen der EU, konkret<br />

der Europäischen Kommission (EK) (1957), der Europäischen Zentralbank (ab 1998)<br />

und des Europäischen Rates (2009).<br />

Gerade der erste Kritikpunkt, das konstante Absinken der Wahlbeteiligung an den Wahlen zum<br />

EP seit 1979, richtet sich allerdings auch gegen die politischen Parteien der Mitgliedstaaten<br />

selbst, deren demokratische Legitimität auch auf nationalstaatlicher Ebene durch geringere<br />

Wahlbeteiligung, Fragmentierung der „Establishment-Parteien“, Aufsteigen neuer Protestgruppierungen<br />

bzw. allgemeinen Vertrauensverlust zunehmend erodiert. 2<br />

Die gegen diesen Legitimitätsverlust auf nationalstaatlicher Ebene diskutierten bzw. teils schon<br />

umgesetzten Reformen zur Erhöhung der Bürgerschaftspartizipation speziell der Wahlbeteiligung,<br />

umfassen einerseits systemimmanente Maßnahmen wie Aufwertung der relativen Mehrheit,<br />

gemischtes proportionales und Majoritätsprinzip, Überhangsmandate, Verringerung der<br />

ungleichen Relation, Stimmenzahl pro Mandat in den Wahlkreisen, Bonusmandate für die relativ<br />

stärkste Partei u.a., andererseits die Wiederentdeckung bzw. Einführung direktdemokratischer<br />

Instrumente wie Volksbegehren, Volksbefragung, Volksabstimmung, Bürgerpetitionen etc.<br />

1 Zur Illustration der unüberschaubaren kritischen Literatur über die Krise der repräsentativen Demokratie verweisen<br />

wir hier nur exemplarisch auf drei Sammelpublikationen unterschiedlicher Autor:innen.<br />

2 Zum Problem des allgemeinen Legitimitätsverlustes der „Establishment-Parteien“ vgl. Arenhövel 1998: 115-158.<br />

<strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024<br />

31


Gernot Stimmer<br />

Alle diese Einrichtungen stellen indes die Prinzipien der repräsentativen Demokratie nicht in<br />

Frage. Als solche gelten:<br />

• Die Volkssouveränität als Quelle der politischen Macht, manifestiert durch in geheimer<br />

und freier Wahl bestimmte Repräsentant:innen<br />

• Die Idee (oder Fiktion) des direkten Mandats der in einem Wahlkreis zur Wahl gegen<br />

andere Kandidat:innen auftretenden und gewählten Abgeordneten (die in ihren Entscheidungen<br />

frei und unabhängig nur im Interesse der Wähler:innen agieren und nach<br />

freier Debatte sich entweder einer parlamentarischen Mehrheit anschließen oder<br />

dagegen in Opposition stehen) (vlg. Ucakar/Gschiegl 2010: 98-108).<br />

Dieser Mythos des Parlamentarismus wurde indes von der Realität der modernen Parteiendemokratie<br />

mit rigidem Klubzwang, dominanter Stellung de:r Partei- und Regierungsführung<br />

vereinigenden Ministerpräsident:in bzw. Kanzler:in und Reduzierung der parlamentarischen Kontrollrechte<br />

auf bloße Ritualakte (Misstrauensvotum) der Opposition längst widerlegt.<br />

Dagegen treten in zunehmendem Maße neue spontane, nicht verfassungsrechtlich vorgesehene<br />

Protestformen auf, die unter Berufung auf die politischen Grundrechte (Meinungs- und Versammlungsfreiheit<br />

etc.) neue Formen der politischen Partizipation der Zivilgesellschaft proklamieren.<br />

Als jüngste Form dieser Protestkultur tauchte gegen Ende des 19. Jahrhunderts zunächst in den<br />

angelsächsischen Ländern das Instrument der Bürger:innenräte auf, das erstmals das sakrosankte<br />

Prinzip der Wahl durch das Los- bzw. Zufallsverfahren ersetzte und sich unter verschiedensten<br />

Typen wie Citizens` Assembly, Consensus Conference, Planning Cell, Citizens´ Council<br />

u.a. organisierte (Chwalisz 2021; OECD 2021).<br />

Um die inflationäre Ausuferung dieser „deliberativen Partizipationsprozesse“ transparenter zu<br />

gestalten, wurden von der OECD bereits drei exkludierende Kriterien einführt: (Chwalisz 2021;<br />

OECD 2020; Bürgerrat e.V. (o.J.))<br />

• Losbestimmte, die soziodemographische Repräsentativität garantierende Selektion der<br />

beteiligten Bürger:innen.<br />

• Direkte Beratungen dieser Gruppe im Ausmaß von mindestens einem Tag.<br />

• Mandatierung durch staatliche Autoritäten (auf den verschiedensten Ebenen des<br />

jeweiligen Landes).<br />

Die Urform des „Gelosten Bürgers“ in <strong>Europa</strong> ist in der athenischen Demokratie anzusetzen: Die<br />

Besetzung politischer Ämter durch Los stellte eine klare Alternative zur mit Korruption, Patronage,<br />

Manipulation durch Parteigruppen u.a. verbundenen Wahl dar, eine Kritik, die wohl auch<br />

gegen aktuelle Formen der direkten Demokratie wie Referendum, Volksbegehren etc. und ihre<br />

Manipulation durch populistische Gruppen berechtigt erscheint und daher in den letzten Jahren<br />

32 <strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024


Die EU zwischen parlamentarischer Sklerose und „deliberativer Partizipation“<br />

zunehmend zur Wiederentdeckung der losbestimmten Betrauung politisch sensibler Aufgaben<br />

an losbestimmte Bürger:innenräte führte.<br />

Das Prinzip der Verlosung stellt dabei keine Simplifizierung politischer Probleme dar, da die<br />

gelosten Bürger:innen sich auf der Grundlage von Expert:innenberatung, Arbeitstreffen mit interessierten<br />

„Normalbürgern“ und gegenseitigem Austausch über gesellschaftlich strittige Fragen<br />

ein realistisches Bild über die Meinung der Gesamtbevölkerung einholen können und nach entsprechendem<br />

Zeitaufwand geeignete Empfehlungen und Vorschläge an die repräsentativen<br />

Organe weiterleiten, denen die Letztentscheidung weiterhin vorbehalten bleibt.<br />

Die Attraktivität der Bürger- und Klimaratsbewegungen speziell in den OECD-Staaten bzw. in<br />

Westeuropa soll hier nur in einigen Gesamtzahlen illustriert werden.<br />

Die OECD wies im Jahr 2019 282 von ihr evaluierte Bürgerratsbewegungen in 18 OECD-Ländern<br />

nach, denen indes global 574 deliberative Prozessaktivitäten gegenüberstanden. Der „Deutsche<br />

Bürgerrat e.V.“ registrierte (Stand 1.1.2024) 514 Bürger:innenratsaktivitäten, davon 94% in 26<br />

europäischen und 6% in 13 außereuropäischen Ländern. Ohne hier auf die Vergleichbarkeit der<br />

Bemessungskriterien beider Studien einzugehen, lässt sich daraus doch ein globales Bedürfnis<br />

der Zivilgesellschaft nach (über den bloßen Wahlakt hinausgehender) politischer Partizipation<br />

erkennen. Mit Genugtuung stellt etwa der in Deutschland registrierte Verein „Mehr Demokratie<br />

e.V. für Volksentscheide auf allen politischen Ebenen“ fest, dass die zum Jahresende im Podcast<br />

„Hotel Matze“ ausgestrahlte Diskussion mit Vertreter:innen des Vereins zum Thema „Wie ist<br />

unsere Demokratie zu retten?“, (in der auch für das losbestimmte Institut der Bürger:innenräte<br />

geworben wurde) in den sozialen Medien (YouTube, Instagram) von über 150.000 Personen abgerufen<br />

wurde.<br />

Dieser Trend nach alternativer <strong>Politik</strong>gestaltung ist auch bei anderen konventionellen Partizipationsformen<br />

festzustellen. So wurden in Österreich bis Ende 2023 14 Einleitungsanträge für<br />

Volksbegehren sowie 57 teils völlig gegensätzliche weitere Anträge in der Unterstützungsphase<br />

angemeldet - offensichtlich animiert durch die großzügige Refundierung von Durchführungskosten<br />

seitens der öffentlichen Hand. 3<br />

Andererseits ist nach der vom schon zitierten Verein „Mehr Demokratie e.V“ angestrengten<br />

Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht gegen die 5% Klausel des Bundeswahlrechts<br />

nach der 2024 zu erfolgenden Verhandlung durch Regierung und Parlament eine<br />

Aufhebung dieser Beschränkung denkbar und damit eine weitere Zersplitterung der deutschen<br />

Parteienlandschaft zu erwarten (Trennheuser 2023).<br />

3 Oesterreich.gv.at: Aktuelle Volksbegehren.<br />

https://www.oesterreich.gv.at/themen/leben_in_oesterreich/buergerbeteiligung___direkte_demokratie/2/<br />

Seite.320475.html<br />

<strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024<br />

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Gernot Stimmer<br />

II Die demokratiepolitische Gegenstrategie der EU<br />

Die Organe der EU blieben von der allgemeinen Klage über den Demokratieverlust bzw. dem<br />

„Unbehagen an der Demokratie“ nicht unbeeinflusst und entwickelten aus dem Arsenal nationalstaatlicher<br />

bzw. regionaler Reforminstrumente eigene legitimationsverstärkende Modelle und<br />

Verfahren. Wir konzentrieren uns in der Folge ausschließlich auf einige Aspekte des allgemein<br />

beklagten „Demokratiedefizits“ der EU und ihre bereits gesetzten bzw. geplanten Gegenmaßnahmen<br />

und Reformvorschläge.<br />

1 Die demokratische Legitimität der Spitzenämter der EU<br />

Die derzeit gefährlichste Herausforderung des politischen Systems der EU liegt in der internen<br />

Polarisierung in der Frage nach der Umsetzung des „Spitzenkandidatenprinzips“ vor dem Hintergrund<br />

des bestehenden Nominierungs- bzw. Wahlverfahrens bei der Besetzung der Spitzenpositionen<br />

der EU.<br />

Die Spitzenposition der Europäischen Zentralbank (seit November 2019 Christine Lagarde) steht<br />

zwar wegen ihrer inhaltlichen Zins- und Inflationsbekämpfungspolitik unter Dauerkritik nicht<br />

nur nationalstaatlicher Opponenten, für die Besetzung der Präsident:innen-Position (Bestellung<br />

durch den ER) ist hingegen das von Deutschland bei der Gründung der WWU durchgesetzte<br />

Dogma der Unabhängigkeit des Amtes weiterhin unbestritten (vgl. Deutschlandfunk 2023).<br />

Der aktuelle Stein des Anstoßes ist die Bestellung de:r neuen Präsident:in der Europäischen<br />

Kommission (EK), die bis 2014 auf Grund eines Nominierungsvorschlags des Europäischen<br />

Rates (ER) mit qualifizierter Mehrheit und mit Zustimmung des neu gewählten EP (mit absoluter<br />

Mehrheit) erfolgte. Vor der Wahl zum EP 2014 kam es jedoch zu einem ersten Versuch einer<br />

Parlamentarisierung der Wahl de:r EK-Präsident:in, und damit einer Eingrenzung des Vorschlagsrechts<br />

des ER, indem sich die zwei größten Parlamentsfraktionen des EP darauf einigten, bei<br />

den Wahlen mit eigenen Spitzenkandidat:innen anzutreten, deren jeweilige relative Mehrheit die<br />

demokratische Legitimität für den Nominierungsvorschlag des daran gebunden ER darstellen<br />

sollte. 2014 funktionierte diese unter erheblichem medialem Echo (Habermas vs. Merkel) geführte<br />

Strategie und führte zur Bestellung des ehemaligen Premierministers von Luxemburg,<br />

Jean-Claude Juncker (Christlichsoziale Volkspartei), der auch über eine ausreichende parlamentarische<br />

Mehrheit der beiden größten Fraktionen des EP verfügte (Göler/Jopp 2014: 157-159).<br />

2019 scheiterte der neuerliche Vorstoß, da weder der Kandidat der Fraktion der Europäischen<br />

Volkspartei (EVP), Manfred Weber, mit 182 Mandaten (24%) noch der Gegenkandidat der Fraktion<br />

der Progressiven Allianz der Sozialdemokraten (S&D), Frans Timmermanns, mit 154 Mandaten<br />

(20,5%) auf Grund des fehlenden Konsenses der anderen Fraktionen, die für die Wahl zu:r<br />

EK- Präsident:in notwendige absolute Mehrheit im eigenen Parlament gefunden hätten.<br />

34 <strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024


Die EU zwischen parlamentarischer Sklerose und „deliberativer Partizipation“<br />

Die Nominierung erfolgte demnach wiederum im Zuge des klassischen Aushandelns der<br />

Spitzenpositionen innerhalb des ER, die als Kommissionspräsidentin nominierte Kandidatin,<br />

Ursula von der Leyen (CDU Deutschland) gewann nach ihrer programmatischen Präsentation im<br />

EP mit knapper Mehrheit von 9 Stimmen.<br />

Dagegen wurde in der akademischen und medialen Öffentlichkeit heftig gegen die Missachtung<br />

des „Spitzenkandidaten-Prinzips“ polemisiert. Im Hinblick auf die kommenden Wahlen zum EP<br />

im Juni 2024 erscheint diese Strategie demokratiepolitisch besonders gefährlich, da der in den<br />

meisten Mitgliedstaaten zu verzeichnende Trend zu alten und neuen antieuropäischen Rechtsparteien<br />

zumindest eine relative Mehrheit eine:r Spitzenkandidat:in einer europäischen Rechtsfraktion<br />

erwarten lässt. Trotzdem wird von führenden Vertretern des EP (konkret etwa dem<br />

Fraktionsführer der EVP Manfred Weber) wieder heftig für das Spitzenkandidat:innenprinzip<br />

gekämpft und dabei auch unverhohlen Rechtsparteien wie Berlusconis Forza Italia umworben<br />

(Ladurner 2023: 9).<br />

Gestützt werden diese Bestrebungen durch empirische Erhebungen, wonach große Teile der<br />

europäischen Wählerschaft im Spitzenkandidat:innenprinzip eine Form der Demokratisierung<br />

der EU sehen. Dies wird empirisch speziell für die neuen osteuropäischen Mitgliedstaaten belegt,<br />

die obwohl grundsätzlich eher skeptisch gegenüber der EU eingestellt, dieses Instrument<br />

befürworten, allerdings meist nur in Verbindung mit der Zulassung transnationaler Wahllisten. 4<br />

Argumentativ ähnlich problematisch verläuft die seit Jahren geführte Debatte um das<br />

Präsident:innenamt der EU. Unter dem Slogan „Wie viele Präsident:innen braucht die EU“ wird<br />

die Forderung nach der Schaffung eine:r einzigen Präsident:in der EU erhoben. Dafür werden<br />

verschiedene Varianten diskutiert:<br />

• die pragmatische Version eines Spitzenduos von eine:r zu:r Regierungschef:in aufsteigenden<br />

Kommissionspräsident:in und eine:r rein zeremoniell die EU vertretenden<br />

Präsident:in<br />

• die Präsidialrepublik unter eine:r starken direkt gewählten Präsident:in und eine:r von<br />

diese:r abhängigen Kommissionpräsident:in als parlamentarisch verantwortliche:r<br />

Regierungschef:in (nach dem Modell Frankreichs)<br />

• die radikale Version einer Verschmelzung beider Ämter, indem d:ie vorher nach dem<br />

Spitzenkandidat:innenprinzip (verbunden mit einer vorausgehenden teuren Wahlkampagne)<br />

gewählte Kommissionspräsident:in vom ER automatisch auf fünf Jahre zu:r<br />

Präsident:in der EU gewählt wird.<br />

Diese „Verbundesstaatlichung“ der EU müsste logischerweise ergänzt werden durch die<br />

Abschaffung des Organs des Rates der EU und seine Ersetzung durch eine föderale zweite<br />

K a m m e r.<br />

4 Als Beispiel wissenschaftlicher Befürwortung sei verwiesen auf Österreichische Gesellschaft für <strong>Europa</strong>politik,<br />

Edthofer/Schmidt 2020, weiters Reiter 2023: 1-4.<br />

<strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024<br />

35


Gernot Stimmer<br />

Diese vom derzeitigen Botschafter der EU in Österreich, Martin Selmayr, bereits Ende 2021<br />

postulierten Reformideen fanden allerdings auch heftige Kritik. Abgesehen von Angela Merkels<br />

Anfangs 2023 geäußerter Warnung vor einer Machtkonzentration an der Spitze der EU, wurde<br />

auch in den Medien gegen diese Strategie der Personalisierung der EU-Spitze polemisiert, die<br />

das Bild der bürgerfernen Technokatenherrschaft in Brüssel wohl auch nicht beseitigen würde<br />

(Tagesspiegel 2023).<br />

Angefeuert wird die Debatte um die Spitzenorgane der EU auch durch die zweifelhafte Amtsführung<br />

von EU-Spitzenpolitiker:innen selbst.<br />

So löste der für die Legislaturperiode 2019-2024 gewählte Präsident der EU, Charles Michel,<br />

durch seine Anfang Jänner 2024 erfolgte Erklärung, vorzeitig aus seinem Amt auszuscheiden,<br />

um bei den Wahlen zum EP im Juni 2024 zu kandidieren, eine kurzfristige Krise innerhalb der<br />

EU aus, da bei nicht rechtzeitiger Neubesetzung des Amtes die vor Lissabon bestehende alte<br />

Regelung der Führung des Vorsitzes des ER durch den Regierungschef des halbjährig rotierenden<br />

Vorsitzlandes des Rates der EU (im konkreten Fall ab Juli 2024 der Präsident Ungarns, Viktor<br />

Orbán) in Kraft getreten wäre. Auf Grund der massiven Kritik innerhalb der EU und in den europäischen<br />

Medien nahm Michel zwar den Rücktritt vom Amt und die geplante Kandidatur zurück –<br />

was bleibt, ist ein rücktrittsreifer <strong>Politik</strong>er und ein beschädigtes Spitzenamt in der EU (Thomaser<br />

2024; Der Standard 2024).<br />

Dem vielfach artikulierten Wunschdenken nach nur „eine:r“ starken europäischen Präsident:in<br />

steht indes die von der Gründung her verankerte föderale Struktur der auf der Teilsouveränität<br />

der Mitgliedstaaten basierenden EG/EU diametral entgegen. Diese Position der Altmitgliedstaaten<br />

würde bei Realisierung der Ende 2023 gestarteten neuen Erweiterungspolitik um bis zu<br />

10 Beitrittskandidaten von diesen nur verstärkt werden (Selmayr 2021).<br />

2 Die Mobilisierung des europäischen Elektorats<br />

Die zweite demokratiepolitische Herausforderung nicht nur der EU, sondern auch ihrer Mitgliedstaaten<br />

ist der schleichende Schwund der aktiven Wählerschaft, vor allem in erst relativ neuen<br />

Beitrittsländern (2019: Slowakei :23%, Slowenien 29%, Kroatien 30%). 5<br />

Die schon angeführten Reformen zur Hebung des Partizipations- und Wahlverhaltens der<br />

Bürger:innen auf nationalstaatlicher Ebene lassen sich nur schwer auf einen politischen Herrschaftsverband<br />

übertragen, der durch seine naturgegebene Heterogenität für das Entscheidungsinstrument<br />

rein parlamentarischer Mehrheitsherrschaft nicht geeignet ist. Auch die Aufwertung<br />

des Europäischen Parlaments und der „Europäischen Parteien“ durch die Verträge von<br />

5 Wahlbeteiligung 2019. https://www.europarl.europa.eu/election-results-2019/de/wahlbeteiligung/ (20.01.2024).<br />

36 <strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024


Die EU zwischen parlamentarischer Sklerose und „deliberativer Partizipation“<br />

Amsterdam und Lissabon konnte die Grundvoraussetzung einer „Europäischen Demokratie“ –<br />

nämlich die Existenz eines „Europäischen Demos“ – nicht künstlich erschaffen. 6<br />

Abbildung 1: Wahlbeteiligung von 1979 bis 2019<br />

Wahlbeteiligung von 1979 bis 2019<br />

70,00%<br />

60,00%<br />

50,00%<br />

40,00%<br />

30,00%<br />

20,00%<br />

10,00%<br />

0,00%<br />

1979 1984 1989 1994 1999 2004 2009 2014 2019<br />

Quelle: Eigendarstellung nach URL: https://www.europarl.europa.eu/election-results-2019/de/wahlbeteiligung/<br />

Realistischer erscheinen einige, teils von nationalstaatlichen Einrichtungen inspirierte Modelle<br />

von der EU, d.h. konkret der EK und dem EP initiierte Reformmodelle zur Verbesserung der<br />

Bürger:innenpartizipation, um das zunehmende Misstrauen gegen eine rein funktionale EU in<br />

Form einer seit Jahren entwickelten „Network governance“ abzubauen, die einseitig auf Output-<br />

Legitimität durch Problemlösungskapazität mittels Expertenwissens und direkter Einbindung<br />

privater Akteur:innen und nicht auf repräsentativ- demokratische Akzeptanz gerichtet ist.<br />

2.1 Das Tandem Modell<br />

Als aktuelles Beispiel einer top down Reform kann hier das derzeit für die Wahlen zum Europäischen<br />

Parlament diskutierte „Tandem-Modell“ angeführt werden:<br />

Ausgangspunkt ist das seit langem kritisierte Prinzip der „degressiven Proportionalität“ der<br />

Mandatszuteilung der Mitgliedstaaten (MSt). Diese beruht auf einer deutlichen Bevorzugung der<br />

kleinen MSt (Malta, Zypern etc.) durch eine gesicherte Mindestzahl von Mandaten zu Ungunsten<br />

der großen MSt, deren zugeteilte Mandate jeweils ein Vielfaches an Wählerstimmen kosten.<br />

Diese eindeutige Verletzung des Prinzips der Gleichwertigkeit der abgegebenen Stimmen soll<br />

durch ein kompliziertes Wahlverfahren auf der Basis einer Differenzierung der an der Wahl zum<br />

EP teilnehmenden nationalen Parteien behoben werden:<br />

6 Wir verweisen hier auf die grundsätzliche Darstellung des Problems von Schneider 2000: 171-184.<br />

<strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024<br />

37


Gernot Stimmer<br />

• Auf EU-Ebene registrierte „<strong>Europa</strong>parteien“, die auf transnationalen gemeinsamen<br />

Listen nach einem einheitlichen Wahlschlüssel (konkret 231.400 Stimmen / Mandat)<br />

kandidieren und gemäß dem Gesamtergebnis einheitlich ihre Mandate erhalten.<br />

• Zusätzlich sollen auf dieser Ebene auch „transnationale“, meist auf ein gesamteuropäisches<br />

politisches Hauptziel hin orientierte soziale Bewegungen kandidieren können,<br />

wie sie sich derzeit in Gestalt eines Verbundes regionaler und nationaler NGOs und<br />

Protestgruppen formieren.<br />

• Die „Solitärparteien“, die weiterhin nur auf nationalstaatlicher Ebene für die Restmandate<br />

(konkret 81 von 705 EP-Sitzen) kandidieren (Leinen 2022).<br />

Dieses, nach dem Modell des für Kantone der Schweiz entwickelten „doppeltproportionalen<br />

Verfahrens“, adaptierte Modell eines europäischen Wahlrechts würde zwar vordergründig für<br />

die <strong>Europa</strong>parteien eine proportional gerechte Mandatszuteilung garantieren, andererseits die<br />

degressive Proportionalität der Solitärparteien beibehalten, die speziell in den großen Mitgliedstaaten<br />

Mandate gewinnen würden, die von der Menge der kleineren Mitglieder der EU zu erwartenden<br />

„starken Zustimmungsprobleme“ lassen dieses Denkmodell wohl als unrealistisch<br />

erscheinen (Müller 2022: 155-158).<br />

2.2 Verhältnisausgleich über transnationale Listen<br />

Dieses als Alternativvorschlag ebenfalls zur bestehenden degressiven Proportionalität entwickelte<br />

Verfahren geht von einem einheitlichen gesamteuropäischen Wahlkreis aus, in dem<br />

ein gesamteuropäisches Mandatskontingent auf der Grundlage von transnationalen Wahllisten<br />

gewählt würde, während die auf nationalstaatlicher Ebene kandidierenden Parteien in einem<br />

eigenen Wahlkreis weiterhin nach dem degressiven Proportionalitätsprinzip ihre Sitze im EP<br />

erhielten. Für die transnationale Listenwahl würde d:ie Wähler:in entweder zwei Stimmen oder<br />

eine für die nationale wie die europäische Wahlliste geltende Stimme erhalten (Müller 2022:<br />

158-160).<br />

Die im EP vertretenen Parteien reagierten darauf mit einem im Mai 2023 präsentierten<br />

Gesetzesinitiativvorschlag zur Änderung des Wahlrechts zum EP, in dem einerseits das<br />

Spitzenkandidat:innenprinzip, andererseits die Zulassung von transnationalen Wahllisten gefordert<br />

wurde. Diese sollten allerdings nur für 28 Mandate der 705 Parlamentssitze in Anwendung<br />

kommen. Dafür verfügte die Wählerschaft jeweils über zwei Stimmen, eine für die in den<br />

mitgliederstaatlichen Wahlkreisen und eine für die auf transnationalen Listen kandidierenden<br />

Abgeordneten. Das Projekt wurde kurz darauf vom Rat für Allgemeine Angelegenheiten (RAA)<br />

abgelehnt. Wie weit dieses Zwei Klassen-Wahlrecht überhaupt dem Gleichheitsgrundsatz entsprochen<br />

hätte, soll hier nicht weiter ausgeführt werden. In beiden Modellen hätte das komplizierte<br />

Zurechnungsverfahren eine hohe Frustrationsbereitschaft speziell der kleineren Parteien<br />

verlangt (Reiter 2023: .1-2).<br />

38 <strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024


Die EU zwischen parlamentarischer Sklerose und „deliberativer Partizipation“<br />

2.3 Die Europäische Bürgerinitiative (EBI) 7<br />

Eine Vorform von gesellschaftlicher Partizipation „von unten“ lässt sich in dem mit den Verträgen<br />

von Lissabon eingeführten Instrument der „Europäischen Bürgerinitiative“ erkennen, wonach<br />

eine bestimmte Mindestzahl von Bürger:innen aus mindestens 7 Mitgliedstaaten Vorschläge<br />

für neue (bzw. ab 2014 auch bereits vorbereitete) europäische Gesetzgebungsakte einbringen<br />

können.<br />

Die bisherige Praxis zeigt jedoch ein mehr als ernüchterndes Bild über die Realität der „Europäischen<br />

Zivilgesellschaft“ wie aus den nachfolgend zitierten Erhebungen ersichtlich wird:<br />

Nach einer langen Vorgeschichte (Tindemann Bericht 1975 und Adonnino Ausschuss des ER<br />

1985 über ein „<strong>Europa</strong> der Bürger“, Aufnahme einer EBI in den Verfassungsentwurf des Konvents<br />

2003) wurde das Institut der Europäischen Bürgerinitiative (EBI) letztlich mit den Verträgen von<br />

Lissabon geschaffen (EUV-Art 11/Abs 4), mit einer Verordnung der EK vom 16.2.2011 (in Kraft<br />

1.4.2011, wirksam 2012) umgesetzt und im April 2017 überarbeitetet.<br />

Das Verfahren sieht 5 Stufen vor:<br />

• Gründung eines Bürger:innenausschusses (mind. 7 Personen aus 7 MST)<br />

• Registrierung des EBI- und Zulässigkeitsentscheidung der EK (Agenda im Bereich des<br />

Initiativrechts der EK, keine Verletzung der Werte der EU (nach Art 2 EUV)<br />

• Stimmensammlung innerhalb von 12 Monaten: 1 Million in mind. 7 MST mit unterschiedlichen<br />

Mindestquoten (im Sinne der degressiven Proportionalität: zwischen<br />

4.500 und 72.000)<br />

• Prüfung innerhalb von 3 Monaten durch nationale Verwaltung<br />

• Vorlegung an EK zur Überprüfung innerhalb von 3 Monaten & Möglichkeit der Vorstellung<br />

des EBI in EK und EP und Präsentation der entsprechenden Maßnahmen<br />

durch EK.<br />

Das Selbstverständnis der EBI als „monitory democracy“, d.h. als permanente Beobachtung<br />

und Kontrolle und zum Teil auch Korrektur der Alltagspolitik der parlamentarischen Demokratie<br />

im Sinne eines partikulären Vetos zur Wahrung des „Gemeinwohls“, steht damit im dauernden<br />

Spannungsverhältnis zwischen bloßer „Bürgerpetition“ und auf Rechtsakte der EK Einfluss nehmender<br />

„Bürgerinitiative“, jedoch ohne direkte Rechtsfolgen (Hrbek 2012: 35-43).<br />

Die verfahrensrechtlichen Bestimmungen und die geringe Chance auf Einflussnahme schlägt<br />

sich deutlich in der negativen „Erfolgsbilanz“ der EBI nieder:<br />

7 http://www.demokratiezentrum.org/bildung/ressourcen/themen<br />

<strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024<br />

39


Gernot Stimmer<br />

Von 68 zwischen 2012 und 2018 eingereichten Initiativen waren:<br />

4 (6%) erfolgreich<br />

37 (55%) scheiterten an dem erforderlichen Stimmenquorum bzw. wurden zurückgezogen<br />

20 (29%) wurden von der EK abgelehnt<br />

7 (10%) waren zum Zeitpunkt der Erhebung noch am Laufen.<br />

Von den 4 erfolgreichen EBI wurden 2 von politisch relevanten Institutionen unterstützt, zwei<br />

selbst initiiert:<br />

• „Right 2 Water“ durch die Gewerkschaft ver.di, unterstützt durch deutsche öffentliche<br />

Medien<br />

• „Einer von uns“ (Abtreibungsverbot) von der Katholischen Kirche und ihren transnationalen<br />

Laiennetzwerken.<br />

Die Umsetzung des ersteren Projektes erfolgte erst nach 8 Jahren in Form einer Trinkwasserrichtlinie<br />

im Jahr 2020, das kirchliche Projekt musste zwar vom EP offiziell behandelt werden<br />

jedoch ohne eine nachfolgende gesetzliche Umsetzung. Dagegen scheiterten alle EBI-Anträge<br />

von rein zivilgesellschaftlichen Gruppen ohne entsprechende Infrastruktur und Förderer.<br />

Die seit 2007 laufenden Reformbestrebungen (obligatorisches Plenum im EP für erfolgreiche<br />

EBI etc.) führten jedoch zu keiner Verbesserung der Effizienz dieses Instruments der Bürgerbeteiligung:<br />

Bis Jänner 2021 standen den vier erfolgreichen und vom EP behandelten EBI insgesamt<br />

75 eingereichte Initiativen gegenüber.<br />

Neben dem für reine Bürgerbewegungen schwer zu erbringendem organisatorischen und finanziellen<br />

Aufwand wirkte offensichtlich auch die betont reservierte Haltung der EK als Bremse<br />

gegen zu brisante EBI-Themen.<br />

Eklatant ist hier der Fall der Ablehnung der EBI „Stopp TTIP (Transatlanic Trade and Investment<br />

Partnership) eines umfassenden und in der europäischen Öffentlichkeit heftig umstrittenen<br />

Handelsabkommens zwischen der EU und den USA, das erst durch Entscheid des EuGH 2014<br />

zurückgenommen wurde.<br />

Die Gefahr für diese Form von Partizipation liegt in ihrem raschen Abnützungseffekt, d.h. dem<br />

Fehlen institutioneller Kontinuität und der Abhängigkeit von privatem persönlichem Engagement,<br />

das letztlich begrenzt ist (Gerstenmeyer/Plottka 2018: 28-44).<br />

40 <strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024


Die EU zwischen parlamentarischer Sklerose und „deliberativer Partizipation“<br />

3 Die Konferenz zur Zukunft <strong>Europa</strong>s als europäische Bürger:innenratsbewegung<br />

3.1 Der hybride Start: Politprofitreffen mit Alibi-Bürgerräten?<br />

Die auf der Basis einer Gemeinsamen Erklärung des Europäischen Rates, des Europäischen Parlaments<br />

und der Europäischen Kommission vom 1.3.2021 am 9.5.2021 für ein Jahr konstituierte<br />

Konferenz stellt schon von ihrer Organisation her eine spezielle Form hybrider top down<br />

Bürgerratspartizipation dar: Diese manifestiert sich bereits in der Struktur der ca. 400 Mitglieder,<br />

bestehend aus etwa 200 parlamentarischen Abgeordneten aus dem EP, den nationalen Parlamenten<br />

der Mitgliedstaaten, Vertreter:innen der Regierungen sowie weiteren EU-Institutionen<br />

und gleichvielen losbestimmten Bürger:innen (Europäischer Rat 2022).<br />

Der Mitte 2022 gezogenen Erfolgsbilanz zu Folge, erbrachte die „in ihrer Art und ihrem Umfang<br />

noch nie dagewesene Veranstaltung“ eine breite Resonanz der europäischen Bürger:innen über<br />

strukturelle und inhaltliche Verbesserung einer zukünftigen EU.<br />

Die Installierung einer zentralen digitalen Plattform in allen EU-Sprachen zur Erfassung von Vorschlägen,<br />

Ideen und Kommentaren sowie zum transnationalen Austausch der Bürger:innen erbrachte,<br />

unter permanentem Einsatz eines für die Einhaltung der Beteiligungsregeln (einschließlich<br />

der begründeten Ausblendung von Beiträgen) kompetenten Moderationsteams, mit einer<br />

Resonanz von über 53.000 aktiven Teilnehmer:innen mit 18.800 Ideen, 22.000 Kommentaren<br />

und 5 Millionen Besucher:innen eine europaweit bisher nicht erreichte transnationale Partizipationsdichte<br />

(Europäischer Rat 2022: 13).<br />

Die Grundidee der zeitgleich erfolgten flächendeckenden Einrichtungen von mitgliedstaatlichen<br />

Bürgerratsforen zur Erarbeitung von thematisch vorgegebenen Vorschlägen und Empfehlungen<br />

an die veranstaltenden Spitzengremien der EU gelang nur teilweise: (Europäischer Rat 2022:<br />

15-241)<br />

Die vier europäischen Bürgerforen von jeweils 200 durch Los bestimmten und die demographische,<br />

soziale und geographische Vielfalt der EU repräsentierenden Bürger:innen behandelten<br />

in jeweils einer Sitzung vor Ort in Straßburg, zwei virtuellen und drei hybriden Sitzungen vier<br />

thematische Schwerpunkte:<br />

• <strong>Wirtschaft</strong>, soziale Gerechtigkeit, Beschäftigung, Bildung<br />

• Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Sicherheit<br />

• Klimawandel, Umwelt<br />

• Außenbeziehungen der EU, Migration<br />

Die daraus resultierenden Empfehlungen für definitiv neun Einzelthemen wurden von jeweils 20<br />

losbestimmten Vertreter:innen in der 6. Plenarsitzung der Konferenz im April 2022 vorgestellt<br />

und diskutiert.<br />

<strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024<br />

41


Gernot Stimmer<br />

Die an der Konferenz mitbeteiligten Bürger:innen der europäischen und nationalen Bürgerforen<br />

wurden schließlich im Dezember 2022 im EP in Brüssel zu einem Feedback- und Diskussionstreffen<br />

mit Vertreter:innen der Initiatoren eingeladen (Europäischer Rat o.J.b).<br />

3.2 Das Europäische Jugendevent (EYE)<br />

Eine weitere gruppenspezifische Partizipationsform im Kontext zur Zukunftskonferenz stellt<br />

das an 2 Tagen im Oktober 2021 abgehaltene Europäische Jugendevent dar, bei dem ca.<br />

10.000 junge Bürger:innen zwischen 16 und 30 Jahren online im EP in Straßburg zusammen mit<br />

Expert:innen und politischen Entscheidungsträger:innen über Zukunftsideen für <strong>Europa</strong> diskutierten.<br />

Dem ging bereits eine von den Jugendorganisationen <strong>Europa</strong>s organisierte Sammlung<br />

von Vorschlägen von Jugendlichen voraus. Aus diesem Gesamtfundus wurden auf dem Event<br />

die 20 wichtigsten Ideen formuliert und als „Bericht über die Ideen der Jugend“ der 2. Plenarversammlung<br />

der Zukunftskonferenz im Oktober 2021 von an EYE beteiligten jungen Mitgliedern<br />

der Bürgerforen vorgelegt (Europäischer Rat 2022: 33-35).<br />

3.3 Fazit: Grenzenlose Bürger:innenpartizipation?<br />

Im Gegensatz zur zurückhaltenden Berichtsstrategie der MSt zeichnet sich die EK in ihrem Bericht<br />

an die anderen an der Konferenz beteiligten EU-Organe durch eine akribische Genauigkeit<br />

bei der Darlegung ihrer eigenen Umsetzungs- und Planungstätigkeit entlang der 9 Themenbereiche<br />

der 49 Empfehlungen des finalen Plenums aus. Sie differenziert dabei entlang von vier<br />

Kategorien zwischen:(EK 2022a: 1-30)<br />

1. bereits erfolgten Maßnahmen, Plänen, Strategien: 224<br />

2. vorliegenden Vorschlägen insb. Gesetzesinitiativen, zu deren Annahme bzw.<br />

Beschlussfassung Rat und EP aufgefordert werden: 58<br />

3. geplanten Vorschlägen zu bestimmten Themen: 125<br />

4. Prüfung von weiteren geeigneten Maßnahmen: 17<br />

3.4 Die Weiterverfolgung: Flächendeckende Bürger:innenaktionen oder Placebo-Strategie<br />

des politischen Establishments der EU-Mitgliedstaaten<br />

Der daran anschließende Weiterverfolgungsprozess erfolgte sowohl im Rahmen des ER wie des<br />

Rates für Allgemeine Angelegenheiten (RAA), der im November 2022 eine aktualisierte Evaluierung<br />

über die von den dafür jeweils kompetenten EU-Organen gesetzten bzw. geplanten Maßnahmen<br />

durchführte (Europäischer Rat o.J.a).<br />

Das Fazit der Initiatoren des Projektes, „eine in ihrer Art und ihrem Umfang noch nie dagewesene<br />

Veranstaltung“ (Emmanuel Macron 9.5.2022) geschaffen zu haben, (Europäischer Rat 2022) 8<br />

8 Zu den nationalstaatlichen Veranstaltungen siehe Anhänge III-Verweise auf die Ergebnisse nationaler Veranstaltungen.<br />

42 <strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024


Die EU zwischen parlamentarischer Sklerose und „deliberativer Partizipation“<br />

muss wohl nach dem formellen Ende der Konferenz als zu euphorisch gesehen werden. Dies gilt<br />

in größerem Maße auch für die Frage nach der Umsetzbarkeit der vereinbarten Maßnahmen im<br />

Lichte der internen Konkurrenz zwischen den drei Initiatoren der EU bzw. der teils skeptischen<br />

Haltung von gegen jede institutionelle Veränderung der EU opponierenden MSt und ihren nationalen<br />

Gesellschaften (Europäischer Rat 2022: 27-32).<br />

III Conclusio<br />

1 Bürger:innenräte: Alternative zum Monopol der repräsentativen Demokratie in <strong>Europa</strong><br />

Das Engagement und der organisatorische und finanzielle Aufwand (Gesamtbudget) der EU für<br />

im Rahmen der Zukunftskonferenz geschaffene Bürger:innenforen und die Vielzahl von Folgeveranstaltungen<br />

führen zur berechtigten Frage, welche strategische Absicht die EU bzw. konkret<br />

hier die EK damit verfolgen könnte. Eine plausible Antwort ergibt sich für uns aus dem Erfolgsbericht<br />

der EK vom 17.6.2022, konkret der Kommentierung des vierten Bereichs der aufgezählten<br />

Maßnahmen und Vorhaben. Die EK tritt hier überraschend offensiv und eindeutig auf (Rede<br />

der EK-Präsidentin zur Lage der Union im September 2022), indem sie die im Rahmen der Konferenz<br />

vorgelegten neuen Vorschläge als konkreten Auftrag zu einer umfassenden institutionellen<br />

Reform versteht, die sowohl im Rahmen der bestehenden Verträge, aber auch mittels Vertragsänderungen<br />

erfolgen sollte. (EK 2022a: 1-7)<br />

Die Legitimation dazu sieht die EK einerseits in den „Übergangsklauseln“ (Passerelle) zur Entscheidungsfindung<br />

mit qualifizierter Mehrheit in bestimmten <strong>Politik</strong>feldern (Energie, GASP,<br />

Menschenrechte). (Europäischer Rat o.J.a)<br />

Zum anderen beruft sich die EK auf die Initiative des EP, Änderungsvorschläge (zum Vertrag von<br />

Lissabon) zu postulieren, die in Gestalt eines neuen „Konvents“ behandelt werden sollten. Dazu<br />

zählt auch eine Reform des Wahlrechts, die verstärkt die Bildung transnationaler Wahllisten der<br />

einzelnen Fraktionen des EP sowie grenzüberschreitende Wahlkampagnen vorsehen müsste.<br />

Diesen weitreichenden Reformvorschlägen des EP vom Mai 2023 setzte der schon zitierte ablehnende<br />

Beschluss des Rats für Allgemeine Angelegenheiten (RAA) im Juni ein Ende, indem<br />

er transnationale Wahllisten für nicht zulässig und das Spitzenkandidat:innenprinzip als nicht<br />

bindend erklärte (Reiter 2023: 1).<br />

Neben dieser Supranationalisierung des EP plädiert die EK jedoch auch für verstärkte Partizipation<br />

der Bürger:innen durch eine neue Generation von losbestimmten Bürger:innenforen zu konkreten<br />

europäischen Problemen mit dem Recht zu abschließenden „Bürgerberichten“. Jüngstes<br />

Beispiel ist der Bürger:innenrat zur Bekämpfung der Vergeudung von Lebensmitteln in <strong>Europa</strong><br />

(Food stop), dessen Empfehlungen ohne große Öffentlichkeitsaktionen Anfang März 2023 in<br />

drei Plenumstreffen vorgestellt wurde. (EK 2022a; Bürgerrat e.V. 2023)<br />

<strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024<br />

43


Gernot Stimmer<br />

Weitere Bürger:innenräte zu den Themen Digitalisierung und Demokratieförderung, deren Empfehlungen<br />

direkt in den Gesetzgebungsprozess der EK einfließen sollten, sind vorgesehen.<br />

Diese nach der langen Stagnation des europäischen Integrationsprozesses geradezu revolutionären<br />

Reformvorhaben müssen vor dem Hintergrund eines allgemeinen empirisch nachgewiesenen<br />

Vertrauensverlustes der Bürger:innen <strong>Europa</strong>s bezüglich der Institutionen des parlamentarischen<br />

Systems in <strong>Europa</strong> gesehen werden.<br />

Nach der letzten Erhebung der OECD in 22 Mitgliedsländern (davon 12 EU MSt) finden nur 30%<br />

der Befragten die politischen Partizipationsformen ihres Landes als ausreichend und wenig<br />

mehr (33%) sehen in den neuen Formen der bürgernahen Konsultationen eine Chance auf Verbesserung.<br />

Der Vertrauensverlust erstreckt sich auf alle Bereiche des demokratischen politischen<br />

Systems, wenn auch institutionsspezifisch differenziert:<br />

An der Spitze der Vertrauenspyramide stehen Gerichte und Rechtssystem (57%) und Verwaltung<br />

(50%) sowie die lokale Gubernative, weit darunter die gesamtstaatlichen Regierungen (41%) und<br />

Parlamente (40%) (OECD 2023).<br />

Konkreter bereits auf die nächsten Wahlen zum EP bezogen, weist der letzte Eurobarometer<br />

vom 6.6.2023 einerseits auf gestiegenes Interesse am EP sowie erhöhte Wahlbereitschaft,<br />

andererseits sind nur 54% der Befragten mit dem derzeitigen demokratischen System der EU<br />

zufrieden (insbesondere Wahlen und Grundrechte). In den Erwartungen an die neu zu bestellenden<br />

EU-Organe rangieren wirtschaftliche und soziale Themen (Armut, Arbeitsplätze; Inflation)<br />

vor Maßnahmen gegen den Klimawandel (Reiter 2023: 1).<br />

2 Der 5. Juni 2024: Zugzwang zur Reform<br />

Die Strategie der EK erscheint hier ambivalent. Zum einen unterstützt sie die Intentionen des<br />

EP auf Supranationalisierung durch Ausweitung der Beschlussfassung mittels des ordentlichen<br />

Gesetzgebungsverfahrens eventuell mit qualifizierter Mehrheit und zur Europäisierung des<br />

Wahlrechts zum EP durch transnationale Wahllisten.<br />

Zum anderen sieht die EK jedoch die zunehmende Gefahr einer Fraktionierung und Lähmung<br />

des EP durch Verstärkung rechter bzw. EU-kritischer Parteien und die Forderung nach dem<br />

Spitzenkandidat:innenprinzip als Eingriff in ihre Unabhängigkeit als „Hüterin der Verträge“. Ganz<br />

im Sinne der Maxime ihres Blogs vom Dezember 2022: „Wie haben die deliberative Demokratie<br />

zu einem festen Bestandteil unseres Entscheidungsprozesses gemacht“ setzt die EK dem die<br />

Ausweitung der Partizipation durch Rätebewegungen entgegen, die als dauerndes Korrektiv im<br />

parlamentarischen Entscheidungsverfahren wirken könnten (EK 2022b: 5-7).<br />

44 <strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024


Die EU zwischen parlamentarischer Sklerose und „deliberativer Partizipation“<br />

Damit würde allerdings das Monopol der Parteien im EP als direkt gewähltes europäisches<br />

repräsentatives Organ auf Dauer unterlaufen.<br />

Von anderer Seite wird gerade die Version einer Parlamentarisierung der EU insbesondere über<br />

das Instrument des Spitzenkandidat:innen-Prinzips wieder eingefordert, auf dessen fatale Folgen<br />

in Bezug auf die Nominierung de:r Kommissionspräsident:in wir eingangs schon verwiesen<br />

haben.<br />

Diese Aufwertung, die das neue partizipatorische Institut der Bürger- bzw. Klimaratsbewegungen<br />

erfährt, kontrastiert indes deutlich mit seinen Defiziten und Schwächen, zu deren Beseitigung<br />

die nachfolgenden strukturellen Veränderungen notwendig erscheinen:<br />

3 Kontinuität durch Institutionalisierung<br />

Am umstrittensten auch innerhalb der einzelnen BR-Formen erscheint die Frage nach dem zeitlichen<br />

Aktivitätsrahmen der eingesetzten Räte.<br />

Für die meisten erlischt nach Abgabe ihrer Vorschläge und Empfehlungen auch ihre Funktion.<br />

Dagegen regt sich jedoch Widerstand innerhalb der Rätebewegungen und ihrer gesellschaftlichen<br />

Basis, die auf eine dauerhafte Institutionalisierung als zusätzliche Korrekturinstanz in<br />

aktuellen politischen Problemen drängen, wogegen wiederum die mitgliederstaatlichen politischen<br />

Entscheidungsträger opponieren.<br />

Diese Strategie der Institutionalisierung, die quer durch die europäischen Bürger:innenratsbewegungen<br />

feststellbar ist, wirft jedoch grundsätzliche Probleme auf, da die Verlängerung des<br />

Vertretungsmandats nur dadurch umsetzbar erscheint, dass die alten Mit glieder per Rotation<br />

durch neue durch Los bestimmte Personen ergänzt bzw. ersetzt werden Das setzt allerdings<br />

wiederum die Unterstützung staatlicher Stellen (lokal, regional bzw. gesamtstaatlich) und ihrer<br />

Bürokratie voraus, um das auch finanziell aufwendige Verfahren der Rekrutierung durchzu führen.<br />

4 Enge Anbindung an die Europäische Union<br />

Aus der restriktiv-defensiven Grundhaltung von Legislative und Gubernative in sehr vielen europäischen<br />

Staaten gegen dauerhafte Bürger:innenpartizipation, sind die bestehenden Bürger- und<br />

speziell die Klimarats-Bewegungen fast zwangsläufig auf die europäische Ebene angewiesen.<br />

Wie aus einem Vergleich über den Akteursgrad der EU in der internationalen Umweltpolitik (hier<br />

als Sammelbegriff für Umwelt-, Klima-, Nachhaltigkeitspolitik etc.) zeigt die EU langfristig ein<br />

relativ konstantes mittleres Akteurs-Profil, gemessen entlang von 4 „Actioness-Dimensionen“<br />

(Kohäsion, Anerkennung, Handlungschancen, Glaubwürdigkeit) im Rahmen der internationalen<br />

Konferenzen von Kyoto (1997), Kopenhagen (2009), Paris (2015) und Glasgow (2021). Damit ist<br />

<strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024<br />

45


Gernot Stimmer<br />

auch das längerfristige strategische Interesse der EU-Organe an zwar nationalstaatlich organisierten,<br />

jedoch gesamteuropäische Ziele (Umwelt, Biodiversität, Klima, Ernährung etc.) verfolgenden<br />

Bürger:innenrats-Formationen erklärlich (Jacob/Teebken 2022: 222-234).<br />

Diese sind andererseits in hohem Maße abhängig vom Aufmerksamkeitsgrad ihrer Tätigkeiten<br />

und Ergebnisse seitens der EU und ihren Öffentlichkeitsforen. Die Verankerung in das schon<br />

bestehende Informations- und Lobbynetz von Aktivist:innen in Brüssel ist daher für jede Bürgerratsbewegung<br />

auf nationaler Ebene eine Voraussetzung ihrer längerfristigen Dauerhaftigkeit.<br />

Zusätzlich müsste die EK hier langfristig finanzielle Fördermaßnahmen und Fonds bereitstellen,<br />

um die als Korrekturinstanzen gegen nationalstaatliche Eigeninteressen auftretenden europäischen<br />

Bürger:innenbewegungen auf Dauer zu erhalten.<br />

Aus den vergleichenden Darstellungen der verschiedensten Rätebewegungen zeigt sich klar,<br />

dass sie vornehmlich als Kurzzeit-Instrument der repräsentativen Demokratie zur innenpolitischen<br />

Entlastung von Regierungen und Parlamenten gegenüber radikalen Graswurzelbewegungen<br />

und deren Aktivismus sowie zur langfristigen Umsetzung unpopulärer, aber notwendiger<br />

Maßnahmen (Nachhaltigkeit, Energiesparen) eingesetzt werden.<br />

Diese „Umarmung“ ergibt sich schon aus der Form der Entstehung, Organisierung und Finanzierung<br />

der Bewegungen – was materiell andererseits unbedingt notwendig erscheint, da die BR<br />

nicht „von unten“ initiiert wurden (wie etwa die Gelbwesten-Protestbewegung in Frankreich) und<br />

daher von Anfang an ohne materielle Eigenressourcen tätig werden.<br />

Die damit verbundene ständige Gefahr der Vereinnahmung durch die staatliche Gubernative und<br />

Legislative gilt auch für Bewegungen, die von ökonomisch potenten privaten Stiftungen finanziert<br />

werden (wie etwa in Deutschland).<br />

5 Fazit<br />

Das „europäische Jahr“ 2024 wird entscheidend sein, in welcher Form sich die demokratische<br />

Legitimation der EU entwickelt – zurück zu einem traditionellen Repräsentationssystem<br />

politischer Parteien, gestützt auf ein Minderheits-Elektorat zwischen 20% und max. 50%, oder<br />

zu einem breiten Spektrum direktdemokratischer, repräsentativer und deliberativ-partizipatorischer<br />

Instrumente, die sich gegenseitig konkurrieren, aber auch kontrollieren und damit eine<br />

größere Akzeptanz der europäischen Gesamtgesellschaft ermöglichen.<br />

46 <strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024


Die EU zwischen parlamentarischer Sklerose und „deliberativer Partizipation“<br />

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<strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024<br />

47


Gernot Stimmer<br />

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48 <strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024


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Facultas.<br />

<strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024<br />

49


Florian Hartleb<br />

Radikalisierung im Kontext einer neuen<br />

Weltunordnung<br />

Abstract<br />

Der folgende Artikel beschreibt die Schockstarre nach dem 7. Oktober 2023. Im Lichte des<br />

russischen Angriffskrieges auf die Ukraine lassen sich gravierende Folgen für den Westen und<br />

<strong>Europa</strong> konstatieren. Das liberale Demokratiemodell steht unter Druck, auch weil sich neue<br />

Radikalisierungsprozesse gerade in virtuellen Räumen herauskristallisieren. Umso wichtiger<br />

sind neue Präventionsstrategien, gerade auch im Bereich der Bildung.<br />

1 Einleitung: Nach dem 7. Oktober 2023<br />

Mit dem 7. Oktober 2023 hat der Terrorangriff der Hamas auf Israel die bestehende „Weltunordnung“<br />

(Masala 2022; Neumann 2022) auf barbarische Weise verstärkt und einen Krieg<br />

eingeleitet – mit direkter Wirkung auch auf uns. In vielen Ländern kam es zu größeren Protestveranstaltungen.<br />

Sie richteten sich aber nur zu geringen Anteilen gegen die Hamas, sondern<br />

mehrheitlich gegen die von Israel erwarteten Reaktionen. Dabei wurde etwa von einem bevorstehenden<br />

„Genozid“ an den Palästinensern gesprochen, „Kindermörder Israel“ als Parole ausgegeben<br />

und gegenüber dem israelischen Staat dessen Vernichtung beschworen. Am 5. November<br />

2023 schlug eine Presseerklärung der Europäischen Kommission besorgniserregende<br />

Töne an, die, passend zur Medienberichterstattung, <strong>Europa</strong>s Öffentlichkeit wachrütteln sollte:<br />

„Die Steigerung an antisemitischen Vorfällen quer durch <strong>Europa</strong> hat außerordentliche Ausmaße<br />

angenommen in den letzten Tagen, erinnernd an die dunkelsten Zeiten der Geschichte. <strong>Europa</strong>s<br />

Juden leben wieder in Angst. Wir beobachten das Wiederaufleben an antisemitischen Vorfällen<br />

und antisemitischer Rhetorik innerhalb der Europäischen Union und weltweit: Molotowcocktails<br />

werden auf eine Synagoge in Deutschland geworfen, Judensterne auf öffentliche Gebäude in<br />

Frankreich, ein jüdischer Friedhof wird verwüstet in Österreich, jüdische Läden und Synagogen<br />

werden attackiert in Spanien, während Demonstrierende mit Hassparolen gegen Jüdinnen und<br />

Juden skandieren.“ (European Commission 2023). Es verbreiten sich sowohl online als auch offline<br />

zahlreiche antisemitische und antiisraelische Fake News sowie Desinformation: beispielsweise<br />

die propagandistische Falschmeldung Israel töte gezielt palästinensische Kinder, der<br />

terroristische Angriff der Hamas am 7.10.2023 auf Israel sei inszeniert worden (“false flag”-Operation)<br />

oder Israel begehe einen Genozid in Gaza. Wir können die zukünftige Entwicklung, was<br />

die Ausweitung töd licher Gewalttaten gegen Juden in anderen Milieus – seien es rechts- oder<br />

linksradikale – betrifft, nicht vorhersagen, die Radikalisierung und die mittlerweile teils offenen<br />

Drohungen mit Gewalt im Unterstützerumfeld der Pro-Palästina und Pro-Hamas-Demonstrationen<br />

lassen jedoch derzeit auch für linksradikale Kreise keine optimistische Prognose zu. In aktuellen<br />

Statistiken gehen die Befunde einstweilen eindeutig zu Lasten muslimischer Gewalttäter.<br />

<strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024<br />

51


Florian Hartleb<br />

In den Meldestatistiken der Israelitischen Kultusgemeinde in Österreich etwa sind Muslime als<br />

Täter in den Kategorien „physischer Angriff“ und „Bedrohung“ deutlich überrepräsentiert. Von 14<br />

physischen Angriffen des Jahres 2022 gingen neun von muslimischen Tätern aus, sowie 11 von<br />

21 Bedrohungen (Antisemitische Meldestelle 2022). Antisemitische Einstellungen sind in mehrheitlich<br />

islamischen Ländern signifikant weiterverbreitet als in allen anderen Ländern. So liegt<br />

der von der weltweit durchgeführten Studie „ADL Global 100“ ermittelte Antisemitismus-Index 1<br />

für mehrheitlich islamische Länder signifikant über jenem aller anderen Länder. Sie weisen einen<br />

zwei- bis dreimal höheren Durchschnittswert auf als andere Weltregionen (ADL 2019).<br />

Der folgende Beitrag beschreibt nicht nur wegen der neuen Welle an Antisemitismus die neue<br />

Desillusion im Westen und in <strong>Europa</strong>, um dann auf die Logik der Radikalisierungsprozesse einzugehen.<br />

Am Ende stehen Vorschläge zur Prävention.<br />

2 Desillusion im Westen und in <strong>Europa</strong><br />

Braucht es eine neue Verteidigungsstrategie für die westliche Wertegemeinschaft, nachdem<br />

immer mehr von einer „Schwäche des Westens“ die Rede ist? 2 Anders gefragt: Wurden aus Mutbürger:innen,<br />

die freiheitsliebend den Fall des Kommunismus bejubelten, das Ende der Ideologien<br />

bejubelten, egogesteuerte Wutbürger:innen, die sich von der Demokratie abwenden?<br />

Immerhin gibt es Debatten um eine „schöne, neue Medienwelt“ in Echokammern und Filterblasen<br />

und mögliche Manipulationen in Wort und Bild (vgl. Brodnig 2018). Der rasante technologische<br />

Fortschritt, umschrieben mit dem Begriff der Disruption, lässt sich gegenwärtig etwa<br />

anhand der rasanten Entwicklung der künstlichen Intelligenz nachvollziehen. Immerhin hat „die“<br />

Digitalisierung alle Lebensbereiche und <strong>Politik</strong>felder erfasst. Staaten müssen sich hier neu aufstellen:<br />

e-government gerade auch mit Blick auf die staatliche Verwaltung, auf Bildung und Gesundheit<br />

(vgl. hierzu am Beispiel des estnischen Rollenmodells Hartleb 2021a), die Frage der<br />

Cybersicherheit und die Frage des digitalen Überwachungsstaats, auch in Konkurrenz mit China<br />

(vgl. Strittmaier 2018) und den digitalen Großkonzernen. Die Nationalstaaten müssen daher<br />

neue ethische Fragestellungen diskutieren und gemeinsame Handlungsstrategien entwickeln.<br />

Das Schlimmstmögliche zu verhindern – oder das Bestmögliche zu schaffen – lautet nicht nur<br />

in diesem Bereich die Entscheidungsfrage.<br />

<strong>Europa</strong> ist nicht „von einem Ring der Freundschaft“ „von Marokko bis Russland und die Schwarzmeer-Region“<br />

umgeben. So lautete der Wunsch des damaligen EU-Kommissionspräsidenten<br />

Romano Prodi im Jahr 2002 (Prodi 2002). Zwei Jahrzehnte später muss man das Gegenteil<br />

1 Für die weltweite ADL-Global 100 -Studie wurden zwischen 2014 und 2019 insgesamt 53.100 Interviews mit über<br />

18-Jährigen in 101 Staaten durchgeführt, teils via Telefon, teils face-to-face. Zur Bewertung der einzelnen Länder<br />

hat die ADL einen Anti-Semitism-Index entwickelt, nach dem für jedes Land ein Prozentwert an Menschen mit antisemitischen<br />

Einstellungen ermittelt wird. Im Fragebogen wurden insgesamt 11 Items abgefragt. Bewertete eine<br />

Person mindestens 6 der 11 Items als „möglicherweise wahr“, wurde diese Person als antisemitisch eingestuft. Die<br />

Prozentzahl der Personen, die als antisemitisch gewertet werden, entspricht dem Anti-Semitism-Index.<br />

2 So historisch der große Historiker Heinrich August Winkler (2009-2014): Geschichte des Westens, 4 Bde., München:<br />

C.H. Beck.<br />

52 <strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024


Radikalisierung im Kontext einer neuen Weltunordnung<br />

konstatieren: Sicherheitspolitisch ist <strong>Europa</strong> von einem „Ring des Feuers“ umgeben, einem konfliktgeladenen<br />

Brandherd der zunehmenden Instabilität. 2011 etwa war noch das Jahr des Protestlers<br />

(so das Time-Magazin, vgl. Andersen 2011), der für Freiheit und Selbstbestimmung etwa<br />

für den „Arabischen Frühling“ auf die Straße geht. Mittlerweile ist davon kaum mehr etwas zu<br />

spüren, wie etwa die Entwicklungen in der Türkei zeigen. Damit ist auch die Strategie der Europäischen<br />

Union (EU), eine <strong>Politik</strong> der Vertiefung und Erweiterung zu verfolgen, an eine Grenze<br />

gelangt. Das zeigt sich auch daran, dass es keine Vertragsdiskussionen mehr gibt; dass der gültige<br />

Vertrag von Lissabon als Reformvertrag, ein „abgespeckter“ Verfassungsvertrag, weit vor<br />

zahlreichen Krisen beschlossen wurde. Zu nennen wären hier die Eurowährungsthematik und<br />

die Migrationsherausforderung, die beide zu keinen europäischen Lösungen führten. Ging es bei<br />

ersterem um das Spannungsfeld zwischen Prosperität und Austerität, stand bei der Migration<br />

die Frage nach Solidarität versus Belastungsfähigkeit im Vordergrund. Es wirkt so, dass <strong>Europa</strong>s<br />

Stellung im globalen Kontext an Wirkungsmacht und -kraft verloren hat. Ein EU-Beitritt etwa der<br />

Türkei wird kaum mehr diskutiert. Zudem zeigt sich auch nach dem EU-Beitritt von Kroatien eine<br />

Instabilität im „Balkan“, die sich etwa in Grenzspannungen zwischen Serbien und Kosovo bemerkbar<br />

macht. An diesem Befund ändern auch die jüngsten Bemühungen nichts, Ländern wie<br />

der kriegsgebeutelten Ukraine, Georgien, Moldau sowie Bosnien-Herzegowina den Status eines<br />

Beitrittskandidaten zu verleihen. Und Destabilisierungstendenzen lassen sich auch in <strong>Europa</strong><br />

feststellen, wie man am Beispiel „Ungarn“ sieht. Das Hinwenden zu einer Autokratie unter Viktor<br />

Orbán (Barlai/Hartleb/Mikecz 2023) sorgt dafür, dass das Einstimmigkeitsprinzip in der EU nur<br />

mehr schwer zu erreichen ist und eine gewisse Erpressbarkeit entstanden ist. Das zeigt sich<br />

gerade mit Blick auf Hilfen für die Ukraine.<br />

Der völkerrechtswidrige russische Angriffskrieg auf die Ukraine zeigt dem europäischen System<br />

des Friedens und der Sicherheit – die Wertordnung nach 1945 – deutliche Grenzen auf. Unter<br />

diesen Belastungen geraten Konflikte wie Berg-Karabach (zwischen Armenien und Aserbaidschan<br />

mit der Einnahme durch Aserbaidschan im September 2023) fast in Vergessenheit.<br />

Das eurostrategische Umfeld ist im 21. Jahrhundert, vor allem im letzten Jahrzehnt, hochgradig<br />

instabil und fragmentiert geworden. Dies hat nicht zuletzt auch damit zu tun, dass die USA geopolitisch<br />

ihrer Rolle als globaler Ordnungshüter bzw. als Globo-Cop aufgrund des kostenintensiven<br />

„War on Terror“ im Nachklang von 9/11 und den damit verbundenen innenpolitischen Sachzwängen<br />

nicht mehr nachkommen wollen oder können (Münkler 2020a: 89ff).<br />

Herfried Münkler beobachtet, dass sich die Vereinigten Staaten kontinuierlich aus ihrer angestammten<br />

Rolle eines Ordnungs- bzw. Sicherheitsgaranten zurückziehen, was für ihn einer<br />

strategischen und ökonomischen Überforderung geschuldet ist, ebenso aber einer innenpolitischen<br />

Überforderung. Als Begründung für den Rückzug wird von ihm angeführt, dass ein erheblicher<br />

Teil der amerikanischen Wählerschaft nicht mehr bereit gewesen sei zu akzeptieren, dass<br />

in Schulen und Infrastruktur in Afghanistan, im Irak oder anderswo investiert worden sei und<br />

währenddessen im Inneren des Landes, vor allem im Mittleren Westen der Eindruck entstanden<br />

sei, dass die Binnenwirtschaft in den USA nur schleppend funktionieren würde (vgl. Münkler<br />

<strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024<br />

53


Florian Hartleb<br />

2020b). Die in Hinblick auf eine wertebasierte Ordnung des Völkerrechts revisionistische Präsidentschaft<br />

Donald Trumps, die Pandemie und eine globale Konjunkturkrise waren die wesentlichen<br />

Antreiber einer rezessiven Entwicklung, die sich nachhaltig in einem sicherheitspolitischen<br />

De-Commitment der USA manifestierte. Nach der Trump’schen „America-First“- Doktrin<br />

(vgl. Foreign Policy) haben sich die Vereinigten Staaten mehr und mehr aus Krisenräumen, vor<br />

allem jenen im Mittleren Osten, zurückgezogen. Auch während der Ägide der Biden-Administration<br />

war bislang keine wesentliche Abkehr von der zuvor begonnenen Entkopplung der USA<br />

von ihrer globalen Hüter:inrolle zu erkennen. <strong>Europa</strong> hat bislang weder die Bereitschaft bekundet,<br />

noch verfügt es über entsprechende Mittel, diese Lücke auszufüllen. China engagiert<br />

sich allenfalls interessengeleitet punktuell in der Region und anderswo, außerhalb der eigenen<br />

regionalen Einflusssphäre im Indo- bzw. Südpazifik. Russland hatte kurzfristig in Syrien seine<br />

lokalen Machtprojektionsambitionen rund um den eigenen Marinestützpunkt unterstrichen, sich<br />

aber nachdem das Assad-Regime wieder die Kontrolle über das Gebiet erlangen konnte, wieder<br />

zurückgefahren. Indien hat bislang kaum weitreichende Raummachtambitionen erkennen<br />

lassen. Salopp formuliert kann man also davon ausgehen, dass weder Washington noch Peking,<br />

Moskau, Neu-Delhi, geschweige denn Brüssel sich im MENA-Raum verstärkt sicherheitspolitisch<br />

einbringen wollen oder werden.<br />

Dies bedeutet, dass in Ermangelung einer vorgegebenen Ordnung und eines Garanten für die<br />

Einhaltung der damit korrespondierenden Regeln die hierarchische Komponente in den internationalen<br />

Beziehungen zusehends erodiert und ein sicherheitspolitisches Vakuum entstehen<br />

konnte, das nun aufgefüllt werden muss. In Nordafrika und im Nahen Osten sei dies vermehrt<br />

mit einem „Chaos“ verbunden, was einer Islamisierung in der Region Vorschub leisten würde,<br />

wie Gilles Kepel suggeriert (Kepel 2019). Die Profiteure einer solchen Unordnung sind meist<br />

extremistische Organisationen – im konkreten Bezug zur MENA-Region vorwiegend islamistische<br />

Strukturen und Akteure. Der zwischenzeitliche Aufstieg des sog. „Islamischen Staates“ in<br />

Syrien und im Irak ist gleichermaßen vor diesem Hintergrund zu erklären. Konfliktlagen im Mittleren<br />

Osten und anderswo haben manchmal direkt oder indirekt Einfluss auf die Radikalisierung<br />

von Ansprechbaren in europäischen Staaten: einerseits bei jungen Islamisten, andererseits im<br />

rechtsextremistischen „Biotop“.<br />

Hinzu kommt, dass staatliche Fragilität, dramatische sozio-ökonomische und politische Umbrüche<br />

sowie nicht zuletzt eine großangelegte Demokratiekrise im Westen, die sich an einer<br />

zunehmenden <strong>Politik</strong>verdrossenheit weiter Teile der Bevölkerung in den meisten EU-Staaten<br />

ablesen lässt (vgl. Edelman Trust Barometer 2021), die Katalysatoren einer negativen Dynamik<br />

sind. Verstärkend wirkt eine fast paradigmatische Hinwendung vieler von der <strong>Politik</strong> frustrierten<br />

Menschen zu den äußeren Rändern des politischen Spektrums, die einer multidimensionalen<br />

krisenhaften Entwicklung zuzuschreiben ist.<br />

In Anbetracht all dieser Prozesse ist zu reflektieren, inwieweit unsere liberale Demokratie noch<br />

ein zukunftsträchtiges Modell für eine Mehrheit der Staaten bleiben und wie man sie vor realen<br />

oder potenziellen Angriffen durch den Extremismus schützen kann. Auf der anderen Seite: In<br />

54 <strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024


Radikalisierung im Kontext einer neuen Weltunordnung<br />

einer historischen Betrachtung ist es offensichtlich, dass moderne Demokratien im Westen entstanden<br />

sind und dort als Kristallisationspunkt wie Rollenmodell gelten. (vgl. Nolte 2012: 461)<br />

Eine Kernfrage muss daher also lauten: Kippt die (liberale) Demokratie? Die empirische Extremismusforschung<br />

steht derzeit im Fokus. Zwei „Enden“ haben in der jüngeren Vergangenheit zu<br />

regelrechten Publikationsfluten geführt:<br />

– „Das Ende der Illusion“ (Furet 1998) in Osteuropa (gemeint ist der Untergang<br />

kommunistischer Regime).<br />

– Das „Ende der Geschichte“ (Fukuyama 1992) – die berühmte Fukuyama-These von<br />

Anfang der 1990er Jahre in der Euphorie rund um die Systemwechsel und den Übergang<br />

von Ein-Parteien-Diktaturen zu pluralistischen Demokratien – erwies sich hingegen<br />

als Trugschluss. Zu massiv wirken das Aufkommen des international operierenden<br />

Islamismus sowie das Ansteigen von „Extremismen“ in sämtlichen Phänomenbereichen<br />

entlang des Spektrums.<br />

Das vor fast drei Jahrzehnten vom britischen Sozialhistoriker und Neomarxisten Eric Hobsbawn<br />

ausgerufene „Zeitalter der Extreme“ (Hobsbawm 1995) ist also keineswegs passé, im Gegenteil,<br />

es sieht eher so aus, als gäbe es eine neue Konjunkturphase von subversiven, extremistisch<br />

orientierten Kräften, die mit militanten oder eher subtilen Mitteln den demokratischen Verfassungsstaat<br />

ins Visier nehmen und auch attackieren. Identitätspolitische Fragestellungen scheinen<br />

generell an Bedeutung zu gewinnen, wie Fukuyama mittlerweile selbst einräumt. Mehr noch:<br />

Hier werden konkrete demokratiegefährdende Potentiale geortet (Fukuyama 2019). Damit geht<br />

eine Renaissance von Ideologien einher. Oftmals als antimodernistisch, gerade im Islamismus<br />

abgetan, zeigen sich erstaunliche Revitalisierungs- und Modernisierungstendenzen. Ich vertrete<br />

die These, dass sich die Prophezeiung des großen französischen Philosophen und Politologen<br />

Raymond Aron aus den 1950er Jahren nicht bewahrheitet hat. Er vertrat in seiner Abhandlung<br />

„Opium für Intellektuelle oder die Sucht nach Weltanschauung“ die Ansicht, dass der Marxismus,<br />

wie er sich in der Sowjetunion und den osteuropäischen Staaten in ihrer Einflusssphäre als offizielle<br />

Staatsreligion etabliert hatte, die letzte Großideologie sei und dass mit dem Verfall dieser<br />

Ideologie die Zeit der Ideologien endgültig vorbei sei. Aron meinte, dass Ideologien mit ihren Totalitäts-<br />

und Ausschließlichkeitsansprüchen in der modernen Lebenswelt von fortgeschrittenen<br />

Industriegesellschaften schlicht obsolet geworden sind (vgl. Aron 1957).<br />

Die „neue Weltunordnung“ (Masala 2022, Neumann 2022) einer „Welt in Aufruhr“ (vgl. Münkler<br />

2023a) mit einer Vielzahl an hybriden Konflikten, Kriegen und Bedrohungslagen auch innerhalb<br />

der westlichen Gesellschaften stellt die liberalen Demokratien auf eine schwere Bewährungsprobe.<br />

Autokratien sind auf dem Vormarsch (Backes 2022). Davon zeugen auch die internationalen<br />

Vergleichsbarometer wie Freedom House und der Bertelsmann-Transformations­ Index.<br />

Den liberalen Demokratien wird Absturz oder sogar der Untergang prophezeit. Die beiden<br />

Harvard-Professoren Steven Levitsky und Daniel Ziblatt argumentieren in ihrem berühmten Buch<br />

„How Democracies Die“ damit, dass demokratische Institutionen und Prozesse systematisch<br />

<strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024<br />

55


Florian Hartleb<br />

ausgehöhlt werden. Das Vertrauen in die Verfassung, der Glaube an Freiheit und Gleichheit, eine<br />

robuste Mittelschicht, großer Wohlstand und hoher Bildungsstand und die weitgefächerte <strong>Wirtschaft</strong><br />

galten bislang als Garantie gegen einen Zusammenbruch der Demokratie, als Resilienz.<br />

In dem Maß, in dem Ergebnisse von Wahlen nicht anerkannt und Gerichte, Nachrichtendienste<br />

und Aufsichtsbehörden geschwächt werden und extremistische Kräfte Wahlen gewinnen, ist die<br />

Demokratie in Gefahr (Levitsky/Ziblatt 2018).<br />

Am deutlichsten nach außen zeigte sich der anti-institutionalistische Extremismus im Zusammenhang<br />

mit dem Angriff auf das wahrscheinlich prägendste Symbol der ältesten modernen<br />

Demokratie der Welt, das Kapitol, dem Sitz des Kongresses in Washington D.C. Der „Sturm auf<br />

das Kapitol“ ist, wie der amerikanische Doyen der Terrorismusforschung Bruce Hoffman klar<br />

festhält, als ein „terroristischer Akt“ zu qualifizieren (vgl. Hoffman 2021). Eine Auswirkung dieses<br />

Aufstands der Abgehängten ist, wie Lars Rensmann konstatiert: „Das Vertrauen in die demokratischen<br />

Institutionen und ihre Handlungsfähigkeit im Blick auf die Herausforderungen unserer<br />

Zeit […] dabei, wenn auch im internationalen Vergleich in sehr unterschiedlichem Maße, allenthalben<br />

Schaden genommen“ hat. (Rensmann 2023: 4-15). Hier treten Schwierigkeiten in der Bewertung<br />

auf. Es sind weniger die „klassischen“ Extremismen totalitären Anstrichs, sondern mehr<br />

und mehr Graubereiche, die an den Grenzen zwischen Demokratie und Diktatur rütteln und feste<br />

Schemata zum Wanken bringen. So hat auch die Kategorie des anti-institutionellen Extremismus<br />

an Bedeutung gewonnen (Bjørgo/Braddock 2022: 2-8).<br />

Die Debatte um „den“ Populismus, den es als „Reinform“ nicht gibt bzw. der als „dünne Ideologie“<br />

gilt, zwischen Ideologie und Strategie changiert (Müller 2016), etwa zeigt das deutlich auf.<br />

Während die einen hier Potentiale erkennen, sehen andere eine Vermengung hin zum Extremismus<br />

und demokratiegefährdende Potentiale (Hartleb 2004; Hartleb 2021b: 31-52). Spätestens<br />

hier stellt sich die Frage nach Ideologien, Akteure und die neuen Dynamiken in den virtuellen<br />

Welten. Dort wirken statt fester Ideologien auch Versatzstücke; es kursieren und verbreiten sich<br />

grenzüberschreitend neue Ideologien. Komplizierter macht es, da Extremismus in Verschwörungserzählungen<br />

eingebettet ist und es gerade in diesem Bereich zu Revitalisierungen kommt.<br />

Am wirkmächtigsten sind hier die antisemitischen „Protokolle der Weisen von Zion“ (Benz 2020:<br />

87-94).<br />

Bei der Frage, woher die neue Form der Radikalität kommt und warum sie zu einem „Flächenbrand“<br />

geworden ist, muss gleichwohl ebenfalls beim Individuum angesetzt werden. „Das Zeitalter<br />

des Zorns“, wie Pankaj Mishra unsere Gegenwart beschreibt (Mishra 2017), ist auch Ausfluss<br />

von neuen Individualisierungstendenzen. Nicht nur das: Eine neue Gewaltspirale ist sowohl<br />

im islamistischen Fundamentalismus als auch im Rechtsterrorismus durch sogenannte „Lone<br />

actors“ entstanden, die sich „selbst radikalisieren“ und dann alleine losschlagen. Das markanteste<br />

Beispiel ist hier jenes von Anders Behring Breivik, der am 22. Juli 2016 einen Massenmord<br />

verübte. (vgl. Hartleb 2020; Stockhammer 2023). Mehr noch: Organisationen wie Al Quaida und<br />

ISIS wenden sich bewusst an die „radikalen Verlierer“ (vgl. Enzensberger 2006) in den westlichen<br />

Gesellschaften, also mitten unter uns.<br />

56 <strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024


Radikalisierung im Kontext einer neuen Weltunordnung<br />

Die Pandemie hat die extremistischen Tendenzen noch verstärkt, der russische Angriffskrieg<br />

gegen die Ukraine, die Eskalation des Konflikts im Nahen Osten durch den Angriff der Hamas<br />

auf Israel tragen ein Übriges zur Zuspitzung bei. Eine neue Welle des Antisemitismus in sämtlichen<br />

Phänomenbereichen lässt sich gerade beobachten. Zudem kommt ein Migrationsdruck,<br />

der sämtlichen Vorhersagen zufolge nicht abnehmen wird (vgl. wiiw 2021; National Intelligence<br />

Council 2021).<br />

Die angesprochenen Krisendynamiken haben nicht nur direkte und teilweise tiefgreifende Auswirkungen<br />

auf die Lebensweise, den Wohlstand und die Zukunft, sondern führen auch zu massiven<br />

Einbrüchen, die durch die Konsequenzen oder Auswüchse der Krisen bedingt sind. Negative,<br />

von außen induzierte Interventionen, wie unverhohlene Schuldzuweisungen und die gezielte<br />

Schaffung von konstruierten, stereotypen Feindbildern, die mit dem Aufkommen illiberaler Ideologien<br />

und extremistischer Erzählungen einhergehen, haben zur Folge, dass soziale Verwerfungen<br />

und als Konsequenz auch vermehrt Populismus stattfinden.<br />

3 Radikalisierung in diesem Kontext<br />

„Radikal“ ist ein relativer Begriff. Er steht in Beziehung zu Gesetzen, Verfassungswerten, gesellschaftlichen<br />

Normen, Konventionen, Gebräuchen und Präferenzen, letztlich ebenso zum Extremismus.<br />

Zudem erweist sich Radikalität als ein in hohem Maße kontextgebundenes Phänomen.<br />

Wer Radikalisierung als sozialen Prozess analysiert, stößt daher auf konzeptionelle Herausforderungen<br />

(vgl. Ford/Jackson 2024: 11-32).<br />

• Ist der Terminus „radikal“ nicht zu subjektiv?<br />

• Leitet sich aus Radikalismus politisch-motivierte Gewalt ab?<br />

• Wird der Anteil der Ideologie im Radikalisierungsprozess richtig proportioniert, überoder<br />

unterbetont?<br />

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurden Sympathisantinnen der Suffragetten-Bewegung, die<br />

für das Frauen-Wahlrecht eintrat, als radikal bezeichnet. Aus dem gleichen Grund mag das,<br />

was in einer Gesellschaft als radikal empfunden wird, wiederum in einer anderen als moderat<br />

oder gar normal angesehen werden. Eine Frau, die es im Iran wagt, ohne Kopfbedeckung in die<br />

Öffentlichkeit zu gehen, würde als radikal promiskuitiv bezeichnet werden. Sie würde auch dafür<br />

verhaftet werden. In <strong>Europa</strong> hingegen ist es normal, sich als Frau ohne Kopfbedeckung in der<br />

Öffentlichkeit zu bewegen. Ganz zu schweigen davon, dass man dafür nicht verhaftet wird (vgl.<br />

Holzgruber 2021: 10).<br />

Ergänzend lassen sich drei Formen der Radikalisierung unterscheiden, wenn man den Bezug zur<br />

Gewalt herstellt (Abaz Gaspar et al 2018: 7-15):<br />

<strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024<br />

57


Florian Hartleb<br />

1) Radikalisierung in die Gewalt<br />

In der Literatur existieren zahlreiche Definitionen, die eine direkte Verbindung zwischen Radikalisierung<br />

und Gewaltanwendung herstellen und somit den Radikalisierungsprozess als eine Entwicklung<br />

von der Gewaltlosigkeit in die Gewalt darstellen. Ein Beispiel für diese Prozessualität<br />

ist eine Mitgliedschaft bzw. Teilhabe in Social-Media-Gruppen oder Kanälen, in denen eindeutig<br />

Gewalt gerechtfertigt oder verlangt und zur aktiven Mitwirkung am Jihad aufgefordert wird. In<br />

diesem Zusammenhang wird häufig ein offenes Bekenntnis zu einem Leben nach der Scharia<br />

gefordert und auf die „Pflicht“ einer jeden Muslimin oder eines jeden Muslims zum gewaltsamen<br />

Jihad gegen die „Ungläubigen“ (kuffār) rekurriert.<br />

2) Radikalisierung in der Gewalt<br />

Die Radikalisierung in der Gewalt umfasst Individuen und Gruppen, die zur Durchsetzung ihrer<br />

politischen Ziele und Ideen bereits Gewalt anwenden, sich jedoch weiter radikalisieren. Gewalt<br />

wird demnach als probates Mittel perzipiert, um den jeweiligen Anliegen Gehör zu verschaffen.<br />

Bleibt die rezeptive Wirkung bei den Adressat:innen der Gewaltbotschaft jedoch aus, führt dies<br />

in der Regel zu einer noch stärkeren Hinwendung zur Gewalt. Dies kann sich in einem signifikanten<br />

Anstieg der Gewaltmittel, in der Häufigkeit der Gewaltanwendung oder der Ausweitung der<br />

Ziele manifestieren.<br />

3) Radikalisierung ohne Gewalt<br />

Hierunter fallen Individuen und Kollektive, die ihre Ziele gewaltfrei und im Rahmen des gültigen<br />

Rechtssystems, aber mit zunehmend grundsätzlicher Ablehnung der bestehenden Ordnung zu<br />

erreichen versuchen (Sedgwick 2010: 479-494). Wer Radikalisierung aus einer entwicklungsorientierten<br />

Perspektive betrachtet, erkennt Einstellungen und Haltungen als Resultat vielfältiger<br />

(gesellschaftlicher, sozialer, individueller) Einflussfaktoren sowie sich gegenseitig beeinflussender,<br />

ontogenetischer (biographischer) Entwicklungsprozesse.<br />

58 <strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024


Radikalisierung im Kontext einer neuen Weltunordnung<br />

Abbildung 1: Überblick zum entwicklungsorientierten Modell der Radikalisierung<br />

1 2 3<br />

Ontogenetische<br />

Entwicklungsprozesse<br />

(vor allem im Altersbereich zwischen früher<br />

Kindheit und ca. 20 Jahren)<br />

Proximale<br />

Radikalisierungsprozesse<br />

(vor allem im Altersbereich zwischen früher<br />

Adoleszenz und ca. 30 Jahren)<br />

Risikofaktoren<br />

und -<br />

prozesse<br />

Gesellschaft<br />

Sozialer<br />

Nahraum<br />

Individuum<br />

Protektive<br />

Faktoren und<br />

-prozesse<br />

Allgemein<br />

Spezifisch<br />

Identitätsprobleme<br />

Vorurteilsstrukturen<br />

Extremistische Ideologie<br />

Dissozialität<br />

Politischer oder<br />

religiöser<br />

Extremismus<br />

Rechtfertigung<br />

Unterstützung<br />

Einstellungen<br />

Verhalten/Handlung<br />

Quelle: Beelmann et al. 2021: 12<br />

4 Prävention im digitalen Zeitalter?<br />

Zur Kontrolle und Eindämmung von Extremismus und Terrorismus stehen sich fundamental<br />

zwei Strategien gegenüber. Nach der konservativen Strategie kann Terrorismus allein deshalb<br />

existieren, weil der Staat zu liberal und die Gesellschaft zu offen und tolerant ist. Dementsprechend<br />

werden rigide Law-and-Order-Maßnahmen mit dem Narrativ „Kampf gegen den Terrorismus“<br />

veranlasst, die dem Staat wieder Durchsetzungskraft verleihen sollen.<br />

Nach der liberalen Strategie ist nicht die liberale Demokratie als solche Ursache für Terror, sondern<br />

der Missbrauch der durch sie ermöglichten Freiheiten. Es wird davon ausgegangen, dass<br />

der ideologische Extremismus und terroristische Manifestationen desselben ohnehin keinen<br />

Rückhalt in der Bevölkerung genießen, weshalb nicht gleich von einer existenziellen Gefahr für<br />

Staat und Gesellschaft ausgegangen werden muss. Der Staat sollte keineswegs überreagieren,<br />

und die Freiheiten der großen Mehrheit beschneiden, um (nutzlose) Maßnahmen gegen wenige<br />

Extremisten zu ergreifen.<br />

Entsprechend des konservativen Ansatzes werden jedoch (Grund-)Freiheiten bewusst beschnitten,<br />

im Verständnis dadurch mehr Sicherheit zu gewährleisten. Häufig hat sich im Anschluss<br />

an Terroranschläge (z.B. in den USA als Reaktion auf 9/11, in Frankreich als Reaktion auf die<br />

Anschläge im Jahr 2015), zuvorderst, um unmittelbare Sicherheit zu maximieren und Stabilität<br />

wiederherzustellen, eine Tendenz, bürgerliche Freiheiten einzuschränken, durchgesetzt. Dies geschieht<br />

primär mit der Absicht, Übersicht und Kontrolle zurückzuerlangen und die autonomen<br />

Sicherheitsinteressen des angegriffenen Staates bzw. seiner Gesellschaften zu wahren, aber<br />

<strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024<br />

59


Florian Hartleb<br />

auch, um Zeit zu gewinnen. Denn die Strafverfolgung von Attentäter:innen bedarf eines flurbereinigten<br />

Operationsbereichs. Zumeist wird jedoch über das Ziel hinausgeschossen und drastische<br />

gesetzliche Einschränkungen und Überwachungsmaßnahmen (z.B. CCTV) werden implementiert,<br />

die von der Mehrheit der Bevölkerung als einengend und übertrieben empfunden werden.<br />

Eine derartige Überreaktion, also die Neigung von Gesellschaften, sich im Anschluss an terroristische<br />

Vorfälle zu verschließen, und jene von Regierungen, Taktiken zu verwenden, die generell<br />

einschränken, sind unter dem Begriff des „Restriktionsparadigmas“ zu subsumieren. Eine prekäre<br />

Auswirkung dieser Restriktion kann die gegenteilige Wirkung sein, als jene die man erzielen<br />

wollte: man treibt die Gemäßigten, die sich eingeschränkt fühlen, in die Arme der Extremist:innen.<br />

Wie Herfried Münkler anmerkt, führen verschärfte Kontroll- und Repressions maßnahmen<br />

in dem Bestreben, Gewaltakteure und potenzielle Unterstützer (aber auch indifferente Moderate)<br />

voneinander zu trennen, dazu, dass letztere sich den ersteren annähern. ( Münkler 2023b: 17-33).<br />

Es dürfte sich daher eigentlich von selbst verstehen, dass man Freiheiten nicht dadurch verteidigt,<br />

indem man sie einschränkt. Zu welch absurden Folgen dies führen kann, hat sich spätestens<br />

mit dem Verhüllungsverbot an französischen Stränden oder dem Vermummungsverbot<br />

in Österreich gezeigt. Staatliche Repression löst das Problem nicht (Schneider 1994: 185). Vielmehr<br />

geht es darum, behutsame wie nachhaltige Maßnahmen einzuleiten. Es liegt allerdings in<br />

der Natur der Sache, dass unmittelbare Erfolge nicht zu erzielen sind. Das gilt für beide Strategien.<br />

Der Unterschied liegt allein darin, dass die konservative Strategie Maßnahmen entfaltet,<br />

die alle Bürger:innen sofort zu spüren bekommen, die Straftaten, auf die sie zielen, allerdings<br />

selten nachhaltig unterdrücken können.<br />

Maßnahmen der liberalen Strategie hingegen sind für die meisten Bürger:innen unsichtbar,<br />

da sie den Anspruch verfolgen, diejenigen zu erreichen, die tatsächlich gefährdet sind, in den<br />

Extremismus abzugleiten. Prävention geschieht nicht von heute auf morgen, doch es ist immens<br />

wichtig, sie von staatlicher Seite zu unterstützen, und zwar langfristig. Niedrigschwellige Hilfsangebote<br />

sollten noch vor den Möglichkeiten der Strafverfolgung das primäre Standbein der<br />

Terrorprävention bilden. Solche Angebote können gleichwohl nur existieren, wenn man zugibt,<br />

dass das Problem besteht.<br />

Die neuen technischen Möglichkeiten, die den Täter:innen im digitalen Zeitalter zur Verfügung<br />

stehen, haben zudem die Ermittlungspraxis erheblich verändert: Wenn Polizei und Staatsanwaltschaft<br />

die Wohnung eines/ einer Beschuldigten durchsuchen, haben sie den Auftrag,<br />

neben Tatmitteln wie Waffen, schriftliche Unterlagen sicherzustellen. Früher kommunizierten<br />

Täter:innen über Festnetzanschlüsse oder wichen konspirativ auf Telefonzellen aus. Das ist Vergangenheit:<br />

Die Täter:innen haben die Vorzüge des Cloud-Computing längst für sich entdeckt.<br />

Anonymisierung und Kryptierung werden immer mehr zum Standard der Kommunikation von<br />

Schwerst kriminellen. Eine Strafverfolgungsbehörde, deren Beamte sich mit solchen modernen<br />

Methoden der Kommunikation nicht auskennen, ist nutzlos.<br />

60 <strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024


Radikalisierung im Kontext einer neuen Weltunordnung<br />

Nie war der Zugang zu volksverhetzenden Inhalten einfacher als heute, gerade auch für Minderjährige.<br />

Zumeist reicht der Blick auf die Kommentare unter einem beliebigen Artikel oder Video.<br />

Wenige Klicks weiter eröffnet sich in einschlägigen Foren ein buntes Panoptikum aus menschenverachtenden<br />

Bildern, Hetzschriften, codierten Schlagwörtern und pseudowissenschaftlichen<br />

Analysen, die in deutschsprachigen Medien so niemals erscheinen könnten.<br />

Präventiv sollte im Sozialkundeunterricht zudem der virtuell ablaufende Radikalisierungsprozess<br />

genauer untersucht werden – mitsamt der eigenen Sprache in Chats. Um hier Schritt zu halten,<br />

ist die Schulung digitaler Kompetenzen unabdingbar – im Erlebnisraum Schule selbst. Es gibt<br />

immer noch Lehrkörper, die von der Dynamik in virtuellen Welten keine Ahnung haben. Soziale<br />

(aber auch politische) Kommunikation hat sich grundlegend gewandelt. Auch die Vorstellungen<br />

von Extremismus und Terrorismus sind an die neuen Realitäten anzupassen. Es braucht eben<br />

kein Parteibuch, keinen Mitgliederausweis in einer Organisation mehr. Insgesamt verlangt die<br />

Prävention eine auf den ersten Blick paradox anmutende Strategie:<br />

• Im virtuellen Leben ist es notwendig, die auffälligen Aggressoren sozial zu isolieren<br />

und extremistische Kommunikationsbrücken auf virtuellen Plattformen wie Steam zu<br />

zerschlagen. Terroristen können umso eher an ihr Ziel gelangen und Anschläge durchführen,<br />

wenn sie sich mit Gleichgesinnten austauschen können (Byman 2017: 97).<br />

• Im realen Leben müssen die oft sozial isolierten Menschen die Bindungen an die Gesellschaft<br />

zurückgewinnen und reintegriert werden. Hier sind pädagogische und psychologische<br />

Angebote gefragt, etwa auch im Umgang mit Persönlichkeitsstörungen. Depressionen<br />

beispielsweise werden immer noch tabuisiert, obwohl in den letzten Jahren eine<br />

mediale Aufklärungskampagne eingesetzt hat.<br />

Tabelle 1: Leitlinien der Präventionsarbeit<br />

Prozesse für Radikalisierung<br />

Identitätsprobleme<br />

Leitlinien der Prävention<br />

• Zeit und Raum für Identitätskonstruktionen von jungen Menschen<br />

• Schaffung von Zugehörigkeit und Bestätigung<br />

Vorurteilsstrukturen<br />

• Positives Erleben von Diversität<br />

• Förderung von Fertigkeiten, die Vorurteilen entgegenstehen<br />

(etwa Wertevermittlung)<br />

Erwerb extremistischer<br />

Überzeugungen und<br />

Ideologien<br />

Dissozialität<br />

• Erwerb von Verantwortlichkeiten für die Gemeinschaft<br />

• Umgang mit den Chancen und Problemen von digitalen Medien<br />

• Vermittlung von demokratischen Werten (Fairness, Gleichheit und<br />

Gerechtigkeit)<br />

• Stärkung von sozialem Lernen<br />

• Förderung von Gemeinsinn<br />

Quelle: auf Grundlage von Beelmann et al. 2021: 107<br />

<strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024<br />

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Florian Hartleb<br />

Das Erkennen der ersten Anzeichen einer Radikalisierung ist von entscheidender Bedeutung, um<br />

diese zu verhindern. Meist erfolgt diese Früherkennung im Umfeld der Familie. Hinzu kommt,<br />

dass es umso leichter ist einzugreifen, je geringer der Radikalisierungsgrad einer Person ist.<br />

Prävention ist umso erfolgreicher, je früher man das Problem adressieren und bekämpfen<br />

kann. Radikalisierung kann man aufgrund ihrer Prozessualität in Stadien beobachten und daher<br />

lassen sich Eigenschaften und Verhaltensweisen, die einen solchen Prozess signalisieren,<br />

häufig in einem Frühstadium erkennen. Es ist unerlässlich, irreführende oder extremistische<br />

Hassbotschaften, insbesondere in der virtuellen Welt auf sozialen Medien, rasch und eindeutig<br />

zu identifizieren. Gerade hier bedarf es konsequenter Maßnahmen zur Erstellung prägnanter<br />

Gegenäußerungen, die diese Botschaften argumentativ entkräften und widerlegen. Von Anfang<br />

an sollte berücksichtigt werden, dass delegitimierende extremistische Botschaften heutzutage<br />

zahlreiche Varianten und hybride Formen annehmen.<br />

5 Literaturverzeichnis<br />

Abaz Gaspar, Hande et al (2018): Was ist Radikalisierung? Präzisierungen eines umstrittenen<br />

Begriffs. In: PRIF Reports, 5, Frankfurt am Main. Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung<br />

(HSFK), 7-15. https://www.ssoar.info/ssoar/bitstream/handle/document/59474/<br />

ssoar-2018-abay_gaspar_et_al-Was_ist_Radikalisierung_Prazisierungen_eines.pdf?sequence=<br />

1&isAllowed=y&lnkname=ssoar-2018-abay_gaspar_et_al-Was_ist_Radikalisierung_Prazisierungen_eines.pdf<br />

(10.12.2023).<br />

ADL (2019): ADL Global 100. Anti-Defamation League. https://global100.adl.org/map (17.1.<br />

2024).<br />

Anderson, Kurt (2011): The Protester. In: Time, Dec. 14, 2011. https://content.time.com/time/<br />

specials/packages/article/0,28804,2101745_2102132_2102373,00.html (11.12.2023).<br />

Antisemitische Meldestelle (2022): Antisemitische Vorfälle 2022 in Österreich. Jahresbericht.<br />

Kultusgemeinde Wien. https://www.antisemitismus-meldestelle.at/_files/ugd/0a9e18_6c0c98f<br />

d9d7d45cfa8a0869ff35c19c3.pdf (13.12.2023).<br />

Aron, Raymond (1957): Opium für Intellektuelle oder Die Sucht nach Weltanschauung. Köln:<br />

Kiepenheuer & Witsch.<br />

Backes, Uwe (2022): Autokratien. Baden-Baden: Nomos.<br />

Barlai, Melani / Hartleb, Florian / Mikecz, Dániel (2023): Das politische System Ungarns. Baden-<br />

Baden: Nomos, Reihe Studienkurs <strong>Politik</strong>wissenschaft.<br />

62 <strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024


Radikalisierung im Kontext einer neuen Weltunordnung<br />

Beelmann, Andreas et al. (2021): Entwicklungsorientierte Radikalisierungsprävention: Was man<br />

tun kann und sollte. Wissenschaftliches Gutachten für den Landespräventionsrat Niedersachsen,<br />

Friedrich-Schiller-Universität Jena, 12.<br />

Benz, Wolfgang (2020): Vom Vorurteil zur Gewalt. Politische und soziale Feindbilder in Geschichte<br />

und Gegenwart. Freiburg im Breisgau: Herder Verlag, 87-94.<br />

Bjørgo, Tore / Braddock, Kurt (2022): Anti-Government Extremism: A New Threat?, in: Perspectives<br />

on Terrorism, 16 (6), Special Issue on Anti-Government Extremism (December), 2-8.<br />

Brodnig, Ingrid (2018): Lügen im Netz. Wie Fake News, Populisten und unkontrollierte Technik<br />

uns manipulieren. Wien: Brandstätter.<br />

Byman, Daniel (2017): How to Hunt a Lone Wolf. Countering Terrorists Who Act on Their Own. In:<br />

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Berlin: Suhrkamp.<br />

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Piper.<br />

Hartleb, Florian (2004): Rechts- und Linkspopulismus Eine Fallstudie anhand von Schill-Partei<br />

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Hartleb, Florian (2020): Einsame Wölfe. Der neue Terrorismus neuer Einzeltäter. 2. Aufl., Hamburg:<br />

Hoffmann und Campe.<br />

<strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024<br />

63


Florian Hartleb<br />

Hartleb, Florian (2021a): Plädoyer für den digitalen Staat: Gestalten statt Verwalten. Vorbild<br />

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Hartleb, Florian (2021b): Materalizations of Populism in Today´s politics: Global Perspectives, In:<br />

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München: dtv.<br />

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5. November. https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/en/ statement_23_5527<br />

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Levitsky, Steven / Ziblatt, Daniel (2018): How Democracies Die. What History Reveals About Our<br />

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Masala, Carlo (2022): Weltunordnung. Die globalen Krisen und das Versagen des Westens.<br />

München: C.H. Beck.<br />

Mishra, Pankaj (2017): Das Zeitalter des Zorns. Eine Geschichte der Gegenwart. Frankfurt am<br />

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Müller, Jan-Werner (2016): Was ist Populismus? Ein Essay. Berlin: Suhrkamp.<br />

Münkler, Herfried (2020a): Das Scheitern der Pariser Friedensordnung. Ein Lehrstück zur Verrechtlichung<br />

der internationalen <strong>Politik</strong>, in: Claus Kreß (Hrsg.): Paris 1919-1920. Frieden durch<br />

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64 <strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024


Radikalisierung im Kontext einer neuen Weltunordnung<br />

Münkler, Herfried (2020b): »<strong>Europa</strong> muss sich aus der komfortablen Untätigkeit herausbegeben«.<br />

Interview mit Herfried Münkler, in: Neue Gesellschaft, Frankfurter Hefte, Ausgabe 5.<br />

https://www.frankfurter-hefte.de/artikel/europa-muss-sich-aus-der-komfortablen-untaetigkeitherausbegeben-2955<br />

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Münkler, Herfried (2023a): Welt in Aufruhr. Die Ordnung der Mächte im 21. Jahrhundert. Berlin:<br />

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Münkler, Herfried (2023b): Strategic Terrorism. in: Nicolas Stockhammer (Hrsg.): Routledge<br />

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(11.02.2024).<br />

Neumann, Peter R. (2022): Die neue Weltunordnung. Wie sich der Westen selbst zerstört. Berlin:<br />

Rowohlt.<br />

Nolte, Paul (2012): Was ist Demokratie? Geschichte und Gegenwart. München: C.H. Beck.<br />

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Rede des Präsidenten der EU-Kommission auf der Sechsten Weltkonferenz des Studienverbandes<br />

der Europäischen Gemeinschaft – Projekt Jean Monnet Brüssel, Dezember 2002.<br />

http://europa.eu/rapid/press-release_SPEECH-02-619_de.htm (11.12.2023).<br />

Rensmann, Lars (2023): Angriff auf die Demokratie: Autoritäre Umsturzversuche vom Hitlerputsch<br />

bis zum Sturm auf das US-Kapitol. In: Einsichten und Perspektiven. Bayerische Zeitschrift<br />

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Stockhammer, Nicolas (2023): Trügerische Ruhe. Der Anschlag von Wien und die terroristische<br />

Bedrohung in <strong>Europa</strong>. Wien: Amalthea-Verlag.<br />

Strittmaier, Kai (2018): Die Neuerfindung der Diktatur – Wie China den digitalen Überwachungsstaat<br />

aufbaut und uns damit herausfordert. München: Piper Verlag.<br />

<strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024<br />

65


Florian Hartleb<br />

wiiw - Wiener Institut für Internationale <strong>Wirtschaft</strong>svergleiche (2021): Wien; Migration from<br />

Africa, Middle East and EU Eastern Partnership countries towards the EU-27: Challenges and<br />

prospects ahead. https://wiiw.ac.at/pj-189.html (11.02.2024).<br />

66 <strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024


Bernhard Zeilinger<br />

Methodologische Annäherung zur Messung<br />

der Demokratiequalität von politischen<br />

Parteien<br />

Abstract<br />

Dieser Artikel leistet einen Beitrag zur Weiterentwicklung der Messung der Demokratiequalität<br />

von Staaten. Bis dato werden politische Parteien kaum bis gar nicht in die Messungen miteinbezogen.<br />

Aktuelle Demokratiemessungen zeigen daher, nach Argumentation des Autors, nur ein<br />

verzerrtes Bild einer realpolitischen Wirklichkeit demokratischen Regierens. Vor allem in den<br />

letzten 20 Jahren haben sich Parteiensysteme fundamental verändert und mit ihnen der politische<br />

Wettbewerb an sich. In den aktuell durchgeführten Demokratiemessungen wird dem jedoch<br />

nicht Rechnung getragen. Der Artikel legt anhand der Aufgaben und Funktionen politischer<br />

Parteien, welche diese in einem politischen System wahrnehmen, dar, wie relevant diese für den<br />

Grad an Demokratiequalität eines Staates sind. Daher ist es von entscheidendem Interesse, wie<br />

politische Parteien ihre Aufgaben und Funktionen aus einer demokratiepolitischen Perspektive<br />

erfüllen. Dieser Artikel stellt eine entsprechende Bewertungsmatrix zur Disposition, anhand<br />

derer politische Parteien bewertet werden, inwiefern diese im Stande sind, den Gemeinwillen zu<br />

identifizieren und das Gemeinwohl zu fördern.<br />

1 Einleitung<br />

Alljährlich liefern unzählige Institute 1 Informationen zur Demokratiequalität von Staaten. Dabei<br />

werden unterschiedliche Parameter und Messmethoden angewandt. Allen ist jedoch gleich,<br />

dass politische Parteien nicht explizit in die Messungen miteinbezogen werden. Dabei sind es<br />

politische Parteien, die den politischen Wettbewerb organisieren und als wesentliche Legitimationsressource<br />

demokratisches Regieren ermöglichen. In Paragraf 1 Absatz 2 des österreichischen<br />

Parteiengesetzes von 2012 heißt es dazu: „Zu den Aufgaben der politischen Parteien gehört<br />

die Mitwirkung an der politischen Willensbildung.“ Im deutschen Parteiengesetz (§1 Absatz<br />

2) 2 wird die Rolle von Parteien detailreicher dargestellt:<br />

„Die Parteien wirken an der Bildung des politischen Willens des Volkes auf allen Gebieten des<br />

öffentlichen Lebens mit, indem sie insbesondere auf die Gestaltung der öffentlichen Meinung<br />

Einfluß nehmen, die politische Bildung anregen und vertiefen, die aktive Teilnahme der Bürger<br />

1 Democracy Reports des V-Dem Institute (https://www.v-dem.net/publications/democracy-reports/);<br />

Democracy Index by the Economist Intelligence Unit (EUI) (https://www.eiu.com/topic/democracy-index);<br />

Polity IV Index (http://www.systemicpeace.org/polityproject.html); Freedomhouse (https://freedomhouse.<br />

org/ report/freedom-world/freedom-world-2019/map); Democracy Barometer der Universität Zürich (http://<br />

democracybarometer.org/); Bertelsmann Transformation & Governance Index (https://www.bti-project.org/de/<br />

daten/ rankings/governance-index); Demokratiematrix der Universität Würzburg (https://www.demokratiematrix.<br />

de/ ranking); Österreichischer Demokratie Monitor (https://www.demokratiemonitor.at); Demokratieradar des<br />

Austrian Democracy Lab (https://www.austriandemocracylab.at/demokratieradar).<br />

2 Gesetz über die politischen Parteien (Parteiengesetz), in der Fassung der Bekanntmachung vom 31. Januar 1994,<br />

BGBl. I S. 149, zuletzt geändert durch Art. 2 des Gesetzes vom 22. Dezember 2004, BGBl. I S. 3673<br />

<strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024<br />

67


Bernhard Zeilinger<br />

am politischen Leben fördern, zur Übernahme öffentlicher Verantwortung befähigte Bürger heranbilden,<br />

sich durch Aufstellung von Bewerbern an den Wahlen in Bund, Ländern und Gemeinden<br />

beteiligen, auf die politische Entwicklung in Parlament und Regierung Einfluß nehmen, die von<br />

ihnen erarbeiteten politischen Ziele in den Prozeß der staatlichen Willensbildung einführen und<br />

für eine ständige lebendige Verbindung zwischen dem Volk und den Staatsorganen sorgen“.<br />

In beiden Ländern ist die demokratiepolitische Notwendigkeit politischer Parteien verfassungsrechtlich<br />

abgesichert (Art. 1 Österr. Bundesverfassung; Art. 21 und Absatz 1 des Grundgesetzes<br />

der BRD). Ihre dadurch privilegierte Stellung verpflichtet sie gleichzeitig darauf, ihre innere Ordnung,<br />

den in den Verfassungen verankerten demokratischen Grundsätzen entsprechend zu gestalten.<br />

Ein Zuwiderhandeln kann ein Verbot durch den Bundesverfassungsgerichtshof zur Folge<br />

haben. Ob dieser bedeutungsvollen Rollenzuschreibung drängt sich die Frage auf, warum die<br />

innerparteiliche Demokratie in nahezu allen Demokratiemessungen zu wenig oder gar nicht miteinbezogen<br />

werden. Sprich, nur demokratisch verfasste und gelebte Parteiarbeit, kann die, den<br />

Parteien zugedachte Rolle in Demokratien erfüllen.<br />

Aktuelle Demokratiemessungen hingegen, haben eines gemein, sie beziehen nur die Rahmenbedingungen<br />

für das Wirken politischer Parteien mit ein, und schließen daraus, inwiefern diese<br />

ihre Funktionen der intermediären Interessensaggregation und -artikulation sowie die Ausübung<br />

von gesellschaftlicher Kontrolle staatlichen Handelns nachkommen können. Die wohl<br />

umfassendste Demokratiemessung ist jene des Varieties of Democracy (V-Dem) Instituts 3 ,<br />

welches an der Universität Göteborg angesiedelt ist. Deren Messungen beziehen 483 Indikatoren<br />

von eigenen Quellen und 59 Indikatoren von externen Datensätzen mit ein. Die Erhebung<br />

erfolgt großteils über Fragebögen, welche dezentral durch Länderkoordinator:innen von V-Dem<br />

und ausgewählten Länderexpert:innen beantwortet werden. Indikatoren, die von V-Dem herangezogen<br />

werden, untergliedern sich in die Bereiche: Wahlen, politische Parteien, direkte Demokratie,<br />

Regierung, Parlament, Deliberation, Justizwesen, Grundrechte, staatl. Souveränität,<br />

Zivilgesellschaft, Medien, politische Gleichheit, Exklusion, Legitimation, zivile und akademische<br />

Freiheiten. 4 Die Bewertung politischer Parteien basiert auf Grundlage eines eigenen V-Party<br />

Datensatzes, welcher basiert auf einem Fragebogen bereits einige Bereiche innerparteilicher<br />

Demokratie erhebt, wie z.B. den Organisations- und Kohäsionsgrad (Stärke lokaler Parteigruppen,<br />

Wahl des Parteivorsitzes, Personalisierungsgrad in der Partei, Kohäsion bei parteiinternen<br />

Entscheidungen, Struktur der Parteifinanzierung), Verbindung zu den Wähler:innen (Verbindung<br />

zu zivilgesellschaftlichen Organisationen, lokale Parteigruppen, Parteiideologie und Art des Populismustyps.<br />

5 )<br />

Andere Datensätze hingegen bilden die Wirkmächtigkeit politischer Parteien bestenfalls indirekt<br />

ab. Der ParlGov Datensatz liefert Information über ideologische Ausrichtung, Wahlergebnisse<br />

3 Weblink zur Institutions-Website: Democracy Reports des V-Dem Institute (https://www.v-dem.net/publications/<br />

democracy-reports/)<br />

4 Methodologie der V-Dem Messung: https://www.v-dem.net/documents/26/methodology_v13.pdf (03.01.2024)<br />

5 Indikatoren des V-Party Datensatzes: https://v-dem.net/documents/6/vparty_codebook_v2.pdf (14.02.2024)<br />

68 <strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024


Methodologische Annäherung zur Messung der Demokratiequalität von politischen Parteien<br />

und Regierungsbeteiligung von politischen Parteien. 6 Andere Demokratiemessungen bewerten<br />

wiederum nur Rahmenbedingungen für politische Parteien. Die Demokratiematrix der Universität<br />

Würzburg erhebt Daten hinsichtlich „Organisationsfreiheit“, „Gleichheit der Handlungsrechte“<br />

und „Kontrollausübung“ und der Demokratiebarometer der Universität Zürich bietet Daten zur<br />

„Partizipation“ und dem „politischen Wettbewerb“. Im folgenden Kapitel wird begründet, wie und<br />

warum innerparteiliche Demokratie einen erheblichen Einfluss auf die Demokratiequalität eines<br />

Landes hat und daher unbedingt in die Bewertung miteinbezogen werden muss.<br />

2 Beitrag politischer Parteien zur Sicherstellung der Demokratiequalität eines Landes<br />

Eine analytische Annäherung, um die Relevanz von politischen Parteien für die Demokratiequalität<br />

eines Staates darzulegen, erfolgt anhand der demokratiepolitischen Einordnung ihrer<br />

Funktionen. Parteien organisieren und legitimieren demokratisches Regieren. Dies geschieht<br />

durch eine Verschränkung der Parteien mit der Zivilgesellschaft einerseits und der Verbindung<br />

mit dem Regierungssystem andererseits. Sie stellen somit einen wechselseitigen Austausch<br />

von Informationen und Unterstützung her, identifizieren und repräsentieren Anliegen der<br />

Bürger:innen im Entscheidungsfindungsprozess und sind aufgrund ihrer Mediations-/Vermittlungsfunktion<br />

essentiell für die politische Stabilität des Regierungssystems (siehe Abbildung 1).<br />

Abb. 1: Organisierte Demokratie<br />

Abbildung 1: Organisierte Demokratie<br />

Bürger / Gesellschaft<br />

Sozioökonomische<br />

Unterschiede<br />

Wahlwerbung<br />

Begründung und Kritik<br />

von Entscheidungen<br />

Regierungssystem<br />

Alter /<br />

Generationskonflikt<br />

Bildungsgrad<br />

Grundorientierung &<br />

Werte<br />

Wohn- und<br />

Arbeitsbereich<br />

Konsumsverhalten<br />

Soziale Interessen<br />

Wertvorstellungen<br />

Gesellschaftliche<br />

Probleme<br />

Verbände<br />

Bürgerinitiativen<br />

Soziale Bewegungen<br />

Wissenschaft<br />

Medien<br />

Meinungsforschung<br />

Parteimitgliedschaft<br />

Wahlstimmen<br />

Forderungen<br />

Information<br />

Unterstützung<br />

Politische<br />

Parteien<br />

Personal<br />

Einfluss<br />

Unterstützung/<br />

Legitimation<br />

Kontrolle<br />

Regierung<br />

Parlament<br />

Quelle: eigene Darstellung n. Wolfgang Rudzio (1977), S. 160<br />

Quelle: eigene Darstellung in Anlehnung an Wolfgang Rudzio 1977: 160<br />

Wesentliche Funktionen in Anlehnung an Wolfgang Rudzio (1977: 160f.), Ulrich von Alemann<br />

(1994: 302ff.) und Frank Decker (2011: 16) sind: die Identifizierung gesellschaftlicher Interessen<br />

und die Erarbeitung gemeinsamer Ziele und Positionen in der politischen Auseinandersetzung<br />

(Vermittlungs-, Aggregations- und Integrationsfunktion); die Wahrnehmung der Vertretung dieser<br />

Interessen im Sinne des abgestimmten Mandats und die Geltendmachung des Einflusses zur<br />

Wahrung dieser gegenüber den staatlichen Institutionen (Vertretungs- und Einflussfunktion);<br />

6 Döring, Holger, Constantin Huber and Philip Manow. 2022. Parliaments and governments database (ParlGov).<br />

Datensatz ist abrufbar über https://www.parlgov.org/about/ (14.02.2024)<br />

<strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024<br />

69


Bernhard Zeilinger<br />

die Rekrutierung und Auswahl politischer Entscheidungsträger:innen auf allen Ebenen (Rekrutierungs-,<br />

Selektions- und Sozialisationsfunktion); und, die Überwachung der Regierungs- und<br />

Staatstätigkeit (Kontroll- und Legitimationsfunktion).<br />

Die Vermittlungs-, Aggregations- und Integrationsfunktion setzt den regelmäßigen Austausch<br />

(Deliberation) mit unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen voraus. Die erhobenen Interessen<br />

sollen in weiterer Folge gebündelt und im Sinne eines Interessensausgleichs, in eine gemeinsame<br />

Position integriert werden. Die Vertretungs- und Einflussfunktion basiert auf der Repräsentation<br />

pluralistischer Interessen und Meinungen in der parteiinternen Entscheidungsfindung<br />

und ergo in der Vertretung dieser Position in der politischen Auseinandersetzung. Entscheidend<br />

ist daher, neben einer deliberativen Offenheit mit der eigenen Wähler:innenbasis sowie der<br />

Zivilgesellschaft, wie die innerparteilichen Verfahren und Strukturen ausgestaltet sind, um unterschiedliche<br />

Interessen zu identifizieren und in der Entscheidungsfindung zu berücksichtigen.<br />

Diese Verfahren und Strukturen erfordern Transparenz, Rechtsstaatlichkeit, Beteiligungs- und<br />

Rechenschaftspflichten, Effizienz und eine klare Gewaltenteilung. Die Rekrutierungs-, Selektionsund<br />

Sozialisationsfunktion von Parteien verweist darauf, wie diese zur Bestellung politischer<br />

Entscheidungsträger:innen auf allen Ebenen des politischen Systems beiträgt. Hierzu stellt sich<br />

die Frage nach der gelebten politischen Kultur innerhalb einer Partei, in denen Parteimitglieder<br />

sozialisiert werden. Inwiefern ist diese durch demokratische Werte und gemeinwohlorientierte<br />

Zielsetzungen geprägt und sorgt dadurch für eine Kultur der Kompromissbereitschaft und<br />

Streben nach Konsensus? Dies ist vor allem unter dem Gesichtspunkt zu sehen, dass nicht alle<br />

Bereiche politischer Entscheidungsfindung innerhalb formaler Verfahren verhandelt werden,<br />

sondern immer ein respektables Maß an Entscheidungen außerhalb formaler Verfahren und<br />

Zuständigkeiten getroffen wird. Daher ist es wichtig, dass die Entscheidungsträger:innen demokratische<br />

Werte verinnerlicht haben. Weiters kommt die Kontroll- und Legitimationsfunktion von<br />

Parteien zur Sprache. Die Möglichkeiten für Parteien, diese auszuüben, hängt zu einem Großteil<br />

von den Rahmenbedingungen ab, die diesen durch die Art des Regierungs- und Wahlsystems,<br />

aber auch durch ein Parteiengesetz gegeben ist. Aber es braucht auch Parteifunktionäre und<br />

-funktionärinnen, die über die nötige Expertise und Kompetenz verfügen, um die Regierungs- und<br />

Staatstätigkeit effektiv überwachen und bewerten zu können. Auch sind Prozesse von Nöten,<br />

um Kontrollaufgaben effizient und effektiv erfüllen zu können und zu einem legitimierenden Ergebnis<br />

zu kommen.<br />

Um den Beitrag politischer Parteien zur Demokratiequalität eines Landes anhand der oben<br />

genannten Funktionen bemessen zu können, müssen zuerst die Kriterien dazu offengelegt<br />

werden. Der Autor verweist hierzu auf die acht Dimensionen demokratischen Regierens nach<br />

Diamond und Morlino (2004). Diese sind wie folgt: Rechtsstaatlichkeit (z.B. Bindung an die Verfassung,<br />

unabhängiges Justizsystem, Wahrung der Grund- und Menschenrechte), Bürgerbeteiligung<br />

(z.B. inklusives Wahlrecht, direkte Demokratie), Politischer Wettbewerb (Organisations-,<br />

Rede- und Versammlungsfreiheit, Oppositionsrechte, Parlamentarismus), Vertikale Verantwortlichkeit<br />

(z.B. durch regelmäßige Wahlen, Föderalismus, Medienfreiheit), Horizontale Verantwortlichkeit<br />

(z.B. Gewaltenteilung, parlamentarische Kontrollrechte, politische Trennung zwischen<br />

70 <strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024


Methodologische Annäherung zur Messung der Demokratiequalität von politischen Parteien<br />

Ministerkabinett und Ministerium), Freiheit (Öffentlichkeit und Transparenz), Gleichheit (z.B.<br />

unterschiedliche Interessen werden repräsentiert und gleichwertig als Entscheidungsgrundlage<br />

herangezogen) und Responsivität (Wahrnehmung und Integration von unterschiedlichen Interessen<br />

einer Gesellschaft) (zitiert nach Campbell/Barth 2009: 212f). In Referenz zu diesen acht<br />

Dimensionen, wird folglich anhand der Funktionen politischer Parteien dargelegt, wie stark die<br />

demokratiepolitische Relevanz von politischen Parteien ist. Diese kann entweder förderlich für<br />

die Demokratiequalität eines Staates sein oder demokratiezerrend, in dem diese Parteien ihre<br />

Funktionen nicht im Einklang mit demokratiepolitischen Grundsätzen wahrnehmen und daher<br />

die Demokratiequalität eines Staates negativ beeinflussen. Diese Parteien sind zum Beispiel in<br />

sich hierarchisch und autoritär verfasst und verfolgen Partikularinteressen ohne Kompromissbereitschaft<br />

zu zeigen (siehe Abbildung 8).<br />

Für die Demokratiequalität eines Staates ist es nötig, dass der Anteil der Mandate größtenteils<br />

über demokratiefördernde Parteien gestellt werden und das Zusammenspiel aller Parteien geneigt<br />

ist, den Allgemeinwillen bestmöglich abzubilden und gemeinwohlorientierte Entscheidungen,<br />

im Interesse der gesamten Bevölkerung, sicherzustellen. Dafür ist es viel entscheidender,<br />

dass innerhalb des Parteiensystems die Vielfalt an Interessen repräsentiert und integriert wird.<br />

Es muss aber auch ein demokratischer Grundkonsens über gemeinsame Ziele und Verfahren<br />

zur Entscheidungsfindung sowie Kompromissbereitschaft unter den dominierenden Parteien<br />

gegeben sein.<br />

Die notwendigen Rahmenbedingungen für ein demokratieförderndes Parteiensystem werden<br />

durch die Ausgestaltung des Regierungssystems sowie der Geschäftsordnung im Parlament,<br />

des Wahlsystems und der Parteiengesetze eines Landes gesetzt. Darüber hinaus ist die Ausgestaltung<br />

des politischen Wettbewerbs innerhalb des Parteiensystems geprägt vom Grad einer<br />

unabhängigen Justiz, Medienfreiheit und einer starken Zivilgesellschaft. Nur in seiner Gesamtheit<br />

kann ein politisches System dazu beitragen, Missbrauch von Macht für Klientelinteressen zu<br />

verhindern und gemeinwohlorientierte Interessen der Bevölkerung umzusetzen.<br />

In Bezug auf das Regierungssystem spielt es eine Rolle, welche Rechte und Mitwirkungsmöglichkeiten<br />

den politischen Parteien gewährt werden. Ein demokratisches Regierungssystem<br />

gewährleistet: verfassungsrechtlich abgesicherte Menschen- und Bürger:innenrechte;<br />

allgemeine, freie und geheime Wahlen; eine faire politische Auseinandersetzung in Medien<br />

und in der Öffentlichkeit; Rechtsstaatlichkeit auf Basis einer unabhängigen Justiz und einen<br />

starken Parlamentarismus mit effektiven Kompetenzen zur Regierungskontrolle. Während ein<br />

präsidentielles System die Macht auf eine Partei konzentriert, die jedoch wieder durch eine starke<br />

Personalisierung geschwächt ist, erscheint ein parlamentarisches System bestens geeignet,<br />

um den politischen Parteien die Wahrnehmung ihrer Funktionen bestmöglich sicherzustellen.<br />

Doch greift diese Zuordnung zu kurz und vielmehr müssen verfassungsrechtliche Bestimmungen<br />

wie auch die Geschäftsordnung im Parlament, 7 in die Bewertung miteinbezogen werden<br />

7 z.B. Bundesgesetz der Republik Österreich über die Geschäftsordnung des Nationalrates (Geschäftsordnungsgesetz<br />

1975). https://www.parlament.gv.at/verstehen/nationalrat/rechtsgrundlagen/GOGNR (22.02.2024)<br />

<strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024<br />

71


Bernhard Zeilinger<br />

(z.B. Mitwirkungsmöglichkeiten, Pluralismus & Repräsentativität, Inklusivität, Klubförderung, Absicherung<br />

des freien Mandats, Kontrollmöglichkeiten und Oppositionsrechte).<br />

Das Wahlsystem wiederum beeinflusst die thematische Breite sowie die Machtverteilung innerhalb<br />

politischer Parteien und zwischen der Regierung und dem Parlament. Aus demokratiepolitischer<br />

Sicht erscheint eine Fragmentierung als wünschenswert, jedoch sollte dies nicht zu einer<br />

Polarisierung im politischen Wettbewerb führen, aber auch nicht ein klares Regierungsmandat<br />

verunmöglichen. Als ideal für ein repräsentatives Parteiensystem wird oft die Verhältniswahl<br />

und niedrige Schwellenwerte für den Einzug ins Parlament, aber auch eine Form der personalisierten<br />

Wahl angeführt. Um trotz eines pluralistischen Parteiensystems die Bildung stabiler Regierungen<br />

zu ermöglichen, werden wiederum eine Form des Mehrheitsfördernden Wahlrechts,<br />

die Belohnung von Wahlallianzen und/oder höhere Schwellenwerte in Betracht gezogen 8 .<br />

Während die Ausgestaltung des Regierungssystems und des Wahlsystems indirekt auf ein Parteiensystem<br />

einwirken, stellen Parteiengesetze einen direkten Eingriff in die Ausgestaltung politischer<br />

Parteien dar. Parteiengesetze verfolgen eine klare Zielvorstellung, was das gewünschte<br />

Verhalten von Parteien anbelangt und verschiedene Sanktions- und Belohnungsmechanismen,<br />

um diesen Zielen Nachdruck zu verleihen. Das Parteiengesetz legt die Anforderungen für die<br />

Registrierung von politischen Parteien fest. Grundlegend für eine Registrierung ist eine Mindestanzahl<br />

von Mitgliedern und die Einreichung einer Satzung. Zuvorderst müssen Parteien sich<br />

darin verpflichten, die verfassungsrechtlichen Grundsätze und Werte – wie Demokratie, Rechtsstaatlichkeit,<br />

Grund- und Menschenrechte, soziale Gerechtigkeit – und die formulierten gemeinwohlorientierten<br />

Staatsziele zu achten und politisches Handeln diesen unterzuordnen. Ein Zuwiderhandeln,<br />

in Form von verfassungsfeindlichen Positionen, kann ein Verbot dieser Partei nach<br />

sich ziehen. Darüber hinaus können Regelungen noch eine Reihe weiterer Vorgaben für Parteien<br />

beinhalten, wie z.B. Transparenz, Rechenschaftspflichten und Repräsentativität. Auch Mindeststandards<br />

für die interparteiliche Entscheidungsfindung können Teil dieser Vorgaben sein. Dies<br />

kann zum Beispiel die Verpflichtung von innerparteilichen Wahlen (z.B. Nominierung und Direktwahl<br />

des Parteienvorsitzes), verbindliche Mitgliederbefragungen (z.B. Norwegen) und Transparenz<br />

oder Quotenregelungen bei der Auswahl von Kandidat:innen umfassen. Auch Vorgaben für<br />

die Einrichtung von parteiinternen Kontrollmechanismen können als Kriterien darin enthalten<br />

sein (z.B. Whistleblower-Stelle, Ombudsstelle, externer Beirat, unabhängiges Schiedsgericht).<br />

Ein Großteil der rechtlichen Vorgaben regelt den Umgang mit Parteifinanzen. Diese umfassen<br />

sowohl staatliche Parteienförderung als auch private Spenden und Mitgliedsbeiträge. So sind<br />

oftmals Obergrenzen für Spenden von Einzelpersonen und Organisationen sowie Offenlegungspflichten<br />

in Form von Rechenschaftsberichten betreffend Finanzierung und Ausgaben (siehe<br />

z.B. Wahlkampfkostenobergrenze in Österreich; zweckgemäße Verwendung von Budgetmitteln<br />

8 Siehe dazu u.a. entsprechende Empfehlungen der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in <strong>Europa</strong>/ Büro<br />

für Demokratische Institutionen und Menschrechte (OSZE/ODIHR) und des <strong>Europa</strong>rates/ der Staatengruppe gegen<br />

Korruption (GRECO) sowie für Österreich den Vorschlagskatalog mit insgesamt 37 Empfehlungen zur Reform des<br />

Wahlprozesses aus 2017: https://www.wahlbeobachtung.org/vorschlagskatalog-37-empfehlungen-zumwahlprozess/<br />

(14.02.2024)<br />

72 <strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024


Methodologische Annäherung zur Messung der Demokratiequalität von politischen Parteien<br />

für Parteiakademien) vorgesehen. Von Seiten des Staates braucht es zudem unabhängige Kontroll-<br />

und Überwachungsmechanismen (z.B. der Parteien-Transparenz-Senat in Österreich 9 ),<br />

welche die Einhaltung der gesetzlichen Bestimmungen durch politische Parteien sicherstellen<br />

und Verstöße gegen demokratische Standards und Transparenzvorschriften ahnden. Bei Verstößen<br />

können diese, je nach Delikt, entweder Geldbußen oder den Ausschluss von staatlicher Parteienfinanzierung<br />

bis hin zu strafrechtlichen Konsequenzen für die zuständigen Funktionär:innen<br />

nach sich ziehen. Parteiengesetze versuchen aber oftmals auch durch Anreizsysteme, die Einhaltung<br />

der Zielvorgaben durch politische Parteien zu fördern. Als Beispiele für Anreizsysteme,<br />

kann sich die Förderhöhe nach Anzahl der Mitglieder richten, es Bonuszahlungen bei Erfüllung<br />

einer Frauenquote geben oder für Teilnahme an überparteilichen Aus- und Weiterbildungen von<br />

Parteimitgliedern durch staatliche Institutionen (wie z.B. Verwaltungsakademie in Österreich).<br />

Eine Bewertung der Rahmenbedingungen kann nur in Referenz zu ihrer Wirkung im politischen<br />

System vorgenommen werden. Sprich, inwiefern bringen die Rahmenbedingungen ein Parteiensystem<br />

hervor, welches die in Parteien gesetzte Funktionserwartung erfüllt. Zum Beispiel kann<br />

die Vertretungs- und Einflussfunktion unterschiedlich erfüllt werden. Eine breite und effektive<br />

Repräsentation pluralistischer Interessen kann entweder durch ein Mehrparteiensystem, mit<br />

einer Vielzahl an politischen Parteien mit unterschiedlichen Programmen, Ideologien und Strukturen<br />

erfolgen oder durch dominierende Massenintegrationsparteien, mit einer komplexen<br />

Organisationsstruktur, die es ermöglicht, unterschiedliche Interessen und Konfliktlinien bereits<br />

innerhalb der Parteien zu gemeinwohlorientierten Positionen zu verhandeln. An diesem Beispiel<br />

wird ersichtlich, dass ein Fokus von Demokratiemessungen auf explizit institutionelle Rahmenbedingungen<br />

wie Wahlen, politische Freiheiten, Gewaltenteilung und Rechtsstaatlichkeit zu<br />

irreführenden Bewertungen verleitet, da diese endogene Bedingungen nicht erfasst. Endogene<br />

Bedingungen umfassen Faktoren wie politische Repräsentation, Partizipation, Wettbewerb,<br />

interne Demokratie und politische Kultur. Für eine effektive Demokratie ist es wichtig, dass diese<br />

endogenen Bedingungen erfüllt sind. Nur so ist es gewährleistet, dass Parteien ihre demokratiepolitischen<br />

Funktionen erfüllen. Allerdings sind diese Faktoren schwer quantifizierbar und messbar,<br />

wodurch sie kaum in Demokratiemessungen berücksichtigt werden. Institutionelle Rahmenbedingungen<br />

sind zwar einfacher messbar und vergleichbar, aber sie erfassen nicht unbedingt<br />

die Rolle und Leistung von politischen Parteien und sie erfassen so auch nicht den Wandel von<br />

Parteiensystemen. Wie sich ein solcher Wandel auf die Demokratiequalität auswirkt, wird im<br />

folgenden Kapitel ausgeführt.<br />

3 Politische Parteien im Wandel<br />

Es wurde im vorangegangenen Kapitel darauf hingewiesen, dass bei Demokratiemessungen oftmals<br />

nur Rahmenbedingungen für den politischen Wettbewerb bewertet werden. Eine Analyse<br />

der gelebten demokratischen Praxis innerhalb von Parteien fehlt hingegen. Wie der Artikel argumentiert,<br />

kommt es dadurch zu einem verzerrten Bild über die Demokratiequalität von Staaten.<br />

9 Weblink zum Parteien-Transparenz Senat in Österreich: https://www.bundeskanzleramt.gv.at/themen/unabhangigerparteien-transparenz-senat.html<br />

<strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024<br />

73


Bernhard Zeilinger<br />

Diese Verzerrung wird umso deutlicher, wenn, wie folgt dargestellt, die Parteiensysteme einem<br />

Wandel unterworfen sind, welcher die Parteien in der Erfüllung demokratiepolitischer Funktionen<br />

schwächt. Damit politische Parteien ihre demokratiepolitischen Funktionen erfüllen können,<br />

müssen diese auch in sich im Stande sein, auf gesellschaftlichen Wandel und Veränderungen<br />

der Konfliktlinien reagieren zu können. Sie dürfen daher nicht Gefahr laufen, zum Selbstzweck<br />

politischer Funktionäre und Funktionärinnen zu verkommen, sondern im Sinne ihrer Stabilität<br />

und Anpassungsfähigkeit eng im Austausch mit den Mitgliedern, der Gesellschaft und ihren<br />

unterschiedlichen Stakeholdern zu stehen.<br />

Im Folgenden wird in Anlehnung an Entwicklungstrends westeuropäischer Parteiensysteme dargelegt,<br />

welchen Herausforderungen politische Parteien ausgeliefert sind, um ihren demokratiepolitischen<br />

Funktionen gerecht werden zu können. Dabei muss klar zwischen Ursache und Symptom<br />

unterschieden werden. Beides erfordert eine Anpassungsleistung politischer Parteien und<br />

je nachdem, wie diese ausfällt, ergibt sich ihr demokratiepolitischer Beitrag. Zu den prägendsten<br />

Ursachen für den Wandel von Parteiensystemen zählen Phänomene wie der Souveränitätsverlust<br />

des Nationalstaates aufgrund der Einbettung in internationale Regime; Veränderung sozioökonomischer<br />

Ungleichgewichte und die zunehmende Mediatisierung politischen Wettbewerbs<br />

(Merkel 2016). Dies führte zu Bedeutungsverlust der Parlamente und von Oppositionsparteien,<br />

Handlungsverlust von Regierungen, dem Niedergang von Volksparteien, einer Polarisierung des<br />

politischen Wettbewerbs und Indifferenz politischer Programme. Darauf lassen sich folgende<br />

Symptome zurückführen, die einen Wandel der Parteiensysteme und ihrem Grad der Funktionsfähigkeit<br />

zur Folge haben.<br />

Erstens ist ein zunehmender Vertrauensverlust in politische Parteien festzustellen (Bergsen<br />

2019; Pildes 2021). Dieser wird von einigen Autoren (Kriese et al. 2008) mit dem Bedeutungsverlust<br />

der nationalen politischen Arena im Zuge der Integration in internationale Regime sowie der<br />

Europäischen Union in Verbindung gebracht. Die vormals dominierenden Massenintegrationsparteien<br />

gerieten in ein Dilemma, da sie ihr Versprechen nach Vertretung und Einfluss immer weniger<br />

wahrnehmen konnten. Auch agierten sie zunehmend pragmatisch hinsichtlich ihrer inhaltlichen<br />

Ausrichtung. Der Kampf um den Erhalt von Posten und Einfluss ließ die inhaltlichen Ziele<br />

in den Hintergrund rücken (Jun 2005: 223). Der Grad an Inszenierung überdeckte den Bedeutungsverlust,<br />

sorgte aber im Gegenzug für unerfüllte Erwartungen. Während die Wähler:innen<br />

die <strong>Politik</strong>er:innen dieser Parteien in Verantwortung nehmen, zeigen sich diese umgekehrt kaum<br />

responsiv für deren Anliegen aufgrund ihrer kaum noch vorhandenen Zuständigkeit (Mair 2013).<br />

Dies führte dazu, dass sich eine Parteiskepsis (siehe Abbildung 2) bis hin zur Ablehnung von Demokratie<br />

unter den Bürger:innen breit machte (Eurobarometer 2023) 10 . Die Parteibindung nahm<br />

rapide ab. Immer weniger Bürger:innen gingen eine Parteimitgliedschaft ein. Verbindungen zwischen<br />

Parteien und der Zivilgesellschaft wurden zunehmend porös und schwächten die Vermittlungs-,<br />

Integrations- und Aggregationsfunktion von Parteien.<br />

10 Kommissionswebsite zum Eurobarometer: https://europa.eu/eurobarometer/surveys/detail/2966 (05.03.2024)<br />

74 <strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024


Methodologische Annäherung zur Messung der Demokratiequalität von politischen Parteien<br />

Abb. 2: Vertrauen in politische Parteien in Prozent (Durchschnittswerte für 2015-2020)<br />

Abbildung 2: Vertrauen in politische Parteien in Prozent (Durchschnittswerte für 2015-2020)<br />

Source: Amory Gethin (2021) calculations using Standard Eurobarometer surveys.<br />

Zweitens, erhöhte das gesunkene Vertrauen in etablierte Massenintegrationsparteien die<br />

Volatilität der Wähler:innen und erhöhte den Wettbewerbsdruck. Gleichzeitig nahm der Grad<br />

an Medialisierung politischer Auseinandersetzung zu. In einer medialisierten politischen Landschaft<br />

können populistisch agierende Klientelparteien leichter Aufmerksamkeit und Unterstützung<br />

gewinnen, da sie oft einfache Botschaften und polarisierende Narrative verwenden, die<br />

in den Medien gut funktionieren (Heinisch et al. 2017). Massenintegrationsparteien hingegen<br />

stoßen hier auf Schwierigkeiten, ihre Botschaften effektiv zu vermitteln und ihre Wählerbasis<br />

zu mobilisieren, da sie traditionell eine Breite an Themen und Interessen bedienen. Diese seien<br />

zu sehr in ihren Strukturen und Parteiprogrammatiken gefangen, um den Gegebenheiten in diesen<br />

geänderten Wettbewerbsstrukturen entsprechen zu können. Es fehlt ihnen die Flexibilität<br />

und Anpassungsfähigkeit, um Diskurse zu setzen und Konflikte entlang ihrer Programmatik zu<br />

verhandeln (Stöss/Haas/Niedermayer 2006: 14). Dies kann dazu führen, dass Massenintegrationsparteien,<br />

die auf Kompromissen und breiten politischen Koalitionen basieren, an Unterstützung<br />

verlieren. Um dieser Herausforderung zu begegnen, müssen Massenintegrationsparteien<br />

ihre Strukturen anpassen, um effizienter Interessen von Bürger:innen in ihren Programmen und<br />

Positionspapieren integrieren zu können. Es benötigt einen engen Austausch und deliberative<br />

Einbindung der Mitgliederbasis und der Zivilgesellschaft, um entsprechende politische Angebote<br />

machen zu können.<br />

Drittens kommt es im Zuge veränderter sozioökonomischer Interessenslagen zu einem Bruch<br />

mit den vorherrschenden Konfliktlinien im politischen Wettbewerb. Vor allem in Zeiten eines<br />

sich breit machenden Postmaterialismus gewinnen immaterielle Bedürfnisse (wie emanzipative,<br />

ökologische, moralische Werte) an Stellenwert und differenzieren traditionelle Konfliktlinien<br />

(Bergsen 2019). Wie Veith Selk (2023) in seinem jüngsten Buch „Demokratiedämmerung“<br />

schreibt, dringt die „Politisierung bis „in den letzten Winkel des Privaten“ ein. Anders als in traditionellen<br />

Konfliktlinien, in denen vor allem die Verteilungsfrage im Fokus der politischen Auseinandersetzung<br />

stand, werden Konflikte zunehmend entlang von Wertvorstellung und Identitäten<br />

<strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024<br />

75


Bernhard Zeilinger<br />

verortet. Während bei Verteilungskonflikten ein Kompromiss als Möglichkeit in Betracht gezogen<br />

wird, gerät dies bei Fragen von Werten und Identität ins Hintertreffen. Vor allem finanziell<br />

und bildungsmäßig Bessergestellte treiben diese Segmentierung voran. Ein gesellschaftlicher<br />

Grundkonsens in politischen Fragen ist kaum noch in Reichweite und macht auch nicht vor gemeinwohlorientierten<br />

Motiven halt. Dies wird auch vorangetrieben durch eine Fragmentierung<br />

von Öffentlichkeit. Dies zeigt sich in der Verlagerung von politischen Debatten in eine Vielzahl<br />

von nicht-linearen Medienkanälen und sozialen Plattformen. Zentrale Arenen politischer Auseinandersetzung<br />

geraten ins Hintertreffen und erschweren die Herausbildung eines Grundkonsenses.<br />

Auf eine belastbare Wir-Identität, wie Selk (2023) betont, kann nicht mehr verlässlich zurückgegriffen<br />

werden. Dadurch droht eine zunehmende gesellschaftliche Polarisierung, welche<br />

die Verortung eines gemeinsamen Ziels zwangsläufig erschwert.<br />

Die Segmentierung gesellschaftlicher Konfliktlinien steht im Zeichen der Ausdifferenzierung<br />

der Gesellschaft und der Individualisierung, welche traditionelle Parteibindungen untergraben<br />

und zu einer Fragmentierung der politischen Landschaft führt (Selk 2023). Durch die Partikularisierung<br />

von politischen Diskursen fehlt die übergeordnete Zielrichtung und verhindert oftmals<br />

kohärente <strong>Politik</strong>. An diesen kontroversen Erwartungen müssen Parteien in Regierungsverantwortung<br />

zwangsläufig scheitern. Die Regierungsparteien, die in erster Linie durch ihr Kontrollversprechen<br />

und ihre Lösungskompetenz legitimiert sind, werden zunehmend von einer Opposition<br />

vor sich hergetrieben, welche diese Inkohärenz und die überhöhten Erwartungen nützen, um den<br />

etablierten Regierungsparteien Inkompetenz vorzuwerfen und dadurch das Vertrauen der Bevölkerung<br />

in diese belasten. Daniela Irngruber (2022) schließt sich der Argumentation von Selk an<br />

und spricht davon, dass eine zunehmende Politisierung nicht zwangsläufig mehr demokratische<br />

Legitimität bedeutet. Vielmehr betont sie, unisono, dass gesellschaftlich Privilegierte immer weniger<br />

eine Parteibindung suchen, um politisch zu partizipieren und ihre Unterstützung ad-hoc<br />

und themenspezifisch erfolgt, ohne sich themenübergreifend mit <strong>Politik</strong> auseinanderzusetzen.<br />

Es kommt vielmehr zu einer selektiven Partizipation je nach Thema und Interessenslage.<br />

Durch neu auftretende Interessenslagen steht ein größer werdendes Wähler:innenreservoir zur<br />

Disposition und dies sorgte für einen massiven Umbruch westeuropäischer Parteisysteme (Jun<br />

2005; Stöss/Hass/Niedermayer 2006; Fieldhouse et al. 2020). Neue Parteien aber auch vormals<br />

Klein- und Kleinstparteien fordern Massenintegrationsparteien erfolgreich heraus und schöpfen<br />

ihr Potential und ihre Existenzberechtigung daraus, unbelastet und wandelbar, die spezifischen<br />

und sich ändernden Präferenzen zu bedienen. Insgesamt wurden, einer Studie von Bértoa (2002)<br />

zufolge, in den letzten drei Jahrzehnten über 800 neue Parteien in <strong>Europa</strong> gegründet. Darunter<br />

fallen die Entstehung der Grünparteien in den 1980er Jahren, die Umweltschutz als Thema etablierten,<br />

welches nicht in das traditionelle Links-Rechts-Schema einzuordnen war. Andere Beispiele<br />

sind die Parteien mit einem spezifischen Fokus auf Tierschutz (`Party for Animals` in den<br />

Niederlanden) oder Rechte von Pensionisten (`50PLUS`, ebenfalls in den Niederlanden) (Bergsen<br />

2019). Jüngst wird in der Literatur für die Fragmentierung von Parteisystem auch der Begriff<br />

der `Dutchification` verwendet, mit dem Verweis auf die Parlamentswahlen in den Niederlanden<br />

76 <strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024


Methodologische Annäherung zur Messung der Demokratiequalität von politischen Parteien<br />

2021, an denen 37 Parteien sich zur Wahl gestellt haben und 17 Parteien erfolgreich den Einzug<br />

ins Parlament geschafft haben (Bergsen et al. 2022).<br />

Viertens, führt der Anstieg an wahlwerbenden Parteien und die Abwanderung der<br />

Wähler:innenstimmen der politischen Mitte an die ideologischen Ränder zu einer Fragmentierung<br />

und Polarisierung der Parteiensysteme. Während eine gewisse Vielfalt und Pluralismus in<br />

der politischen Landschaft als Zeichen einer lebendigen und repräsentativen Demokratie betrachtet<br />

werden kann, birgt übermäßige Fragmentierung jedoch ernsthafte Risiken für die Demokratiequalität.<br />

Die Fragmentierung des Parteiensystems kann nicht per se als positive oder<br />

negative Entwicklung in Bezug auf die Demokratiequalität eines Landes bewertet werden. Eine<br />

Einordnung verlangt nach einem differenzierten Blick, welcher diese in Wechselbeziehung zu<br />

dem spezifischen politischen, sozialen und kulturellen Kontext eines Landes betrachtet. Dabei<br />

ist die Fragmentierung nicht ein Problem an sich, jedoch droht der damit einhergehende Wettbewerb,<br />

ohne geeignete Maßnahmen, eine konsensorientierte Arena politischer Auseinandersetzungen<br />

in eine Arena von Konkurrenten zu verwandeln. Dies bedeutet im Umkehrschluss eine<br />

Zuspitzung politischer Auseinandersetzung, die aufgrund des pluralistischen Zielkonflikts den<br />

politischen Wettwettbewerb zum überlebensnotwendigen Kampf um Abgrenzung und Aufmerksamkeit<br />

verkommen lässt. Die politische Arena gerät zur Schaubühne für die Inszenierung der<br />

Gegensätze auf Basis des ideologischen Kerns einer Partei.<br />

Eine Segmentierung des politischen Wettbewerbs kann dazu führen, dass einzelne Parteien sich<br />

darauf konzentrieren spezifische Interessen zu besetzen, um im Wettbewerb wahrgenommen<br />

und unterstützt zu werden. Durch diese thematische Zuspitzung kann es dazu kommen, dass<br />

diese Interessen nur dann im Entscheidungsfindungsverfahren vertreten und in die Entscheidung<br />

integriert werden, wenn die Parteien, die auf diese Interessen setzen, in der Regierung vertreten<br />

sind. Kurzum, die Kompromissfähigkeit zur Wahrung eines Ausgleichs von Interessen droht in<br />

fragmentierten Parteisystemen der wettbewerbsbedingten Strategie und Taktik zum Opfer zu<br />

fallen und läuft Gefahr, keine Berücksichtigung zu finden, wenn dies für die Mehrheitsfindung<br />

nicht notwendig ist. Wohingegen Massenintegrationsparteien den Anspruch stellen, eine breite<br />

Palette von Interessen unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen in die eigene Positionsfindung<br />

zu integrieren und folglich eine gemeinwohlorientierte <strong>Politik</strong>gestaltung eher wahrscheinlich ist.<br />

Weiters löst Fragmentierung eine Instabilität und Unberechenbarkeit demokratischen Regierens<br />

aus, was wiederum das Vertrauen in das politische System schwächt. So kann eine stark fragmentierte<br />

politische Landschaft zu instabilen Regierungen führen, da es schwieriger wird, stabile<br />

Mehrheiten zu bilden. Dies kann zu häufigen Regierungswechseln, Koalitionsbrüchen und<br />

politischer Unruhe führen, was die Effizienz der Regierung beeinträchtigen kann. Auch erschwert<br />

eine hohe Anzahl von Parteien im Parlament die Entscheidungsfindung, da Kompromisse zwischen<br />

den verschiedenen politischen Lagern schwieriger zu erreichen sind. Dies kann zu politischer<br />

Blockade und Verzögerungen bei der effektiven Umsetzung von Gesetzen und Reformen<br />

führen. Aktuell sind in den 20 wirtschaftsstärksten Staaten <strong>Europa</strong>s mindestens neun Parteien<br />

<strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024<br />

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Bernhard Zeilinger<br />

im Parlament vertreten, davon aber nur ein Drittel mit mehr als 10 Prozent (Bértoa 2024) 11 . Dies<br />

erschwert die Bildung von Mehrheiten, welche sich vor allem durch die zunehmende Anzahl an<br />

Mehrparteienregierungen und die Zunahme von Kleinparteien (< 10% der Stimmen) ausdrückt. 12<br />

Unter den EU-Mitgliedsländern werden aktuell 16 Regierungen von Koalitionen mit drei oder<br />

mehr Parteien gebildet.<br />

Diese vier skizzierten Entwicklungstrends von Parteiensystemen haben massive Auswirkungen<br />

auf deren Funktionsfähigkeit und ergo auf die Demokratiequalität eines Landes. Ein Parteiensystem<br />

zeichnet sich dadurch aus, inwiefern es dieses schafft, sich anzupassen. Zum einen können<br />

die Rahmenbedingungen geändert werden, indem zum Beispiel höhere Schwellenwerte für den<br />

Einzug in das Parlament oder Wahlallianzen belohnt werden. Zum anderen sollen Maßnahmen<br />

zur Förderung der innerparteilichen Demokratie ergriffen werden. Parteien sollen dazu gebracht<br />

werden, flexible und lernfähige Strukturen zu entwickeln, die es ermöglichen, auf veränderte<br />

politische und gesellschaftliche Rahmenbedingungen zu reagieren und unterschiedliche Meinungen<br />

und Ideen zu integrieren.<br />

4 Methodologie zur Messung des Beitrags politischer Parteien zur Demokratiequalität eines<br />

Staates<br />

Anhand der eingangs gestellten Zielvorgabe, den Beitrag von politischen Parteien für die Demokratieleistung<br />

eines Staates messen zu können, unternimmt das folgende Kapitel eine Operationalisierung<br />

maßgeblicher Kriterien und einer anwendbaren Methodologie. Zudem muss sich<br />

diese Messmethode daran messen lassen, inwieweit sie geeignet ist, auch Veränderungen der<br />

Parteisysteme und des politischen Wettbewerbs, wie im vorhergegangenen Kapitel aufgezeigt,<br />

angemessen zu berücksichtigen. Darüber hinaus soll es dadurch möglich sein, aktuelle Entwicklungen<br />

analytisch erfassen zu können und daraus mögliche Handlungsoptionen abzuleiten, um<br />

den Beitrag politischer Parteien zur Qualität demokratischen Regierens sicherzustellen.<br />

Das Modell zur Messung der Demokratiequalität von Parteien leitet sich von den zu erfüllenden<br />

Voraussetzungen zur Wahrnehmung der fünf Funktionen im Sinne demokratischen Regierens<br />

her. Um ihrer Vermittlungs-, Aggregations- und Integrationsfunktion nachzukommen, ist es für<br />

politische Parteien, in einem ersten Schritt, wichtig, gesellschaftliche Interessen in ihrer Pluralität,<br />

Allgemeingültigkeit und entsprechend den Grundrechten – speziell die Berücksichtigung<br />

von Minderheitenrechten – aufzunehmen und in ihrer Willensbildung zu berücksichtigen. Dazu<br />

nötig ist ein aktives Zugehen auf unterschiedliche Interessengruppen, Einholen von Meinungsumfragen<br />

und Studien, Aufbau von Vorfeldorganisationen und überparteiliche Beiräte (Deliberation)<br />

sowie Kommunikationskanäle für den Dialog mit der Zivilgesellschaft (Responsivität).<br />

11 Daten und Schaubilder zur Studie von Bértoa (2024): https://whogoverns.eu/party-systems/effective-number-ofparties/<br />

(02.03.2024)<br />

12 Datengrundlage auf Basis von Stratfor (2019): https://worldview.stratfor.com/article/which-european-countriesare-most-politically-fragmented<br />

(02.03.2024)<br />

78 <strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024


Methodologische Annäherung zur Messung der Demokratiequalität von politischen Parteien<br />

In einem zweiten Schritt sollen die unterschiedlichen Anliegen verarbeitet und in die Parteiarbeit<br />

institutionell eingebunden (Inklusion) sowie durch parteiinterne Vertretungen und Regeln<br />

( Repräsentation) in die Willensbildung und Erarbeitung von Programmen und Positionspapieren<br />

gleichwertig integriert werden. Beispiele dafür sind institutionell verankerte und stimmberechtigte<br />

Teilorganisationen (welche wesentliche Konfliktlinien bzw. Interessenslagen und Milieus<br />

abbilden), eine paritätische Besetzung von Gremien und Arbeitskreisen, um Themen interessenübergreifend<br />

zu behandeln und ein vorherrschendes Konsensprinzip bei gegebener Kompromissbereitschaft.<br />

Zur Erfüllung ihrer Vertretungs- und Einflussfunktion braucht es drittens effiziente und effektive<br />

Verfahren und Regeln (Entscheidungsstrukturen), die es ermöglichen, Repräsentant:innen mit<br />

einem klar festgelegten Mandat und Machtmonopol auszustatten, die aber auch dazu geeignet<br />

sind, diese vonseiten der Parteimitglieder für die Ausübung des übertragenden Mandats regelmäßig<br />

und effektiv zur Rechenschaft und Verantwortung ziehen zu können.<br />

Viertens muss klar sein, dass die Verfahren und Regeln nur dann ihre angestammte Wirkung<br />

entfalten können, wenn dies im Einklang mit der Grundorientierung und Wertehaltung der Parteimitglieder<br />

steht. Das heißt, dass die politischen Parteien Mechanismen integrieren, müssen,<br />

welche die Vermittlung sowie Achtung von demokratischen Werten und einer gemeinwohlorientierten<br />

Grundorientierung sicherstellen. Nur dadurch ist auch gewährleistet, dass die politischen<br />

Parteien ihrer Rekrutierungs-, Selektions- und Sozialisationsfunktion im Sinne demokratischen<br />

Regierens nachkommen.<br />

Abb. 3: Kategorien der Demokratiequalität von Parteien<br />

Abbildung 3: Kategorien der Demokratiequalität von Parteien<br />

DEMOKRATIEQUALITÄT<br />

VON PARTEIEN<br />

DELIBERATION &<br />

RESPONSIVITÄT<br />

INKLUSION &<br />

REPRÄSENTATION<br />

ENTSCHEIDUNGSSTRUKTUR<br />

GRUNDORIENTIERUNG &<br />

WERTE<br />

Quelle: Eigene Darstellung<br />

In den folgenden Unterkapiteln werden diese vier Schlüsselkategorien operationalisiert, mit dem<br />

Ziel geeignete Indikatoren zur Messung dieser zu identifizieren.<br />

4.1 Deliberation und Responsivität<br />

Parteien sind als referenzielle Institutionen zur Gesellschaft zu verstehen. Sie dienen dazu,<br />

gesellschaftliche Interessen in politischen Debatten abzubilden und zur Berücksichtigung zu<br />

verhelfen. Je größer der Anteil der gesellschaftlichen Interessen, welche im Parteiensystem<br />

<strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024<br />

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Bernhard Zeilinger<br />

abgebildet werden, desto mehr wird dem Allgemeinwillen genüge getan und das Gemeinwohl<br />

gesichert. Parteien müssen also aus demokratiepolitischen Aspekten daran gemessen werden,<br />

inwiefern sie Willens und im Stande sind, im Austausch mit der Gesellschaft Interessen zu identifizieren,<br />

um sicherzustellen, dass ihre politischen Programme und Prioritäten eine breite Palette<br />

von Perspektiven und Bedürfnissen berücksichtigen. Dieser Austausch hat dabei zwei wichtige<br />

Komponenten:<br />

Erstens, die Responsivität einer Partei, welche sich durch die Offenheit und Durchlässigkeit gegenüber<br />

den Anliegen der Zivilgesellschaft kennzeichnet. 13 Dazu ist es nötig Kommunikationskanäle<br />

anzubieten, die einen Dialog mit der Zivilgesellschaft zulassen, wie zum Beispiel Sprechstunden,<br />

Diskussionsveranstaltungen usw. Die Dialogbereitschaft hat darüber hinaus auch den<br />

positiven Effekt, dass Bürger:innen im Austausch über Regierungs- und Staatstätigkeiten informiert<br />

für Anliegen mobilisiert werden sowie ermutigt werden, sich am politischen Willensbildungsprozess<br />

zu beteiligen.<br />

Zweitens ist der Grad an Deliberation ein wesentliches Kriterium, um Fachkenntnisse zur Einordnung<br />

und Aufarbeitung des Allgemeinwillens und Gemeininteresses einzuholen. Dazu dienlich<br />

ist ein gezielter und moderierter Austausch mit Interessensverbänden, Think-tanks, universitären<br />

und außeruniversitären Forschungseinrichtungen, das Einholen von Meinungsumfragen<br />

und Studien sowie der Aufbau von Vorfeldorganisationen und überparteilichen Beiräten. Bei der<br />

Wahl der zu konsultierenden Akteure ist neben Pluralität und Repräsentativität auch die Überparteilichkeit<br />

ein wichtiges<br />

Abb. 4: Indikatoren zur Messung der Deliberation und Responsivität von Parteien<br />

Kriterium.<br />

Abbildung 4: Indikatoren zur Messung der Deliberation und Responsivität von Parteien<br />

DELIBERATION & RESPONSIVITÄT<br />

Offene<br />

Kommunikationskanäle<br />

Dialog mit der<br />

Zivilgesellschaft<br />

Evidenzbasierte<br />

Informationsbeschaffung<br />

Quelle: Eigene Darstellung<br />

Demokratiefördernde Parteien zeichnen sich durch ihre Offenheit und selbstreferenzielle Kritikfähigkeit<br />

aus. Nur dadurch ist es möglich, dass veränderte gesellschaftliche Rahmenbedingungen<br />

identifiziert, unterschiedliche Bedürfnisse und Interessen aggregiert und in ihre politische<br />

Arbeit integriert werden können. Neben der Dialogbereitschaft mit der organisierten Zivilgesellschaft<br />

sollten auch Mechanismen entwickelt werden, welche in regelmäßigen Abständen eine<br />

13 Einen guten Überblick über die Responsivität in <strong>Europa</strong> gibt das Working Paper von Mathisen, R. et al. 2021.<br />

80 <strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024


Methodologische Annäherung zur Messung der Demokratiequalität von politischen Parteien<br />

externe und unabhängige Evaluierung sowie Bewertung der Parteiarbeit, ihren Positionen und<br />

Programmen ermöglichen.<br />

Mögliche Fragestellungen:<br />

‣ Besteht ein regelmäßiger Austausch mit thematisch unterschiedlich ausgerichteten<br />

Vorfeldorganisationen?<br />

‣ Wie viele Parteimitglieder sind Mitglied einer oder mehrerer Vorfeldorganisationen?<br />

‣ Ist ein Prozess für Anfragen aus der Zivilgesellschaft aufgesetzt?<br />

‣ Sind regelmäßige Evaluierung interner Prozesse und von politischen Positionen vorgesehen?<br />

‣ Gibt es einen formalen Dialogprozess mit zivilgesellschaftlichen Verbänden?<br />

‣ Werden für die Erarbeitung von Grundlagenpapieren überparteiliche Forschungsinstitutionen<br />

konsultiert bzw. mit Studien beauftragt?<br />

‣ Gibt es einen externen wissenschaftlichen und/oder rechtlichen Beirat zur Evaluierung<br />

der Parteiarbeit sowie zur Beratschlagung bei der inhaltlichen Ausrichtung der Partei?<br />

4.2 Inklusion und Repräsentativität<br />

Politische Parteien sind ein wesentliches Instrument für die Repräsentation der Bürger:innen in<br />

der Regierung und im politischen Prozess. Repräsentativität hingegen zielt darauf ab, die Vielfalt<br />

der Gesellschaft bestmöglich abzubilden und unterschiedliche Interessen gleichwertig in die<br />

Willensbildung miteinzubeziehen. Politische Parteien sollen daher in diesem Sinne nicht spezifische<br />

Klientelinteressen, Regionen oder Konfessionen vertreten, sondern danach streben, den<br />

Allgemeinwillen durch eine Zusammenführung unterschiedlicher Interessen zu vertreten. Inklusion<br />

wiederum bedeutet, dass die Interessen direkt durch Vertreter:innen und Betroffene dieser<br />

Milieus eingebracht und repräsentiert werden. Eine demokratische Partei verlangt daher nach<br />

einer Vielzahl an Mitgliedern aus unterschiedlichsten Interessenssphären.<br />

Die Repräsentationsleistung von Parteien misst sich darin, inwiefern unterschiedliche Gesellschaftsbereiche<br />

und Interessenlagen aktiv vertreten, aber vor allem auch Mitwirkungsrechte<br />

institutionell verankert sind. Dies erfordert Maßnahmen, wie zum Beispiel den Aufbau von themenbezogenen<br />

Teilorganisationen, gezielte Rekrutierungsmaßnahmen von Repräsentant:innen<br />

diverser Milieus, Anwendung einer Quotenregelung bei der Zusammensetzung der Entscheidungsgremien<br />

sowie Verankerung eines Konsensprinzips.<br />

<strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024<br />

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Bernhard Zeilinger<br />

Abb. 5: Indikatoren zur Messung der Inklusion und Repräsentativität von Parteien<br />

Abbildung 5: Indikatoren zur Messung der Inklusion und Repräsentativität von Parteien<br />

INKLUSION & REPRÄSENTATIVITÄT<br />

Konfliktlinien<br />

Milieus,<br />

Herkunft<br />

Mitwirkungsrechte<br />

Quelle: Eigene Darstellung<br />

Eine Partei ist demnach danach zu bewerten, inwieweit diese organisatorisch im Stande ist,<br />

unterschiedliche Interessen effizient zu koordinieren und sicherzustellen, dass diese zu gemeinsamen<br />

politischen Zielen zusammengeführt werden können. Zum einen ist es nötig, die Vertretung<br />

von unterschiedlichen Interessen organisatorisch abzubilden sowie diesen Organisationseinheiten<br />

in Willensbildungsprozessen ausreichend Mitwirkungsmöglichkeiten einzuräumen.<br />

Dies betrifft in erster Linie die Formulierung von Partei- und Wahlprogrammen, Mitwirkung und<br />

Ratifizierung von Koalitionsabkommen, Stellungnahmen und Positionspapieren zu Gesetzesinitiativen,<br />

Erstellung von Wahllisten und Personalbesetzungen. In diesen Organisationseinheiten<br />

sollen Betroffene (z.B. Frauen, ethnische Minderheiten, Migrant:innen, Berufs- und <strong>Wirtschaft</strong>sbereiche,<br />

Jugend, Senioren, Familien …) federführend eingebunden werden sowie deren Teilhabe<br />

in den Entscheidungsgremien der Parteiführung durch Quotenregelung gesichert sein.<br />

Eine demokratische Partei neigt dazu, eine breitere Vielfalt von Ideen und Perspektiven zuzulassen,<br />

was zu innovativen politischen Lösungen und einer vielfältigeren politischen Agenda führen<br />

kann. Die Herstellung von und Offenheit für Pluralismus innerhalb der Partei ist jedoch nur der<br />

erste Schritt, für eine effektive Repräsentativität unterschiedlicher gesellschaftlicher Interessen.<br />

Ein Zuviel an Pluralismus stellt spezifische Herausforderungen an die politische Schlagkraft einer<br />

Partei, besonders in einer medialisierten und emotionalisierten politischen Arena. Pluralismus<br />

darf aber nicht zu Polarisierung und Lagerspaltung innerhalb der Partei führen. Daher benötigt<br />

eine gelungene Repräsentativität, in einem weiteren Schritt, die institutionelle und programmatische<br />

Inklusion dieser pluralen Interessen und Meinungen. Das bedeutet, dass es neben einer<br />

klaren organisatorischen Einbettung in die Parteistruktur, einer klaren Regelung von Verfahren<br />

bedarf, die es vermag, aus einer Vielzahl an Interessen und Akteuren kohärente politische Botschaften<br />

und gemeinsame politische Ziele zu formulieren. Eine besondere Herausforderung<br />

besteht im Hinblick auf die Reaktionsfähigkeit einer Partei auf Themen der tagespolitischen<br />

Agenda. Unmittelbare Stellungnahmen und Positionierungen zu tagesaktuellen Problemstellungen<br />

können nicht, oder kaum, konsensual entschieden werden. Vielmehr benötigen die legitimierten<br />

Vertreter:innen einer Partei ein klares Mandat, das ihnen ein rasches Reagieren ermöglicht.<br />

Dieses Mandat kann auf Basis eines vorab klar definierten Instanzenzugs und normativen<br />

Vorgaben, in Form von Grundsatzpapieren und politischen Rahmenzielen, zu einer inhaltlichen<br />

82 <strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024


Methodologische Annäherung zur Messung der Demokratiequalität von politischen Parteien<br />

Stellungnahme berechtigen. Daher ist es wichtig, dass besonders diese Grundsatzpapiere und<br />

politischen Rahmenziele (Parteiprogramme, Wahlprogramme und Positionspapiere), als Grundlage<br />

jeglicher Entscheidungsfindung, unter aktiver Beteiligung und breiter konsensualer Zustimmung<br />

der Parteimitglieder, ausgearbeitet und autorisiert werden. Weiters ist eine regelmäßige<br />

Evaluierung vorzusehen, um diese Grundsatzpapiere und politischen Rahmenziele jederzeit an<br />

geänderte Bedingungen anzupassen.<br />

Eine Partei muss sich an den Mitwirkungsmöglichkeiten für die Parteibasis messen lassen. Die<br />

Entscheidungsfindungsverfahren müssen derart gestaltet sein, dass sie Interessen der Parteibasis,<br />

der Teilorganisationen und der Funktionäre gleichwertig berücksichtigen. Dies kann durch<br />

ein verpflichtendes Quorum bis hin zum Einstimmigkeitsprinzip erreicht werden. Ein guter Ansatz<br />

dazu bietet das soziokratische Organisationsmodell, welches sich durch eine inklusive,<br />

aber auch konsensbringende Vorgehensweise auszeichnet (Romme et al. 2016).<br />

Mögliche Fragestellungen:<br />

‣ Wie viele Parteimitglieder gibt es?<br />

‣ Wie divers sind die Parteimitglieder?<br />

‣ Wie viele Teilorganisationen gibt es?<br />

‣ Genießen die Teilorganisationen verbindliche Zustimmungsrechte bis hin zu Vetomöglichkeiten?<br />

‣ Kommt es zur Anwendung von Quotenregelungen bei der Zusammensetzung der<br />

Gremien und der Erstellung der Wahllisten?<br />

4.3 Entscheidungsstruktur<br />

Innerparteiliche Entscheidungsverfahren werden dann als besonders demokratisch angesehen,<br />

wenn sie geeignet sind, aus einer Vielfalt an Präferenzen und Meinungen der Wähler:innenbasis<br />

und der Mitglieder gemeinsame und effektive Positionen zu formen. Dies bedingt die Einrichtung<br />

unterschiedlicher Beteiligungsformen, die eine offene Diskussionskultur zulassen, aber auch<br />

nachvollziehbare Mechanismen zur Konsensbildung vorsehen. Wesentliche Entscheidungen,<br />

die in einer Partei zu treffen sind, betreffen vorwiegend das Parteiprogramm, Wahlprogramm,<br />

Personalentscheidungen, Wahllisten, Budgetmittelverwendung, Koalitionsabkommen, Stellungnahmen<br />

und Pressestatements. Aus demokratiepolitischer Sicht ist es von Bedeutung, inwiefern<br />

die Partei als Kollektiv Entscheidungen legitimiert. Aus Sicht der Demokratieforschung<br />

(z.B. Diamond/Morlino 2004) müssen demokratische Entscheidungen folgende Kriterien erfüllen:<br />

Gleichbehandlung von Interessen (Repräsentativität); Zugang zu Informationen und Verfahrensregeln<br />

(Transparenz & Öffentlichkeit); Zuteilung von Zuständigkeiten (Verantwortlichkeit);<br />

effektive Mitwirkungsmöglichkeiten (Partizipation); Rechtsstaatlichkeit und Kontrolle. Die Gewährleistung<br />

dieser fünf Kategorien ist auf Basis von Verfahrensregeln und einer klaren Prozessmatrix<br />

sicherzustellen.<br />

<strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024<br />

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Bernhard Zeilinger<br />

Abb. 6: Indikatoren zur Messung der Entscheidungsstruktur von Parteien<br />

Abbildung 6: Indikatoren zur Messung der Entscheidungsstruktur von Parteien<br />

ENTSCHEIDUNGSSTRUKTUR<br />

Repräsentativität<br />

Transparenz<br />

& Öffentlichkeit<br />

Partizipation<br />

& Mitwirkung<br />

Verantwortlichkeit<br />

Rechtsstaatlichkeit<br />

& Kontrolle<br />

Quelle: Eigene Darstellung<br />

Erstens, wie in den beiden Vorkapiteln bereits ausgeführt, ist es eine Grundvoraussetzung für<br />

demokratische Parteien, den Allgemeinwillen durch eine effektive Repräsentativität bestmöglich<br />

innerparteilich abzubilden und zu identifizieren. Entscheidungsstrukturen sollen daher dahingehend<br />

gestaltet sein, um unterschiedlichen Interessen und deren Vertreter:innen gleichwertig<br />

Platz in der Entscheidungsfindung einzuräumen. Das heißt, es benötigt die Verpflichtung zur<br />

Gleichbehandlung aller Interessen und das Streben nach Konsens. Letzteres setzt die Bereitschaft<br />

zur Kompromissfindung voraus. Dies kann nur gelingen, wenn es einen Grundkonsens zu<br />

übergeordneten Zielen gibt, die klar zwischen Partikular-/Klientel- und Gemeinwohlinteressen<br />

unterscheiden. In der Konsequenz bedeutet dies, dass sich alle Parteimitglieder den übergeordneten<br />

Zielen verpflichten und Konflikte zwischen Partikularinteressen entsprechend untergeordnet<br />

werden sollen. Diese Ziele dienen als normative Richtschnur bei der Kompromissfindung,<br />

wenn sie durch die größtmögliche Mitwirkung und Zustimmung aller Parteimitglieder legitimiert<br />

sind.<br />

Zweitens muss Transparenz über die Entscheidungsgrundlagen und die Verfahrensregeln vorherrschen.<br />

Dies gelingt über einen niederschwelligen Zugang zu Parteiprogrammen und Grundsatzpapieren<br />

sowie zu den zu Grunde liegenden Regeln der Entscheidungsfindung. Nur mithilfe<br />

gleichen Informationsstandes sowie Kenntnis über etwaige Beteiligungsmöglichkeiten,<br />

Einspruchsfristen, Instanzenzug und Zuständigkeiten ist eine reale und effektive Mitwirkung der<br />

Parteimitglieder möglich. Weiters braucht es ein Maß an Öffentlichkeit, die es den Parteimitgliedern<br />

ermöglicht, Entscheidungen nachzuvollziehen und mittragen zu können.<br />

Drittens muss sich eine Partei an den Möglichkeiten der Partizipation und Mitwirkung für die Parteibasis<br />

messen lassen. Diese Beteiligungsformen müssen nicht nur inklusiv, sondern auch effizient<br />

und effektiv gestaltet sein, wie etwa Diskussionsforen, Arbeitsgruppen und Policy-Komitees,<br />

innerparteiliche Wahlen, Mitgliederbefragungen und Parteitage. Entscheidungsfindungsverfahren<br />

müssen derart gestaltet sein, dass sie Interessen der Parteibasis, der Teilorganisationen und<br />

der Funktionäre gleichwertig berücksichtigen. Dies kann durch ein verpflichtendes Quorum bis<br />

hin zum Einstimmigkeitsprinzip erreicht werden.<br />

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Methodologische Annäherung zur Messung der Demokratiequalität von politischen Parteien<br />

Viertens müssen Rollen klar definiert und Zuständigkeiten eindeutig zugewiesen werden, mit<br />

dem Ziel Verantwortlichkeit für Entscheidungen herzustellen. Wichtig ist eine klare Regelung<br />

in den Statuten, die die Verteilung von Entscheidungsgewalt und Mitwirkungsmöglichkeiten, in<br />

Form einer Gewaltenverschränkung zwischen Bundes-, Landesorganisationen sowie Bezirksund<br />

Ortsgruppen, aber auch den Vorfeldorganisationen und den Gremien, beinhaltet. Personen,<br />

die Kraft ihres Amtes mit Zuständigkeiten bedacht werden und ergo Macht übertragen bekommen,<br />

müssen zu jedem Zeitpunkt für Entscheidungen und Handlungen zur Verantwortung gezogen<br />

werden können sowie sich in regelmäßigen Abständen einer Wiederwahl durch die zu<br />

vertretenen Gremien stellen.<br />

Fünftens verlangt eine Übertragung von Macht und Kompetenzen eine Rückbindung an rechtsstaatliche<br />

Prinzipien und effektive Kontrollmechanismen, um etwaiger Willkür und Machtmissbrauch<br />

den Riegel vorzuschieben. Dies verlangt eine Gewaltenteilung zwischen unterschiedlichen<br />

Gremien einer Partei sowie eine strikte Trennung kaufmännischer und politischer Ebenen.<br />

Auch sind weisungsfreie und unabhängige Kontrollinstitutionen und Schiedsgerichte einzurichten<br />

und mit entsprechenden Kompetenzen auszustatten. Weiters müssen weitreichende Offenlegungspflichten<br />

vorgeschrieben sein, die eine regelmäßige Überprüfung erst möglich machen.<br />

Darunter können zum Beispiel die Offenlegung von Finanzierungsquellen, Mittelverwendung und<br />

persönlicher Verbindungen von Parteifunktionär:innen zu Interessensgruppen fallen. Zudem sollen<br />

Parteien sich für externe Prüfung und Evaluierung öffnen. Auch braucht es entsprechende<br />

Sanktionsmöglichkeiten, um von Fehlverhalten abzuschrecken.<br />

Mögliche Fragestellungen:<br />

‣ Wie hoch ist die Schwelle, um Anträge am Parteitag einzureichen?<br />

‣ Genießen die Teilorganisationen verbindliche Zustimmungsrechte bis hin zu<br />

Vetomöglichkeiten?<br />

‣ Gewährt die Partei niederschwelligen Zugang zum Parteiprogramm und Grundsatzpapieren?<br />

‣ Werden Entscheidungsgrundlagen öffentlich gemacht?<br />

‣ Sind die Parteistatuten und insb. Beteiligungsmöglichkeiten verständlich dargestellt?<br />

‣ Sind Zuständigkeiten und ergo Verantwortung für Entscheidungen klar geregelt?<br />

‣ Sind umfassende Beteiligungsmöglichkeiten vorgesehen?<br />

‣ Gibt es effiziente Verfahren und effektive Mechanismen, welche die rechtmäßige Ausübung<br />

von übertragenen Rechten und Aufgaben sicherstellen?<br />

‣ Inwiefern ist die Einhaltung gesetzlicher Vorgaben durch unabhängige Kontrollinstitutionen<br />

gewährleistet?<br />

4.4 Grundorientierung und Werte<br />

Eine politische Partei ist an sich eine Vereinigung von Bürger:innen, die gemeinsame Ziele und<br />

Werte teilen und danach trachten, an der gesellschaftlichen Willensbildung und Gestaltung des<br />

<strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024<br />

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Bernhard Zeilinger<br />

öffentlichen Lebens mitzuwirken. Demnach müssen sich ihre Mitglieder zunächst über diese<br />

gemeinsamen Ziele und Werte verständigen oder aber Bürger:innen schließen sich Parteien an,<br />

deren Ziele und Werte sie teilen. Da dieser Grundkonsens die Basis und den Rahmen jeglicher<br />

Entscheidungsfindung einer Partei bildet, muss dieser daran gemessen werden, inwiefern er<br />

den demokratischen Prinzipien entspricht. Dabei ist auch zu beachten, inwiefern dieser in der<br />

Praxis der Parteiarbeit Berücksichtigung findet. Die relevanten demokratischen Grundprinzipien,<br />

in diesem Kontext, sind die Wahrung der Meinungsfreiheit, die Achtung der Grund- und Menschenrechte<br />

sowie die Erreichung des Gemeinwohls.<br />

Abb. 7: Indikatoren zur Messung der Grundorientierungund Werte von Parteien<br />

Abbildung 7: Indikatoren zur Messung der Grundorientierungund Werte von Parteien<br />

GRUNDORIENTIERUNG & WERTE<br />

Meinungsfreiheit<br />

Grund- und<br />

Menschenrechte<br />

Gemeinwohlorientierung<br />

Quelle: Eigene Darstellung<br />

Meinungsfreiheit ist die Grundvoraussetzung jeder liberalen und demokratischen Gesellschaft.<br />

Der politische Wettbewerb lebt von der Pluralität der Argumente und setzt eine Form der Kritikfähigkeit<br />

und Offenheit voraus. Von Interesse ist es daher, inwiefern Meinungsfreiheit innerhalb<br />

politischer Parteien gesichert ist. Dies lässt sich anhand der Mitwirkungsmöglichkeiten der<br />

Parteimitglieder ablesen wie z.B. die Möglichkeit für ein Misstrauensvotum, der Verteilung von<br />

Rederecht, Sprachregelungen. Meinungsrecht stößt jedoch an seine Grenzen, wo Grund- und<br />

Menschenrechte verletzt werden. Es stellt sich die Frage, inwiefern politische Forderungen und<br />

Handlungen im Einklang mit den Grund- und Menschenrechten stehen oder sich sogar für deren<br />

Schutz einsetzen. Inwieweit ist die Verpflichtung zur Einhaltung der Grund- und Menschenrechte<br />

in den Statuten festgeschrieben und welche Mechanismen dienen der Partei, um etwaiges<br />

Zuwiderhandeln aufzudecken und zu sanktionieren? Zudem ist es wichtig, dass die inhaltliche<br />

Ausrichtung einer politischen Partei im Einklang mit dem Gemeinwohl steht. Eine gleichlautende<br />

Zielsetzung muss im Parteiprogramm festgeschrieben sein. Eine Selbstverpflichtung zur Sicherstellung<br />

des Gemeinwohls soll in weiterer Folge dazu verhelfen, eine Bereitschaft zur Zusammenarbeit<br />

über parteipolitische Grenzen hinweg zu fördern, wenn dies zur Lösung komplexer<br />

gesellschaftlichen Probleme führen kann. Ein eigens eingerichteter Mechanismus soll die inhaltliche<br />

Ausrichtung der Partei in regelmäßigen Abständen auf Konsistenz und Kohärenz mit den<br />

im Parteiprogramm definierten Werten und Zielen überprüfen 14 .<br />

14 MARPOR-Datenbank zu Parteiprogrammen: https://manifesto-project.wzb.eu/ (17.02.2024)<br />

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Methodologische Annäherung zur Messung der Demokratiequalität von politischen Parteien<br />

Mögliche Fragestellungen:<br />

‣ Beinhaltet das Parteiprogramm eindeutige Klauseln über demokratische Prinzipien?<br />

‣ Beinhaltet das Parteiprogramm klar ausgewiesene gemeinwohlorientierte Ziele?<br />

‣ Inwiefern sichern Parteistatuten demokratische Werte in der Entscheidungsfindung?<br />

‣ Werden Werteschulungen durchgeführt?<br />

‣ Gibt es eine Compliance-Abteilung mit einem weitreichenden Mandat?<br />

‣ Gib es eine Whistleblower-Regelung?<br />

‣ Gib es ein unabhängiges Schiedsgericht?<br />

‣ Sind effektive Sanktionsmechanismen vorgesehen, wie z.B. Geldstrafe, Entzug des<br />

Stimmrechts, temporärer oder absoluter Parteiausschluss?<br />

5 Resümee und Ausblick<br />

Um zukünftige Demokratiemessungen zu optimieren und/oder den Beitrag von Parteien für<br />

die Demokratiequalität eines Landes messen zu können, versucht dieser Artikel eine erste Annäherung<br />

an mögliche Messkriterien und deren Operationalisierung, um dieses Ziel zu erreichen.<br />

Weitere Schritte zur Spezifizierung der Messindikatoren und der Auswertung der zu erhebenden<br />

Datengrundlage sind nötig. Eine grobe Unterteilung kann, wie in Abbildung 8 abgebildet, aussehen.<br />

Die Messskalen hingegen benötigen noch eine detaillierte Operationalisierung der jeweiligen<br />

Indikatoren. Die Unterteilung soll Ergebnisse liefern, inwiefern eine Partei als demokratie fördernd<br />

oder als demokratiezerrend einzustufen ist. Inwiefern kann eine Partei einen konstruktiven Beitrag<br />

zur Funktionsfähigkeit eines Parteiensystems leisten oder diese etwa abschwächen oder<br />

sogar demokratiegefährdend wirken? Die Indikatoren sollen dahin gehend gestaltet sein, dass<br />

Abb. 8: Bewertungsskala zur Messung der Demokratiequalität von Parteien<br />

aus den Ergebnissen ihrer Messung ein etwaiger Handlungsbedarf klar zu verorten ist.<br />

Abbildung 8: Bewertungsskala zur Messung der Demokratiequalität von Parteien<br />

Demokratiefördernd<br />

Demokratiezerrend<br />

Inklusiv<br />

Integrativ<br />

Demokratisch<br />

Deliberation/<br />

Responsivität<br />

Repräsentative<br />

Organisationsstruktur<br />

Entscheidungsstruktur<br />

Exklusiv<br />

Partikularistisch<br />

hierarchisch<br />

liberal<br />

Grundorientierung &<br />

Werte<br />

autoritär<br />

Quelle: eigene Darstellung<br />

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Bernhard Zeilinger<br />

Der Autor plädiert, im Sinne der Vergleichbarkeit und Durchsetzbarkeit, die Demokratiequalität<br />

von Parteien durch eine systematische Analyse der Parteistatuten zu messen. 15 In weiterer Folge<br />

soll das Setting ausgeweitet werden, um auch Daten zur Mitgliederstruktur und einer qualitativen<br />

Erhebung der gelebten politischen Praxis der Statuten in die Bewertung miteinzubeziehen.<br />

Die dargestellte Erhebungsmethode stellt nicht den Anspruch, belastbare Auskunft über<br />

die Demokratiequalität eines Parteisystems in Summe zu geben. Dazu müssten die Rahmenbedingungen<br />

– in Form des jeweiligen Regierungs- und Wahlsystems – stärker in die Bewertung<br />

miteinbezogen werden. Auch braucht eine Gesamtbetrachtung der individuellen Messung von<br />

Parteien eine Gewichtung dieser entsprechend ihrer Mandatsgröße und Regierungsbeteiligung.<br />

Sukzessive soll es dadurch gelingen, ein vollständiges Bild über die Demokratiequalität eines<br />

Landes zu erhalten und möglichen Handlungsbedarf offen zu legen.<br />

6 Literaturverzeichnis<br />

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15 Sammlung von Parteistatuten weltweit: https://www.politicalpartydb.org/statutes/<br />

SPÖ: https://www.spoe.at/wp-content/uploads/sites/739/2021/07/Statut2021.pdf<br />

ÖVP: https://www.dievolkspartei.at/Download/Organisationsstatut_2017.pdf;<br />

NEOS: https://www.neos.eu/_Resources/Persistent/869a01c9431f45bb6663d4d2fe57b9151ccf7dc8/230618_<br />

NEOS%20Satzung.pdf<br />

FPÖ: https://www.fpoe.at/fileadmin/user_upload/www.fpoe.at/dokumente/statuten/Satzungen_ aktuell_2019.pdf<br />

Grüne: https://www.politicalpartydb.org/wp-content/uploads/Statutes/Austria/Austria_Greens_2017.pdf<br />

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Press.<br />

Heinisch, Reinhard / Holtz-Bacha, Christina / Mazzoleni, Oscar (Hrsg.) (2017): Political Populism.<br />

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(03.03.2024)<br />

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Rudzio, Wolfgang (1977): Die organisierte Demokratie. Parteien und Verbände in der Bundesrepublik.<br />

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Romme, Georges / Broekgaarden, Jan / Huijzer, Carien / Reijmer, Annewiek / van der Eyden, Rob<br />

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Selk, Veith (2023): Demokratiedämmerung. Eine Kritik der Demokratietheorie. Berlin: Suhrkamp.<br />

<strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024<br />

89


Bernhard Zeilinger<br />

Stöss, Richard / Haas, Melanie / Niedermayer, Oskar (2006): Parteiensysteme in Westeuropa:<br />

Stabilität und Wandel. In: Stöss, R. (Hrsg.): Die Parteiensysteme Westeuropas. Wiesbaden: VS-<br />

Verlag, 7-37.<br />

90 <strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024


Harun Pačić<br />

Politisches Wohlwollen: Eine philosophische<br />

Hinführung<br />

Abstract<br />

Ein im Rahmen des Masters »Europäische <strong>Wirtschaft</strong> und Unternehmensführung« mit Bezugnahme<br />

auf die ILV »<strong>Politik</strong> und Verfassung«, die Michael Thöndl konzipiert hat, gehaltener Vortrag<br />

zur juristischen Methodenlehre eröffnete das Themengebiet „Recht und Ethik“ mit folgenden<br />

Impulsen: „Wer die Grenzen der Vernunft für ethische Grenzen hält, enthält sich der Ignoranz,<br />

Arroganz und Violenz. Wer sich ihrer enthält, verhält sich wohlwollend. Politisches Wohlwollen<br />

und Rechtsstaatlichkeit sind Eins.“ Der hier um Nachweise und Hinweise angereicherte Text gibt<br />

den Impulsvortrag sinngemäß wieder.<br />

A lecture on Jurisprudence held as part of the European Economy and Business Management<br />

programme with reference to the course “Politics and Constitution”, designed by Michael Thöndl,<br />

opened the subject area “legal ethics” with the following impulses: “Anyone who considers the<br />

limits of reason to be ethical limits refrains from ignorance, arrogance and violence. Whoever<br />

abstains from such malevolence behaves benevolently. Political benevolence and the Rule of Law<br />

are one and the same.” The text reproduces the keynote speech in question, supplemented by<br />

references and notes.<br />

1<br />

Wer die „Einführung in die <strong>Politik</strong>wissenschaft“ von Michael Thöndl liest, kommt nicht umhin,<br />

über die Frage nachzudenken, „ob der Mensch im Kern gut oder schlecht sei,“ weil die politische<br />

Ideengeschichte, wie Thöndl sie darin erzählte, davon zeugt, dass die „Entscheidung dieser<br />

Grundfrage“ von alters her als „Prämisse des politischen Denkens“ fungiert. (Thöndl 2015: 11 f,<br />

115 f)<br />

„Im Grunde bedeutet das Wort ‚gut‘ im relativen Sinne,“ wie Ludwig Wittgenstein erklärt hat, dass<br />

das, was für gut befunden wird, „einem vorher festgelegten Maßstab“ gerecht wird. ( Wittgenstein<br />

1989) Wenn der gesuchte Maßstab ethisch werthaft sein soll, dann liege er nicht in der Welt,<br />

in den Tatsachen, begründet; die Ethik sei transzendental (Wittgenstein 2018). Immanuel Kant<br />

hatte in der »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten« bemerkt, es sei gar nichts zu denken möglich,<br />

was ohne Einschränkung, im absoluten Sinne, „für gut könnte gehalten werden, als allein ein<br />

guter Wille.“ (Kant 2022)<br />

Als „Träger des Ethischen“ ist der Wille weder ein Wunsch oder eine Absicht noch eine charakterliche<br />

Neigung, sondern eine geistige Haltung, das Festhalten an Maximen, das Hand eln nach<br />

<strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024<br />

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Harun Pačić<br />

Regeln. (Vgl. Kant 2022: 394 ff, 399 f, 438, 446f, 449) 1 Gut ist ein Wille dann und nur dann, wenn<br />

er überhaupt nicht schlecht sein kann, weil er, ungeachtet dessen, welches Verhalten er als gesollt<br />

setzt; welche Regel er zu befolgen anhält, allzeit dem Maßstab für das Festlegen von Maßstäben,<br />

der „Regel zur Etablierung von Regeln“ gerecht wird. (Kant 2022: 437 f) 2<br />

Kant hat diese „transzendentallogische“ Anforderung im „kategorischen Imperativ“ formuliert,<br />

welcher fordert, allein nach derjenigen Maxime zu handeln, durch die zugleich gewollt werden<br />

könne, dass sie ein allgemeines Gesetz werde. (Kant 2022: 403 f, 421) 3<br />

2<br />

Kurt Walter Zeidler hat die darin zur Sprache gebrachten Momente der Unbedingtheit, Allgemeinheit<br />

und Gesetzlichkeit als Aspekte „dreier logischer Grundhandlungen“, oder gleichbedeutend<br />

eines „dreieinigen Schlusses“, ausgewiesen: Deduktion, Induktion und Abduktion (vgl. Zeidler<br />

2012: 175-204). 4 Was Kant ein „Handeln aus Pflicht“ oder auch „die Notwendigkeit einer Handlung<br />

aus Achtung fürs Gesetz“ genannt hat, das ist „schlusslogisch“ (Rendl/König 2020: 9-14)<br />

oder bedeutungsgleich „transzendental-dialektisch“ betrachtet ein guter Wille, der als Wertschätzung<br />

für die Formstrenge schlüssiger Begründung verstanden wird, mithin als Billigung<br />

1 Von ‚Maximen‘ sprach Kant i. S. v. „subjektiven Grundsätzen des Handelns“, „subjektiven Prinzipien des Wollens“<br />

oder „sich selbst auferlegten Regeln“ (Kant, a. a. O., S. 401, 438, 449). Indes bezeichne das ‚praktische Gesetz‘ das<br />

objektive Prinzip; gemeint war damit „dasjenige, was allen vernünftigen Wesen auch subjektiv zum praktischen<br />

Prinzip dienen würde, wenn Vernunft volle Gewalt über das Begehrungsvermögen hätte“ (Kant, a. a. O., S. 401,<br />

Anm.). Das ‚Sollen‘ desselben sei „eigentlich ein Wollen, das unter der Bedingung für jedes vernünftige Wesen“<br />

gelte, dass „die Vernunft bei ihm ohne Hindernisse praktisch wäre; für Wesen, die wie wir noch durch Sinnlichkeit<br />

als Triebfedern anderer Art affiziert werden“ (Kant, a. a. O., S. 449).<br />

Der Wert einer Handlung rühre nicht von der Absicht, die „dadurch erreicht werden soll,“ her, sondern bloß von der<br />

Maxime, nach der sie beschlossen wird, d. i. die „Vorstellung des Gesetzes“, das „Prinzip des Wollens“ (Kant, a. a. O.,<br />

S. 399 f.).<br />

2 Kant formulierte dies so: „Handle nach Maximen, die sich selbst zugleich als allgemeine Naturgesetze zum<br />

Gegenstand haben können“, wobei er von allen „bewirkenden Zwecken“ abstrahierte und einzig den „selbstständigen<br />

Zweck“ zuließ, sodass er – daran anknüpfend – sagen konnte, das „Prinzip: handle in Beziehung auf ein jedes<br />

vernünftige Wesen (auf dich selbst und andere) so, dass es in deiner Maxime zugleich als Zweck an sich selbst<br />

gelte“, sei einerlei mit dem „Grundsatz: handle nach einer Maxime, die ihre eigene allgemeine Gültigkeit für jedes<br />

vernünftige Wesen zugleich in sich enthält“.<br />

Diese vorbedungene Eigenheit allgemeiner Gültigkeit ist der oben angesprochene „Maßstab zur Festlegung von<br />

Maßstäben“. Die Formulierung spielt auf das ‚a priori‘ Kants (vgl. a. a. O., S. 409, 412, 420, 444) an. Der Ausdruck<br />

‚Regel zur Etablierung von Regeln‘ oder ‚Regel aller Regeln‘ stammt von Zeidler (2016): Grundlegungen, 10-60.<br />

3 Kant (a. a. O., S. 414 f.), unterschied vom kategorischen den hypothetischen Imperativ, der sage, dass eine Handlung<br />

zu irgendeiner möglichen oder wirklichen Absicht gut sei. Im ersten Fall sei er ein problematisch-praktisches und<br />

im zweiten Falle ein assertorisch-praktisches Prinzip, wohingegen der kategorische Imperativ, der eine Handlung<br />

für sich als objektiv notwendig erkläre, als ein apodiktisch-praktisches Prinzip gelte.<br />

4 Eine Regel wird exekutiert, indem ein Fall darunter subsumiert wird; die Regel wird formuliert, indem Fälle ihrer<br />

Anwendung antizipiert werden; und sie wird exemplifiziert, indem etwas als Fall der Regel identifiziert wird. Dies<br />

ließe sich auch so ausdrücken: Einzelnes kann einem Allgemeinen nur unterstellt werden, wenn Allgemeines durch<br />

Einzelnes repräsentiert und das Besondere des Allgemeinen im Einzelnen wiedererkennbar ist.<br />

Zeidler (2016): Vermittlungen, 91-107 („Unerledigte Probleme der Vernunftkritik“), brachte die Momente der Unbedingtheit,<br />

Allgemeinheit und Gesetzmäßigkeit mit den Maximen der vorurteilsfreien, erweiterten und konsequenten<br />

Denkungsart bei Kant in Verbindung: „Selbstdenken“, „An der Stelle jedes andern denken“ und „Jederzeit mit sich<br />

selbst einstimmig denken“.<br />

92 <strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024


Politisches Wohlwollen: Eine philosophische Hinführung<br />

oder Missbilligung von Verhalten ausschließlich unter dem Gesichtspunkt der Vernünftigkeit der<br />

die Verhaltensweise tragenden Willensbildung. 5<br />

Wollen wir „den tautologischen Leerlauf der formalen Logik“ vermeiden, ohne dabei „die bloße<br />

Faktizität empirischer Feststellungen“ dogmatisch zu überschreiben, so müssen wir mit Zeidler<br />

die Vernunft letztbegründend als in sich schlüssiges, sich selbst unbedingt generell vorschreibendes,<br />

„begründendes und sich selbst begründendes Denken“ wirklichkeitsoffen denken.<br />

(vgl. Zeidler 2017; Zeidler 2005: 239-252; Zeidler 2010a: 9-19, Zeidler 1996: 153-172, 296-299) 6<br />

Der deduktive Schluss von Regel und Fall auf ein Resultat, der induktive Schuss von Fall und<br />

Resultat auf die Regel und der abduktive Schluss von Regel und Resultat auf den Fall eröffnen<br />

einen vernünftigen Zusammenhang von Logik und Empirie, der dadurch verbürgt ist, dass das<br />

Gegebene „immer schon das Gedachte“ ist (Zeidler 2017: 151 f), denn es gäbe keine „Gegenstände<br />

der Erkenntnis“ (Subsumtionsallgemeines) ohne die „Umstände der Erfahrung“<br />

( Re präsentationsallgemeines) und die „Zustände des Erlebens“ (Sinn- oder Transzendental-<br />

All gemeines), woraus sich ergibt, dass die Einheit der Perspektiven von Beobachtenden,<br />

5 Bereits in der Vorrede zur GMS (AA, S. 387-392) hatte Kant deutlich gemacht, dass er einem Gesetz nur insofern<br />

moralische Geltung zusprechen könne, als der Grund seiner Verbindlichkeit nicht in der menschlichen Erfahrung<br />

liege, sondern a priori in Begriffen der reinen Vernunft. Gleichwohl erfordere ein derart begründetes Gesetz „durch<br />

Erfahrung geschärfte Urteilskraft“, um anwendbar und überzeugend zu sein. Das moralisch gute (sittliche) Gesetz<br />

verlange dem Menschen nicht nur ab, dass er gesetzmäßig, sondern auch, dass er „um desselben willen“ handle,<br />

denn es gehe um den „an sich selbst guten Willen“ (Kant, a. a. O., S. 396). Im Begriff der Pflicht sah Kant (a. a. O., S.<br />

397) „den eines guten Willens“ enthalten. „Nur das, was bloß als Grund, niemals aber als Wirkung“ mit dem Willen<br />

verknüpft sei, „mithin das bloße Gesetz für sich“, könne „ein Gegenstand der Achtung und hiermit ein Gebot sein“<br />

(Kant, a. a. O., S. 400).<br />

Der Ausdruck ‚Achtung‘ lässt zwar an ein Gefühl denken, doch fasste Kant (a. a. O., S. 400 f.) dieses als ein durch den<br />

Vernunftbegriff „selbstgewirktes Gefühl“ auf, das die Maxime anzeigt, das praktische Gesetz selbst mit Abbruch<br />

aller Neigungen befolgen zu wollen. Der gute Wille, dessen Prinzip ein kategorischer Imperativ sein müsse, enthalte<br />

„bloß die Form des Wollens überhaupt“, und zwar „als Autonomie“ (Kant, a. a. O., S. 444). Die Abhängigkeit eines<br />

nicht völlig guten Willens vom Prinzip der Autonomie, welches zur vernünftigen Begründung nötige (Kant, a. a. O., S.<br />

413), sei die moralische Verbindlichkeit, und die „objektive Notwendigkeit der Handlung aus Verbindlichkeit“ heiße<br />

‚Pflicht‘ (Kant, a. a. O., S. 439).<br />

6 Vgl. Zeidler 2017, § 17 (S. 108 ff., Kap. „Entfaltung der kategorialen Systematik“) und „Nachtrag zur Metaphysischen<br />

Deduktion“ (S. 283-324). Der „dreieinige“ Schluss, die Einheit des abduktiven, deduktiven und induktiven<br />

Schließens, ermögliche erst begriffliche Bezugnahmen; lege die „Synthesisfunktionen des Begriffs“ offen, die insofern<br />

vermittelt seien, als sich die Vernunft „als ursprüngliches synthetisches Apriori im regulativen Zusammenspiel<br />

von abduktiver Setzung, induktiver Bewährung und deduktiver Stabilisierung der Begriffe“ konstituiere (Zeidler, a. a.<br />

O, S. 322).<br />

Zeidler (2016): Vermittlungen, S. 7 und 248, sprach von der „schlusslogischen Vermittlung der drei Weisen, auf die<br />

das Wirkliche an der Idee Teil hat“.<br />

Mit der ‚Idee‘ meinte Zeidler den Begriff, sofern darunter weder ein Merkmalsgefüge oder ein konventionelles<br />

Sprachzeichen noch ein willkürliches Abstraktionsprodukt verstanden werde, sondern ein Erkenntnisgrund. Vgl.<br />

Zeidler 2005, 239-252; Zeidler 2010a, 9-19.<br />

Zeidler erklärte in diesem Kontext, dass ein Idealismus, „der seine Ordnungsprinzipien in einem jenseitigen Ort“<br />

deponiere, unhaltbar sei. Das „statische Apriori“ sei in ein „dynamisches Apriori“ aufzulösen. Vgl. Zeidler 1996,<br />

S. 153-172, 296-299.<br />

<strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024<br />

93


Harun Pačić<br />

Handelnden und Betroffenen als Parameter der Vernunft fungiert. (vgl. Zeidler 2014: 85-111;<br />

Zeidler 2013a, 89-107; Zeidler 2010b: 196-208; Zeidler 1991: 153-165) 7<br />

3<br />

Die „Logizität der Regel der Regelbildung“, die „elementare dreigliedrige Handlungslogik“ weist<br />

nicht nur auf den Funktionszusammenhang von fallweiser Regelbefolgung, Regulierung und<br />

Regelauslegung hin, sondern verortet die Freiheit des Menschen, sein transzendentales Ich<br />

(Zeidler 2010c: 59-69; Zeidler 1986: 95-125), 8 in der subjektiv zu leistenden, kommunikativ zu<br />

bewährenden und formgültig zu stabilisierenden Urteilsfindung. (vgl. Zeidler 2010d: 141-149;<br />

Zeidler 2016b: 185-189) 9 „Das denkende, vorstellende, Subjekt gibt es nicht“, um mit Wittgenstein<br />

zu sprechen, denn dieses „philosophische Ich“, dieses metaphysische Subjekt „gehört nicht zur<br />

Welt, sondern es ist eine Grenze der Welt.“ 10 Die Welt ist unabhängig von seinem Willen – und<br />

doch ist sie seine Welt. 11<br />

Der erlebende, erfahrende und erkennende Mensch sucht nach Gewissheit in seinem Handeln,<br />

wertet sein Verhalten nach besten Wissen und Gewissen aus, indem er seine Verhaltensweise<br />

ergründet und jeweils erwogene Begründungen mit Gegengründen abwägt, wodurch er sich als<br />

7 Was oben ‚Parameter der Vernunft‘ genannt wird, nannte Zeidler ‚Begriff des Begriffs‘, der gleichbedeutend mit den<br />

Bedingungen der Möglichkeit von Regeln sei: Um einen Fall unter eine Regel subsumieren zu können, müsse die<br />

Regel formuliert und etwas als Fall der Regel identifiziert werden. Hier handle es sich um drei logische Grundhandlungen,<br />

die eine Regel als Regel etablieren. Regel und Fall stünden hier „in je verschiedener Beziehung zueinander“<br />

und hätten zwar „auch an ihnen selbst je unterschiedliche Bedeutung“, doch seien sie „im Vollzug der Handlung<br />

strikt aneinander vermittelt.“ Vgl. Zeidler, 2014: S. 85-111.<br />

Angesprochen sind nach Zeidler zugleich drei „Positionen“, u. zw. der Standpunkt unbeteiligter Beobachtender,<br />

jener handelnd Beteiligter und derjenige von Betroffenen. Die drei oben genannten „Allgemeinen“, die sich daraus<br />

ergeben, entsprechen ihm „Universalienstreit“ den drei „Universalien“. Vgl. Zeidler 2013a, S. 89-107.<br />

Nach Zeidler 2002, S. 43-50, ist das Erkenntnisresultat durch den Sprach-, den Sach- und den Subjektbezug der<br />

Erkenntnis vermittelt und die nur scheinbar gegebenen „Gegenstände der Erfahrung“ seien ein Gedachtes, weshalb<br />

er von „Umständen der Erfahrung“ sprach, „von den Umständen, mit denen wir uns auseinandersetzen, wenn wir<br />

Erfahrungen machen.“ Vgl. Zeidler 2010b, S. 196-208; vgl. Zeidler 1991, S. 153-165.<br />

8 Kant, GMS (AA), S. 448, sagte: „Ein jedes Wesen, das nicht anders als unter der Idee der Freiheit handeln kann, ist<br />

eben darum in praktischer Rücksicht wirklich frei“, d. h., „es gelten für dasselbe alle Gesetze, die mit der Freiheit<br />

unzertrennlich verbunden sind, ebenso als ob sein Wille“ auch „in der theoretischen Philosophie gültig für frei erklärt<br />

würde.“ Sobald wir uns als frei denken, „versetzen wir uns“, fügt er (a. a. O, S. 453) hinzu, als Glieder in die<br />

Verstandeswelt und erkennen die Autonomie des Willens samt ihrer Folge, der Moralität; denken wir uns aber als<br />

verpflichtet,“ erklärte er, „so betrachten wir uns als zur Sinneswelt und doch zugleich zur Verstandeswelt gehörig.“<br />

Das moralische Sollen sei „eigenes notwendiges Wollen als Gliedes einer intelligiblen Welt“, es werde lediglich insofern<br />

als Sollen gedacht, als sich der Mensch „wie ein Glied der Sinneswelt betrachtet“ (Kant, a. a. O, S. 455).<br />

9 Darin sah Zeidler das gemeinschaftliche Prinzip theoretischer und praktischer Vernunft.<br />

Zeidler 1994, S. 25-39, nannte die Einheit von theoretischer und praktischer Vernunft in Anlehnung an die Terminologie<br />

Kants in dessen „Kritik der Urteilskraft“ die ‚heautonome‘ Vernunft.<br />

10 Wittgenstein, Tractatus, Nr. 5.631, 5.632 und 5.633. „Wenn ich ein Buch schriebe ‚Die Welt, wie ich sie vorfand‘“,<br />

erläutere er, „so wäre darin auch über meinen Leib zu berichten und zu sagen, welche Glieder meinem Willen unterstehen<br />

und welche nicht etc.,“ dies sei eine Methode, das Subjekt zu isolieren oder zu zeigen, dass es in einem<br />

wichtigen Sinne kein Subjekt gibt: „Von ihm allein nämlich könnte in diesem Buche nicht die Rede sein.“ Dann prüfte<br />

er einen naheliegenden Einwand: „Du sagst, es verhält sich hier ganz, wie mit Auge und Gesichtsfeld. Aber das Auge<br />

siehst du wirklich nicht.“ Und nichts am Gesichtsfeld lasse darauf schließen, dass es von einem Auge gesehen werde.<br />

Dies habe damit zu tun, dass „kein Teil unserer Erfahrung auch a priori“ sei (Nr. 5.634).<br />

11 Wittgenstein, Tractatus, Nr. 5.62, 6.373, zog nicht nur das Handlungssubjekt in seiner Körperlichkeit in Betracht,<br />

sondern auch das Ich, das die Welt als seine Welt wahrnimmt. Die Welt und das Leben sind für dieses Ich Eins, es ist<br />

seine Welt (Wittgenstein, a. a. O., Nr. 5.621, 5.63).<br />

94 <strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024


Politisches Wohlwollen: Eine philosophische Hinführung<br />

Entscheidungsträger begreift. (Zeidler 2016a: 186, 223, 242) 12 Der kategorische Imperativ umgreift<br />

eben dafür drei imperativische Maximen der praktischen Vernunft, die Zeidler als solche<br />

1) der moralischen Sensibilisierung, 2) der Selektion vorhandener oder des Entwurfs alternativer<br />

Handlungsoptionen und 3) der Überprüfung ihrer subjektiven Allgemeinheit auf ihre mögliche<br />

objektive Allgemeinheit hin entfaltet hat. (Zeidler 1993: 257-276) 13<br />

Das Festhalten der Vernunft ist nicht nur eine Abkehr von Unvernunft, sondern „die Gründung<br />

eines guten Willens“, einer „kritischen“ Gesinnung, die zum Wohlwollen anhält, indem sie von<br />

„Bosheit“ abhält. (Vgl. Kant 2022: 393 f., 396) 14 Wenn und weil der kategorische Imperativ selbst<br />

eine Weltanschauung ausdrückt, indem er zu „erfühlen“ verhilft, dass es Gesetze gibt, 15 markiert<br />

er die Grenzen der Vernunft zugleich als ethische Grenzen; er weist ‚böses Wollen‘ als Einverleibung<br />

der Unvernunft aus. 16 4<br />

Wenn Kant in einer der Varianten des besagten Imperativs davon sprach, dass die Maxime der<br />

Handlung durch den eigenen Willen gleichsam „zum allgemeinen Naturgesetz werden sollte“,<br />

dann wies er damit auf das Erfordernis der deduktiven Stabilisierung hin: Wer es nicht für nötig<br />

hält, widerspruchsfrei und darum plausibel zu argumentieren, verhält sich ignorant. 17<br />

Wenn Kant überdies davon sprach, die Maxime solle ihre eigene allgemeine Gültigkeit in sich<br />

enthalten; dass also nur nach Maximen „eines allgemein gesetzgebenden Gliedes zu einem bloß<br />

12 Zeidler 2016a: Grundlegungen, S. 186, 223, 242, sprach von einer „kategorischen, hypothetischen und disjunktiven<br />

Synthesisleistung“, unter Berufung auf die kategorische Synthesis in einem Subjekt, die hypothetische Synthesis<br />

der Glieder einer Reihe und die disjunktive Synthesis der Teile in einem System, von denen Kant gesprochen hatte.<br />

Vgl. Kant 2013, S. 402 f. (üblicherweise zit.: B 379 f./A 323, wobei ‚A‘ die 1. Aufl. in Riga 1781, ‚B‘ die 2. Aufl. in Riga<br />

1787 meint).<br />

13 Diese drei Maximen lassen sich nicht nur als Imperative der praktischen Vernunft, sondern auch als Maximen einer<br />

praktischen Urteilskraft verstehen. Zeidler formulierte sie so, dass sie vorschreiben: Handle nach deinem Gewissen;<br />

handle nach Maximen, von denen du wollen kannst, dass sie auch auf dich angewendet werden; handle nach<br />

Maximen, die zu einer allgemeinen Gesetzgebung taugen! Wollte man Ethik hingegen auf eine Güterlehre gründen,<br />

könne man als vorgegeben denken, die eigene Pflicht zu tun; Gutes zu tun, damit einem Gutes widerfahre; und sich<br />

ans Gesetz zu halten. Vgl. Zeidler 1993, S. 257-276.<br />

„Nachahmung“ finde, so lehrte Kant, GMS (AA), S. 409, „im Sittlichen nicht statt, und Beispiele dienen nur zur Aufmunterung“.<br />

14 Vgl. Kant 2022, GMS (AA), S. 393 f., 396, der bemerkte, dass einige Eigenschaften, die dem guten Willen beförderlich<br />

seien, ohne die Grundsätze eines guten Willens „höchst böse“ werden können.<br />

15 Vgl. Wittgenstein 2018, Tractatus, Nr. 6.36: „Wenn es ein Kausalitätsgesetz gäbe, so könnte es lauten: ‚Es gibt<br />

Naturgesetze‘. Aber freilich kann man das nicht sagen: es zeigt sich.“ Dann fügte er (a. a. O., Nr. 6.361) hinzu: „In<br />

der Ausdrucksweise Hertz’s könnte man sagen: Nur gesetzmäßige Zusammenhänge sind denkbar.“ Was sich nach<br />

Wittgenstein (a. a. O., Nr. 6.45 und 6.522) „zeigt“, ist „das Mystische“, „das Gefühl der Welt als begrenztes Ganzes“,<br />

die Anschauung der Welt unter dem Gesichtspunkt der Ewigkeit.<br />

16 „Wenn das gute oder böse Wollen die Welt ändert,“ sagte Wittgenstein, Tractatus, Nr. 6.43, „so kann es nur die Grenzen<br />

der Welt ändern, nicht die Tatsachen“. Was er damit meinte, war, dass die Welt dadurch „überhaupt eine andere<br />

werden“ müsse. Er sah das gute Wollen mit Glück, das böse Wollen mit Unglück verbunden, weshalb er ergänzte, die<br />

Welt der Glücklichen sei eine andere als die Welt der Unglücklichen.<br />

17 Die „Naturgesetzformel“ hielt Kant, GMS (AA), S. 421 f., lediglich für die Umformulierung der „Universalisierungsformel“.<br />

Daneben gibt es die „Selbstzweck-“ und eine „Reich-der-Zwecke-Formel“. Hier geht es nicht nur um „unmittelbare“<br />

Konsistenz, sondern auch um die Vereinbarkeit mit „sonstigem“ Wissen und Wollen. In diesem Sinne sagte<br />

er (a. a. O., S. 424), einige Handlungen seien so beschaffen, dass ihre Maxime ohne Widerspruch nicht einmal als<br />

allgemeines Naturgesetz gedacht werden könne, „weit gefehlt,“ dass man „noch wollen könne, es solle ein solches<br />

werden.“<br />

<strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024<br />

95


Harun Pačić<br />

möglichen Reiche der Zwecke“ zu handeln sei, dann gab er ferner zu verstehen, dass Argumente<br />

induktiver Bewährung in der Umwelt und bei der Mitwelt bedürfen: Wer sich der Wirklichkeit verschließt,<br />

wer Alterität ausschließt, ignoriert die Tatsachengleichheit 18 wie auch die Willkür 19 und<br />

verhält sich sohin arrogant. 20<br />

Und wenn Kant schließlich den Menschen als „Person“ ansprach und ihr einen „inneren Wert“,<br />

eine Würde zusprach, weil er den kategorischen Imperativ, das praktische Gesetz im „Zweck<br />

an sich selbst“, in der Werthaftigkeit der Autonomie, grundgelegt fand, dann dachte er das<br />

abduktive Zeugnis als Schlussstein der Vernunft an: Wer sich eines Menschen arrogiert, sich<br />

ihm und mit ihm der Vernunft durch Anmaßung persönlicher Ungleichheit aufzwingt, verhält sich<br />

violent. (vgl. Zeidler 2013b: 123-138, Zeidler 2007: 225-238) 21<br />

Diesen Schluss, wohlan, zu Ende denkend, sollte es besser heißen, dass niemand (als Lebewesen)<br />

und nichts (als Vorbedingung des Lebens) „bloß als Mittel zum beliebigen Gebrauch“ gelten<br />

kann, sondern alles „zugleich als Zweck“ im Lichte der Erfahrungsgründe für das Werterleben<br />

betrachtet werden muss, denn nur wer – Gesinnungs- mit Verantwortungsethik verbindend – der<br />

Violenz entsagt und sonach auf Nachhaltigkeit in der Umwelt und Zumutbarkeit in der Mitwelt<br />

achtet, enthält sich nicht nur der Nötigung, sondern auch der Möglichkeit der Nötigung – und sei<br />

es auch „nur“ der eigenen Person – zur Unvernunft durch Verabsolutierung von Wertmaßstäben.<br />

18 Vgl. Wittgenstein, Tractatus, Nr. 5.634, 5.641, 6.373, 6.41, 6.4312, 6.4321 und 6.52, wo gesagt wird, dass es keine<br />

Ordnung der Dinge a priori gebe, das „philosophische Ich“ nicht der Mensch, „nicht der menschliche Körper, oder<br />

die menschliche Seele, von der die Psychologie handelt, sondern das metaphysische Subjekt, die Grenze – nicht<br />

ein Teil – der Welt“ sei, die Welt „unabhängig von meinem Willen“ sei, darin alles sei, wie es sei, geschehe, wie es<br />

geschehe, es also „in ihr keinen Wert“ gebe „und wenn es ihn gäbe, so hätte er einen Wert“, wenn und weil es nicht<br />

darum geht, „Probleme der Naturwissenschaft“, sondern Lebensprobleme zu lösen: „Die Tatsachen gehören alle<br />

nur zur Aufgabe, nicht zur Lösung.“<br />

19 Somek (2018: 22-30) ging vor dem Hintergrund von „vernünftigen Auffassungsunterschieden“ davon aus, dass<br />

Dissens im Wollen nur dadurch aufgelöst werden könne, dass „die Wertschätzung ausgeblendet“ werde, wodurch<br />

sich das Verhalten nur noch, aber gleichermaßen, „als legitime Ausübung von Willkür“ präsentiere, genauer gesagt<br />

als „unbestimmte“ und daher freie Willkür. Die zirkuläre Geschlossenheit eines „Ich will, was du willst, wenn<br />

du willst, was ich will“, nannte er unter Berufung auf Luhmann ‚doppelte Kontingenz“ und führte aus, sie lasse sich<br />

„überwinden, indem man über die Abgrenzung von Willkürsphären entscheidet.“ Luhmann (2020a: 9 f.), befand, als<br />

er in der Moraltheorie nach den Grundlagen der Sozialität suchte, dass die Andersheit der anderen diese „überhaupt<br />

erst möglich macht.“<br />

20 Vgl. Kant, GMS (AA), S. 431, 433 f., 437 f., Die „Idee des Willens jedes vernünftigen Wesens als eines allgemein<br />

gesetzgebenden Willens“ sei die „oberste Bedingung der Zusammenstimmung“ des praktischen Prinzips des<br />

Willens „mit der allgemeinen praktischen Vernunft“. Das ‚Reich der Zwecke‘, von dem er i. d. Z. sprach, sei „die<br />

systematische Verbindung verschiedener vernünftiger Wesen durch gemeinschaftliche Gesetze.“ Kant stellte sich<br />

darunter „ein ganzes aller Zwecke“ vor, u. zw. „sowohl der vernünftigen Wesen als Zwecke an sich, als auch der<br />

eigenen Zwecke, die ein jedes sich selbst setzen mag“. Moralität bestehe in der „Beziehung aller Handlung auf<br />

die Gesetzgebung, dadurch allein ein Reich der Zwecke möglich ist.“ Es handle sich dabei um „das Verhältnis der<br />

Handlungen zur Autonomie des Willens“, sodass die Handlung, die damit „zusammen bestehen kann,“ erlaubt sei,<br />

wohingegen jene, „die nicht damit stimmt,“ unerlaubt sei (Kant, a. a. O., S. 439).<br />

21 Ein Mensch, der seine Gründe vor dem „Gerichtshof der reinen Vernunft“ verantwortet, ist sohin genötigt, der<br />

„Menschheit in seiner Person“ gerecht zu werden.<br />

Kant, GMS (AA), S. 427 ff., setzte ‚absoluten Wert‘ mit ‚Zweck an sich selbst‘ gleich und sagte, der Mensch und überhaupt<br />

jedes vernünftige Wesen existiere als Zweck an sich selbst, „nicht bloß als Mittel zum beliebigen Gebrauche<br />

für diesen oder jenen Willen“. Vernünftige Wesen, deren „vernünftige Natur“ als Zweck an sich selbst existiere, nannte<br />

er allesamt ‚Personen‘ und formulierte daraufhin den praktischen Imperativ: Handle so, dass „du die Menschheit<br />

sowohl in deiner Person“ als auch in der Person „eines jeden andern“ [Menschen] „jederzeit zugleich als Zweck,<br />

niemals bloß als Mittel“ brauchst! Im Reich der Zwecke habe alles entweder einen Preis oder eine Würde, die ‚Würde‘<br />

eines vernünftigen Wesens bedeute, dass dieses „keinem anderen Gesetze gehorcht als„demjenigen“ welches „es<br />

zugleich selbst gibt.“ Die sittlich gute Gesinnung oder Tugend verschaffe diesem einen Anteil an der allgemeinen<br />

Gesetzgebung. Autonomie sei darum der Grund der Würde der menschlichen und jeder vernünftigen Natur.<br />

96 <strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024


Politisches Wohlwollen: Eine philosophische Hinführung<br />

(McGuinness 1989: 165-191) 22 <strong>Politik</strong> (Politisieren) ist, so gesehen, das Verschieben von Grenzen<br />

wechselseitiger Unzumutbarkeit.<br />

5<br />

Wie die reflektierende Urteilskraft des Menschen ihm dazu verhilft, sinnhaft zwischen ‚gut‘ und<br />

‚schlecht‘ zu unterscheiden und so die Welt mit dem Präferenzwert des Wohlwollens und dem<br />

Reflexionswert der Unvertretbarkeit, Unhaltbarkeit, zu erfüllen, so konstituiert sich der „Staat“<br />

durch reflexive Prozesse zum Rechtsstaat, der sich nicht als Staatsgewalt aufzwingt, indem<br />

er politische Macht über das Recht erhebt, sondern sich selbst stetig dazu zwingt, politischen<br />

Widerwillen durch faire Verfahren zur Staatswillensbildung in die Zumutbarkeit der Rechtswirklichkeit<br />

zu übersetzen (vgl. Zeidler 2008: 215-223; Luhmann 1972). Rechtsstaatlichkeit ist, so<br />

betrachtet, politisches Wohlwollen, das sich durch politische sowie durch rechtliche Verantwortlichkeit<br />

ausweist: Während ‚rechtliche Verantwortlichkeit‘ zur Justiziabilität der Staatsakte überleitet<br />

(vgl. Pačić 2023: 33 ff), 23 geleitet ‚politische Verantwortlichkeit‘ zur Demokratie. 24<br />

*<br />

Die eingangs gestellte Frage, ob der Mensch im Kern gut oder schlecht sei, muss nach alledem<br />

ebenso unentschieden bleiben, wie jene, ob der Staat im Kern Rechts- oder Unrechtsstaat sei,<br />

denn der fragliche Kern ist – hier wie da – weder der gute noch der böse, sondern der freie Wille.<br />

22 Womöglich dachte Wittgenstein mit seiner „Auffassung, der Wille sei eine Einstellung zur Welt“, in diese Richtung,<br />

als er sowohl die Logik als auch die Ethik für transzendental erklärte, Ethik mit Ästhetik in Eins setzte, den guten bzw.<br />

bösen Willen mit Glück und Unglück oder mit einem guten bzw. schlechten Gewissen gleichsetzte, vom Zunehmen<br />

und Abnehmen der ganzen Welt durch Sinn und von ethischem Lohn bzw. ethischer Strafe redete, der bzw. die in der<br />

Handlung selbst liege und all dies im „mystischen Gefühl“ für vereinigt hielt, in der Anschauung der Welt unter dem<br />

Gesichtspunkt der Ewigkeit.<br />

23 Hier geht es darum, Staatsakte als Rechtsakte zu sehen und sie der Staatsgerichtsbarkeit zu unterwerfen, worunter<br />

nicht allein die Straf- und Privatrechtsjustiz, sondern auch die Verwaltungs- und Verfassungsgerichtsbarkeit zu verstehen<br />

sind.<br />

24 Thöndl 2015, Einführung in die <strong>Politik</strong>wissenschaft, S. 195 ff., verortet Demokratie und Diktatur in der Typologie<br />

politischer Systeme (Regime) an den entgegengesetzten Enden einer Achse. Dem demokratischen Idealzustand<br />

komme die „stabile Demokratie“ wohl am nächsten, doch gebe es auch „defekte“ Demokratien, die Bevölkerungsteile<br />

„aus rassistischen, ethnischen, geschlechtlichen Gründen oder aufgrund von Religionszugehörigkeit, fehlendem<br />

Besitz und unzureichender Bildung“ vom Wahlrecht ausschließen; solche, in denen „Vetomächte“ wie Militär,<br />

Guerilla, Miliz oder multinationale Konzerne einige politische Domänen dem Zugriff der demokratischen Repräsentierenden<br />

entziehen; solche, wo die frei, universell und fair gewählte Regierung das Parlament umgeht oder extrakonstitutionell<br />

auf die Justiz einwirkt; und solche, bei denen die Legislative und die Judikative „nur eingeschränkt<br />

in der Lage sind, die Exekutive zu kontrollieren.“ Während die (moderne) Demokratie durch „die Begrenzung der<br />

politischen Macht durch Gewaltenteilung“ charakterisiert sei, sei die Diktatur durch Unbegrenztheit der politischen<br />

Macht und durch Gewaltkonzentration bestimmt. Bei der Diktatur sei zwischen der autoritären und der totalitären<br />

Variante zu unterscheiden, wobei z. T. unter autoritärer Herrschaft die schwächere Form von Diktatur verstanden<br />

werde. Mit Blick auf die Ideologie als Kriterium der Unterscheidung von autoritärer und totalitärer Herrschaft stellte<br />

Thöndl (a. a. O., S. 216) die These auf, dass ‚Totalitarismus‘ die „totale Penetration der Gesellschaft mit einem neuen<br />

Wertungssystem“ bedeute, wohingegen im Autoritarismus „das überlieferte gesellschaftliche Wertungssystem<br />

weitgehend respektiert“ werde. Bei autoritären Systemen unterschied er dann mehrere Grundformen, wie z. B. die<br />

faschistisch-autoritären, die korporatistisch-autoritären und die rassistisch-autoritären Regime.<br />

<strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024<br />

97


Harun Pačić<br />

Literaturverzeichnis<br />

Kant, Immanuel (2013): Kritik der reinen Vernunft. Hrsg. von I. Heidemann. Stuttgart: Reclam,<br />

402 f.<br />

Kant, Immanuel (2022): Grundlegung zur Metaphysik der Sitten [GMS]. Hrsg. von Th. Valentiner,<br />

zit. nach der Akademieausgabe [AA]. Stuttgart: Reclam, 385-463 (393).<br />

Luhmann, Niklas (1972): Rechtssoziologie. Band 2. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt.<br />

Luhmann, Niklas (2020a): Die Moral der Gesellschaft. 5. Aufl. Frankfurt am Main: Suhrkamp.<br />

McGuinness, Brian (1989): Die Mystik des Tractatus. In: Schulte, J. (Hrsg.): Texte zum Tractatus.<br />

Frankfurt/M.: Suhrkamp, 165-191.<br />

Pačić, Harun (2023): Das Recht als Struktur der Gesellschaft. Norderstedt: Books on Demand.<br />

Rendl, Lois Marie / König, Robert (2020): Schlusslogische Letztbegründung: Festschrift für Kurt<br />

Walter Zeidler zum 65. Geburtstag. Berlin: Peter Lang, Vorwort 9-14.<br />

Somek, Alexander (2018): Rechtsphilosophie. Hamburg: Junius.<br />

Thöndl, Michael (2015): Einführung in die <strong>Politik</strong>wissenschaft. Wien/Köln/Weimar: Böhlau.<br />

Wittgenstein, Ludwig (1989): Vortrag über Ethik. Hrsg. von J. Schulte. Frankfurt/M.: Suhrkamp.<br />

Wittgenstein, Ludwig (2018): Tractatus logico-philosophicus. Frankfurt/M.: Suhrkamp.<br />

Zeidler, Kurt Walter (1986): Die transzendentale Geschichte des Ichs, Deduktion und Schematismus<br />

der reinen Verstandesbegriffe“. Wiener Jahrbuch für Philosophie, 18/1986, 95-125.<br />

Zeidler, Kurt Walter (1991): Peirce und Hegel: Zeichen und Schluss. In: Nagl, L. et al. (Hrsg.):<br />

Philosophie und Semiotik. Wien: Universität Wien, 153-165.<br />

Zeidler, Kurt Walter (1993): Die Dialektik der praktischen Vernunft und ihre Maximen. In: Klein,<br />

H.-D. / Reikerstorfer, J. (Hrsg.): Philosophia perennis. Frankfurt/M.: Peter Lang, 257-276.<br />

Zeidler, Kurt Walter (1994): Die Heautonomie der Vernunft. In: Hoffmann, Th. / Ungler, F. (Hrsg.):<br />

Aufhebung der Transzendentalphilosophie? Würzburg: Königshausen & Neumann, 25-39.<br />

98 <strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024


Politisches Wohlwollen: Eine philosophische Hinführung<br />

Zeidler, Kurt Walter (1996): Genetischer Naturalismus und Idealismus: Überlegungen zum Naturalismus<br />

von Günter Dux. In: Wagner, F. / Murrmann-Kahl, M. (Hrsg.): Ende der Religion – Religion<br />

ohne Ende? Wien: Passagen Verlag, 153-172, 296-299.<br />

Zeidler, Kurt Walter (2002): Die Wesentlichkeit einer subjektiven Deduktion. In: Asiain M. / Eckl,<br />

H. / Pieper, H.J. (Hrsg.): Der Grund, die Not und die Freude des Bewußtseins. Beiträge zum<br />

Internationalen Symposion in Venedig zu Ehren von Wolfgang Marx. Würzburg: Königshausen<br />

& Neumann, 43-50.<br />

Zeidler, Kurt Walter (2005): Syllogismus est principium Idealismi. In: Gottschlich, M. / Wladika,<br />

M. (Hrsg.): Dialektische Logik: Hegels „Wissenschaft der Logik“ und ihre realphilosophischen<br />

Wirklichkeitsweisen. Würzburg: Königshausen & Neumann, 239-252.<br />

Zeidler, Kurt Walter (2007): Die Logik der Gottesbeweise und die Logik der (Post-)Moderne. In:<br />

Dethloff, K. / Nagl, L. / Wolfram, F. (Hrsg.): Die Grenze des Menschen ist göttlich. Beiträge zur<br />

Religionsphilosophie. Berlin: Parerga, 225-238.<br />

Zeidler, Kurt Walter (2008): Bioethik, Menschenwürde und reflektierende Urteilskraft. In:<br />

Synthesis Philosophica, 46/2008/2, 215-223.<br />

Zeidler, Kurt Walter (2010a): Platons Antizipation und Überwindung des Universalienstreits. In:<br />

Klein, H.-D. / Langthaler, R. (Hrsg.): Transzendentale Konzepte in aktuellen Bezügen. Würzburg:<br />

Königshausen & Neumann, 9-19.<br />

Zeidler, Kurt Walter (2010b): Letztbegründung als transzendentale Theorie konstitutiver Relationalität.<br />

In: Woesler, M. (Hrsg.): Festschrift für Harald Holz. Berlin: Europäischer Universitätsverlag,<br />

196-208.<br />

Zeidler, Kurt Walter (2010c): Monade und System oder Perspektivismus versus System? Wiener<br />

Jahrbuch für Philosophie, 42/2010, 59-69.<br />

Zeidler, Kurt Walter (2010d): Der logische Ort der Freiheit. In: Klein, H.-D. (Hrsg.): Ethik als prima<br />

philosophia?. Würzburg: Königshausen & Neumann, 141-149.<br />

Zeidler, Kurt Walter (2012): Heinrich Rickert und Hermann Cohen zum ‚härtesten Problem der<br />

Logik‘. In: Krijnen, Ch. / Noras, A. (Hrsg.): Marburg versus Südwestdeutschland. Würzburg:<br />

Königshausen & Neumann, 175-204.<br />

Zeidler, Kurt Walter (2013a): Unzeitgemäße Bemerkungen zu Franz Rosenzweigs Beitrag zum<br />

Universalienproblem. In: Wiedebach, H. (Hrsg.): Die Denkfigur des Systems im Ausgang von<br />

Franz Rosenzweigs „Stern der Erlösung“. Berlin: Duncker & Humblot, 89-107.<br />

<strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024<br />

99


Harun Pačić<br />

Zeidler, Kurt Walter (2013b): Geschichte und System im Marburger Neukantianismus. In: Krijnen,<br />

Ch. / de Launay, M. (Hrsg.): Der Begriff der Geschichte im Marburger und Südwestdeutschen<br />

Neukantianismus und seine Aktualität. Würzburg: Königshausen & Neumann, 123-138.<br />

Zeidler, Kurt Walter (2014): Begriff und ‚Faktum‘ der Wissenschaft. In: Krijnen, Ch. / Zeidler, K.W.<br />

(Hrsg.): Wissenschaftsphilosophie im Neukantianismus. Würzburg: Königshausen & Neumann,<br />

85-111.<br />

Zeidler, Kurt Walter (2016a): Grundlegungen. Zur Theorie der Vernunft und Letztbegründung.<br />

Wien: Ferstl & Perz.<br />

Zeidler, Kurt Walter (2016b): Vermittlungen. Zum antiken und neuen Idealismus. Wien: Ferstl &<br />

Perz.<br />

Zeidler, Kurt Walter (2017): Grundriss der transzendentalen Logik. Wien: Ferstl & Perz.<br />

100 <strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024


Andreas Breinbauer<br />

10 Jahre Neue Seidenstraßeninitiative – das<br />

unterschätzte Projekt Chinas auf dem Weg zur<br />

Nummer eins<br />

Abstract<br />

Im Herbst 2013 verkündete der chinesische Staatspräsident Xi Jinping den Start der chinesischen<br />

Seidenstraßeninitiative (Belt and Road Initiative, kurz: BRI). Im Artikel wird der Frage nachgegangen,<br />

welche Ziele China mit der BRI verfolgt, wie sich die BRI im Laufe der Zeit entwickelt<br />

hat, welche Bilanz nach mehr als 10 Jahren BRI gezogen werden kann und wie <strong>Europa</strong> darauf<br />

reagiert hat. Es zeigt sich, dass die BRI als themenoffenes Kooperationsprojekt gesehen werden<br />

muss, das räumlich und zeitlich nicht limitiert ist, wobei politische Kooperationen, Finanzierung<br />

und Finanzsysteme, Handel und Investitionen, kulturelle Kooperationen, Konnektivität/Infrastruktur<br />

sowie innovative Felder die zentralen Kooperationsfelder (Säulen) der BRI bilden. Infrastruktur<br />

ist nur eine dieser Prioritäten, aber die sichtbarste, das ist wohl auch der Grund, dass die<br />

BRI, sehr eingeschränkt, in westlichen Medien besonders mit diesem Aspekt assoziiert wird. Die<br />

BRI ist mit anderen wichtigen chinesischen Strategien verlinkt und zunehmend an den Nachhaltigkeitspostulaten<br />

orientiert. Die BRI-Aktivitäten werden hauptsächlich über chinesische Quellen<br />

finanziert und sollen vor allem seit 2017 vermehrt politische Ziele Chinas adressieren. Sie liefern<br />

für chinesische Staatsunternehmen ein Komplettpaket für deren Internationalisierung. Die Bilanz<br />

aus chinesischer Sicht über eine Dekade BRI ist durchwegs positiv. Die Investitionen von mehr<br />

als einer Billion Euro seit 2013, auch in Infrastruktur, haben beigetragen, Infrastruktur defizite vor<br />

allem in Asien und Afrika zu mildern und dazu geführt, dass vor allem die USA und die EU aktiver<br />

geworden sind. Auf der Habenseite steht der immense ökonomische und politische Bedeutungsgewinn,<br />

den China weltweit und vor allem im globalen Süden erfahren hat. War <strong>Europa</strong> lange<br />

Zeit eine Fokusregion der BRI, hat die Nicht-Distanzierung Chinas von der russischen Invasion<br />

zu einem starken politischen Bedeutungsverlust Chinas allgemein und der BRI im Speziellen in<br />

<strong>Europa</strong> geführt. Die EU hat lange Zeit die Breite und Tiefe der BRI verkannt und erst mit 2021, also<br />

Jahre nach der BRI-Gründung, mit der Initiative „Global Gateway“ eine Alternative vorgelegt, die<br />

erst langsam in die Gänge kommt.<br />

1 Einleitung<br />

Anlässlich des 50-jährigen Bestehens der diplomatischen Beziehungen übermittelte Staatspräsident<br />

Xi Jinping ein Glückwunsch-Schreiben an den Österreichischen Präsidenten Van der<br />

Bellen, in dem er zum Jubiläum gratulierte. Das Schreiben wurde am 28.5.2021 in China Daily und<br />

Xinhua, den offiziellen chinesischen Nachrichtenportalen veröffentlicht und beginnt wie folgt:<br />

„Chinese President Xi Jinping said Friday that he stands ready to work with his Austrian counterpart,<br />

Alexander Van der Bellen, to strengthen cooperation on the joint construction of the Belt and<br />

Road. In his message exchanged with the Austrian president to celebrate the 50th anniversary of<br />

the founding of bilateral diplomatic ties, Xi said he attaches great importance to China-Austria<br />

relations, and stands ready to constantly promote the China-Austria friendly strategic partnership<br />

to new levels, so as to bring benefits to the two countries and peoples“ (Belt and Road Portal<br />

<strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024<br />

103


Andreas Breinbauer<br />

2021). Dass in der knapp gehaltenen Botschaft die chinesische Seidenstraße (englisch: Belt and<br />

Road Initiative) so prominent und an erster Stelle steht, unterstreicht die Bedeutung der BRI im<br />

Kontext der Beziehungen mit Österreich, das übrigens seit einigen Jahren als eines der Länder<br />

entlang der Seidenstraße geführt wird (Nedopil 2023; Nedopil 2023a; Nedopil 2023b), eine Tatsache,<br />

die bis dato in Österreich kaum öffentlich bekannt ist.<br />

Im Folgenden soll zunächst der Frage nachgegangen werden, welche Motive, Kernelemente und<br />

Ziele China mit dem Kooperationsprojekt verfolgt, wie sich die BRI im Laufe der Dekade entwickelt<br />

hat, und welche Bilanz nach nun mehr als 10 Jahren BRI gezogen werden kann, wobei<br />

sich der Schwerpunkt auf wirtschaftliche Aspekte bezieht. Anschließend werden die Reaktionen<br />

der EU auf die BRI kritisch reflektiert.<br />

2 Geschichte, Motive, Kernelemente und Dimensionen der Belt and Road Initiative (BRI)<br />

Wenn man auf Google den Begriff „Neue Seidenstraße“ eingibt, ergeben die ersten Trefferseiten,<br />

dass es sich um ein Infrastrukturprojekt handelt, das den Handel erleichtern soll. Das gleiche<br />

Ergebnis zeigt ein Screening des online-<strong>Wirtschaft</strong>publikationsportals „WISO“. 1 Diese anekdotischen<br />

Evidenzen bestätigen eine Sichtweise auf die Belt and Road Initiative (kurz BRI), die wir in<br />

einer Studie unter österreichischen Logistikmanager:innen identifiziert hatten. Diese sehen die<br />

BRI ebenfalls vorwiegend als Infrastrukturprojekt, aber noch eingeschränkter als Bahnverbindungsprojekt<br />

zwischen China und <strong>Europa</strong> und, sehr fokussiert, als Verlängerung der Breitspurbahn<br />

von Kosice nach Ostösterreich (Schodl/Breinbauer/Eitler 2018; Breinbauer/Eitler/Schodl<br />

2018; Breinbauer/Leitner 2020).<br />

Den offiziellen Startschuss zu „One Belt, One Road“ (OBOR) 2 setzte Präsident Xi Jinping im<br />

Herbst 2013 mit zwei mittlerweile berühmten Reden. Er artikulierte schon damals klar, dass<br />

diese Initiative in fünf Kooperationsfeldern, wir nennen sie „Säulen“, erfolgen sollte (Breinbauer<br />

2019b: 3): (1) Stärkung der politischen Zusammenarbeit und Koordination („Policy Coordination“)<br />

(2) Verbesserung der Konnektivität und Infrastruktur („Infrastructure Connectivity“) (3) Förderung<br />

von uneingeschränktem Handel („Unimpeded Trade“) (4) Finanzielle Integration („Financial<br />

Integration“) (5) Stärkung der zwischenmenschlichen Beziehungen und Völkerverständigung<br />

(„People to People ties“= (Yu et al. 2018: 53). Zu diesen engeren Kooperationsfeldern kommen<br />

1 Beispielhaft dafür ein Artikel in der <strong>Wirtschaft</strong>swoche vom 30.1.2024, in dem es heißt: „Neue Seidenstraße als<br />

Alternative. Wie groß die Probleme inzwischen sind, zeigt sich tausende Kilometer weiter nördlich, wo keine<br />

Schiffe Waren transportieren, sondern kilometerlange Güterzüge: auf der Neuen Seidenstraße, der Bahnverbindung<br />

zwischen China und <strong>Europa</strong>. Schon seit Jahren baut China mit der Neuen Seidenstraße ein Infrastrukturprojekt auf,<br />

das Asien mit dem Rest der Welt verbinden soll - Deutschland eingeschlossen. So kommen die Züge aus Ostasien<br />

regelmäßig in den großen Umschlagplätzen hierzulande an, in den Häfen von Hamburg oder Duisburg, dem Endpunkt<br />

der Neuen Seidenstraße.“<br />

2 Die rechtliche Definition auf Chinesisch lautet nach wie vor „ 一 带 一 路 “ (Englisch: „One Belt, One Road“), seit 2015<br />

wird aber die englische Bezeichnung „Belt and Road Initiative“ (BRI) in den meisten offiziellen Dokumenten und Strategiepapieren<br />

verwendet. Der Begriff „Neue Seidenstraße“ wird im deutschsprachigen Raum als Wiederbelebung<br />

der alten „Seidenstraße“ verwendet, ein Begriff, der erstmals 1877 von dem Geografen Ferdinand von Richthofen<br />

erwähnt wurde. Im Zusammenhang mit neuen Initiativen im Rahmen der BRI wird öfters auf den Begriff „Silk Road“,<br />

wie z.B. „Artic Silk Road“, „Polar Silk Road“, „Digital Silk Road“, „Cyber Silk Road“ und „Health Silk Road (siehe auch<br />

Breinbauer 2019a: 236)<br />

104 <strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024


10 Jahre Neue Seidenstraßeninitiative – das unterschätzte Projekt Chinas auf dem Weg zur Nummer eins<br />

2023 noch innovative Bereiche dazu. Diese umfassen vor allem internationale Kooperationen<br />

in folgenden Bereichen: Gesundheit, Digitalisierung, Nachhaltigkeit, wissenschaftliche und<br />

technologische Innovationen, Schutz von IPO (Intellectual Property Right), Standardisierungskooperationen<br />

und Datensicherheit, E-Commerce, Weltfrieden und Entwicklungsarbeit (siehe<br />

Abbildung 1). Wenn von offizieller chinesischer Seite über die Erfolge der BRI resümiert wird, so<br />

werden diese anhand der genannten Säulen operationalisiert, wie jüngst im Grundsatzpapier<br />

des Staatsrates im Oktober 2023 in Vorbereitung des 3. Seidenstraßengipfels in Peking (The<br />

State Council Information Center 2023 o.S.).<br />

Abbildung 1: Die Kernelemente (Säulen) der BRI<br />

Belt and Road Initiative<br />

Verbesserung der Kooperation in folgenden Feldern:<br />

Politische<br />

Kooperation<br />

Konnektivität<br />

und<br />

Infrastruktur<br />

Handel<br />

Finanzierung<br />

Finanzsystem<br />

Völkerverständigung<br />

Innovative<br />

Bereiche<br />

(Gesundheit,<br />

Nachhaltigkeit,<br />

Digitalisierung<br />

etc.)<br />

Thematisch uneingeschränkt, weltweit, zeitlich unlimitiert<br />

Quelle: Eigendarstellung<br />

Obwohl der Fokus zu Beginn der BRI auf Infrastrukturentwicklungsprojekte (wie auch jetzt noch<br />

medial rezipiert, zunächst zwischen <strong>Europa</strong> und China, später erweitert um Ostafrika) lag und<br />

diese auch außerhalb von China das <strong>Wirtschaft</strong>swachstum anregen sollten (Hamilton/Ohlberg<br />

2020: 376) war klar, dass die anderen Kooperationsfelder eine wichtige Rolle spielen (werden)<br />

und der Bereich Infrastruktur nur der sichtbare Teil der BRI ist (Breinbauer 2019a: 222). Spätestens<br />

ab der Veröffentlichung des Grundsatzpapieres zur Weiterentwicklung der BRI im März<br />

2015 (NDRC et al. 2015) wurde die geografische Reichweite der BRI auf die ganze Welt ausgedehnt<br />

und auch thematisch weit geöffnet. Ein Beispiel ist der Bereich Gesundheit, der sich<br />

2017 in einer eigenen „Health Silk Road“ niederschlug (Rudolf 2021a: 5). Weitere Meilensteine<br />

waren die UN Resolutionen A/71/9 (November 2016) und 2344 (März 2017), in der eine stärkere<br />

regionale wirtschaftliche Zusammenarbeit unter anderem auch im Rahmen der BRI gefordert<br />

<strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024<br />

105


Andreas Breinbauer<br />

wird (State Council Information Center 2023). Beim ersten Seidenstraßengipfel in Peking im Mai<br />

2017 wurden z.B. die „Smart Cities“ oder „Sharing Economy“ als BRI-Themen integriert und der<br />

geografische Radius explizit auf Afrika und Lateinamerika ausgeweitet. Am 2. Gipfel im April<br />

2019 wurde die Ausrichtung der BRI Richtung Nachhaltigkeit diskutiert („Green Silk Road“).<br />

Im Rahmen der BRI erfolgten anschließend neue Guidelines mit einem verstärkten Fokus auf<br />

nachhaltige Investitionen (2020: „Guidelines for Greening Overseas Investment and Cooperation“,<br />

2022: „2022: Guidelines for Ecological Environmental Protection of Foreign Investment<br />

Cooperation and Construction Projects“).<br />

Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass nach 10 Jahren die BRI deutlich mehr als<br />

ein Infrastrukturentwicklungsprojekt ist. Es ist vielmehr eine Einladung an die ganze Welt, an<br />

alle Nationen und Regionen, nicht nur im Bereich der Infrastruktur und Logistik zusammenzuarbeiten,<br />

sondern auf den verschiedensten Ebenen in <strong>Politik</strong>, Finanzen, Handel, Investitionen,<br />

Wissenschaft, Bildung, Kultur usw. (Breinbauer, 2019a). Es gibt keinen geografischen und thematischen<br />

Fokus und somit auch keine Liste von Schwerpunktprojekten. Jeder kann der Einladung<br />

folgen, sich für die Seidenstraße zu engagieren und durch Selbsteintritt Teilnehmerland zu werden<br />

(Breinbauer 2023: 236; Breinbauer 2021; Breinbauer 2021 a, b und c).<br />

2.1 Länder entlang der Seidenstraße<br />

Obwohl es keine offizielle Liste von Ländern, die sich zur Seidenstraßeninitiative bekennen, gibt,<br />

wird die Länderliste auf dem Belt and Road Portal (https://eng.yidaiyilu.gov.cn, zum Zeitpunkt<br />

des Verfassens wurde diese Liste vom Netz genommen) bzw. die Liste des Green Finance and<br />

Development Center von Wissenschaftler:innen als Referenz verwendet.<br />

Abbildung 2: BRI-Länder<br />

Quelle: Nedopil (2024), Green Finance and Development Center<br />

Hier werden zwischen 146 und 151 Länder geführt, die derzeit (Februar 2024, siehe Abb.2)<br />

mit China im Rahmen der BRI zusammenarbeiten. Afrika ist mit 47 Ländern (von 55) der am<br />

106 <strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024


10 Jahre Neue Seidenstraßeninitiative – das unterschätzte Projekt Chinas auf dem Weg zur Nummer eins<br />

stärksten engagierte Kontinent, regional liegen die Subsaharischen Länder mit 44 Ländern auf<br />

dem gleichen Niveau wie Asien und weit vor <strong>Europa</strong> und Zentralasien mit 34 (Nedopil 2023a,<br />

o.S.). Die meisten afrikanischen Länder, sind, wie Ghana, erst im Jahr 2018 der BRI beigetreten,<br />

in Lateinamerika kamen die ersten Länder erst 2017 zu dieser Gruppe (Ferchen 2021: 98). Auf<br />

diese Länder entfallen mehr als 60% der Weltbevölkerung und Landfläche, und ihr BIP macht fast<br />

40% des weltweiten Bruttoinlandsprodukts aus (Hu/Zhang 2023:166).<br />

Zu Beginn der Initiative wollte das offizielle China die europäischen Länder integrieren. Dies zeigt<br />

sich in <strong>Europa</strong> u.a. durch die Gründung der 17+1 Initiative, die 2012 in Budapest ins Leben gerufen<br />

wurde und in dessen Rahmen sich 17 mittel- und osteuropäische Länder (Litauen, Estland,<br />

Lettland, Bulgarien, Kroatien, Tschechien, Griechenland, Ungarn, Polen, Rumänien, Slowakei, Slowenien,<br />

Nicht-EU-Länder: Albanien, Bosnien-Herzegowina, Montenegro, Nordmazedonien, Serbien)<br />

mit China (daher: „17+1“) über verschiedenartige Kooperationen (darunter: Gesundheitspolitik,<br />

Rudolf 2021a: 2) austauschen und auch dazu geführt haben, dass viele dieser Länder bei<br />

den ersten Nationen waren, die sich der Seidenstraßeninitiative angeschlossen haben (siehe<br />

Tabelle 1). Dabei spielen die institutionellen, historischen und ideologischen Verbindungen und<br />

das Fehlen von politischen Vorbedingungen für Kredite der großteils ex-sozialistischen Staaten<br />

eine große Rolle (de Beule/Jaklič 2016: 34; Mitrovic 2018: 27). Defacto hat das 17+1 Format auch<br />

dazu geführt, dass eine Reihe von EU-Initiativen zu Fall gebracht wurden (Hamilton/Ohlberg<br />

2020: 377). Nachdem Litauen bereits 2021 aus diesem Forum ausgestiegen war, haben sich<br />

2022 Lettland und Estland davon verabschiedet, vor allem wegen der Nicht-Distanzierung Chinas<br />

von der russischen Invasion in der Ukraine aber auch aus ökonomischen Gründen. Die Skepsis<br />

gegenüber dem Nutzen der Plattform ist auch in Polen, Rumänien und Bulgarien gestiegen<br />

(Ernst 2022). Weiterhin aktiv sind die Staaten des Westbalkans, in die auch erhebliche Investitionen<br />

Chinas geflossen sind oder fließen werden (Hochgeschwindigkeitstrecke zwischen Belgrad<br />

und Budapest, Autobahn in Montenegro, Donaubrücke in Belgrad). Heute (Ende 2023) bekennen<br />

sich von den 47 europäischen Staaten (bzw. Staaten mit einem Anteil am geografischen <strong>Europa</strong>)<br />

27 Staaten zur BRI, davon 17 EU-Mitglieder (siehe Tabelle 1), darunter auch Österreich, wobei<br />

Österreich (wie auch die Russische Föderation) kein formelles Memorandum of Understanding<br />

unterzeichnet hatte. Ein Ausdruck der sinkenden Attraktivität für europäische Staaten, an der<br />

BRI mitzuwirken, zeigt sich auch darin, dass <strong>Europa</strong> bei den ersten beiden Seidenstraßengipfeln<br />

(2017 und 2019, auch mit Bundeskanzler Kurz) noch gut vertreten war, aber beim jüngsten Treffen<br />

im Oktober 2023 nur mehr zwei europäische Staatschefs, nämlich Viktor Orbán, Ungarn, und<br />

Aleksandar Vučić, Serbien, anwesend waren. Der Hauptgrund liegt freilich in der mangelnden<br />

Distanzierung Chinas von der russischen Invasion in die Ukraine im Februar 2022, was generell<br />

zu einem starken politischen Bedeutungsverlust Chinas in <strong>Europa</strong> führte. Als verlässlichster<br />

Partner als EU-14+1 (17 minus die ausgetretenen baltischen Länder) Mitglied zeigt sich Ungarn,<br />

das sich zunehmend als Brückenkopf für chinesische sozioökonomische Aktivitäten in <strong>Europa</strong><br />

etabliert hat und seit dem Beitritt zur BRI 2015 bis Ende 2023 6,18 Mrd. USD an chinesischen<br />

Investitionen und Baukontrakten bekommen hat, das ist deutlich mehr als etwa Polen, das im<br />

gleichen Zeitraum nur 2,47 Mrd. USD lukrieren konnte (Österreich nur 830 Mio. USD). 3<br />

3 Daten auf Basis des AEI (2024).<br />

<strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024<br />

107


Andreas Breinbauer<br />

Tabelle 1: Europäische Länder entlang der Seidenstraße (nach Beitrittsdatum sortiert)<br />

Land Einkommensgruppe Datum EU-Mitglied<br />

Moldova Lower middle income 01.12.2013<br />

North Macedonia Lower middle income 01.12.2013<br />

Belarus Lower middle income 01.12.2013<br />

Slovak Republic High income 01.11.2015 x<br />

Hungary High income 01.06.2015 x<br />

Romania Upper middle income 01.06.2015 x<br />

Kazakhstan Upper middle income 01.08.2015<br />

Bulgaria Upper middle income 01.11.2015 x<br />

Turkey Upper middle income 01.11.2015<br />

Czech Republic High income 01.11.2015 x<br />

Poland High income 01.11.2015 x<br />

Serbia Upper middle income 01.11.2015<br />

Latvia High income 01.11.2016 x<br />

Albania Upper middle income 01.05.2017<br />

Bosnia and Herzegovina Upper middle income 01.05.2017<br />

Croatia High income 01.05.2017 x<br />

Montenegro Upper middle income 01.05.2017<br />

Estonia High income 01.11.2017 x<br />

Lithuania High income 01.11.2017 x<br />

Slovenia High income 01.11.2017 x<br />

Ukraine Lower middle income 01.12.2017<br />

Greece High income 01.08.2018 x<br />

Portugal High income 01.12.2018 x<br />

Italy High income 01.03.2019 x<br />

Luxembourg High income 01.03.2019 x<br />

Cyprus High income 01.04.2019 x<br />

Austria High income unklar (2018) x<br />

Russian Federation Upper middle income unklar<br />

Quelle: Eigene Darstellung nach Nedopil (2023a); Definition von <strong>Europa</strong> (Staaten) nach EU:<br />

https://www.oesterreich.gv.at/themen/eu_und_international/staatenverzeichnis/europa.html<br />

(insgesamt 47 Staaten, tw. mit Referenz „Europäischer Teil“).<br />

Italien hat im Juni 2023 angekündigt das BRI-MoU nicht verlängern zu wollen.<br />

108 <strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024


10 Jahre Neue Seidenstraßeninitiative – das unterschätzte Projekt Chinas auf dem Weg zur Nummer eins<br />

Als besonderer Erfolg wurde der Betritt Italiens, das als erstes G7 Land im Jahr 2019 beitrat,<br />

zelebriert. Regierungschefin Meloni hat aber 2023 angekündigt, das MoU im Rahmen der BRI<br />

nicht verlängern zu wollen, offiziell, weil die „wins“ nicht eingetreten, sondern im Gegenteil das<br />

Handelsbilanzdefizit mit China seit 2019 sogar stark gestiegen war. Insgesamt kann festgestellt<br />

werden, dass die Integration <strong>Europa</strong>s in die BRI, trotz Anfangserfolge, vor allem der west- und<br />

mitteleuropäischen Staaten nicht wirklich gelungen ist (Kamp, 2023:4).<br />

2.2 Motive und Zielsetzungen der BRI<br />

In der offiziellen chinesischen Darstellung wird die BRI als Initiative und keinesfalls als Strategie,<br />

wie z.B. der Marshall Plan, dargelegt. Strategien hätten immer einen einseitigen Nutzen als<br />

Ziel, das sei aber bei der BRI anders (Chen 2017). Vielmehr gelte es, eine globale „Community<br />

of shared future, shared interests, responsibility, mutual political trust, economic integration und<br />

cultural inclusiveness“ (The State Council Information Center 2023, o.S.) aufzubauen und ideologische<br />

Differenzen und soziale Unterschiede abzubauen. In den allermeisten offiziellen Papieren<br />

zur BRI wird eine Win-Win-Situation propagiert.<br />

Eine Analyse der wissenschaftlichen Literatur (siehe u.a. bei Breinbauer 2019a: 215-217) ergibt<br />

folgendes Bild (siehe Tabelle 2) über die wichtigsten Motive und Zielsetzungen, die im Folgenden<br />

detaillierter ausgeführt werden.<br />

Tabelle 2: Motive und Zielsetzungen der BRI<br />

Mikroebene<br />

(China)<br />

Mesoebene<br />

(Asien)<br />

Makroebene<br />

(weltweit)<br />

(Geo-)Politische Dimension<br />

Entwicklung der peripheren Gebiete<br />

in China, insbesondere im Westen<br />

und Zentralchina<br />

Vormachtstellung in Asien,<br />

enge politische und militärische<br />

Abstimmung in Asien<br />

Führende Rolle, politisch (und<br />

militärisch) insbesondere im<br />

Rahmen des Globalen Südens,<br />

Formale und informelle welt weite<br />

Standards setzen (technisch,<br />

juristisch)<br />

Ökonomische Dimension<br />

Nachhaltiges <strong>Wirtschaft</strong>swachstum<br />

entsprechend der politischen Vorgaben,<br />

Abbau der Überkapazitäten,<br />

Aufbau von National Champions<br />

Infrastrukturentwicklung und<br />

Erhöhung des Handelsvolumens<br />

und Investitionen innerhalb des<br />

Kontinents<br />

Führende Innovations- und<br />

<strong>Wirtschaft</strong>smacht, insbesondere<br />

im Bereich von Handel und<br />

Investitionen; Chinesische Unternehmen<br />

sind Global Player, die<br />

Standards setzen können.<br />

Internationalisierung der<br />

chinesischen Währung<br />

Globalisierung fundamental umgestalten Beijing Consensus vs.<br />

Washington Consensus, Erreichen der Jahrhundertziele (bis 2049)<br />

Quelle: Eigendarstellung<br />

<strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024<br />

109


Andreas Breinbauer<br />

2.2.1 Politische Stabilität<br />

Für Xi und alle seine Vorgänger ist die politische Stabilität und die Verfolgung politischer Kerninteressen<br />

von entscheidender Bedeutung. Zu diesen zählen: Die chinesische Vorstellung von<br />

territorialer Integrität, vor allem im Hinblick auf das Südchinesische Meer, Taiwan und Hongkong,<br />

die Grenzkonflikte mit Indien und Japan und innere Angelegenheiten, besonders im Hinblick<br />

auf Menschenrechtsfragen, in Tibet oder Xinjiang (Rudolf 2021b). Die BRI soll diese Ziele<br />

adressieren, indem Zentral- und Westchina sowie die 14 Nachbarländer infrastrukturell als Basis<br />

für wirtschaftliche Prosperität und damit politische Stabilität entwickelt werden sollen (Brown<br />

2016:214; Breinbauer 2023).<br />

2.2.2 Nachhaltiges <strong>Wirtschaft</strong>swachstum und globale Führungsmacht in ausgewählten<br />

<strong>Wirtschaft</strong>sbereichen<br />

Ein wesentliches Motiv für die BRI ist und war nachhaltiges <strong>Wirtschaft</strong>swachstum für China über<br />

die Steigerung des Handelsvolumens und Investitionen. Vor allem in der ersten Phase der BRI<br />

war es ein wichtiger Faktor, die Überkapazitäten in der Bauwirtschaft abzubauen, das Handelsvolumen<br />

zu steigern und durch Investitionen „overseas“, also im Ausland, gerade auch im High<br />

Tech Sektor, eine innovationsgetriebene Volkswirtschaft voranzutreiben (Breinbauer 2019a). Vor<br />

der BRI hatte China (im Unterschied zur EU und den USA, die Handelsabkommen im großen<br />

Stil abgeschlossen hatten) nur Handelsabkommen mit kleinen Staatenbünden und bilaterale<br />

Verträge mit zahlreichen Sonderregelungen und Ausnahmen. Die Logistikkosten, Lieferzeiten<br />

und ganz allgemein die Transaktionskosten waren im Durchschnitt deutlich höher als im Handel<br />

mit <strong>Europa</strong> und den USA mit ihren Partnern (Sampson u.a. 2021: 66). In Verbindung mit anderen<br />

Plänen und Strategien wie der „Going Global Strategie“ (GGS) aus dem Jahr 1999/2000, „Made<br />

in China 2025“ (MIC25) aus dem Jahr 2015, sowie die „Chinese Standards 2035“-Strategie aus<br />

dem Jahr 2018 und die „Internet Plus“ Strategie (2015 implementiert) (Breinbauer/Leitner 2020:<br />

8 ff) und Unterstützungen hinsichtlich billigerer Kredite und Subventionen kann die BRI als Komplettpaket<br />

für die Internationalisierung für chinesische (Staats-)Unternehmen gesehen werden.<br />

2.2.3 Aufbau von Global Champions und Setzen von Standards<br />

Ein wesentliches Ziel ist, Nationale Champions zu global führenden Unternehmen zu entwickeln,<br />

die weltweite Standards setzen können. Im Rahmen der BRI sind die chinesischen Unterneh -<br />

men, allen voran die staatlichen (State Owned Enterprises, kurz: SOEs) oder staatsnahen Unternehmen,<br />

die Treiber (90% der SOEs nehmen an der BRI teil) und gleichzeitig auch Nutznießer<br />

der BRI, was für westliche Unternehmen umfangreiche Implikationen mit sich bringt. Betriebswirtschaftliche<br />

Überlegungen spielen dabei nicht immer die wichtige Rolle wie in westlichkapitalistischen<br />

Unternehmen, wesentlich ist vielmehr und vor allem seit 2017 zunehmend, die<br />

Erfüllung der politischen Ziele (Breinbauer/Leitner 2020: 11). Globale Dominatoren sind nur jene,<br />

die auch weltweite Standards setzen können (Cai 2017 nach Breinbauer/Leitner 2020: 10). Die<br />

BRI soll helfen, diese Standards stärker (vorrangig in den Ländern entlang der Seidenstraße)<br />

110 <strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024


10 Jahre Neue Seidenstraßeninitiative – das unterschätzte Projekt Chinas auf dem Weg zur Nummer eins<br />

zu verbreiten. Das sind nicht nur formelle technische, wie z. B. im Bereich Eisenbahn, oder<br />

innovative Technologien, wie KI, Block Chain, 5 und 6G (Chinesische Repräsentant:innen sind<br />

sehr aktiv in den entsprechenden Normungsinstitutionen), sondern auch informelle, die durch<br />

Marktmacht entstehen oder zunehmend auch finanzielle und rechtliche Standards. Schon vor<br />

dem WTO Beitritt Chinas (2001) war das Setzen von Standards ein wesentliches politisches<br />

Ziel, zunächst als Schutzmechanismus, um die niedrigeren Barrieren für den Marktzugang zu<br />

kompensieren (Arcesati 2019). Mit dem Aktionsplan „China Standards 2035“ ( 中 国 标 准 2035),<br />

der chinesischen Standardisierungsstrategie, nahmen diese Intentionen im März 2018 deutlich<br />

an Fahrt auf. „Chinese Standards 2035“ ist auch im Zusammenhang mit dem Jahrhundertziel zu<br />

sehen, dass China zum 100. Jahrestag der Republik im Jahr 2049 eine führende Industrienation<br />

sein soll, die in vielen Bereichen Standards setzt, an denen sich andere orientieren müssen, vor<br />

allem im Bereich innovative Technologien, Künstliche Intelligenz (KI), Cloud Computing, Internet<br />

der Dinge oder Big Data (Zenglein/Holzmann 2019: 30).<br />

2.2.4 Zugang zu Ressourcen und Energie<br />

China möchte vor allem über den Ausbau der Infrastruktur die Energie Supply Chains diversifizieren.<br />

Es geht nicht nur um Alternativen zu Erdöllieferungen über die Straße von Malakka, über<br />

die 80% des Erdölimports aus dem Nahen und Mittleren Osten bezogen werden, die aber nach<br />

wie vor von der US-Navy kontrolliert wird (Rachmann 2016: 104), sondern auch um Rohstoffe<br />

wie seltene Erden und Metalle, die für die grüne Transformation notwendig sind, und zudem um<br />

die Sicherung landwirtschaftlicher Nutzflächen. Die BRI-Kooperationen in Zentralasien, Lateinamerika<br />

(Ferchen 2021: 98) und insbesondere mit afrikanischen Ländern adressieren diesen<br />

Zweck (Links 2021: 114; Kumah 2023: 2; Garcia-Herrero/Xu 2019a).<br />

2.2.5 Umgestaltung und Neukonfiguration der Globalisierung unter chinesischer Führung<br />

China möchte die weltweit noch immer großteils westlich geprägte ökonomische Architektur<br />

verändern. Der bislang dominante „Washington Consensus“ geht davon aus, dass die USA und<br />

einige andere westliche Länder die Spielregeln in internationalen Organisationen bestimmen.<br />

Tatsächlich werden internationale Institutionen wie der IWF, in dem die USA als einziger Staat ein<br />

Vetorecht besitzt, die Weltbank, die Asian Development Bank (ADB) bzw. International Bank for<br />

Reconstruction and Development (IBRD) entweder von den USA, Japan oder der EU bestimmt<br />

(Miller 2017: 36). Aus Sicht des offiziellen Chinas, nämlich im White Paper des Staatsrates vom<br />

Oktober 2023, ist die Globalisierung ein unumkehrbarer Prozess, der aber in seiner bisherigen<br />

Form nur wenigen Ländern genutzt hat. „However, the economic globalization dominated by<br />

a few countries has not contributed to the common development that delivers benefits to all.<br />

Instead, it has widened the wealth gap between rich and poor, between developed and developing<br />

countries, and within developed countries. Many developing countries have benefited little from<br />

economic globalization and even lost their capacity for independent development, making it hard<br />

for them to access the track of modernization. Certain countries have practiced unilateralism,<br />

protectionism and hegemonism, hampering economic globalization and threatening a global<br />

<strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024<br />

111


Andreas Breinbauer<br />

economic recession“ (The State Council Information Center 2023, o.S) Die BRI soll dazu beitragen,<br />

dass die Globalisierung in eine neue Richtung gedrängt wird: „The BRI is also a Chinese<br />

solution to global development issues, which aims to advance modernization in participating<br />

countries in tandem, make economic globalization more dynamic, inclusive and sustainable, and<br />

ensure that more of the fruits will be shared more equitably by people across the world.“ (The<br />

State Council Information Center 2023, o.S.). Diese Neugestaltung der Globalisierung soll unter<br />

chinesischer Führung zu einem wirklichen gegenseitigen Nutzen und einer gemeinsamen positiven<br />

Entwicklung führen (Hu/Zhang 2023: 166). China möchte mit der BRI den beiden Jahrhundertzielen<br />

bis 2049 (nach 100 Jahren Gründung des Staates 1949) näher kommen, nämlich einmal<br />

„die höchst entwickelten kapitalistischen Länder einzuholen“ (was schon zwei Jahrzehnte<br />

davor gelingen sollte) und zum zweiten, den von Xi Jinping 2012 formulierten „Chinese Dream“<br />

zu verwirklichen, der bedeutet: „seek to have economic prosperity, national renewal and people’s<br />

well-being“ (Breinbauer/Hanes 2021: 74) oder anders ausgedrückt: „The Great Rejuvenation of<br />

the Chinese Nation“ im Herzen der globalen Ökonomie (Zenglein/Gunter 2023: 8).<br />

2.2.6 Geopolitische und militärische Aspekte<br />

Ökonomische und (geo-)politische Faktoren gehen in den chinesischen Zielsetzungen Hand in<br />

Hand, insbesondere unter der Ära Xi Jinpings. Das Konzept der ökonomischen Sicherheit und<br />

des ökonomischen Aufstieges, das immer auch mit der nationalen Sicherheit einhergeht, bestimmte<br />

in den letzten Jahren die Außenpolitik (Holslag 2019: 66). Die Kombination finanzieller<br />

und ökonomischer Mittel dient auch nicht kommerziellen und geopolitischen Zielsetzungen<br />

(Oberhauser 2023). Kritiker:innen monieren daher, dass die BRI das wichtigste außenpolitische<br />

und außenwirtschaftliche Vehikel ist, um die führende globale Supermacht der Welt zu werden<br />

und soll das Ziel der KPCh erfüllen, globale Parallelinstitutionen zu errichten, die sie dann dominieren<br />

kann (Hamilton/Ohlberg 2020: 376). Dieser Aspekt fällt unter die Säule der „Politischen<br />

Koordination“ der BRI.<br />

2.3 Dimensionen der BRI<br />

Derzeit liegen keine Daten vor, die das gesamte ökonomische Engagement Chinas in der gesamten<br />

Breite und Tiefe der BRI, wie oben beschrieben, abbilden würden (siehe Abb.1). Zahlen<br />

liegen lediglich für chinesische Investitionen und Baukontrakte vor. Beide Aktivitäten gehen seit<br />

einigen Jahren zunehmend in die 149 Länder entlang der Seidenstraße, das war bis 2018 noch<br />

anders, als die meisten Investitionen und Baukontrakte auf Nicht-Seidenstraßenländer entfielen<br />

(Breinbauer 2019a: 221). Mit Stand Ende 2023 wurden im Rahmen der BRI 1,053 Billionen USD<br />

investiert, davon entfallen 634 Mrd. USD auf Bauvorhaben und 419 Mrd. USD auf nichtfinanzielle<br />

Investitionen (Nedopil 2024). Alleine im Jahr 2023 wurden 92,4 Mrd. USD investiert, deutlich<br />

mehr als 2022 (74,5 Mrd. USD). Die meisten Investitionen im letzten Jahr gingen nach Afrika<br />

(21,7 Mrd. USD) gefolgt vom Mittleren Osten (15,8 Mrd. USD), beide sind die gegenwärtigen<br />

Schwerpunktregionen der BRI (Nedopil 2024: 9). Lange Zeit, von 2013-2018 konnte <strong>Europa</strong> die<br />

meisten Foreign Direct Investments und Baukontrakte auf sich ziehen, bis sich der Schwerpunkt,<br />

112 <strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024


10 Jahre Neue Seidenstraßeninitiative – das unterschätzte Projekt Chinas auf dem Weg zur Nummer eins<br />

auch wegen zunehmender europäischer Restriktionen (Details siehe später in Kap. 4), auf die<br />

anderen Kontinente verlagerte.<br />

Schwerpunkt-Sektoren des chinesischen Auslandsengagements im Jahr 2023 im Rahmen der<br />

BRI waren Energie (31%), Bergbau (darunter seltene Erden) (21%) und Transport (16%) (Nedopil<br />

2024: 12). Chinas Gesamtengagement für grüne Energie (Sonne und Wind) und Wasserkraft<br />

belief sich im Jahr 2023 auf etwa 9,5 Milliarden US-Dollar. Im Vergleich dazu waren es im Jahr<br />

2022 8,1 Milliarden US-Dollar. Betrachtet man nur die Investitionen, gingen die chinesischen<br />

Investitionen in grüne Energie und Wasserkraft von 2,1 Milliarden US-Dollar im Jahr 2022 auf<br />

1,5 Milliarden US-Dollar im Jahr 2023 zurück. Unterdessen stiegen Bauprojekte im Zusammenhang<br />

mit grüner Energie (einschließlich Wasserkraft) von 5,6 Milliarden US-Dollar im Jahr 2022<br />

auf 8,1 Milliarden US-Dollar im Jahr 2023 (Nedopil 2024: 15).<br />

Multilaterale Finanzierungen wie die Asian Infrastructure Investment Bank (AIIB), der Seidenstraßenfonds<br />

und die Finanzierung über die New Development Bank (NDB) machen dabei<br />

lediglich maximal 1/10 aus. 90 bis 98 % (je nach Quelle, Breinbauer 2019a: 226) machen rein<br />

chinesische Finanzierungen aus. Hauptquelle sind die ausländischen Devisenreserven, die sich<br />

im Jänner 2024 auf 3,219 Billionen USD beliefen (Trading Economics 2024), die wiederum drei<br />

Staatsfonds speisen und diese wiederum das Geld für die Banken zur Verfügung stellen (Staatsbanken<br />

wie die China Development Bank (CDB), sowie Export Import Bank of China, China Bank<br />

of Construction, Agricultural Bank of China, Industrial and Commercial Bank of China); in realiter<br />

besteht daher eine starke Dominanz chinesischer Firmen bei dieser Finanzierung, finanziert vor<br />

allem durch den gigantischen Handelsbilanzüberschuss.<br />

3 Erfolgsbilanz und Kritik an der BRI<br />

3.1 Erfolgsbilanz (aus chinesischer Sicht)<br />

In offiziellen chinesischen Quellen, unter anderem im White Paper des Staatsrates vom Oktober<br />

2023 (The State Council Information Center 2023) wird die BRI als voller Erfolg dargestellt. „Over<br />

the past decade, BRI cooperation has delivered real gains to participating countries. It has contributed<br />

to the sound development of economic globalization and helped to resolve global development<br />

challenges and improve the global governance system. It has also opened up a new path for<br />

all humanity to realize modernization, and ensured that the efforts of building a global community<br />

of shared future are delivering real results“ (The State Council Information Center 2023, o.S.).<br />

Aus chinesischer Sicht mag das bis zu einem gewissen Umfang auch zutreffen, wenn man die<br />

Erfolge mit den Zielen und Motiven abgleicht. Es sollen hier nur einige Aspekte aus der großen<br />

Palette, die mit BRI-Aktivitäten in Verbindung stehen (aber nicht alleinige Ursache sind) herausgegriffen<br />

werden.<br />

<strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024<br />

113


Andreas Breinbauer<br />

Relativ objektiv nachvollziehbar sind einige positive Effekte der BRI-Aktivitäten: Chinas Infrastrukturinvestitionen<br />

adressieren einen objektiven Bedarf an Infrastrukturentwicklung vor allem<br />

in Asien und Afrika, der z.B. in Afrika zu einem besseren innerafrikanischen Handel und <strong>Wirtschaft</strong>swachstum<br />

führen kann (UNCTAD 2023: 13). Darüber hinaus drängte die BRI die USA und<br />

insbesondere die EU dazu, mehr Infrastrukturinvestitionen in Afrika und Asien, aber auch Lateinamerika<br />

bereitzustellen. Chinesische Kredite und Finanzhilfen helfen Afrika dabei, ungünstige<br />

Konditionalitäten zu umgehen, die von westlichen Geberorganisationen wie dem IWF oder der<br />

Weltbank auferlegt werden (Ado/Su 2016: 45). Optimisten sehen China auch mit seiner BRI als<br />

Vorbild für afrikanische Staaten bei der wirtschaftlichen Entwicklung, im Bereich der Industrialisierung<br />

sowie bei der Verbesserung von Fähigkeiten, Innovation und Technologieentwicklung<br />

(Leavy 2018; UNCTAD 2022).<br />

Schon mehr mit rein chinesischer Brille kann konstatiert werden, dass das Handelsvolumen<br />

Chinas mit den Ländern entlang der Seidenstraße sich in den zehn Jahren auf beinahe elf<br />

Billionen US-Dollar vervielfacht. Im ersten Halbjahr 2023 exportierte China erstmals mehr in die<br />

BRI-Länder als in die USA, Japan und die EU zusammen. Im Intra-Asien-Handel hat China Indien<br />

deutlich abgehängt, das Volumen ist fünfmal höher als jenes des südlichen Nachbarn. Noch<br />

schneller ist der zukunftsträchtige E-Commerce-Handel mit den BRI-Ländern gewachsen: von<br />

2019 auf 2021 um das Elffache auf ein Gesamtvolumen von 228 Milliarden US-Dollar – das<br />

sind 73 Prozent des gesamten internationalen E-Commerce-Handels Chinas (Fan 2023: 191). Im<br />

Rahmen der BRI sind vorwiegend chinesische Staatsunternehmen aktiv, für die die BRI ein Komplettpaket<br />

für deren Internationalisierung bietet (Breinbauer 2023b). China konnte seine Position<br />

als Exportnation weltweit im Jahr 2022 ausbauen und einen bislang unerreichten Exportüberschuss<br />

von 877,6 Mrd. USD erzielen (WTO 2023). Trotz der Spannungen der EU mit China im Gefolge<br />

der Russischen Invasion in der Ukraine, florierte der Handel zwischen beiden <strong>Wirtschaft</strong>smächten.<br />

Allerdings eher nur in eine Richtung: Die EU exportierte im Jahr 2022 Waren im Wert<br />

von lediglich 231 Mrd. USD nach China und importierte Waren im Wert von 627 Mrd. USD, das ist<br />

ein Rekorddefizit von 396 Mrd. USD der EU gegenüber China, und entspricht 86% des gesamten<br />

Handelsbilanzdefizits (461 Mrd. USD) der EU im Jahr 2022 (WTO 2023).<br />

Chinesische Multinationale Unternehmen haben seit 2013 weltweit an Bedeutung gewonnen.<br />

Im Jahr 2013 waren 23 Unternehmen unter den Top Fortune 500 (die 500 umsatzstärksten<br />

Unternehmen der Welt), 2020 waren es bereits 133 (Nr. 1 vor den USA mit 122) und 2022 143,<br />

der Abstand zu den USA hat sich noch weiter vergrößert (Fortune 2024). Chinesische Global<br />

Player dominieren inzwischen ganze Sektoren und setzen globale technische und informelle<br />

Standards: Darunter ZTE/Huawei (5G und 6G), CRRC (Eisenbahntechnologie), Haier (Haushaltsgeräte),<br />

Lenovo (Computer/Super Computer), auch in den Bereichen Smart Cities und IoT/Blockchain<br />

sind chinesische Unternehmen führend (Breinbauer 2023b). Außerdem sind chinesische<br />

Repräsentanten erfolgreich in den Normungsinstitutionen, wie der ISO vertreten und Patentweltmeister<br />

z.B. im IKT Bereich, weit vor der EU und den USA. Ein Beispiel sind die Cybersecurity-<br />

Regulative, die ausländische Unternehmen zwingen können, sensible Informationen und<br />

geistiges Eigentum offenzulegen (Arcesati 2019). Standardisierungsabkommen gibt es (Stand<br />

114 <strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024


10 Jahre Neue Seidenstraßeninitiative – das unterschätzte Projekt Chinas auf dem Weg zur Nummer eins<br />

Oktober 2023) mit 65 Ländern entlang der Seidenstraße und internationalen Organisationen in<br />

den Bereichen Zivilluftfahrt, Agrar- und Ernährungswirtschaft, Elektrofahrzeuge, Öl- und Gaspipelines,<br />

Wasserkraft, Kartierung und Ozeanografie; dazu wurde eine Standardinformationsplattform<br />

installiert, zu der alle 149 Seidenstraßenländer Zugang haben (State Council Information<br />

Center 2023 o.S.). Ein weiteres wichtiges Ziel ist die Internationalisierung der chinesischen<br />

Währung Renminbi (RMB) entlang der Seidenstraßenländer, um die Dominanz des US-Dollars<br />

(und auch des Euro) zu brechen (Shen/Chan 2018: 5). China hat mit 20 Partnerländern bilaterale<br />

Währungsswap-Vereinbarungen unterzeichnet und in 17 Partnerländern Renminbi (RMB)-<br />

Clearingvereinbarungen getroffen. Die Anzahl der Teilnehmer, das Geschäftsvolumen und der<br />

Einfluss des grenzüberschreitenden RMB-Zahlungssystems haben schrittweise zugenommen,<br />

was aus chinesischer Sicht Handel und Investitionen effektiv erleichtert hat (State Council Information<br />

Center 2023, o.S.)<br />

China ist dem Ziel des „Chinese Ocean Century“, wie es Xi Jinping formulierte (Holslag 2019:<br />

102) deutlich nähergekommen. Gemessen am umgeschlagenen Container Volumen belegen<br />

die chinesischen Häfen die ersten 7 Spitzenplätze und chinesische Anbieter kontrollieren<br />

inzwischen einen Großteil des Marktes im Bereich Hafenindustrie und Container. 95% aller Container<br />

werden von chinesischen Unternehmen gebaut sowie 80% der Hafenkräne (Ghiretti u.a.<br />

2023: 8). Chinesische Unternehmen sind die größten Hafenterminalbetreiber der Welt: COSCO<br />

Shipping Ports Group (CSP) und China Merchants Holding (CM) haben Beteiligungen in folgenden<br />

15 Europäischen Häfen: Piräus (100%), Zeebrügge (85%) und Valencia (51%) via CSP sogar<br />

mehrheitlich. Beteiligungen von CSP gibt es aber auch in Vado (40%), Bilbao (39%), Rotterdam<br />

(35%) etc. CM hat ebenfalls Beteiligungen in europäischen Häfen, aber unter 50%: Terminal Des<br />

Flanderes (44,6%), Terminal Du Grand Ouest (25%), Malta Freeport Terminal (24,5%), Terminal De<br />

France und Terminal Nord (24,5%). Von Ghiretti et al. (2023: 8) wurden in <strong>Europa</strong> zwischen 2004<br />

und 2021 24 Transaktionen und 13 angekündigte Greenfield Investments im Wert von 9,1 Mrd.<br />

USD vereinbart.<br />

Im Jahr 2014 waren europäische Reedereien in China dominant, allen voran Maersk. Die Reederei<br />

hatte in einigen chinesischen Häfen fast die Hälfte des Warenumschlags kontrolliert, was von<br />

der chinesischen Regierung als inakzeptabel empfunden wurde. Im gleichen Jahr wurden Richtlinien<br />

verabschiedet, laut denen ausländische Reedereien nicht mehr als 49 Prozent des Warenumschlags<br />

in chinesischen Häfen kontrollieren und zu 85 Prozent chinesische Arbeiter:innen<br />

eingesetzt werden sollten. In der Folge wurde die europäische Dominanz gebrochen. Heute hat<br />

nur die Maersk Tochter APM Beteiligungen an nur fünf chinesischen Häfen, Tianjin, Quingdao,<br />

Shanghai, Xiamen, Guangzhou, aber weniger als 25% (Breinbauer 2023a).<br />

Im Bereich Innovationen hat China stark aufgeholt und im Jahr 2023 erstmals die USA in der<br />

Anzahl der Top Science Technology überholt (China: 24, USA: 21) (WIPO 2024: 23).<br />

In den für die grüne Wende notwendigen strategischen Metallen (u. a. Lithium) sind die Investitionen<br />

im ersten Halbjahr 2023 gegenüber dem Halbjahr 2022 um 131 Prozent gestiegen; damit<br />

<strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024<br />

115


Andreas Breinbauer<br />

sichert sich China weiterhin den Zugang zu den Ressourcen im Ausbau der Vormachtstellung im<br />

Bereich der elektrischen Antriebe (Nedopil 2024).<br />

Ein mit dem BRI Engagement eng, aber nicht ausschließlich, verknüpfter positiver Nebeneffekt<br />

für China ist der Bedeutungsgewinn weltweit. Die öffentliche Zustimmungsrate Chinas in den<br />

Ländern des Globalen Südens hat zwar von 56% im Jahr 2019 auf 40% abgenommen und<br />

liegt ungefähr auf der Höhe der Zustimmungsrate der USA, allerdings ist die Gefolgschaft der<br />

Eliten im Globalen Süden, vor allem in den BRI Ländern deutlich höher. Ein Beleg dafür ist das<br />

Abstimmungsverhalten der Länder des Globalen Südens bei der UN-Vollversammlung zwischen<br />

2000 und 2021. Hier haben Länder mit niedrigem und mittlerem Einkommen in 75% der<br />

Fälle die Position Chinas übernommen, im Vergleich wurde nur zu 23% der Position der USA<br />

gefolgt ( AidData 2023). Wie der Staatsrat (2021) in einem Papier zu Afrika feststellte, folgen<br />

afrikanische Länder der chinesischen Perspektive der Menschenrechte: „China und Afrika haben<br />

beide vorgeschlagen, dass das Recht auf Lebensunterhalt und Entwicklung als die primären und<br />

grundlegenden Menschenrechte angesehen werden, denen die gleiche Bedeutung beigemessen<br />

wird.“ (The State Council Information Office of the People’s Republic of China 2021, o.S.).<br />

3.2 Kritik an der BRI<br />

An der BRI gibt es zahlreiche Kritik, wobei diese wohl am stärksten und intensivsten von einigen<br />

US-amerikanischen Think Tanks und <strong>Politik</strong>er:innen geführt wird, wo die oben angeführten aus<br />

chinesischer Sicht positiven Effekte, teilweise anders bewertet werden – gerade im Wettstreit<br />

um die globale Führungsmacht. Das offizielle <strong>Europa</strong> hatte lange Zeit, vor allem unter Kanzlerin<br />

Merkel, eine eher neutrale Position gegenüber China eingenommen, die kritischen Stimmen, auch<br />

in entsprechende Richtlinien und Strategien gemünzt, haben erst in den letzten Jahren zugenommen.<br />

Die Stimmung gegenüber der BRI in der EU war lange Zeit durchwegs positiv (am positivsten<br />

in den Niederlanden, Garcia-Herrero/Xu 2019a), vor allem unter den Logistikexpert:innen.<br />

Das hängt auch damit zusammen, dass die BRI mehrheitlich als Infrastrukturentwicklungsprojekt<br />

betrachtet wurde, und die BRI über alle österreichischen Branchen für Logistikunternehmen<br />

das größte Potenzial hat, und bei den Industriebetrieben die Bauindustrie am stärksten<br />

profitieren könnte (Breinbauer u.a. 2019).<br />

Im Folgenden soll exemplarisch auf einige Hauptkritikpunkte eingegangen werden.<br />

3.2.1 Keine Win-Win-Situation und selektive Nutzung von internationalen Organisationen<br />

und Normen<br />

Die von offizieller Seite immer wieder eingebrachte Win-Win-Situation sei nicht eingetreten.<br />

Vielmehr werden mit chinesischem Geld chinesische Vorhaben und hier allen voran chinesische<br />

Staatsunternehmen unterstützt. Und tatsächlich profitieren von den Investitionen vor allem,<br />

aber nicht nur chinesische Unternehmen. Ein erhöhtes Handelsdefizit mit China würde zu<br />

einer Substitution inländischer Produkte und einem erhöhten Druck auf Unternehmen in den<br />

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10 Jahre Neue Seidenstraßeninitiative – das unterschätzte Projekt Chinas auf dem Weg zur Nummer eins<br />

Seidenstraßenländern führen (Garcia-Herrero/Xu 2019a; Doku/Akuma 2017: 363). Natürliche<br />

Ressourcen würden ausgebeutet – mit negativen Folgen für die Umwelt – es gäbe einen Ersatz<br />

lokaler Arbeitskräfte und Produzenten und ein verringertes technologisches Wachstum<br />

(Kumah 2023; Links 2021). Chinesische Unternehmen würden nicht nur die Gewinnung von<br />

Bodenschätzen kontrollieren, sondern immer mehr die gesamte Lieferkette (Links 2021). Beispiele<br />

sind die Wafer- und Solarindustrie, wo China bis zu 80 % der globalen Industrie kontrolliert<br />

(UNCTAD 2023: 107). Chinesische Kredite können zu einer starken wirtschaftlichen und politischen<br />

Abhängigkeit von China und einer Art „Schuldenfalle“ führen (Barisitz 2020; Himmer/<br />

Rod 2022). Die internationalen Governance und Freihandelsabkommen werden selektiv genutzt,<br />

wenn es für China von Vorteil ist. WTO bezogene Regeln würden erst dann übernommen,<br />

wenn es sich stark genug dazu fühlt, in der Zwischenzeit sucht China plurilaterale Wege<br />

in den Verhandlungen mit kleineren Ländern, wie der Shanghai Cooperation Organization (SCO),<br />

das Forum on China-Africa Cooperation (FOCAC) oder Freihandelsabkommen mit den ASEAN<br />

(Holslag 2019: 73). Mikko Huatori, der Leiter des renommierten Mercator Institute for Chinese<br />

Studies, spricht von einer globalen geopolitischen Machtentfaltung Chinas bei Anfechtung bestehender<br />

Strukturen nach der Weltwirtschaftskrise 2008/09 und sieht die BRI als wichtiges<br />

Vehikel dieser Intentionen, als eine Art OECD für Entwicklungs- und Schwellenländer, die die<br />

Bifurkation der globalen Governance weitertreiben soll (Huotari 2024, o.S.) Hier der Westen und<br />

verbündeter Länder unter Führung der USA, dort China als Leitstaat für die Entwicklungs- und<br />

Schwellenländer. Die massiven Investitionen in den Aufbau von Infrastruktur (Straßen, Schienen,<br />

Häfen) weltweit haben neben ökonomischen Gründen auch geopolitische und militärische Aspekte.<br />

Wer die See wege und die entsprechenden Knoten, die Häfen, unter Kontrolle hat, beeinflusst<br />

nicht nur Waren und Informationsflüsse, sondern kann auch die militärischen Kapazitäten<br />

ausbauen. Im Fall von China konstatiert Jonathan Holslag kritisch, dass der ökonomischen<br />

Präsenz militärische Präsenz folgte, nicht nur im chinesischen Meer, sondern auch andernorts<br />

(Holslag 2021: 287). Auch wenn die maritime Projektsfähigkeit der USA derzeit nach wie vor<br />

unangefochten ist und z.B. die Straße von Malakka von der US Navy jederzeit blockiert werden<br />

kann (Larcher 2016: 133), baut die chinesische Führung die Peoples Liberations Army (PLA) konsequent<br />

und sehr schnell aus, vor allem auch auf den Meeren. Seit spätestens 2020 hat die PLA<br />

mehr Kriegsschiffe im Dienst als die U.S.A. (Congressional Research Service 2024: 2). Die erste<br />

Marine Basis der Chinesen „abroad“ wurde 2015 in Djibouti am Horn von Afrika (die chinesische<br />

Armee nutzte diese Basis, um gegen Piraten im Golf von Aden vorzugehen) gegründet, weitere<br />

sollen folgen (Gespräche laufen mit Namibia, den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE), Kambodscha,<br />

sowie den Pazifikstaaten Vanuatu und den Salomonen (Kühl 2022)). Allerdings, so der<br />

Chinaforscher Kerry Brown, wäre es eine Anomalie, wenn eine derart bedeutende Weltmacht<br />

wie China hier nicht aktiv würde. Verglichen mit 750 Militärbasen (Kühl 2022) in 120 Ländern der<br />

Welt, ist die chinesische Präsenz noch deutlich geringer (Brown 2017: 2).<br />

Mit dem ersten Fünf-Jahresplan zum Aufbau einer eigenen (chinesischen) Rechtsstaatlichkeit<br />

(2020-2025) wurde der Einfluss der Kommunistischen Partei Chinas (KpCh) auf die Rechtsstaatlichkeit<br />

weiter verstärkt und bisher getrennte Regulative von Staatsrat und KpCH, z.B. zur BRI<br />

zunehmend als Gesetzestexte ausgelegt (Rudolf 2021b: 3). Die chinesische Rechtsstaatlichkeit<br />

<strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024<br />

117


Andreas Breinbauer<br />

bzw. das chinesische Rechtsverständnis (auch das chinesische Verständnis von Menschenrechten)<br />

soll zunehmend auch in den Ländern entlang der Neuen Seidenstraße ausgerollt werden,<br />

was das westliche Rechtsverständnis global weiter schwächen würde.<br />

3.2.2 Schuldenfallenpolitik<br />

Ein wichtiger und konkreter Kritikpunkt ist, dass China mit seinen Krediten die beliehenen Länder<br />

in eine Schuldenfalle dränge, und damit in Abhängigkeit bis zur Besicherung durch Zugriff<br />

auf die kritische Infrastruktur dränge. Diese Schuldenfallenpolitik (Debt Trap Policy=DTP) wurde<br />

erstmals 2017 beschrieben und wird unmittelbar mit der BRI assoziiert und als eines der umstrittensten<br />

außenpolitischen Instrumente diskutiert (Himmer/Rod 2022). Als Beispiele einer<br />

hohen Verschuldung und entsprechender Abhängigkeit werden in <strong>Europa</strong> Montenegro, in Asien<br />

Sri Lanka (wo China sich den Zugriff auf den Hafen zusicherte), Laos und Malaysia und in Afrika<br />

die Malediven, Kenia und Dschibouti (Barisitz 2020) genannt. Nach Angaben von AidData (2023)<br />

hat China zwischen 2000 und 2021 Zuschüsse und Hypothekendarlehen für 20.985 Projekte in<br />

165 Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen im Wert von 1,35 Billionen US-Dollar vergeben.<br />

Es bleibt die weltweit größte offizielle Quelle internationaler Entwicklungsfinanzierung.<br />

Chinas Hilfs- und Kreditzusagen für Länder mit niedrigem und mittlerem Einkommen belaufen<br />

sich derzeit auf rund 80 Milliarden US-Dollar pro Jahr. Aid-Data schätzt, dass 80% des chinesischen<br />

Auslandskreditportfolios in Entwicklungsländern derzeit Länder in finanzieller Not unterstützt.<br />

Auch die überfälligen Rückzahlungen an China nehmen rasant zu – sowohl in absoluten<br />

Zahlen als auch im Verhältnis zu den gesamten überfälligen Kreditrückzahlungen an offizielle<br />

(d. h. bilaterale und multilaterale) Gläubiger (AidData 2023: 5). Peking lagert das Risikomanagement<br />

zunehmend an Kreditinstitute aus – wie die International Finance Corporation, die Europäische<br />

Bank für Wiederaufbau und Entwicklung, Standard Chartered Bank und BNP Paribas<br />

– mit strengeren Sorgfaltsstandards und Schutzrichtlinien. Es reduziert den Einsatz bilateraler<br />

Kreditinstrumente und intensiviert die Bereitstellung von Krediten durch kooperative Kreditvereinbarungen<br />

mit westlichen Geschäftsbanken und multilateralen Institutionen (AidData 2023:<br />

3). Ein Detailblick zeigt, dass einige dieser Vorwürfe überzogen sind: Chinesische Investoren<br />

sind oft erst eingestiegen, als westliche Geldgeber sich zurückgezogen hatten. Der Sri Lankesische<br />

Hafen Hambantota gilt als Paradebeispiel für die chinesische Schuldenfallenpolitik. Wegen<br />

Nichtbegleichung der Kredite an chinesische Geldgeber wurde als Besicherung für eine Mrd.<br />

USD der Hafen für 99 Jahre an die China Merchants Holding übergeben. Die Vorgeschichte wird<br />

meist ausgeblendet. Erst als sich westliche Kreditgeber zurückgezogen hatten, wandte sich die<br />

Regierung von Sri Lanka an Peking, mit dem beschriebenen Ergebnis (Breinbauer 2023a). Der<br />

Hafen Gwadar in Pakistan ist ein weiteres Beispiel. Gwadar markiert das südliche Ende der zentralsten<br />

Investitionsregion im Rahmen der BRI, dem Chinesisch-Pakistanischen Korridor (CPK),<br />

in den bereits 25 Milliarden USD geflossen sind. Bereits in den 1970ern hatte Premier Bhutto<br />

den Wunsch nach Unterstützung zum Bau des Hafens gegenüber Präsident Nixon geäußert. Der<br />

damalige Außenminister Kissinger hat dies abgelehnt und das Projekt als „weißen Elefanten“<br />

bezeichnet. So übernahmen die Chinesen noch vor dem Start der BRI eine Führungsrolle als<br />

Investor, bis jetzt noch mit wenig Erfolg, weil die Bauarbeiten durch Proteste Einheimischer nicht<br />

118 <strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024


10 Jahre Neue Seidenstraßeninitiative – das unterschätzte Projekt Chinas auf dem Weg zur Nummer eins<br />

so fortschreiten wie geplant (Breinbauer 2023a). Insgesamt kann festgestellt werden, dass die<br />

Kritik zur DTP überzogen dargestellt wurde und dass in vielen Fällen keine negative Intention<br />

einer Schuldenfallenpolitik nach dem Motto „Debt for Property“ nachzuweisen ist (Himmer/Rod<br />

2023).<br />

3.2.3 Auswirkungen des Ukraine Krieges auf die BRI – Beispiel „Iron Silk Road“<br />

Die Invasion Russlands in der Ukraine hatte massive Auswirkungen auf die Weltwirtschaft, die<br />

Supply Chains und damit auch auf die BRI, sowohl mittelbar als auch unmittelbar. Dies soll kurz<br />

anhand eines Paradebeispiels illustriert werden, das Logistikmanager:innen in Österreich nach<br />

wie vor am stärksten mit der BRI assoziieren: Der Iron Silk Road, den Güterzugsverbindungen<br />

zwischen China und <strong>Europa</strong>, die im Rahmen der BRI Aktivitäten rasch ausgebaut wurden. 2013<br />

waren es nur 80 Verbindungen jährlich, 2021 bereits 15.183, das entspricht etwa einer exponentiellen<br />

Steigerung. Kurz vor dem Ukraine-Krieg wurden auf diesen Schienenverbindungen Waren<br />

im Wert von 70 Mrd. USD transportiert (China Customs 2021 nach Breinbauer 2022a, b), das entspricht<br />

ungefähr 7 bis 8% des Volumens, das jährlich von China nach <strong>Europa</strong> transportiert wurde,<br />

dabei wurde der allergrößte Teil über die Transsibirische Eisenbahn, der sogenannten Nordroute<br />

abgewickelt. Aufgrund der Sanktionen ist die Nordroute inzwischen unattraktiv und die anderen<br />

Korridore noch zu wenig ausgebaut bzw. zu komplex, so dass die Bedeutung der Iron Silk Road<br />

stark dezimiert wurde. Dies auch vor dem Hintergrund phasenweise stark sinkender Seefrachtpreise,<br />

die in der Hochphase der Covid Pandemie 20 mal höher lagen.<br />

Nach chinesischen Quellen wurden trotz der Sanktionen mehr Transporte getätigt, und zwar<br />

bilateral zwischen China und Russland, zwischen denen sich das Handelsvolumen deutlich<br />

erhöht hat (Breinbauer 2022b).<br />

4. Umgang des offiziellen <strong>Europa</strong>s mit der BRI<br />

Bis heute hat die EU keine konzise Antwort auf die BRI gefunden. Seit 2015 gibt es jährliche<br />

Gespräche von Seiten der EU Kommission (EK), mit Vertreter:innen der chinesischen Nationalen<br />

Entwicklungs- und Reformkommission (NDRC), in denen mögliche Synergien zwischen den<br />

TEN-T Netzwerken und der Belt and Road Initiative diskutiert werden. Es soll auch eine ständige<br />

Arbeitsgruppe geben, die sich um die Konnektivität zwischen China und <strong>Europa</strong> kümmern soll<br />

(European Commission, DG Mobility 2024). Konkrete Ergebnisse darüber sind bis jetzt nicht bekannt,<br />

wohl zeigt sich aber, dass der Ansatz der EU-Kommission durchgreifend ist, die BRI ausschließlich<br />

als Infrastrukturentwicklungsprojekt zu betrachten. Erst 2016 erwähnt die EU-Kommission<br />

die BRI erstmals in einem Strategiepapier „Elemente für eine neue Strategie für China“<br />

(EC 2016) wo sie darauf hinweist, dass Kooperationsprojekte im Rahmen der BRI nur abgewickelt<br />

werden sollten, wenn diese im Rahmen einer offenen Plattform stattfinden, den Marktregeln entsprechen<br />

und einen Benefit für alle Beteiligten liefern (Breinbauer 2019a: 230). Bezeichnend ist<br />

allerdings, dass in diesem Papier die BRI lediglich als Infrastrukturprojekt angesprochen wird<br />

<strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024<br />

119


Andreas Breinbauer<br />

und unter Kapitel III.4 „Connectivity and people-to-peoples links“ der „people-to-people link“ in<br />

einem Absatz unterhalb abgehandelt wird, so als ob gerade dieser Bereich gesondert auszuweisen<br />

wäre. Im März 2019 hat die EU-Kommission (EC 2019) einen strategischen Ausblick auf<br />

die Beziehungen zwischen der EU und China vorgelegt, in dem die mangelnde Gegenseitigkeit<br />

und die Ungleichheit der <strong>Wirtschaft</strong>sbeziehungen deutlicher zum Ausdruck gebracht wird und<br />

China als systemischer Rivale bezeichnet wird (EC 2019: 1). Die EU-Kommission erklärt, dass<br />

für europäische Unternehmen in China der „protektionistische Trend steigt“ (EC 2019: 7) und<br />

China seinen heimischen Markt für seine Champions pflegt und sie durch selektive Marktöffnung,<br />

Lizenzierung und andere Investitionsbeschränkungen vor Wettbewerb schützt (EC 2019:<br />

5). Es verwundert, dass in diesem Papier kein einziges Mal auf die BRI eingegangen wird, obwohl<br />

inhaltlich sehr viele wichtige Elemente adressiert wurden (Breinbauer 2019b: 8). Dafür wird versucht,<br />

chinesische ökonomische Aktivitäten sektoral zu kontrollieren, entweder über Anti-Dumping<br />

Verfahren gegen chinesische Unternehmen in <strong>Europa</strong> (EC 2018), von denen im Jahr 2019<br />

51% der Fälle China betroffen hatten (Garcia-Herrero et. al. 2020) oder mit einem Screening der<br />

ausländischen Direktinvestitionen, das sich auch an chinesische Investitionen in <strong>Europa</strong> wendet<br />

(EC 2017; EC 2019; EC 2023). Die erste Maßnahme gegen verdeckte Subventionen im Rahmen<br />

des ökonomischen Engagements chinesischer Staatsunternehmen im Rahmen der BRI unternahm<br />

die EU-Kommission erst im November 2018, konkreter Anlass war die Übernahme des<br />

Reifenherstellers Pirelli durch die chinesische ChemChina im Jahr 2015 (Breinbauer 2019a: 229).<br />

Darüber hinaus hat die EU im Jahr 2022 neue Regeln zum Schutz der wesentlichen Infrastruktur<br />

der EU verabschiedet, wonach die Mitgliedstaaten nationale Resilienzstrategien verabschieden<br />

und die grenzüberschreitende Kommunikation über benannte Kontaktstellen erfolgen soll<br />

(Ghiretti u.a. 2023: 10).<br />

Im Jahr 2021 wurde von der Europäischen Kommission die Initiative „Global Gateway“ verabschiedet,<br />

in der angekündigt wird, dass die EU helfen möchte, den bis 2040 geschätzten weltweiten<br />

Infrastrukturinvestitionsbetrag von 13 Bio. EUR mit Investitionen zu lindern (EK 2021: 1;<br />

EK 2024) und damit eine Alternative zur BRI darzustellen. Wörtlich heißt es: „Mithilfe von Global<br />

Gateway sollen unter Nutzung aller Finanzierungs- und Entwicklungsinstrumente, die der EU zur<br />

Verfügung stehen, und dank des starken Engagements der EU-Mitgliedstaaten zwischen 2021<br />

und 2027 Investitionen in Höhe von bis zu 300 Mrd. EUR mobilisiert werden“ (EK 2021: 3). Der<br />

alternative europäische Ansatz, der direkt die BRI adressiert, soll den Schlüsselprinzipien: verantwortungsvolle<br />

Verwaltung und Transparenz, gleichberechtigte Partnerschaften, grüne und<br />

saubere Entwicklungen, Mobilisierung von Investitionen des Privatsektors folgen und einen<br />

Schwerpunkt auf Sicherheit legen (EK 2021: 4f). Thematisch geht es nicht nur um Verkehr, sondern<br />

auch um Digitales, Klima und Energie, Gesundheit und Bildung, also Bereiche, die bereits<br />

von der BRI abgedeckt sind (siehe Kap. 2). Die EU-Kommission hat auch eine eigene Website<br />

erstellt, auf der aktuelle Projekte vorgestellt werden (EK 2024) und ebenso das Thema Wettbewerbsfähigkeit<br />

und stabile Lieferketten adressiert wird. 2023 wurden weltweit 90 Global-Gateway-Großprojekte<br />

in den Bereichen Digitales, Energie und Verkehr gestartet, um Gesundheit,<br />

Bildung und Forschung weltweit aufzuwerten. Die Global Gateway Initiativen konzentrieren sich<br />

zunächst auf Afrika, wofür bereits 150 Mrd. EUR reserviert wurden.<br />

120 <strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024


10 Jahre Neue Seidenstraßeninitiative – das unterschätzte Projekt Chinas auf dem Weg zur Nummer eins<br />

Insgesamt kann festgestellt werden, dass <strong>Europa</strong> langsam in die Gänge kommt, Alternativen zur<br />

BRI konkret anzubieten. Ob diese Projekte aus europäischer Sicht ähnliche Erfolge erzielen wie<br />

die chinesischen, wird sich zeigen. Eine Beschleunigung bei der Umsetzung erscheint in jedem<br />

Fall geboten, da die EU und europäische Länder sehr spät auf die BRI reagiert haben.<br />

5. Conclusion und Ausblick<br />

Da die BRI eng mit Präsident Xi Jinping verknüpft ist – manche sprechen davon, die BRI sei Xi`s<br />

Lieblingsstrategie –, ist Scheitern ohne Gesichtsverlust sehr unwahrscheinlich. Im Gegenteil,<br />

nach offiziellen chinesischen Quellen ist die Bilanz nach mehr als 10 Jahren BRI äußerst positiv.<br />

Auch bei objektiver Betrachtung muss festgestellt werden, dass das chinesische ökonomische<br />

Engagement gerade im Globalen Süden und hier vor allem in Afrika und Asien eine deutliche Verbesserung<br />

der Infrastrukturentwicklung gebracht hat, die Handel und <strong>Wirtschaft</strong>en erleichtert.<br />

Die allermeisten „Wins“ liegen aber auf der chinesischen Seite: China hat das Handelsvolumen<br />

in vielen Fällen zu seinen Gunsten gesteigert und zahlreiche nationale Players auch mit Hilfe der<br />

BRI zu Globalen Playern gemacht, die ganze Segmente dominieren, auch in wichtigen Zukunftsfeldern.<br />

Der größte „Win“ dürfte der globale politische und ökomische Bedeutungsgewinn sein,<br />

wozu die unterschiedlichsten Kooperationen in all den BRI-Themen beigetragen haben. Die BRI<br />

hat – in enger Vernetzung zu den anderen Strategien – dazu beigetragen, Chinas Anspruch,<br />

auch wenn nicht direkt formuliert, bis zum 100. Jahrestag der Staatsgründung (2049) zur globalen<br />

Führungsmacht Nummer eins zu werden, deutlich nähergebracht.<br />

Allerdings ist auch den chinesischen Entscheidungsträger:innen klar, dass eine Modifikation<br />

notwendig ist. Es zeichnet sich ab, dass zukünftige Engagements in sechs Projekttypen erfolgen<br />

werden: Neue Technologien und die notwendigen Ressourcen, erneuerbare Energien, Infrastruktur<br />

(hier Pipelines und Straßen), IKT (z.B. Rechenzentren), Ressourcen (Bergbau, Öl, Gas)<br />

und strategische Projekte wie Eisenbahnausbau. Sehr wahrscheinlich ist die Konzentration auf<br />

<strong>Wirtschaft</strong> und Nachhaltigkeit und Kooperationen in Bildung, Wissenschaft und Kultur. Die Projekte<br />

sollen kleiner und überschaubarer, besser koordiniert und kommuniziert werden. Außerdem<br />

sollte der „Win“ für die Partner in den BRI-Projekten stärker akzentuiert werden, denn man<br />

möchte, mehr als bisher, „die Herzen der Menschen“ gewinnen.<br />

War <strong>Europa</strong> lange Zeit eine Fokusregion der BRI, hat die Nicht-Distanzierung Chinas von der<br />

russischen Invasion zu einem starken politischen Bedeutungsverlust Chinas allgemein und<br />

der BRI in <strong>Europa</strong> geführt. Das zeigt sich etwa im drastischen Rückbau der Iron Silk Road, der<br />

Bahnverbindungen zwischen China und <strong>Europa</strong>, dem Austritt der baltischen Republiken aus dem<br />

wichtigsten Austauschformat Chinas mit Mittel- und Osteuropa und nicht zuletzt im Austritt<br />

Italiens aus der Seidenstraßenkooperation. Die Entwicklung der BRI zeigt auch, dass europäische<br />

Staats- und <strong>Wirtschaft</strong>slenker:innen chinesische Pläne zu wenig ernst nehmen und sich<br />

zu wenig mit deren Breite und Tiefe beschäftigen. Dies ist ein wesentlicher Faktor für den relativen<br />

Bedeutungsverlust <strong>Europa</strong>s im globalen Kontext zu China. Trotz der steigenden China<br />

Skepsis in <strong>Europa</strong>, sichtbar in entsprechenden Regulativen und Richtlinien der EU, steigt das<br />

<strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024<br />

121


Andreas Breinbauer<br />

Handelsvolumen <strong>Europa</strong>s mit China, wofür die unerreicht hohen Importe aus China nach <strong>Europa</strong><br />

verantwortlich sind.<br />

Denn bei aller Kritik, die man am chinesischen Vorgehen üben kann: Die langfristige strategische<br />

Ausrichtung an Visionen und Zielen, das Herunterbrechen auf Teilstrategien, das hartnäckige<br />

Verfolgen und die flexible Anpassung der Vorgehensweise, ist etwas, das <strong>Europa</strong> vom offiziellen<br />

China lernen kann.<br />

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(2024-01-11).<br />

<strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024<br />

129


Reinhold Schodl / Sandra Eitler<br />

Innovationspotenzial des Straßengüterverkehrs<br />

1 Einleitung<br />

Der Straßengüterverkehr spielt eine entscheidende Rolle bei der Versorgung mit Gütern und<br />

ist somit unverzichtbare Grundlage für Produktion und Konsum. So betrug das Transportaufkommen<br />

auf der Straße in Österreich 591 Millionen Tonnen im Jahr 2022, was einem Anteil<br />

von 84 Prozent am Transportaufkommen der konkurrierenden Verkehrsträger Straße, Schiene<br />

und Binnenschifffahrt entspricht (Statistik Austria 2023). Neben der Versorgungsfunktion ist<br />

die unmittelbare Wertschöpfung durch Transportdienstleistungen ein gewichtiger <strong>Wirtschaft</strong>sfaktor.<br />

Eine Bruttowertschöpfung von rund 3,4 Milliarden Euro wird durch die über 7000 Unternehmen<br />

zur Güterbeförderung im Straßenverkehr in Österreich im Jahr 2021 erzielt (Statistik<br />

Austria 2023). Folgt man der These, dass eine hohe volkswirtschaftliche Relevanz förderlich für<br />

Innovationsbestrebungen ist, lässt der bedeutsame volkswirtschaftliche Beitrag des Straßengüterverkehrs<br />

den Schluss zu, dass Innovationen in diesem Bereich eine wichtige Rolle spielen.<br />

Es bestehen jedoch Einschätzungen objektiver (z. B. Statistik Austria 2022) und subjektiver<br />

(z. B. Stadler 2019) Art, die dem Straßengüterverkehr kein ausgeprägtes Innovationspotenzial<br />

zusprechen. Dem kann entgegengehalten werden, dass die Breite und Tiefe von Innovationen<br />

vornehmlich in Branchen mit wissensintensiven Dienstleistungen erkannt wird, während in traditionelleren<br />

Branchen, wie dem Straßengüterverkehr, die Sichtbarkeit weniger stark ausgeprägt<br />

und oftmals auf technologische Innovationen beschränkt ist (Riillo 2012). Auch der österreichische<br />

Masterplan für den Güterverkehr setzt bezüglich Verkehrsträger Straße mit dem Thema<br />

alternative Antriebe zur Erzielung von Dekarbonisierung einen technologischen Innovationsschwerpunkt<br />

(BMK 2023). Neben alternativen Antrieben stehen für den Verkehrsträger Straße<br />

vernetzte und automatisierte Fahrzeuge im besonderen Fokus von Forschung und Entwicklung<br />

(European Commission 2019). Zudem sind zahlreiche Innovationen, die primär im Bereich Logistik<br />

verankert sind, mit dem Gütertransport thematisch eng verbunden (Modica et al. 2021). Dabei<br />

handelt es sich nicht nur um technologische Innovationen, sondern auch um neuartige Services<br />

beziehungsweise Geschäftsmodelle.<br />

Die vorliegende Arbeit zielt auf eine thematisch möglichst breite Betrachtung von Innovationen<br />

ab. Im Rahmen der Arbeit werden Praxisbeispiele für Innovationen im Straßengüterverkehr<br />

im Bundesland Niederösterreich identifiziert und analysiert, um zu einem Verständnis<br />

über das Innovationspotenzial des Straßengüterverkehrs in der betrachteten Region beizutragen.<br />

Unter Innovation wird dabei „die zielgerichtete Durchsetzung von neuen technischen,<br />

wirtschaftlichen, organisatorischen und sozialen Problemlösungen verstanden, die darauf gerichtet<br />

sind, die Unternehmensziele auf eine neuartige Weise zu erreichen.“ (Vahs et al. 2023)<br />

<strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024<br />

131


Reinhold Schodl / Sandra Eitler<br />

Es we rden kontrollierte Neuerungen mit einer überwiegend positiven Veränderung erhoben,<br />

welche die Güterbeförderung auf der Straße mit Fahrzeugen über 3,5 Tonnen höchstzulässiges<br />

Gesamt gewicht durch Unternehmen im Bundesland Niederösterreich betreffen. Dabei wird ein<br />

explorativer Ansatz verfolgt, das heißt, Untersuchungsobjekte sind nicht speziell ausgewählte<br />

Innovatoren, sondern möglichst Unternehmen, die einen Querschnitt des Straßengüterverkehrs<br />

abbilden. Damit soll die anwendungsbezogene Forschungsarbeit zu einer Schaffung von Transparenz<br />

über Innovationsbestrebungen aus der Perspektive der Unternehmenspraxis beitragen.<br />

Im folgenden Kapitel wird die methodische Vorgehensweise skizziert und im darauffolgenden<br />

Kapitel werden Ergebnisse vorgestellt. Das abschließende Kapitel reflektiert die Erkenntnisse,<br />

indem Handlungsmöglichkeiten diskutiert werden.<br />

2 Methodische Vorgehensweise<br />

Zur Erhebung von Innovationen wurden Interviews mit Personen aus 12 Unternehmen durchgeführt,<br />

wobei danach getrachtet wurde, der Vielfalt des Straßengüterverkehrs in Niederösterreich<br />

gerecht zu werden. Die Unternehmen führen sowohl gewerblichen Verkehr als auch<br />

Werkverkehr durch und umfassen sowohl Klein- und Mittelbetriebe als auch Großunternehmen.<br />

Die Interviews bestehen aus offenen Fragen und orientieren sich an folgenden fundamentalen<br />

Innovations arten (Disselkamp 2012): Produktinnovation (neue oder verbesserte Produkte bzw.<br />

Dienstleistungen), Prozessinnovation (neue oder verbesserte Leistungserstellungsprozesse),<br />

marktmäßige Innovation (Neuerungen zur Erschließung von Absatz- bzw. Beschaffungsmärkten),<br />

strukturelle Innovation (Erneuerung der Unternehmensstruktur) und kulturelle Innovation<br />

(Neuerungen mit sozialen Implikationen). Zur Unterstützung der Interviewführung wurde ein<br />

strukturierter Leitfaden mit einer Sammlung möglicher Innovationen in den als relevant definierten<br />

Bereichen Mensch, Technologie, Prozess und Geschäftsmodell erstellt.<br />

Abbildung 1: Strukturierung der Innovationen<br />

Veränderung<br />

Inkrementell radikal disruptiv<br />

Wirkung<br />

<strong>Wirtschaft</strong><br />

Geschäftsmodell<br />

Mensch<br />

Technologie<br />

Prozess<br />

Umwelt<br />

Gesellschaft<br />

Die durch die Interviews erhobenen Innovationen wurden anschließend konsolidiert und einer<br />

Strukturierung unterzogen. Dabei steht eine Komplexitätsreduktion durch die Anwendung<br />

einer begrenzten Anzahl allgemein gängiger Konstrukte im Vordergrund. Die Dimensionen<br />

132 <strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024


Innovationspotenzial des Straßengüter verkehrs<br />

für die Strukturierung sind aus Abbildung 1 ersichtlich. Erstens wird nach grundlegenden betriebswirtschaftlichen<br />

Veränderungsbereichen, nämlich Mensch, Technologie, Prozess und Geschäftsmodell,<br />

differenziert. Zweitens wird der Innovationsgrad betrachtet, wobei drei allgemein<br />

übliche Grade unterschieden werden. Eine inkrementelle Innovation bedingt stetige, kleine Veränderungen,<br />

während eine radikale Innovation weitreichende Veränderungen initiiert. Bei einer<br />

disruptiven Innovation wird Bestehendes durch vollkommen Neues ersetzt. Die Erhebung widmet<br />

sich bewusst auch inkrementellen Innovationen, da diesbezüglich eine besondere Vielfalt in<br />

der Praxis vermutet wird. Und drittens wird nach den drei Wirkdimensionen <strong>Wirtschaft</strong>, Umwelt<br />

und Gesellschaft unterschieden.<br />

3 Ergebnisse<br />

Das konsolidierte Ergebnis der Interviews ist in Tabelle 1 überblicksartig dargestellt. Teilweise<br />

ergibt sich der Charakter einer Innovation aus dem Kontext des Straßengüterverkehrs, wo eine<br />

bestimmte Lösung nicht branchenüblich ist, beziehungsweise aus der Kombination von Lösungen,<br />

die isoliert betrachtet keine Innovation darstellen würden.<br />

Tabelle 1: Identifizierte Innovationen<br />

1 – Paarigkeit von Transporten: Leerfahrten bei der Hin- oder Rückfahrt sollen vermieden werden.<br />

(1.1) Koppelung von Verkehren zur Ver- und Entsorgung durch unternehmensübergreifende<br />

Optimierung, (1.2) Organisation eines gemeinsamen Begegnungsverkehrs durch Unternehmen auf<br />

zwei Stufen einer Lieferkette<br />

2 – Vertikale Integration: Zur Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit werden Leistungen auf vorgelagerten<br />

bzw. nachgelagerten Stufen nunmehr durch ein Unternehmen selbst erstellt. (2.1) strategische<br />

Nutzung der verbindenden Funktion von Transportdienstleistungen zur Übernahme von Rohstoffgewinnung,<br />

Produktion und Recycling<br />

3 – Verkehrssicherheit: Die spezifischen Gefahren, die von Lastkraftwagen ausgehen, sollen verringert<br />

werden. (3.1) Sicherheitsschulungen für Kinder (3.2) Anreizsystem für achtsames LKW-Fahren<br />

4 – Humanisierung der Arbeitswelt: Branchenübliche Standards für die Arbeitsbedingungen des<br />

Fahrpersonals werden durch vielfältige Maßnahmen überboten. (4.1) Attraktivierung durch besondere<br />

Arbeitsmittel, (4.2) Aktionen zur Vermittlung von Wertschätzung, (4.3) Job Enrichment, (4.4) flexible<br />

Arbeitszeitmodelle<br />

5 – Alternative Antriebe: Umweltfreundliche Antriebe werden zur Unterstützung der Klimaziele eingesetzt.<br />

(5.1) Erdgas-betriebener LKW im Echtbetrieb, (5.2) Umstellung der Kleinfahrzeugflotte auf Elektroantrieb<br />

6 – Chancengleichheit: Die Diversität von Mitarbeitenden in Bezug auf Geschlecht, Alter und Herkunft<br />

wird gefördert. (6.1) Role-Model für LKW-Fahrerinnen, (6.2) altersgerechte Tourenplanung, (6.3.) innerbetriebliche<br />

Sprachförderung<br />

7 – Fachkräfteförderung: Dem Mangel an qualifizierten Arbeitskräften wird mit unternehmensgetriebenen<br />

Lösungsansätzen begegnet. (7.1) Modell zur Finanzierung der Ausbildungskosten, (7.2)<br />

Informationsaktivitäten für Schulen, (7.3) digitalisierte interne Weiterbildung, (7.4) Unterkünfte für das<br />

Fahrpersonal<br />

<strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024<br />

133


Reinhold Schodl / Sandra Eitler<br />

8 – Leistungsfähige Ladetechnik: Die Leistungsfähigkeit von Ladetechnik bei LKW-Transporten wird<br />

verbessert. (8.1) Ladungssicherung mittels Strukturkammerplatten, (8.2) Kooperation zwischen<br />

Transportunternehmen und Aufbauproduzent zur Optimierung der Laderaumgestaltung, (8.3) Spezialanhänger<br />

mit Durchladefunktion, (8.4) Maßnahmen zur Verhinderung von Kälteverlust bei der Be- und<br />

Entladung von Kühlfahrzeugen<br />

9 – Wertkettenmanagement: Die verbindende Funktion der Dienstleistung Transport wird für Verbesserungen<br />

in der Lieferkette genutzt. (9.1) Unternehmensübergreifendes Pfandsystem für einheitliche Rollbehälter,<br />

(9.2) Zusammenführung von Informationen der Hersteller- und Handelsseite zur Optimierung<br />

von Transportprozessen, (9.3) über die Transportleistung hinausgehende, gemeinsame Planung von<br />

Bestell- und Lieferhäufigkeiten sowie Aktionen<br />

10 – Transparenz durch IKT: Informations- und Kommunikationstechnologie (IKT) wird zur Steigerung<br />

der Transparenz der Leistungserstellung eingesetzt, um die Effizienz und Effektivität der Prozesse<br />

zu stärken. (10.1) Weitgehend vollständige elektronische Erfassung der Transportprozesse unter<br />

Einbezug vor- und nachgelagerter Prozesse, (10.2) IKT-gestützte Steuerung des Fahrbetriebs, (10.3)<br />

automatisierter elektronischer Datenaustausch mit verladenden Unternehmen<br />

11 – Treibstoffreduktion: Eine Reduzierung des Treibstoffverbrauchs wird durch technische und<br />

organisatorische Maßnahmen erzielt. (11.1) Fahrzeugtechnische Neuerungen zur Senkung des Treibstoffverbrauchs,<br />

(11.2) Prämierung von umweltfreundlicher Fahrweise<br />

12 – Kompetente Kommunikation: Der Stellenwert des Fahrpersonals als direkte Schnittstelle zu<br />

Personen außerhalb des Unternehmens wird aufgewertet. (12.1) Fokus auf Kommunikationskompetenzen<br />

des Fahrpersonals bei der Personalauswahl und -entwicklung<br />

13 – Erweiterung der Geschäftsfelder: Transportunternehmen erschließen neuartige Geschäftsfelder,<br />

um deren langfristige Wettbewerbsfähigkeit sicherzustellen. (13.1) Übernahme von etablierten<br />

Werkverkehren durch Transportunternehmen, (13.2) Erweiterung von Transportleistungen zu Verbundleistungen,<br />

(13.3) Nutzung der Erfahrung aus Geschäftstätigkeit des Transportunternehmens für neue<br />

Dienstleistungen im Bereich der Datenverarbeitung<br />

14 – Elektronische Frachtenbörsen: Elektronische Frachtenbörsen vermitteln Angebot und Nachfrage<br />

auf einem virtuellen Marktplatz für Transportdienstleistungen. (14.1) Nutzung elektronischer Frachtbörsen<br />

zur Vermeidung von Leerfahrten, (14.2) Nutzung elektronischer Frachtbörsen für den Ausgleich<br />

von Kapazitätsengpässen<br />

15 – Pooling von Fahrzeugen: Durch das Schaffen eines universellen Fahrzeugpools können die<br />

erforderliche Anzahl an Fahrzeugen und die zurückgelegten Wegstrecken verringert werden. (15.1)<br />

Ersetzen unflexibler Fahrzeugallokationen durch zentral optimierte Tourenverkehre, (15.2) Ausstattung<br />

von Fahrzeugen für einen universellen Einsatz<br />

Um anhand der identifizierten Einzelfälle generalisierbare Aussagen ableiten zu können, werden<br />

die Innovationen einer Strukturierung unterzogen. Es wird eine Zuordnung der 15 erhobenen<br />

Innovationen vorgenommen, die sich einerseits auf den Bereich und die Stärke der Veränderung<br />

und andererseits auf die Wirkung der Innovation bezieht. Abbildung 2 zeigt das Ergebnis der<br />

Zuordnung zu den Veränderungsbereichen Mensch, Technologie, Prozess und Geschäftsmodell<br />

sowie zu den Innovationsgraden inkrementell, radikal und disruptiv. Die identifizierten Innovationen<br />

des niederösterreichischen Straßengüterverkehrs sind in allen der vier genannten Bereiche<br />

anzutreffen. Es wurden sowohl radikale als auch inkrementelle Innovationen identifiziert. Disruptive<br />

Innovationen konnten jedoch im Rahmen der Interviews nicht festgestellt werden.<br />

134 <strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024


Innovationspotenzial des Straßengüter verkehrs<br />

Abbildung 2: Bereich und die Stärke der Veränderung<br />

Prozess<br />

Technologie<br />

15<br />

5<br />

9<br />

1<br />

8<br />

11<br />

inkrementell<br />

Geschäftsmodell<br />

10<br />

disruptiv<br />

radikal<br />

14<br />

12<br />

3<br />

4<br />

6<br />

7<br />

13<br />

2<br />

Mensch<br />

Abbildung 3 illustriert, in welchen Dimensionen positive Wirkungen erzielt werden. Die Dimensionen<br />

umfassen <strong>Wirtschaft</strong>, Umwelt und Gesellschaft, wobei etliche Innovationen mehr als<br />

einer Dimension zugeordnet werden. Beinahe alle erhobenen Innovationen des niederösterreichischen<br />

Straßengüterverkehrs entfalten ihre Wirkung in der Dimension <strong>Wirtschaft</strong>. Viele der<br />

identifizierten Innovationen verzeichnen zusätzlich zur ökonomischen Wirkung eine ökologische<br />

oder gesellschaftliche Wirkung.<br />

3<br />

Abbildung 3: Wirkung der Innovation<br />

Gesellschaft<br />

3<br />

4<br />

6<br />

7<br />

2<br />

5<br />

1<br />

9<br />

8<br />

11 14<br />

15<br />

10<br />

12<br />

13<br />

Umwelt<br />

<strong>Wirtschaft</strong><br />

Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass Innovationen des niederösterreichischen<br />

Straßengüterverkehrs in den unterschiedlichsten Bereichen anzutreffen sind. Eine bloße<br />

Reduktion auf technische Neuerungen, wie beispielsweise alternative Antriebe, würde der Vielfalt<br />

an Innovationen nicht gerecht werden. Auch eine Fokussierung auf disruptive Innovationen,<br />

wie zum Beispiel autonome Fahrzeuge, würde das Innovationspotenzial verkennen. Wenngleich<br />

inkrementelle Innovationen zumeist nicht im Fokus der öffentlichen Wahrnehmung stehen, so<br />

2<br />

<strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024<br />

135


Reinhold Schodl / Sandra Eitler<br />

spielen im niederösterreichischen Straßengüterverkehr Innovationen mit moderatem Erneuerungsgrad<br />

eine wichtige Rolle. Erwartungsgemäß zielen die Innovationsbestrebungen der Unternehmen<br />

auf positive wirtschaftliche Wirkungen ab. Die Ergebnisse lassen jedoch den Schluss<br />

zu, dass eine positive ökonomische Wirkung in vielen Fällen mit einer positiven ökologischen<br />

oder gesellschaftlichen Wirkung einhergeht.<br />

Als Limitierung der Arbeit muss festgehalten werden, dass die Stichprobe nicht für den gesamten<br />

Straßengüterverkehr mit seinen mannigfaltigen Ausprägungen repräsentativ ist. Zudem kann<br />

davon ausgegangen werden, dass das Innovationsfeld einer starken Dynamik unterworfen ist.<br />

4 Diskussion<br />

Die Erhebung verdeutlicht, dass der niederösterreichische Straßengüterverkehr über ein bedeutsames<br />

Innovationspotenzial verfügt. Es liegt nahe, dass die Ergebnisse auf andere Regionen<br />

und Länder übertragbar sein können. Innovationen bilden naturgemäß die Basis für den Erfolg<br />

einzelner Unternehmen. Im Folgenden wird diskutiert, wie die positiven Effekte darüber hinaus<br />

Wirkung entfalten können.<br />

Der ausgeprägte Fachkräftemangel stellt eine essenzielle Herausforderung in der Transportbranche<br />

und damit auch für Unternehmen des Straßengüterverkehrs dar (Dornmayr/Riepl 2021).<br />

„Aus Sicht des angebotsseitigen Fachkräftemangels würde es sich für Unternehmen anbieten,<br />

aktiv mit ihren innovativen und innovationstreibenden Konzepten für ihre Logistikpositionen<br />

zu werben.“ (Hempfing/Schwemmer 2019). Das resultierende Image wäre nicht nur identitätsstiftend<br />

für die in diesem Bereich Beschäftigten, sondern auch ein wichtiger Aspekt für potenzielle<br />

neue Arbeitskräfte. Die geführten Gespräche lassen jedoch vermuten, dass das öffentliche<br />

Bild die Innovationsleistungen der Branche nicht immer hinreichend abbildet. Die Ergebnisse der<br />

Arbeit legen nahe, dass zwei Aspekte für die Kommunikation besonders wichtig sind. Erstens<br />

sollen Innovationen nicht nur als technische Neuerungen verstanden werden. Innovationen umfassen<br />

vielmehr ein breites Spektrum, von neuartigen Geschäftsmodellen, über Prozessinnovationen<br />

bis hin zu sozialen Innovationen. Zweitens sollen nicht nur disruptive beziehungsweise<br />

radikale Innovationen bedacht werden, welche für viele Unternehmen in der Praxis nicht umsetzbar<br />

sind, sondern auch inkrementelle Innovationen.<br />

Eine nachhaltige Lösung des Fachkräftemangels kann sich nicht auf die bloße Optimierung der<br />

Kommunikation beschränken, sondern soll auch jene Innovationen in den Mittelpunkt stellen,<br />

welche sich an den Bedürfnissen der Mitarbeitenden orientieren und einen Beitrag zur Verbesserung<br />

der Arbeitsbedingungen liefern. Die Erhebung zeigt Beispiele für derartige Bemühungen.<br />

Insgesamt erscheint es schlüssig, dass Innovationsbestrebungen des Straßengüterverkehrs<br />

eine hohe Relevanz für die Entspannung des Fachkräftemangels aufweisen.<br />

136 <strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024


Innovationspotenzial des Straßengüter verkehrs<br />

Die vorliegende Arbeit wurde dankenswerterweise durch die <strong>Wirtschaft</strong>skammer Niederösterreich<br />

unterstützt.<br />

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Statistik Austria (2023): Verkehrsstatistik 2022: Wien: Statistik Austria.<br />

Vahs, D. / Brem, A. / Oswald, C. (2023): Innovationsmanagement: Von der Idee zur erfolgreichen<br />

Vermarktung. Stuttgart: Schäffer-Poeschel.<br />

<strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024<br />

137


Christopher Kronenberg / Franziska Nemmer<br />

Die Kreislaufgesellschaft als notwendige<br />

Erweiterung der Kreislaufwirtschaft<br />

1 Einleitung<br />

Angesichts extremer Wetterbedingungen, die durch den Klimawandel hervorgerufen werden,<br />

einer zunehmenden Ressourcenverknappung, dem Verlust der biologischen Vielfalt, aber auch<br />

durch Unsicherheiten in internationalen Lieferketten, wird der Ruf nach einem alternativen <strong>Wirtschaft</strong>smodell<br />

von politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Akteuren immer lauter<br />

(Geissdoerfer et al. 2017). Unternehmen aller Branchen haben damit begonnen, Möglichkeiten<br />

zur Minimierung ihres Ressourceneinsatzes, zur Wiederverwendung von Produkten und Komponenten<br />

nach der Produktnutzung und/oder zur Verlängerung des Lebenszyklus von Produkten<br />

zu erkunden. Infolgedessen haben Unternehmen begonnen, ihre Geschäftsmodelle zu erneuern,<br />

um nachhaltigere und ressourcenschonendere Ansätze für ihre Geschäftstätigkeit zu implementieren<br />

(Ellen MacArthur 2013).<br />

In diesem Kontext stellt die Kreislaufwirtschaft eine vielversprechende Alternative zum derzeitigen<br />

<strong>Wirtschaft</strong>smodell dar, das auf einem „Take-make-waste“-Ansatz beruht. Die Vorteile<br />

einer Kreislaufwirtschaft liegen dabei nicht nur in der Ressourcen- und somit Umweltschonung,<br />

sondern es wird ihr auch ein enormes <strong>Wirtschaft</strong>spotenzial zugeschrieben (Lacy 2014). Studien<br />

legen nahe, dass das Geschäftspotenzial der Kreislaufwirtschaft mehrere Billionen US-<br />

Dollar beträgt. Unter diesem Gesichtspunkt wäre der Übergang zu einem Kreislaufwirtschaftsmodell<br />

nicht nur aus nachhaltiger, sondern auch und vor allem aus wirtschaftlicher Sicht sinnvoll<br />

( Salvador et al. 2021; Accenture Strategy 2015). Auch die Europäische Union setzt mit ihrer langfristigen<br />

Strategie „The European Green Deal“ (EU 2021) auf die Auswirkungen der Kreislaufwirtschaft,<br />

um bis 2050 Klimaneutralität zu erreichen.<br />

In einer Kreislaufwirtschaft setzen Unternehmen in erster Linie ebenso auf Wertschöpfung,<br />

Innovation und folglich auf die Sicherstellung eines nachhaltigen Wettbewerbsvorteils. Somit<br />

unterscheidet sich eine Kreislaufwirtschaft in ihrer Grundlogik, abgesehen vom Umgang mit<br />

Ressourcen und Energie, nicht drastisch vom derzeitigen <strong>Wirtschaft</strong>smodell. Aus diesem Grund<br />

wird das Konzept der Kreislaufwirtschaft oft als nicht umfangreich genug angesehen (Friant et<br />

al. 2020; Jaeger-Erben et al. 2021; Moreau et al. 2017). Vielmehr wäre ein ganzheitlicher Ansatz<br />

erforderlich, der alle Stakeholder und Akteure einer Gesellschaft einbezieht.<br />

In diesem Beitrag argumentieren wir daher, dass der Transformationsprozess hin zu einer Kreislaufwirtschaft<br />

nur dann vollständig verstanden und somit erfolgreich werden kann, wenn die<br />

Perspektive neben den wirtschaftlichen Interessen um soziale, institutionelle und politische<br />

<strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024<br />

139


Christopher Kronenberg / Franziska Nemmer<br />

Aspekte erweitert wird. Darüber hinaus könnte dieser Transformationsprozess zum Scheitern<br />

verurteilt sein, wenn er sich ausschließlich auf Geschäftsmodelle und (Geschäftsmodell-)Innovation<br />

konzentriert, ohne die Notwendigkeit einer Neugestaltung sozialer Praktiken, kultureller<br />

Muster und unterstützender Institutionen anzuerkennen (Social Design Lab 2021; Jaeger-Erben<br />

et al. 2021).<br />

2 Kreislaufgesellschaft<br />

Der Begriff Kreislaufgesellschaft geht über eine rein wirtschaftliche Betrachtung der notwendigen<br />

Transformation hinaus. Der Ansatz der Kreislaufgesellschaft basiert somit auf der Annahme,<br />

dass eine intakte Natur die notwendigen Bedingungen für die Entfaltung von Gesellschaften<br />

ist und dass neue soziale Strukturen, eingebettet auch in Institutionen, dem politischen<br />

System sowie auch in individuellen Einstellungen, Werten und Normen, notwendig sind, um zukünftig<br />

eine nachhaltige Ökonomie aufzubauen (GfN 2014). Das Konzept der Kreislaufgesellschaft<br />

stellt somit einen Paradigmenwechsel in der Art und Weise dar, wie Gesellschaften – im<br />

Sinne von Individuen, Institutionen, Unternehmen – an das Ressourcenmanagement herangehen,<br />

und betont die Notwendigkeit eines regenerativen und nachhaltigen Ansatzes für Konsum<br />

und Produktion.<br />

Gleichzeitig betont dieses Konzept somit auch die Notwendigkeit der Integration aller relevanten<br />

Akteure in den Transformationsprozess, quasi aus einer holistischen Perspektive, um diesen<br />

erfolgreich gestalten zu können. Die drei Systeme zur Beschreibung der Hauptakteure auf dem<br />

Weg zu einer Kreislaufgesellschaft werden im Folgenden graphisch dargestellt:<br />

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Abbildung 1: Die drei Systeme der Kreislaufgesellschaft<br />

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Quelle: Eigene Darstellung<br />

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140 <strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024


Die Kreislaufgesellschaft als notwendige Erweiterung der Kreislaufwirtschaft<br />

Die drei Systeme werden zudem nochmals im Detail beschrieben:<br />

• Unternehmen in einer Kreislaufgesellschaft: Unternehmen spielen eine zentrale Rolle<br />

bei der Umgestaltung traditioneller Geschäftsmodelle, um sie mit den Grundsätzen<br />

der Kreislaufwirtschaft in Einklang zu bringen. Langlebigkeit, Reparierbarkeit und<br />

Wiederverwertbarkeit von Produkten stehen hier im Vordergrund. Auch die Zusammenarbeit<br />

zwischen Unternehmen innerhalb der Lieferketten ist entscheidend. Kreislaufwirtschaftliche<br />

Praktiken erfordern häufig einen systemischen Ansatz, bei dem<br />

Materialien und Komponenten über verschiedene Produktionsstufen hinweg wiederverwendet<br />

und recycelt werden. Dies erfordert Zusammenarbeit und Informationsaustausch<br />

zwischen den Unternehmen, um die Ressourcennutzung zu optimieren und<br />

Abfälle zu reduzieren.<br />

• Institutionen in einer Kreislaufgesellschaft: Politische Entscheidungsträger,<br />

Regulierungs behörden, Institutionen wie die Arbeiter- und <strong>Wirtschaft</strong>skammer bis<br />

hin zu Bildungseinrichtungen spielen bei der Transformation eine entscheidende<br />

Rolle. Diese entwickeln und schaffen die Rahmenbedingungen, stellen notwendige<br />

unter stützende Maßnahmen zur Verfügung, schaffen Anreize für die Transformation.<br />

Bildungseinrichtungen tragen dazu bei, dass Grundsätze der Kreislaufwirtschaft in<br />

Lehrpläne integriert werden und somit Absolvent:innen mit dem notwendigen Wissen<br />

ausgestattet sind.<br />

• Konsument:innen in einer Kreislaufgesellschaft: Auf gesellschaftlicher Ebene sind der<br />

/ die Einzelne und die Gemeinschaften für den Erfolg der Transformation in Richtung<br />

Kreislaufgesellschaft entscheidend. Das Verbraucherverhalten hat einen direkten<br />

Einfluss auf die Nachfrage nach Kreislaufprodukten und -dienstleistungen. Die Aufklärung<br />

der Öffentlichkeit über die Vorteile der Kreislaufwirtschaft und die Befähigung<br />

der Verbraucher, fundierte Entscheidungen zu treffen, fördern die Nachhaltigkeit. Die<br />

Förderung der Einstellung „Reduzieren, Wiederverwenden, Recyceln“ ist als verantwortungsvolles<br />

Verbrauchsmuster von grundlegender Bedeutung.<br />

Im folgenden empirischen Teil zielen wir darauf ab, diese drei Systeme aus einer holistischen<br />

Perspektive sowie deren Rolle und Verantwortung bei der Transformation aus der jeweiligen<br />

Eigenperspektive heraus zu verstehen.<br />

3 Forschungsmethode<br />

Im Zuge der Bearbeitung des oben beschriebenen Forschungsthemas wurde die Durchführung<br />

einer Fokusgruppe als geeignete Forschungsmethode ausgewählt. Fokusgruppen sind<br />

ein gängiger Forschungsansatz, um nicht nur eine Vielzahl von Ansichten, sondern auch ein<br />

gemeinsames Verständnis für ein bestimmtes Thema zu erhalten (Kristensen et al. 2021).<br />

<strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024<br />

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Christopher Kronenberg / Franziska Nemmer<br />

Grundsätzlich sind Fokusgruppen ein wirkungsvolles Instrument zur Erforschung komplexer Forschungsfragen<br />

(Wolff 2015), in unserem Fall zum Verständnis der einzelnen Systeme auf dem<br />

Weg zu einer wirkungsvollen Kreislaufgesellschaft und zum Zusammenspiel zwischen ebendiesen<br />

Systemen. Fokusgruppen können dabei wertvolle Ergebnisse liefern, wenn das untersuchte<br />

Thema ein tieferes Verständnis der menschlichen Perspektiven erfordert und beispielsweise<br />

soziale Interaktionen, Ansichten und Überzeugungen hinterfragt. Durch die Nutzung, Steuerung<br />

und Überwachung der Interaktion von Fokusgruppendiskussionen können Erkenntnisse gewonnen<br />

werden, die wesentlich zum wissenschaftlichen Diskurs beitragen. Ziel der Fokusgruppe<br />

in dieser Untersuchung war es, das dynamische Zusammenspiel der drei Systeme – <strong>Wirtschaft</strong>,<br />

Institutionen und Gesellschaft – zu erforschen und weitere Erkenntnisse für den Wandel zu einer<br />

Kreislaufgesellschaft zu gewinnen.<br />

Im folgenden Abschnitt wird das Forschungsdesign näher erläutert, beginnend mit einer Einführung<br />

zu den Fokusgruppenteilnehmer:innen, gefolgt von einer Beschreibung der Struktur und<br />

des Ablaufs der Fokusgruppe. Im Anschluss werden die Ergebnisse der Fokusgruppe auf Basis<br />

der drei Systeme vorgestellt.<br />

4 Teilnehmer:innen<br />

Sieben Teilnehmer:innen aus ganz Österreich nahmen im Sommer 2022 an der Fokusgruppe<br />

in Wien teil, welche aufgrund ihres beruflichen Hintergrunds in die drei oben beschriebenen<br />

Systeme eingeteilt wurden. Weitere Einzelheiten zu den sieben Teilnehmer:innen der Fokusgruppe<br />

sind im Folgenden aufgeführt.<br />

Das organisatorische System beschreibt, wie oben erwähnt, die Unternehmensorganisationen<br />

mit ihren strategischen Managemententscheidungen und Geschäftsmodellinnovationen. Daher<br />

wurden Vertreter:innen von Unternehmen zur Fokusgruppe eingeladen, welche bereits zu einem<br />

hohen Grad die Prinzipien der Kreislaufwirtschaft in ihre unternehmerischen Strukturen eingebaut<br />

haben. Dieses System wurde durch insgesamt zwei Teilnehmer:innen vertreten: Der erste<br />

Teilnehmer arbeitet in einem mittelständischen österreichischen Industrieunternehmen mit<br />

einem starken Fokus auf Umwelt und Kreislaufwirtschaft. Die Organisation war eines der ersten<br />

Unternehmen weltweit, welches für exzellente Kreislaufwirtschaft zertifiziert wurde. Der zweite<br />

Teilnehmer kommt aus der österreichischen Baubranche und kann nicht nur die Perspektive<br />

eines Architekten einbringen, sondern insbesondere durch seine Tätigkeit in der Nachhaltigkeitsberatung<br />

sowie Bau- und Projektmanagement eine fundierte Analyse eines Teils des organisatorischen<br />

Systems beitragen.<br />

Die nächsten drei Teilnehmer:innen wurden dem institutionellen System zugeordnet, zu dem<br />

z.B. politische Institutionen, wirtschaftliche Institutionen wie die <strong>Wirtschaft</strong>skammern und<br />

142 <strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024


Die Kreislaufgesellschaft als notwendige Erweiterung der Kreislaufwirtschaft<br />

Bildungseinrichtungen gehören. Ein Teilnehmer arbeitet in der <strong>Wirtschaft</strong>skammer Österreich<br />

mit dem Schwerpunkt Umwelt- und Energiepolitik und beschäftigt sich intensiv mit der<br />

Recycling- und Abfallgesetzgebung, wodurch die Perspektive eines wertvollen Bestandteils der<br />

Kreislaufwirtschaft sichergestellt werden kann. Eine weitere Teilnehmerin ist Forschungs- und<br />

Nachhaltigkeitsbeauftragte an einer österreichischen Universität und der letzte Teilnehmer in<br />

diesem System ist leitendes Mitglied der größten Plattform für Fragen der Kreislaufwirtschaft<br />

in Österreich. Durch die Zusammenstellung der Teilnehmer:innen wurde die Vielseitigkeit des<br />

institutionellen Systems sichergestellt, da drei unterschiedliche Institutionen aus verschiedenen<br />

Bereichen vertreten waren.<br />

Das letzte System, das so genannte soziale System, stellt die Gesellschaft mit ihren prägenden<br />

Normen und Werten dar, konzentriert sich aber hauptsächlich auf das Konsum- und<br />

Verbraucher verhalten: Die beiden Teilnehmer:innen sind Expert:innen im Bereich Soziologie<br />

und nahmen jeweils als organisatorische Instanz am Österreichischen Klimarat teil. Der österreichische<br />

Klimarat bestand aus zufällig ausgewählten österreichischen Bürger:innen, die über<br />

notwendige Maßnahmen für eine nachhaltigere Zukunft diskutierten. Der Rat entwickelte ein<br />

Jahr lang Konzepte und legte die Ergebnisse Mitte 2022 der österreichischen Regierung vor. Der<br />

erste Teilnehmer dieses Systems ist Dozent und Forscher an einer österreichischen Universität<br />

mit dem Schwerpunkt auf Kreislaufwirtschaft und hat bereits Bundesministerien zu Kreislaufwirtschaft<br />

beraten. Die zweite Teilnehmerin arbeitet für eine österreichische Forschungsstiftung<br />

und beschäftigt sich insbesondere mit Rohstoffpolitik und -verbrauch sowie Stakeholder­<br />

Management. Insgesamt wurden beide Teilnehmer:innen ausgewählt, weil sie nicht nur durch<br />

ihre berufliche Tätigkeit für das soziale System qualifiziert sind, sondern auch durch ihre Arbeit<br />

im oben beschriebenen Klimarat eine Metasicht auf die österreichischen Konsument:innen miteinbringen<br />

konnten.<br />

5 Datensammlung: Die drei Phasen der Fokusgruppe<br />

Die Fokusgruppe wurde in drei Phasen organisiert, welche in der nachfolgenden Abbildung dargestellt<br />

werden. Jede der drei Phasen beinhaltet unterschiedliche Ziele und Vorgehensweisen<br />

und werden im Folgenden detailliert dargestellt. Wichtig ist, dass im Rahmen dieser Publikation<br />

zunächst nur die Ergebnisse der ersten Phase dargestellt werden.<br />

<strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024<br />

143


Christopher Kronenberg / Franziska Nemmer<br />

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Abbildung 2: Die drei Phasen der Fokusgruppe<br />

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Quelle: Eigene Darstellung<br />

Phase eins konzentrierte sich auf die intrasystemische Dynamik der einzelnen Systeme. Das übergeordnete<br />

Ziel war, das Potenzial der Unternehmen, der Institutionen und der Verbraucher:innen<br />

im Kontext der Kreislaufgesellschaft zu beobachten. Es ist wichtig zu verstehen, dass der<br />

Schwerpunkt in dieser Phase immer noch auf den jeweiligen Systemen lag und dass die<br />

Teilnehmer:innen innerhalb ihres jeweiligen Bereichs mit den anderen Vertretern ihres Systems<br />

diskutierten. Die Grenzen zwischen den Systemen wurden jedoch nicht aufgelöst. Die konkrete<br />

Fragestellung wird in der Diskussion der Ergebnisse der Phase 1 dargestellt.<br />

Das Aufbrechen der Systemgrenzen war Teil der Phase zwei, die daher auch als „intersystematisch“<br />

bezeichnet werden kann. Ziel war es, eine Interaktion und offene Diskussion der Ergebnisse<br />

der ersten Phase zwischen allen Beteiligten zu ermöglichen.<br />

In einem letzten Schritt, in Phase drei der Fokusgruppe, wurden die Systemgrenzen komplett<br />

aufgehoben, und alle Teilnehmer:innen wurden angehalten, in einer offenen Diskussion Ideen<br />

und Lösungen für eine erfolgreiche Interaktion zwischen den Systemen zu finden. Diese Phase<br />

kann daher auch „extrasystematisch“ bezeichnet werden und war der letzte Schritt, um das<br />

dynamische Zusammenspiel zwischen den drei von uns identifizierten Systemen darzustellen<br />

und weitere Erkenntnisse für den Transformationsprozess hin zur Kreislaufgesellschaft zu<br />

liefern.<br />

Wie oben beschrieben, werden im Folgenden die Ergebnisse der ersten Phase dargestellt. Die<br />

nähere Beschreibung und die Ergebnisdiskussion der Phasen zwei und drei werden in darauffolgenden<br />

Publikationen dargelegt.<br />

144 <strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024


Die Kreislaufgesellschaft als notwendige Erweiterung der Kreislaufwirtschaft<br />

6 Ergebnisse<br />

6.1 Der Aufbau von Phase 1 im Detail<br />

In dieser ersten Phase der Fokusgruppe diskutierten die Teilnehmer:innen im Rahmen eines<br />

„intrasystemischen Ansatzes“ zunächst ergebnisoffen über die aktuellen und zukünftigen<br />

Potenziale ihres jeweiligen Systems, ohne Input von Teilnehmer:innen aus den anderen Systemen<br />

zu erhalten. Konkret ging es darum, herauszufinden, welche Maßnahmen die Akteure in<br />

diesem System auf dem Weg zu einer Kreislaufgesellschaft ergreifen könnten.<br />

In weiterer Folge sollten die aktuellen Motivatoren und Unterstützer sowie die Herausforderungen<br />

und Blockierer identifiziert und beschrieben werden. Dazu wurde die Frage gestellt, welche<br />

Maßnahmen das eigene System bereits für eine Transformation hin zu einer CS ergreift und warum.<br />

Konkret wurden dazu einerseits Motivatoren für zirkuläres Handeln und Unterstützungssysteme,<br />

die Maßnahmen erleichtern, identifiziert. Andererseits diskutierten die Teilnehmer:innen,<br />

welche Maßnahmen im eigenen System noch nicht ergriffen wurden und welche Herausforderungen<br />

oder Akteure sie daran hindern, mehr in Richtung einer Kreislaufgesellschaft zu arbeiten.<br />

Die Ergebnisse von Phase eins werden in den folgenden drei Kapiteln dargestellt, jeweils aufgegliedert<br />

in einer Darstellung der beschriebenen Potenziale des Systems und einer Beschreibung<br />

von Motivatoren und Unterstützern auf der einen Seite sowie Herausforderungen und Blocker<br />

auf der anderen Seite.<br />

6.2 Ergebnisse des organisatorischen Systems<br />

Als größte Potenziale des organisatorischen Systems wurden die Bereitstellung von technischen<br />

Lösungen, die Entwicklung von Prozessen und Plattformen und generell die Beachtung einer<br />

umweltverträglichen Qualität und Zusammensetzung der verwendeten Materialien identifiziert.<br />

Als Grund und Motivator für die Arbeit an der Transformation hin zu einer Kreislaufgesellschaft<br />

wurde genannt, dass durch Forschung und Entwicklung neue Innovationen entwickelt werden<br />

sollen, die langfristig auch zu einer besseren Position am Markt, ja sogar zur Marktführerschaft<br />

führen sollen. Neben rein wirtschaftlichen Überlegungen wurde auch die persönliche Motivation<br />

der Entscheidungsträger, insbesondere in inhabergeführten Unternehmen genannt.<br />

Die <strong>Politik</strong> mit ihren staatlichen Subventionen, Quoten und Gesetzen wurde explizit als Unterstützer<br />

genannt, die gerade für Unternehmen, die noch großes Entwicklungspotenzial im Bereich<br />

Kreislaufwirtschaft haben, eine große Motivation zum Handeln darstellen. Allerdings wurde die<br />

<strong>Politik</strong> auch als Blocker für sehr innovative Unternehmen genannt. Ein weiteres unterstützendes<br />

System sind institutionelle Forschungseinrichtungen, die das organisatorische System vor allem<br />

im Bereich der F&E unterstützen können.<br />

<strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024<br />

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Christopher Kronenberg / Franziska Nemmer<br />

Andererseits wurden auch einige Herausforderungen genannt, die das organisatorische System<br />

daran hindern, mehr Maßnahmen in Richtung Kreislaufwirtschaft und -gesellschaft zu ergreifen.<br />

Dazu gehören insbesondere das Fehlen von konkreten Geschäftsmodellen, das Fehlen von technischen<br />

Lösungen, Prozessen und Plattformen (aufgrund der Komplexität der Lösungen und der<br />

damit verbundenen hohen Kapazitätsanforderungen und Kosten für die Entwicklung der Lösungen)<br />

und insgesamt der fehlende Druck zur Veränderung.<br />

Weitere Systeme, die sich als Blocker für das organisatorische System besonders bemerkbar<br />

machten, waren, wie oben beschrieben, die <strong>Politik</strong> mit ihren Gesetzen und Normen und explizit<br />

die Konsument:innen (soziales System), die aus Sicht des organisatorischen Systems derzeit zu<br />

wenig Nachfrage und eine mangelnde Marktakzeptanz von nachhaltigen und zirkulären Produkten<br />

und Dienstleistungen aufgrund eines oftmals höheren Preises zeigen.<br />

6.3 Ergebnisse des institutionellen Systems<br />

Die Teilnehmer:innen des institutionellen Systems identifizierten eine breite Palette von Potenzialen,<br />

welche von diesem System gehoben werden kann oder bereits gehoben werden. Explizit<br />

genannt wurde dabei der Interessenausgleich, welcher sogar als eine Kernfunktion der Institutionen<br />

im Hinblick auf die Transformation hin zu einer Kreislaufgesellschaft erklärt wurde.<br />

Da Österreich ein sehr konsensorientiertes Land mit Sozialpartnerschaften ist, wurde auch die<br />

Förderung einer unabhängigen kritischen Debatte als großes Potenzial genannt. Zudem könnten<br />

die Institutionen als Multiplikatoren für den sozial-ökologischen Systemwandel wirken und<br />

die dringend benötigte Aus- und Weiterbildung in Richtung sozial-ökologischer Transformation<br />

organisieren. Darüber hinaus sind insbesondere die politischen Institutionen gefordert, entsprechende<br />

Rahmenbedingungen und Regelungen zu entwickeln. Einige Teilnehmer:innen gingen<br />

sogar so weit zu sagen, dass die Entwicklung neuer Kooperations- und Beziehungsformen innerhalb<br />

eines Staates, bis hin zu einem Systemwechsel, im Potential dieses Systems liegen.<br />

Die Motivatoren dieses Systems, weiter an der Transformation hin zu einer Kreislaufgesellschaft<br />

zu arbeiten, sind vor allem ein Weitertreiben von Forschung und Entwicklung, Beratung, Wissenstransfer<br />

und Gestaltung, im Detail politische Gestaltung, aber auch Dienstleistungs design.<br />

Darüber hinaus wurden Austausch und die Vernetzung bzw. der Aufbau von Partnerschaften,<br />

z.B. gute Standortagenturen als Distributoren und bereits bestehende Cluster genannt.<br />

Unterstützende Systeme sind politische Institutionen auf internationaler Ebene, insbesondere<br />

auf europäischer Ebene, wie der Green Deal und die European Circular Economy Stakeholder<br />

Plattform. Das Umdenken in der Bevölkerung hin zu mehr Nachhaltigkeit wurde darüber hinaus<br />

auch als Unterstützung durch das soziale System erwähnt.<br />

Was dieses System jedoch daran hindert, mehr oder besser auf die Transformation zur Kreislaufgesellschaft<br />

hinzuarbeiten, sind folgende Herausforderungen: langwierige Abstimmungsprozesse<br />

aufgrund zahlreicher Stakeholder, die Unterscheidung von Partikularinteressen, gesetzliche<br />

146 <strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024


Die Kreislaufgesellschaft als notwendige Erweiterung der Kreislaufwirtschaft<br />

Vorgaben und Normen, da viele nicht „fit“ für die Kreislaufwirtschaft sind, und die Erfüllung optimaler<br />

Quoten anstelle von Maximalquoten. Der letzte Punkt bezieht sich auf KPIs im politischen<br />

Bereich, da alle Institutionen maximale Quoten anstreben, was wiederum zu Zielkonflikten führt.<br />

Neben diesen Herausforderungen gibt es auch blockierende Systeme, die die Institutionen<br />

daran hindern, zirkulärer zu werden. Dies sind vor allem das organisatorische System mit seinem<br />

linearen <strong>Wirtschaft</strong>ssystem, das soziale System mit den Konsument:innen mit ihrer (teilweise)<br />

mangelnden Offenheit für neue Modelle (z.B. Eigentums- vs. Nutzermodelle) und die politischen<br />

Institutionen, welche explizit in der Diskussion genannt wurden, obwohl sie originär auch als Teil<br />

des institutionellen Systems gesehen werden. Dabei beschrieben die Teilnehmer die politische<br />

Einflussnahme und bestehende Interessenkonflikte, beispielsweise gesellschaftspolitische Diskussionen<br />

in der Öffentlichkeit, aber auch im Hintergrund, die das institutionelle System verlangsamen<br />

oder behindern können.<br />

6.4 Ergebnisse des sozialen Systems<br />

Ein wichtiges Ergebnis der Diskussion der Teilnehmer:innen war, die Akteure des sozialen Systems<br />

auf die Sicht von Konsument:innen festzulegen, da dies die Rolle der Privatpersonen in<br />

einem <strong>Wirtschaft</strong>ssystem aus Sicht der Teilnehmer:innen am besten beschreibt. Die folgenden<br />

Ergebnisse werden daher aus der Sicht der Konsument:innen in Österreich beschrieben.<br />

Nach Meinung der Teilnehmer:innen steckt enormes Potenzial in diesem System: Durch achtsamen<br />

Konsum, wie z.B. Sharing-Konzepte, Verwenden von gebrauchten Produkten, Reparieren<br />

oder auch Mülltrennung kann viel in Richtung Kreislaufwirtschaft und -gesellschaft erreicht<br />

werden. Auch durch die Vermeidung von ressourcenintensiven Transporten und die Nutzung<br />

öffentlicher Verkehrsmittel können die Konsument:innen ihren Beitrag zur Transformation zu<br />

einer Kreislaufgesellschaft leisten. Neben ressourcenschonendem Handeln in verschiedene Bereiche<br />

können Konsument:innen ihren Einfluss geltend machen, indem sie zum einen politischen<br />

Druck ausüben und der nächsten Generation Werte im Sinne der Nachhaltigkeit vermitteln.<br />

Die Motivation der Konsument:innen, nachhaltig zu handeln, ergibt sich aus dem generationenübergreifenden<br />

Denken, einem persönlichen Engagement für die Umwelt, aber auch aus der<br />

Bequemlichkeit, wenn die Strukturen so gebaut sind, dass es einfach ist, sich zirkulär zu verhalten.<br />

Darüber hinaus kann kreislauforientiertes Handeln ein „Coolness-Faktor“ und ein Teil<br />

der Statusanerkennung der Referenzgruppe oder ein Gesundheitsfaktor sein. Für manche<br />

Konsument:innen kann ein bescheidenes Leben im Einklang mit der Natur und nachhaltigem<br />

Handeln ein Ausstieg aus der Überflussgesellschaft sein. Schließlich kann eine Motivation für<br />

zirkuläres Handeln auch Konformität mit bestehenden Gesetzen und Vorgaben sein.<br />

Unterstützer für Konsument:innen können in allen genannten Systemen gefunden werden: Die<br />

Unternehmen im organisatorischen System können beispielsweise durch gut funktionierende<br />

und bequeme Recyclingsysteme zu mehr zirkulärem Handeln der Konsument:innen anregen.<br />

<strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024<br />

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Christopher Kronenberg / Franziska Nemmer<br />

Das politische System kann verbindliche Vorgaben und Gesetze durchsetzen. Das institutionelle<br />

System kann durch Bildung und Vernetzung unterstützen und die Akteure im sozialen System<br />

können innerhalb ihres Systems durch Umweltdiskurse in der Öffentlichkeit oder durch Werbung<br />

über Social Influencer:innen unterstützen. Es muss jedoch betont werden, dass das soziale<br />

System kein homogenes System ist, sondern in sich sehr divers und eine große Streuung im<br />

Verhalten der Menschen und ihrem CO2-Fußabdruck aufweist.<br />

Neben Motivatoren und Unterstützern gibt es auch Herausforderungen, die die Konsument:innen<br />

daran hindern, sich zirkulärer zu verhalten, wie z.B. Bequemlichkeit und das fehlende Umdenken<br />

in Richtung „Nicht-Konsum“. Neben den Herausforderungen im eigenen System wurden auch<br />

Blocker identifiziert, wie z.B. die Unternehmen im organisatorischen System, die oft Wachstum<br />

als Paradigma setzen (biophysikalisches vs. wirtschaftliches Wachstum). Es mangelt oft an<br />

einer (bequemen) Verfügbarkeit, z.B. von Recyclingprodukten oder kostengünstigen Reparaturdienstleistungen.<br />

Darüber hinaus gibt es wirtschaftliche Interessenkonflikte mit dem Preissystem<br />

als Anreizsystem. Neben dem organisatorischen System wurden auch die politischen Institutionen<br />

als Blocker genannt, da die gesellschaftlichen Strukturen und Anreizsysteme oftmals<br />

eher auf Wegwerfen ausgerichtet sind. Es geht hier deshalb insbesondere um die „Spielregeln“<br />

– gesetzt durch das institutionelle System, welche kreislauffähiges Handeln noch nicht stark<br />

unterstützen.<br />

7 Diskussion<br />

Die große Vielfalt der einzelnen Systeme führt zu Diskussionen über die Klassifizierung der Systeme:<br />

Im organisatorischen System besteht eine große Vielfalt an unterschiedlichen Akteuren<br />

mit diversen Unternehmensgrößen, Rechtsformen, Innovationsgraden sowie Stakeholdern mit<br />

unterschiedlichen Interessen. Darüber hinaus haben unterschiedliche Branchen oftmals andere,<br />

unter Umständen konkurrierende Interessen. Beim institutionellen System gibt es eine große<br />

Vielfalt bereits durch Repräsentation einerseits von Akteuren aus dem <strong>Wirtschaft</strong>ssystem (z.B.<br />

<strong>Wirtschaft</strong>skammer) und andererseits durch das Vertreten von Konsument:innen (z.B. Arbeiterkammer<br />

oder Verbraucherschutzinstitutionen). Neben dem Bildungswesen und anderen Interessensgruppen<br />

müssen die politischen Institutionen mit starken Entscheidungsinstrumenten<br />

explizit genannt werden. Aus diesem Grund könnte die <strong>Politik</strong> nicht in das institutionelle System,<br />

sondern als eigenes, viertes System genannt werden. Darüber hinaus kann diskutiert werden,<br />

ob das soziale System mit ihren Konsument:innen überhaupt als homogenes System betrachtet<br />

werden kann, da z.B. unterschiedliche Referenzgruppen oder unterschiedliche Sinus-Milieus zu<br />

deutlich anderen Ansichten in Bezug auf kreislauffähiges Handeln führen können. Weiters findet<br />

kein kontinuierlicher Austausch zwischen den Akteuren dieses Systems statt.<br />

Dennoch hilft der Ansatz, die vielfältigen Akteure einer Kreislaufgesellschaft in Systeme einzuteilen,<br />

da sie der Komplexität der Transformation eine greifbare Instanz geben. Gerade in einer<br />

sich wandelnden Gesellschaft, welche durch die immer stärker sichtbaren Herausforderungen<br />

148 <strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024


Die Kreislaufgesellschaft als notwendige Erweiterung der Kreislaufwirtschaft<br />

des Klimawandels zum Handeln gezwungen wird, kann es hilfreich sein, die Akteure in einem<br />

„Big Picture“ zu betrachten. Weitere Differenzierungen können und sollen Bestandteil künftiger<br />

Forschungen sein.<br />

8 Fazit<br />

Aus Sicht der Autor:innen ist es noch ein weiter Weg hin zu einer funktionalen Kreislaufgesellschaft,<br />

aber ein notwendiger Schritt, um in eine nachhaltigere Gesellschaft mit all ihren unterschiedlichen<br />

Akteuren zu kommen. Trotz der Komplexität dieser Transformation und der Interessenskonflikte<br />

der Stakeholder ist es ein notwendiges Ziel, um gerade in Zeiten des immer stärker<br />

sichtbaren Klimawandels Wege aufzuzeigen, wie wir unser aktuelles lineares <strong>Wirtschaft</strong>ssystem<br />

zirkulärer gestalten können und dabei nicht nur die <strong>Wirtschaft</strong> einbeziehen, sondern diese Transformation<br />

für alle Akteure zu öffnen und dadurch ganzheitlicher gestalten. Der Begriff Kreislaufgesellschaft<br />

zielt somit nicht darauf ab, eine zusätzliche Beachtung einiger sozialer Aspekte in<br />

den Transformationsprozess hin zu einer Kreislaufwirtschaft zu integrieren, sondern betont die<br />

Notwendigkeit, alle relevanten Akteure in diesen umfassenden Wandel zu integrieren.<br />

9 Referenzen<br />

Accenture Stratey (2015): Waste to Wealth. Executive Summary. https://thecirculars.org/<br />

content/resources/Accenture-Waste-Wealth-Exec-Sum-FINAL.pdf (05.01.2024).<br />

Ellen MacArthur Foundation (2013): Towards the Circular Economy. Ellen MacArthur Foundation.<br />

European Union (2021): European Green Deal. https://ec.europa.eu/info/strategy/<br />

priorities-2019-2024/european-green-deal_de (15.12.2023).<br />

Friant, M. C. / Vermeulen, W. J. V. / Salomone, R. (2020): A typology of circular economy<br />

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and Recycling, 161, Artikel 104917.<br />

Geissdoerfer, M. / Savaget, P. / Bocken, N. M. P. / Hultink, E.J. (2017): The Circular Economy – A<br />

newsustainability paradigm?. In: Journal of Cleaner Production, 143, 757-768.<br />

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Jaeger-Erben, M. / Jensen, C. / Hofmann, F. / Zwiers, J. (2021): There is no sustainable circular<br />

economy without a circular society. In: Resources, Conservation and Recycling, 168 (2), Artikel<br />

105476.<br />

<strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024<br />

149


Christopher Kronenberg / Franziska Nemmer<br />

Kristensen, H. S. / Mosgaard, M. A. / Remmen, A. (2021): Integrating Circular Principles in<br />

Environ mental Management Systems. In: Journal of Cleaner Production, 286, 1-13.<br />

Lacy, P. / Keeble, J. / McNamara, R. / Rutqvist, J. / Eckerle, K. / Haglund, T. / Buddemeier, P. / Cui,<br />

M. / Sharma, A. / Cooper, A. / Senior, T. / Petterson, C. (2014): Circular Advantage: Innovative<br />

Business Models and Technologies to Create Value in a World without Limits to Growth. Dublin:<br />

Accenture.<br />

Moreau, V. / Sahakian, M. / van Griethuysen, P. / Vuille, F. (2017): Coming Full Circle: Why Social<br />

and Institutional Dimensions Matter for the Circular Economy. In: Journal of Industrial Ecology,<br />

21 (3), 497-506.<br />

Salvador, R. / Puglieri, F. N. / Halog, A. / de Andrade, F. G. / Piekarski, C. M. / De Francisco, A.<br />

C. (2021): Key aspects for designing business models for a circular bioeconomy. In: Journal of<br />

Cleaner Production, 278, 1-14.<br />

Social Design Lab (2021): Paths towards a Circular Society. Social Design Lab Hans Sauer<br />

Stiftung, München.<br />

Wolff, J. (2015): Die Forschungsmethode der Fokusgruppen. München: Grin Verlag.<br />

150 <strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024


Bernhard Ennser<br />

Digitalisierung – eine Einordnung in die<br />

­Konzepte Effizienz und Effektivität<br />

Abstract<br />

Mit der Erfindung des Computers in den 1950er Jahren wurde der Begriff „Digitalisierung“ eingeführt.<br />

Mit der andauernden Mobilisierung und Vernetzung wird die Digitalisierung für die meisten<br />

Menschen ein omnipräsentes Phänomen. Zuletzt ist die „künstliche Intelligenz“ durch das Veröffentlichen<br />

einer Vielzahl von neuen Anwendungen in das Bewusstsein eines größeren Bevölkerungsanteils<br />

als vorerst neuer Höhepunkt der Entwicklung gerückt. Digitalisierung verändert<br />

zunehmend unser privates und berufliches Leben und Erleben. Diese vielschichtigen und oft<br />

auch begeisternden Wirkungen von Digitalisierung überschatten aus Sicht des Autors manchmal<br />

die damit einhergehenden wirtschaftlichen Absichten oder das realisierbare wirtschaftliche<br />

Potenzial von Digitalisierung.<br />

Digitalisierung ist im Allgemeinen<br />

a) das Erfassen und Überführen von analogen Signalen in digitale Signale und in Folge<br />

digitale Daten, z.B. Ton- oder Bildaufnahmen als analog-digitale Konversion,<br />

b) das unterschiedlich komplexe Weiterverarbeiten von digitalen Daten und<br />

c) das Ausgeben dieser Daten und somit das menschliche Erlebbarmachen über eine<br />

digital-analoge Konversion, z.B. Töne, Bilder, Auswertungen, oder aktuell zunehmend,<br />

das Umformen von digitalen Signalen in physische Bewegungsvorgänge als Robotik.<br />

<strong>Wirtschaft</strong>en ist das Erzeugen von Nutzen oder Werten durch das Einsetzen von begrenzt<br />

verfügbaren (und somit knappen) Produktionsmittel bzw. Ressourcen: 1<br />

a) Menschliche Arbeitsleistung,<br />

b) Betriebsmittel und<br />

c) Werkstoffe als Eingangsmaterialien/Inputs, im Fall von Dienstleistungen externe<br />

Faktoren (Objekte/Subjekte), welche bearbeitet werden.<br />

Diese Ressourcen werden in Prozessen derart angeordnet, um Kundenbedürfnisse, manifestiert<br />

als wirtschaftlich verwertbare Bedarfe, effektiv zu erfüllen. 2 Die Effektivität ist ein Maß dafür, ob<br />

Maßnahmen geeignet sind, ein Ziel zu erreichen. 3 Somit hat Effektivität eine zweifache Bedeutung:<br />

1 Die Knappheit/Begrenztheit der Verfügbarkeit von Ressourcen wird meist über den Marktpreis als Schnittpunkt<br />

zwischen Angebots- und Nachfragefunktionen dargestellt<br />

2 Dass viele Bedarfe und Nutzen den Kund:innen extern introduziert sind, wird nicht weiter behandelt.<br />

3 Das Formulieren und Detaillieren von effektiv verfolgbaren Zielen auf strategischer, taktischer oder operativer<br />

Ebene als eine notwendige Voraussetzung, wird hier nicht weiter ausgeführt.<br />

<strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024<br />

151


Bernhard Ennser<br />

Erstens, effektiv zu sein im bestmöglichen Erfüllen der Kundenbedarfe/-bedürfnisse und in<br />

Folge durch das Bereitstellen von nutzenstiftenden Leistungen. 4<br />

Zweitens, das Auswählen von effektiven, im Sinn von wirkungsvollen/tauglichen Ressourcen<br />

und das grundsätzliche Kombinieren dieser Ressourcen als Technologie zum Erstellen von<br />

Leistungen. 5<br />

Der Effektivität nachgelagert ist das tatsächliche, wirksame bzw. effiziente Verwenden der gewählten<br />

Ressourcen in operativen Prozessen. Effizienz gibt zunächst über zentrale Kennzahlen<br />

wie Produktivität, <strong>Wirtschaft</strong>lichkeit und Rentabilität das Verhältnis zwischen einem Prozessergebnis<br />

und dem dazu aufgewendeten Ressourceneinsatz an. Neben diesen universellen Kennzahlen<br />

ist es unabdingbar, inhaltliche Ziele für die Beurteilung von Prozesseffizienz zu bestimmen<br />

und in Folge zu erfassen. Folgende Zielkriterien von Prozesseffizienz sind zu unterscheiden:<br />

a) die Bedeutung der Qualität des Ergebnisses des Prozesses,<br />

b) die Flexibilität des Prozesses hinsichtlich der Anpassbarkeit von Inputs und der<br />

Ergebnisse,<br />

c) die Zeitdauer des Prozesses zum Erreichen eines Ergebnisses,<br />

d) die Kosten, welche durch das Einsetzen der Ressourcen im Prozess entstehen. 6<br />

In der Praxis ist das Festlegen von den oben genannten Zielkriterien weniger auf einen gesamten<br />

Geschäftsprozess als auf dessen Teilprozesse, z.B. Beschaffungsprozesse, Produktionsprozesse<br />

oder Distributionsprozesse gerichtet.<br />

Notabene: An dieser Stelle sei auf die Interdependenzen zwischen der Effizienz von Prozessen<br />

und der vorher zu bestimmenden Effektivität der Ressourcenkombination und dem Ziel des<br />

effektiven Erfüllens der Kundenbedarfe verwiesen. 7<br />

Digitalisierung besteht aus Ressourcen in Form von Hard- und Software als Betriebsmittel.<br />

Zusammen mit Informationen bilden sie Informationssysteme. Diese Informationen lassen sich<br />

in unterschiedliche Kategorien einordnen:<br />

Die erste Kategorie umfasst Informationen, welche den Ressourceneinsatz von Geschäftsprozessen<br />

virtuell abbilden und unterstützen, z.B. in ERP-Systemen bei Produktionsprozessen<br />

von physischen Leistungen: Solche Informationssysteme werden oft als effektive Mittel<br />

4 Aufgrund der oftmaligen Nichterfüllbarkeit von menschlichen Bedürfnissen werden diese durch geeignete Kommunikation<br />

in viele verschiedene Bedarfe transformiert werden z.B. soziale Eingebundenheit.<br />

5 Technologie wird von Thompson (1967) als rationaler Mitteleinsatz zum Erreichen von Zielen definiert. Grundsätzlich<br />

ist hier zwischen primären (Kunden)Wertschöpfungsprozesse und sekundären, internen Unterstützungsprozessen<br />

zu unterscheiden<br />

6 Es können mehrere Effizienzkriterien gleichzeitig verfolgt werden, jedoch ist hier eine klare Priorisierung und Abstimmung<br />

notwendig, um Zielkonflikte zu vermeiden<br />

7 Der Nutzen und die beabsichtigte Wirkung der erzeugten Leistungen wird durch die Unternehmensstrategie, deren<br />

Planung, Umsetzung und Detaillieren über die organisationalen Hierarchiestufen bestimmt.<br />

152 <strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024


Digitalisierung – eine Einordnung in die Konzepte Effizienz und Effektivität<br />

ausgewählt z.B. zur Senkung von Prozesskosten, zur Beschleunigung von Prozessen oder zur<br />

Qualitätssteigerung durch die verbesserte Bewältigung von Komplexität.<br />

Im operativen Umsetzen der Digitalisierungsmaßnahmen wird fortlaufend die Effizienz zielgerichtet<br />

optimiert z.B. durch a) das Senken von Ressourcenverbräuchen durch das Verbessern der<br />

Produktivität und/oder b) das Beschleunigen von Prozesszeiten und/oder c) das Flexibilisieren<br />

von Prozessverläufen um andere Prozessinputs oder zum Diversifizieren der Prozessergebnisse.<br />

Im Zeitablauf wird häufig die Ressourcenkombination während deren Einsatz verändert<br />

( Ressourcensubstitution), z.B. findet ein Ablösen von menschlicher Arbeitsleistung durch Informationssysteme<br />

zum Senken von Prozesskosten und Prozesszeiten statt.<br />

Sind die Effizienzpotenziale der eingesetzten Technologie ausgeschöpft und/oder stehen durch<br />

Innovationen effektivere Ressourcen zur Verfügung, kommt es häufig zu einer Veränderung der<br />

Ressourcen oder deren Kombination und der Organisation. Die Entwicklungen der Digitalisierung<br />

oder Mechanisierung haben hier in Vergangenheit große Veränderungen gebracht.<br />

Die zweite Kategorie von Informationen (und Informationssystemen) sind jene, welche als<br />

alleinige externe Faktoren im Rahmen von Informationsdienstleistungen verarbeitet werden,<br />

und die Leistungsergebnisse wiederum Informationen sind. Die ausgegebenen Informationen<br />

er füllen hier effektiv konkrete Kundenbedarfe z.B. Markt- oder Finanzanalysen oder unterschiedlich<br />

spezifische Informationsdienstleistungen. Einen großen Anteil haben mittlerweile Informationsdienstleistungen,<br />

die indirekt die menschlichen Bedürfnisse von Nutzer:innen nach sozialem<br />

Austausch durch soziale Vernetzung erfüllen, z.B. Social Media. Hier werden fortlaufend durch<br />

die Nutzer:inneninteraktionen selbst und darauf basierenden Auswertungen neue Informationen<br />

und daraus neue Nutzungsmöglichkeiten geschaffen.<br />

Vor allem in konsument:innennahen Geschäftsfeldern findet aktuell eine Konvergenz von beiden<br />

Informationsflüssen statt: Zum einen werden individuelle Anforderungen von Konsument:innen<br />

in einzelne Wertschöpfungsprozesse via Value Co-Creation Prozessen integriert, zum anderen<br />

werden unterschiedliche Leistungen miteinander vernetzt, oft mit Informationsdienstleistungsplattformen<br />

als Intermediäre. 8 Die Folgen der zunehmenden Digitalisierung und der sich<br />

beschleunigenden Rate der technischen Veränderung erfordert von Organisationen ein häufigeres<br />

Hinterfragen der Effektivität ihres Leistungsangebots und der dazu eingesetzten Ressourcen,<br />

sowohl bei extern orientierten Kundenprozessen und internen Unterstützungsprozessen<br />

nach deren Beitrag zum sich ändernden Kundennutzen. Die Möglichkeiten der Integration der<br />

Kund:innen oder Konsument:innen in die Leistungsgestaltung bietet einerseits Chancen, zusätzliche<br />

Nutzen zu schaffen und somit neue Kund:innen oder Konsument:innen zu binden. Andererseits<br />

erfordert dies oft weitere, zusätzliche Aufwände an Ressourcen und somit höhere<br />

8 Vargo/Lusch (2006) stellen mit dem Service Dominant Logic Ansatz die Kundenvertschöpfung durch einen<br />

Gebrauchsnutzen (value in use) von Leistungen der bis dahin dominierenden Wertschöpfungsperspektive über<br />

Produktionsstufen und der Bindung des Werts in einem Produkt (value in exchange) gegenüber.<br />

<strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024<br />

153


Bernhard Ennser<br />

Kosten. Diese zu kompensieren, erfordert Effizienzsteigerungen in den bestehenden Prozessen<br />

oder durch eine umfassende Auflösung und Neugestaltung von Prozessen zum Verbessern der<br />

Effektivität im Rahmen von Reorganisationsmaßnahmen.<br />

Literaturverzeichnis<br />

Dumas M. / La Rosa M. / Mendling J. / Reijers H. (2018): Fundamentals of Business Process<br />

Management. Heidelberg: Springer.<br />

Hansen H. R. / Mendling J. / Neumann G.(2019): <strong>Wirtschaft</strong>sinformatik. Oldenbourg: De Gruyter.<br />

Leimeister, J. M. (2021): Einführung in die <strong>Wirtschaft</strong>sinformatik. Berlin: Springer Gabler.<br />

Peltier J. W. / Dahl J. / Swan E. (2020): Digital information flows across a B2C/C2C continuum<br />

and technological innovations in service ecosystems: A service-dominant logic perspective. In:<br />

Journal of Business Research, 121, 724-734.<br />

Springer Fachmedien (Hrsg.) (2018): Gabler <strong>Wirtschaft</strong>slexikon. Wiesbaden: Springer.<br />

Thompson, J. D. (1967): Organizations in action: Social science bases of administrative theory.<br />

New York: McGraw-Hill.<br />

Vargo S. L. / Lusch R. F. (2008): Service-Dominant Logic: Continuing the Evolution. In: Journal of<br />

the Academy of Marketing Science, 36 (1).<br />

Vargo S. L. / Lusch R. F. (2016): Institutions and axioms: an extension and update of servicedominant<br />

logic. In: Journal of the Academy of marketing Science, 44 (1), 5-23.<br />

Wilden, R. / Akaka, M. A. / Karpen, I. O. / & Hohberger, J. (2017): The Evolution and Prospects of<br />

Service-Dominant Logic: An Investigation of Past, Present, and Future Research. In: Journal of<br />

Service Research, 20 (4), 345-361.<br />

154 <strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024


Kai Erenli<br />

Plattformökonomie im Fokus:<br />

Die Auswirkungen von Epic vs. Apple und<br />

Google auf die Videospielbranche 1<br />

Abstract:<br />

Dieser Beitrag untersucht die weitreichenden Auswirkungen des Rechtsstreits zwischen Epic<br />

Games und Apple auf die Dynamik und die rechtlichen Rahmenbedingungen der Videospielindustrie.<br />

Im Zentrum steht Epics Herausforderung der dominierenden Marktstellung von<br />

Apple durch das „Project Liberty“, eine strategische Initiative, die 2020 eingeführt wurde, um<br />

die Zahlungsrichtlinien im App Store zu umgehen. Diese Auseinandersetzung veranschaulicht<br />

die Spannungen zwischen großen Plattformbetreibern und Entwicklern und wirft grundlegende<br />

Fragen über die Zukunft der digitalen Märkte und Plattformökonomie auf. Die Analyse konzentriert<br />

sich auf die rechtlichen Herausforderungen, die aus der zunehmenden Digitalisierung und<br />

Plattformabhängigkeit in der Spieleindustrie entstehen, sowie auf die Auswirkungen dieser Entwicklungen<br />

auf die Marktstrukturen und die Regulierung digitaler Ökosysteme. Das Ziel ist es,<br />

ein vertieftes Verständnis der rechtlichen Implikationen zu entwickeln und die Notwendigkeit<br />

einer angepassten Gesetzgebung in diesem schnelllebigen Sektor zu diskutieren.<br />

Schlagworte: Videospiele, Geschäftsmodelle, Plattformökonomie, eCommerce<br />

1 Hintergrund: Plattformen, Umsatzbeteiligungen und „Project Liberty“<br />

In diesem Beitrag werden die Entwicklungen und Herausforderungen in der Plattformökonomie,<br />

die durch die zunehmende Dominanz großer Technologieunternehmen gekennzeichnet sind<br />

anhand der strategischen Initiative „Project Liberty“ von Epic Games erörtert. Im Zentrum steht<br />

daher eine deskriptive Analyse der Argumente, die in den Klagen von Epic Games gegen Apple<br />

und Google vorgebracht wurden. Neben der Darstellung der Umsatzbeteiligungsmodelle in den<br />

App-Stores der jeweiligen Plattformbetreiber, wird ein spezieller Fokus auf die von Apple und<br />

Google etablierten Geschäftsmodellstandards gelegt. Diese Standards sind von zentraler Bedeutung,<br />

da sie die Gewinnverteilung zwischen Plattformbetreibern und App-Entwicklern bestimmen<br />

und somit direkte Auswirkungen auf die Innovationskraft und Wettbewerbsfähigkeit<br />

der einzelnen Akteur:innen in der digitalen <strong>Wirtschaft</strong> haben. Dies soll die Grundlage für ein<br />

1 Dieser Beitrag stellt ein aktualisiertes Review dar, basierend auf dem Aufsatz (Kai Erenli, Der Gnom zahlt! Aber<br />

an wen? – Eine Analyse der Geschäftsmodelle im Bereich der Videospiele aus rechtlicher Sicht an Hand von Epic<br />

Games, Inc. vs Apple Inc, in: Jusletter IT 31. Mai 2022), und nimmt Bezug auf die zum Zeitpunkt der ursprünglichen<br />

Veröffentlichung noch anhängigen gerichtlichen Verfahren sowie die damals ungewissen Auswirkungen, um einen<br />

umfassenden Überblick über die Entwicklungen und deren potenzielle Implikationen in dem besprochenen Kontext<br />

zu bieten.<br />

<strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024<br />

155


Kai Erenli<br />

tieferes Verständnis der in den Klagen adressierten Thematiken bieten, um sie in den Kontext<br />

der beiden EU-Rechtsakte „Digital Services Act“ 2 , sowie „Digital Markets Act“ 3 stellen zu können.<br />

Epics Klagen gegen Apple und Google, oft als bloßer finanzieller Zwist abgetan (Apple selbst,<br />

führte in seiner Widerklage aus: „Epic´s lawsuit is nothing more than a basic disagreement over<br />

money. Although Epic portrays itself as a modern corporate Robin Hood, in reality is a multi-billion<br />

dollar enterprise that simply wants to pay nothing for the tremendous value it derives from the App<br />

Store.“ 4 ), offenbart bei genauerer Betrachtung tiefergehende Konflikte im Kern der Videospiel-<br />

Plattformökonomie: Die Verteilung der erzielten Erlöse! Während Epic sich in seinen Klagen<br />

als Kämpfer für die vielen kleinen Entwicklerstudios im Videospielebereich darstellt, sehen die<br />

Plattformanbieter:innen sich zu Unrecht an den Pranger gestellt. Schaut man sich das Thema<br />

genauer an, so entdeckt man, dass sich hinter der Epics Fassade des „Corporate Robin Hoods“<br />

ein komplexes Geflecht aus wirtschaftlichen Machtspielen und rechtlichen Herausforderungen<br />

entfaltet. Epics strategischer Schachzug im Jahr 2020, das beliebte Spiel „Fortnite“ unter Umgehung<br />

des Apples Zahlungssystems anzubieten, mündete in einer prompten Entfernung des<br />

Spiels aus dem App Store und entfachte einen beispiellosen Rechtsstreit gegen die marktbeherrschende<br />

Stellung Apples.<br />

Der Kern dieser Auseinandersetzung ist keineswegs neu. Bereits 2015 kritisierte Tim Sweeney,<br />

Gründer und CEO von Epic Games, die aus seiner Sicht überhöhten Umsatzbeteiligungen, die<br />

Plattformen wie Steam, der App-Store von Apple oder Google Play einforderten 5 . Er plädierte<br />

für eine drastische Reduzierung auf 8%, argumentierend, dass dies ausreichen würde, um diese<br />

Vertriebsplattformen profitabel zu betreiben. Die üblichen 30% Umsatzbeteiligung 6 , so Sweeney,<br />

wären nur im Kontext der Spielekonsolen nachvollziehbar, wo erhebliche Investitionen in Hardware<br />

und Marketing getätigt werden. Im Gegensatz dazu seien Plattformen für mobile Geräte<br />

oder PCs mit deutlich weniger Aufwand wirtschaftlich erfolgreich zu betreiben. 7<br />

2 VERORDNUNG (EU) 2022/2065 DES EUROPÄISCHEN PARLAMENTS UND DES RATES vom 19. Oktober 2022 über<br />

einen Binnenmarkt für digitale Dienste und zur Änderung der Richtlinie 2000/31/EG (Gesetz über digitale Dienste)<br />

3 VERORDNUNG (EU) 2022/1925 DES EUROPÄISCHEN PARLAMENTS UND DES RATES vom 14. September 2022<br />

über bestreitbare und faire Märkte im digitalen Sektor und zur Änderung der Richtlinien (EU) 2019/1937 und (EU)<br />

2020/1828 (Gesetz über digitale Märkte).<br />

4 Aus der Widerklage im Fall: Epic Games, Inc. v. Apple Inc. Case No. 3:20-cv-05640-YGR.<br />

5 https://www.pcgamesn.com/steam-revenue-cut-tim-sweeney<br />

6 https://www.ign.com/articles/2019/10/07/report-steams-30-cut-is-actually-the-industry-standard<br />

7 https://www.polygon.com/2018/12/4/18125498/epic-games-store-details-revenue-split-launch-date<br />

156 <strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024


Plattformökonomie im Fokus:<br />

Die Auswirkungen von Epic vs. Apple und Google auf die Videospielbranche<br />

Abbildung 1: Vergleich der Umsatzbeteiligungen 8<br />

Um diesen Argumenten noch mehr Gewicht zu verleihen, startete Epic 2018 den „Epic Game<br />

Store“ und warb damit, dass man dort nur 12% Umsatzbeteiligung verlangen würde. 9 Im gleichen<br />

Jahr entschied Epic ebenfalls, das immer populärer werdende Spiel Fortnite nun auch für<br />

Mobilgeräte anzubieten 10 . Allerdings wählte Epic aus den bislang genannten Gründen die Strategie<br />

den Spieleclient für Android in Form eines „Sideload-Pakets“ anzubieten. Bei dieser Strategie<br />

werden die Vetriebsplattformen umgangen – „cut out the middle man“ – und können daher auch<br />

keine Einnahmen über die abzuführende Umsatzbeteiligung generieren. Sowohl die Popularität<br />

des Spiels als auch die Tatsache, dass der offizielle Spieleclient eben nicht im Play Store zu<br />

finden war, führte nun zu dem Phänomen, dass Trittbrettfahrer, sogenannte „Copycats“ versuchten<br />

dies auszunutzen, indem sie sich als offizieller Fortnite Client im Play Store ausgaben. Um<br />

einem drohenden Imageschaden abzuwenden, lenkte Epic schließlich ein und ermöglichte es<br />

den Client über den Play Store beziehen zu können. Für den App Store wurde dieser „Umweg“<br />

nicht genommen, da Apple von Anfang an kein Sideloading zugelassen hatte.<br />

Im Jahr 2020 erneuerte Sweeney seine Kritik an den Umsatzbeteiligungen im Kontext von<br />

An hörungen vor dem US-Kongress 11 und Untersuchungen der EU-Kommission 12 zu Kartellvorwürfen<br />

gegen Big-Tech-Unternehmen. Sweeney gab jeweils an: „Apple has locked down and<br />

crippled the ecosystem by inventing an absolute monopoly on the distribution of software, on<br />

the monetization of software“, und „Google essentially intentionally stifles competing stores by<br />

having user interface barriers and obstruction“ 13 Diese Aussagen wurden durch die Tatsache<br />

unter stützt, dass große Plattformen jegliche Möglichkeit die eigenen Inhaltskontrollen zu umgehen<br />

umgehend sperrten. So war es zB nicht möglich den Cloud-Gaming-Dienst „XCloud“ von<br />

8 https://cdn.gamer-network.net/2018/articles/2018-12-04-14-44/EpicGamesStore_InfoGraphic.jpeg<br />

9 https://www.polygon.com/2018/12/4/18125498/epic-games-store-details-revenue-split-launch-date<br />

10 https://www.gamestar.de/artikel/fortnite-mobile-darum-kommt-die-app-fuer-android-handys-spaeter,3327520.<br />

html<br />

11 https://www.cnbc.com/2020/06/18/apple-app-store-faces-complaints-from-basecamp-others-eu-probe.html<br />

12 https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/en/ip_20_1073<br />

13 https://www.cnbc.com/2020/07/24/epic-games-ceo-tim-sweeney-apple-crippled-app-store-with-30percent-cut.<br />

html<br />

<strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024<br />

157


Kai Erenli<br />

Microsoft auf iOS zu nutzen, da dies von Apple unterbunden wurde. 14 Apple wiederum argumentierte<br />

die Umsatzbeteiligung mit dem immensen Wert, den der App Store für Anbieter:innen und<br />

Nutzer:innen darstellen würde und bei der Bewertung dieses Wertes auch die darin enthaltenen<br />

Dienstleistungen, wie zB das Bereitstellen von Tools und Software für die App-Entwicklung,<br />

sowie das Testen der Apps oder die Marketingbemühungen herangezogen werden müssten. 15<br />

Natürlich seien darüber hinaus auch nur so die hohen Standards von Apple in Bezug auf Datenschutz,<br />

Sicherheit, Inhalt und Qualität zu gewährleisten. 16<br />

Abbildung 2: Zahlungsoptionen für Fortnite im August 2020 17<br />

Dieser Streit gipfelte am 13. August 2020 in der Ankündigung von Epic Spielerinnen und Spielern<br />

die Möglichkeit zu geben durch direkte Zahlung an Epic 20% an Kosten einzusparen. 18 Dieser<br />

Schritt wurde von Epic von langer Hand geplant, es gab sogar einen Namen für das Projekt:<br />

„Project Liberty“. 19 Dazu reichte Epic ein Update für Fortnite zur Freischaltung im Apple Store ein,<br />

welcher von Apple überprüft und freigegeben wurde. Danach spielte Epic einen, Apple nicht zur<br />

Überprüfung vorzulegenden, „Hot Fix“ ein, wodurch die folgenden Zahlungsoptionen für Spielerinnen<br />

und Spieler sichtbar wurden: Apple entfernte Fortnite daraufhin umgehend aus dem<br />

14 https://www.eurogamer.net/articles/2020-08-07-apple-blocks-project-xcloud-on-ios<br />

15 https://arstechnica.com/gaming/2020/09/apple-accuses-epic-of-theft-in-countersuit-over-ios-fortnite/<br />

16 https://arstechnica.com/gaming/2021/05/epic-vs-apple-trial-starts-today-heres-what-to-expect/<br />

17 https://www.epicgames.com/fortnite/en-US/news/the-fortnite-mega-drop-permanent-discounts-up-to-20­<br />

percent<br />

18 https://www.epicgames.com/fortnite/en-US/news/the-fortnite-mega-drop-permanent-discounts-up-to-20-<br />

percent<br />

19 https://edition.cnn.com/2021/02/10/tech/tim-sweeney-epic-games-risk-takers/index.html<br />

158 <strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024


Plattformökonomie im Fokus:<br />

Die Auswirkungen von Epic vs. Apple und Google auf die Videospielbranche<br />

App-Store 20 und begründete dies mit der vorsätzlichen Vertragsverletzung durch Epic. 21 Epic<br />

klagte 22 daraufhin Apple auf Grund der Anwendung von unangemessenen Handelsbeschränkungen.<br />

23<br />

Diese Ereignisse – das Ausrollen eines ‚Hotfix‘, die prompte Entfernung von ‚Fortnite‘ aus dem<br />

App Store durch Apple, und die anschließende Klage von Epic – markieren einen Wendepunkt<br />

in der Auseinandersetzung um die Kontrolle und die Monetarisierung digitaler Inhalte. Dieser<br />

Beitrag geht daher auf die konkreten Rechtsstreitigkeiten, sowie dessen Auswirkungen auf die<br />

Plattformökonomie und die Frage ein, welche Auswirkungen die EU-Verordnungen zu digitalen<br />

Diensten bzw. Digitalen Märkten auf diese Art von Geschäftsbeziehungen haben könnte.<br />

2 Rechtsstreit: Epic vs Apple<br />

Um ein umfassendes Verständnis des Rechtsstreits zwischen Epic und Apple zu gewährleisten,<br />

werden im Folgenden die zentralen Argumente der klagenden Partei Epic und der beklagten<br />

Partei Apple gegenübergestellt.<br />

2.1 „Nature of the Action“<br />

Die Klage gegen Apple beginnt mit einem Hinweis auf einen Werbespot, den Apple anlässlich<br />

der Markteinführung des Macintosh im Jahr 1984 produzieren ließ. 24 Dieser nahm Bezug auf den<br />

Roman „1984“ von George Orwell und warb damit, dass man mit einem Macintosh sehen könnte,<br />

warum das echte 1984 nichts mit dem Roman-1984 gemein hätte. Epic produzierte parallel zum<br />

Einreichen der Klage 2020 einen Spot 25 , der zeigen sollte, dass Apple im Jahr 2020 genau zu dem<br />

geworden war, wovor der Konzern selbst 36 Jahre zuvor in seinem Werbespot gewarnt hatte, da<br />

Apple nun jede Konkurrenz in Bezug auf Marktkapitalisierung und Reichweite weit übertreffen<br />

würde. Apple wiederum gab in der Klagebeantwortung 26 zu, dass die Firma den Macintosh im<br />

Jahr 1984 auf den Markt gebracht hatte, verneinte aber logischerweise den Rest.<br />

Epic kritisiert Apple für sein angeblich marktbeherrschendes Verhalten, insbesondere für die<br />

Erhebung einer „30%-Steuer“ auf App-Verkäufe, was Anbieter vor die Wahl stellt, zu zahlen oder<br />

ausgeschlossen zu werden. Epic argumentiert, dass dies den Zugang zu Apps für über eine<br />

Milliarde Nutzer:innen von Mobilgeräten einschränkt. Apple bestreitet diese Darstellung, ohne<br />

jedoch detailliert darauf einzugehen. 27<br />

20 https://www.theverge.com/2020/8/13/21366438/apple-fortnite-ios-app-store-violations-epic-payments<br />

21 https://eu.pjstar.com/story/entertainment/2020/08/13/battle-brewing-between-fortnite-and-apple/114349396/<br />

22 Epic Games, Inc. v. Apple Inc. Case No 20-cv-05640-YGR<br />

23 Klage abrufbar unter: https://cand.uscourts.gov/cases-e-filing/cases-of-interest/epic-games-inc-v-apple-inc/<br />

24 https://www.youtube.com/watch?v=VtvjbmoDx-I<br />

25 https://www.youtube.com/watch?v=bPn_PGuYesw<br />

26 https://www.documentcloud.org/documents/7203851-Epic-v-Apple-counterclaims<br />

27 Epic Games, Inc. v. Apple Inc. Par 1 + 2. (Anm: Die Antworten von Apple beziehen sich immer auf die Zahl des Par<br />

in der Klageschrift und werden nicht gesondert zitiert)<br />

<strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024<br />

159


Kai Erenli<br />

Epic stellte in Folge den Vergleich zwischen dem App Store für Mobilgeräte und jenem für PC<br />

oder Notebooks (wie zB Mac oder MacBook) an und führte aus, dass für Anbieter:innen dort<br />

nicht nur verschiedene Möglichkeiten bestünden Software anzubieten, sondern auch, dass das<br />

„Processing Fee“ idH von 3% um ein zehnfaches niedriger sei als die im App Store für Mobilgeräte<br />

geforderte Summe. Apple sprach sich gegen die Nutzung des Ausdrucks „Processing Fee“ aus<br />

und verneinte die anderen Anschuldigungen. 28<br />

Epic beleuchtete die Auswirkungen von Apples Handeln auf Endnutzer:innen, indem es betonte,<br />

dass die Einschränkung des App-Angebotes insbesondere diejenigen träfe, für die Mobilgeräte<br />

den primären Zugang zum Internet darstelle. Die Klage, so Epic, ziele darauf ab, sowohl<br />

Nutzer:innen als auch Anbieter:innen von der beherrschenden Stellung Apples zu befreien.<br />

Apple bestritt diese Motivation und stellte in Frage, dass Epic keine eigenen Vorteile aus der<br />

Klage ziehen wollte. 29<br />

Epic führte in Folge aus, dass die vielen Apps in Apples App Store für Apple nicht nur eine<br />

immense Wertsteigerung darstellen würden, sondern Apple durch sein Marktauftreten auch<br />

innovationsfeindlich agieren würde. Als Ergebnis würden Nutzerinnen und Nutzer nicht nur<br />

weniger Auswahlmöglichkeiten haben, sondern müssten durch die „30%-Steuer“ auch teurere<br />

Preise bezahlen. Dieses wettbewerbsverhindernde Verhalten Apples zeige sich dabei insbesondere<br />

darin, dass die Pflicht zur Nutzung des App Stores zum Anbieten von Apps jegliche<br />

Geschäftsmodellinnovation ausschließe. Außerdem brächte es Anbieter in eine Situation, den<br />

durch Apple stark verminderten Umsatz gerade noch zur Deckung der eigenen Kosten (und eben<br />

nicht mehr zur Investition in eigene Innovation) zur Verfügung zu haben. Letztendlich seien auch<br />

Nutzerinnen und Nutzer gezwungen die daraus resultierenden nur wenig innovativen Apps zu<br />

hohen Preisen bei gleichzeitig minderwertigem Customer-Support zu kaufen. Die Vertragsbedingungen,<br />

in die App-Anbieter:innen einwilligen müssten, um überhaupt im App-Store anbieten<br />

zu können, würde diesen auch untersagen auf die Möglichkeit alternativer Bezugsmöglichkeiten<br />

hinzuweisen, was ebenfalls als klare Wettbewerbsbehinderung zu qualifizieren sei. Dabei würde<br />

ein Wegfall dieser aus Epics Sicht behindernden Maßnahmen die Marktmacht von Apple nicht<br />

gefährden. Apple verneinte die Anschuldigungen und gab an, dass die Umsatzbeteiligung in<br />

Höhe von 30% nach einem Jahr auf 15% sinke, Apple darüber hinaus von 84% aller angebotenen<br />

Apps keinerlei Umsatz generiere und auch für Milliarden an Apps, die täglich heruntergeladen<br />

würden keinerlei finanzielle Zuwendung erhalten würde. 30<br />

Epic führte hinsichtlich seiner eigenen Rolle aus, dass man mit dem Spiel Fortnite über 350 Millionen<br />

Spielerinnen und Spieler erreichen würde und dass diese wegen Apple höhere Preise als<br />

notwendig bezahlen müssten. Apple gab dazu an, dass nur ein Bruchteil dieser 350 Millionen<br />

Spielerinnen und Spieler das Spiel auch tatsachlich auf Apples Plattform iOS spielen würden<br />

28 Epic Games, Inc. v. Apple Inc. Par 3 + 4.<br />

29 Epic Games, Inc. v. Apple Inc. Par 5 + 6.<br />

30 Epic Games, Inc. v. Apple Inc. Par 7 - 14.<br />

160 <strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024


Plattformökonomie im Fokus:<br />

Die Auswirkungen von Epic vs. Apple und Google auf die Videospielbranche<br />

und nannte das Geschäftsmodell von Epic in Bezug auf die Preisgestaltung hypothetisch. 31 Epic<br />

beschrieb daraufhin die „Freiheiten“, die Anbieter:innen und Nutzerinnen und Nutzer abseits des<br />

App Stores (Anm: aber immer noch bei der Nutzung von Apple Produkten) hätten im Vergleich<br />

zu den bereits ausführlich beschriebenen Einschränkungen im App-Store. Epic gab auch an den<br />

Versuch unternommen zu haben mit Apple zu einer gütlichen Einigung in dieser Sache zu kommen.<br />

Apple erwiderte, dass diese Versuche von Epic die Bestimmungen des App Stores zu umgehen,<br />

abgelehnt würden. 32<br />

Letztendlich stellte Epic die Ereignisse des 13. August 2020 dar und beschrieb die bereits in<br />

diesem Aufsatz gewählte Strategie die Umsatzbeteiligung an Apple zu umgehen. Epic erneuert<br />

abermals die Anschuldigungen an Apple und gibt an, dass man mit dem Schritt Nutzerinnen und<br />

Nutzern eine alternative Zahlungsmöglichkeit anbieten wollte, um In-App-Verkäufe günstiger anbieten<br />

zu können. Apple bestätigte den Umgehungsversuch und wies darauf hin, dass Epic dadurch<br />

vorsätzlich gegen die vereinbarten Vertragsbedingungen verstoßen hätte. Darüber hinaus<br />

warf Apple Epic vor, dass durch diesen Schritt keinerlei Kostenersparnisse für Nutzerinnen und<br />

Nutzer entstanden seien, da Epic diese Einsparungen nicht weitergegeben hätte. Apple habe<br />

noch versucht mit Epic eine gütliche Einigung zu erzielen, um Fortnite wieder im App Store freizuschalten,<br />

Epic habe aber keine Änderungen am angebotenen Client vornehmen wollen, wodurch<br />

Apple gezwungen wurde, den Bann aufrecht zu halten. 33<br />

2.2 „Parties“ und „Relevant Facts“<br />

In den nächsten Abschnitten beschrieb Epic seine eigene Firmengeschichte und die Popularität<br />

von Fortnite und das angewendete (Anm: im gesamten Mobilbereich vorherrschende)<br />

Freemium-Geschäftsmodell. Epic stellt den Client des Spiels kostenfrei im App Store zur Verfügung,<br />

alle entstehenden Kosten müssen daher über In-App-Verkäufe abgedeckt werden. Apple<br />

verwies in diesem Zusammenhang drauf, dass Epic über den App Store mehr als 500 Mio US-$<br />

generiert hätte. 34 Epic unterstrich die marktbeherrschende Stellung von Apple und veranschaulichte<br />

dies durch eine historische Abhandlung der Entstehung und Entwicklung von App-Distributionswegen.<br />

In einer detaillierten Analyse der wettbewerbsbehindernden Maßnahmen beleuchtete Epic die<br />

technischen und vertraglichen Barrieren, die Apple errichtet hat. In technischer Hinsicht erlaube<br />

Apple einerseits, wie bereits erwähnt, kein „Sideloading“ von Apps, andererseits würde der App<br />

Store über das Betriebssystem iOS auf Mobilgeräten vorinstalliert werden und es gäbe weder<br />

die Möglichkeit einen alternativen Store zu installieren noch den vorinstallieren App-Store zu<br />

entfernen. 35 In vertraglicher Hinsicht, seien durch die unausweichliche Zustimmung zum Apple<br />

31 Epic Games, Inc. v. Apple Inc. Par 15 + 16.<br />

32 Epic Games, Inc. v. Apple Inc. 17 + 18.<br />

33 Epic Games, Inc. v. Apple Inc. Par 19 - 21.<br />

34 Epic Games, Inc. v. Apple Inc. Par 22 - 29.<br />

35 Epic Games, Inc. v. Apple Inc. Par 64 - 67.<br />

<strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024<br />

161


Kai Erenli<br />

Developer Agreement (ADA) 36 Wettbewerbsbehinderung in den Bestimmungen des ADA enthalten.<br />

37 Epic führte weiters an, dass Anbieter sich verpflichten würden Apps nur in Apples App<br />

Store anzubieten. Die Auswahl, ob Apps dann aber überhaupt im App Store aufscheinen würde<br />

läge ebenfalls allein bei Apple. Auch sei eine Bereitstellung von Apps im Betastadium (Anm.<br />

Zum Testen durch die Zielgruppe) über alternative Tools von Apple (wie zB TestFlight oder Ad<br />

Hoc) unter bestimmten Umständen gem § 1.2 ADA möglich, dies aber nur für einen sehr eingeschränkten<br />

und ausgewählten Nutzer:innenkreis. Apps alternativ zum App Store über den<br />

Apple Business Manager oder den Apple School Manager zur Verfügung zu stellen sei daher<br />

keine Option für generelle Vertriebsansätze. 38 Epic habe auch versucht mit Apple über diese<br />

Umstände und alternative Lösungswege zu sprechen, die Antwort von Apple lautete aber immer<br />

„No“ 39 Apple verneinte die Anschuldigungen bestätigte aber das „No“.<br />

Epic warf Apple darüber hinaus vor, dass es keine Rechtfertigungsgründe für den Mangel an<br />

wettbewerbsfördernden Maßnahmen gäbe. Der Rechtfertigungsgrund von Apple, dass all diese<br />

Maßnahmen notwendig seien, um den Anforderungen an Datenschutz und Sicherheit gerecht<br />

zu werden liefen ins Leere, da der Bezug von Software abseits des Mobilbereichs gänzlich<br />

unterschiedlich verlaufe. Dort gäbe es keine äquivalenten Maßnahmen. Apple wies die Anschuldigungen<br />

zurück und entgegnete, dass Apple die Verantwortung übernehme, dass für Applegeräte<br />

angebotene Software die höchsten Anforderungen an die branchenüblichen Standards<br />

für Datenschutz, Sicherheit und Inhalt erfülle. 40 Danach wiederholte Epic im Wesentlichen die<br />

vorgebrachten Vorwürfe 41 bis die Klage genauer auf den Prozess der In-App Käufe einging. Epic<br />

beschrieb in diesem Abschnitt ausführlich die Motivation für einen Kauf von Seiten der Spielerinnen<br />

und Spieler und die Hürde, die für eine Kaufentscheidung entstünde, wenn diese nicht in<br />

der App selbst vorgenommen werden würde. Epic verglich dies uA mit der Schnelllebigkeit der<br />

Entscheidung, die man auch bei Dating-Apps beobachten könne. Ohne eine Möglichkeit Nutzerinnen<br />

und Nutzer niederschwellig zu erreichen, würde eine App Gefahr laufen bedeutungslos<br />

zu werden. 42 Epic gab als Referenz für den „Lock-in“ durch Apple § 6.3. Ex. A des ADA als Referenz<br />

an, in dem auf die verpflichtende Nutzung des Bezahlsystems des App-Stores hingewiesen<br />

wird. Epic leitete aus diesen Vorwürfen ab, dass Apple ein Monopol installiert hätte und verwies<br />

darauf, dass andere Anbieter:innen von Zahlungsdiensten, wie zB „PayPal“, „Stripe“, „Square“<br />

oder „Braintree“ nur 1/10 als Umsatzbeteiligung verlangen würden. 43<br />

In den weiteren Abschnitten wiederholte Epic nun die bereits angeführten Vorwürfe und Anschuldigungen<br />

und versuchte diese an verschiedenen Stellen mit Marktdaten 44 zu belegen. Epic wies<br />

36 https://developer.apple.com/support/terms/<br />

37 Epic Games, Inc. v. Apple Inc. Par 70.<br />

38 Epic Games, Inc. v. Apple Inc. Par 73.<br />

39 Epic Games, Inc. v. Apple Inc. Par 81.<br />

40 Epic Games, Inc. v. Apple Inc. Par 84.<br />

41 Epic Games, Inc. v. Apple Inc. Par 84 - 109.<br />

42 Epic Games, Inc. v. Apple Inc. Par 110 - 117.<br />

43 Epic Games, Inc. v. Apple Inc. Par 118 - 126.<br />

44 zB Epic Games, Inc. v. Apple Inc. Par 169 - 177.<br />

162 <strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024


Plattformökonomie im Fokus:<br />

Die Auswirkungen von Epic vs. Apple und Google auf die Videospielbranche<br />

darüber hinaus darauf hin, dass Nutzerinnen und Nutzer nicht in der Lage wären, den „lifecycle<br />

price“ sinnvoll zu evaluieren. 45 Apple widersprach (logischerweise) all diesen Anschuldigungen.<br />

2.3 „Count“<br />

Die Rechtsgrundlagen, welche von Epic angeführt wurden, sind zum einen der „Sherman Act“<br />

und zum anderen der „California Cartwright Act“. Der Sherman Antitrust Act 46 vom 2. Juli 1890<br />

war die erste Rechtsquelle des US-amerikanische Wettbewerbsrechts. Er wurde angesichts<br />

der Entstehung marktbeherrschender Trusts, Kartelle und Monopole zu dieser Zeit eingeführt<br />

und sollte dazu dienen die große Marktmacht dieser Firmen einzuschränken. Der „California<br />

Cartwright Act“ 47 übernimmt die Normen des „Sherman Act“ fast wortgleich und enthält die<br />

wettbewerbsrechtlichen Bestimmungen des US-amerikanischen Staates Kalifornien.<br />

Die zehn Anklagepunkte von Epic lauteten:<br />

1. Das Gericht möge die unrechtmäßige Monopolstellung des App Stores gem § 2<br />

Sherman Act feststellen.<br />

2. Das Gericht möge die Weigerung Apples den durch den App Store vorgenommenen<br />

Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung und die dadurch resultierenden wettbewerbsbeschränkenden<br />

Auswirkungen gem der „essential facility“-Doktrin des § 2<br />

Sherman Act als unrechtmäßig erkennen.<br />

3. Das Gericht möge die wettbewerbsbehindernde Stellung des App Stores gem § 1<br />

Sherman Act feststellen.<br />

4. Das Gericht möge die unrechtmäßige Aufrechterhaltung des Monopols durch den App<br />

Stores gem § 2 Sherman Act feststellen.<br />

5. Das Gericht möge die wettbewerbsbehindernde Stellung des Zahlungsprozesses des<br />

App Stores gem § 1 Sherman Act feststellen.<br />

6. Das Gericht möge die wettbewerbsbehindernde Stellung durch die verpflichtende<br />

Verbindung der In-App-Verkäufe mit dem Zahlungsprozess des App Stores gem § 1<br />

Sherman Act feststellen.<br />

7. Das Gericht möge die wettbewerbsbehindernde Stellung des App Stores gem des<br />

California Cartwright Act feststellen.<br />

45 Epic Games, Inc. v. Apple Inc. Par 182.<br />

46 94–435, title III, § 305(a), Sept. 30, 1976, 90 Stat. 1397, unmittelbar nach der Klausel, mit der das Gesetz vom 2. Juli<br />

1890 in Kraft gesetzt wurde, wurde Folgendes hinzugefügt: „That this Act [this section and sections 2 to 7 of this<br />

title] may be cited as the ‘Sherman Act’.“<br />

47 Sections 16600 et seq. des California Business & Professions Code.<br />

<strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024<br />

163


Kai Erenli<br />

8. Das Gericht möge die wettbewerbsbehindernde Stellung des Zahlungsprozesses des<br />

App Stores gem des California Cartwright Act feststellen.<br />

9. Das Gericht möge die wettbewerbsbehindernde Stellung durch die verpflichtende<br />

Verbindung der In-App-Verkäufe mit dem Zahlungsprozess des App Stores gem des<br />

California Cartwright Act feststellen.<br />

10. Das Gericht möge eine einstweilige Verfügung gegen Apple erlassen, diese wettbewerbsrechtlichen<br />

Verstöße einzustellen.<br />

Apple forderte in seiner Widerklage (zusammengefasst):<br />

1. Das Gericht möge feststellen, dass Epic durch seine Handlungen Vertragsverletzungen<br />

begangen habe.<br />

2. Das Gericht möge die Haftpflicht von Epic für diese Vertragsverletzungen feststellen.<br />

3. Das Gericht möge Apple den entgangenen Gewinn durch diese Vertragsverletzungen<br />

zusprechen.<br />

2.4 Die Urteile<br />

Das erste Urteil wurde am 10. September 2021 verkündet. 48 Die Richterin Gonzalez Rogers wies<br />

darin neun von zehn Klagebegehren Epics ab. In der Begründung ihres Urteils hob die Richterin<br />

hervor, dass sich Nutzer im mobilen Bereich aufgrund des vorherrschenden „Freemium“­<br />

Geschäftsmodells an andere Vertriebsstrukturen gewöhnt haben. Sie stellte fest, dass Android<br />

und iOS ein Duopol bilden, obwohl auch die Nintendo-Switch und andere Cloud-Gaming-Anbieter<br />

als mögliche Konkurrenten angesehen werden könnten. Trotz Apples Marktanteil von 55% und<br />

hohen Gewinnmargen sah das Gericht darin allein kein kartellrechtswidriges Verhalten, denn „Erfolg<br />

sei nicht illegal“. Auch die Argumentation von Epic, dass Apple Nutzerinnen und Nutzer über<br />

ihre Dienste absichtlich an iOS binden würde, überzeugte Rogers nicht. Allein der im Klagebegehren<br />

von Epic enthaltene Vorwurf der wettbewerbsbehindernden Stellung durch die verpflichtende<br />

Verbindung der In-App-Verkäufe mit dem Zahlungsprozess des App Stores wurde von ihr<br />

aufgegriffen. Sie wies an, dass es Apple untersagt sei Anbietern von Apps im App-Store zu verbieten<br />

externe Links und Buttons einzubauen, die Nutzerinnen und Nutzer auf eine externe Seite<br />

führen und welche die Möglichkeit enthalten, dort digitale Transaktionen vornehmen zu können.<br />

In einem zweiten Urteil 49 vom selben Tag sprach die Richterin Apple den in der Widerklage beanspruchten<br />

Schadenersatz zu. Die Richterin kam diesbezüglich zu dem Entschluss, dass Apple<br />

im Recht war, Fortnite aus dem App Store zu entfernen. Daher sei Epic auch verpflichtet, Apple<br />

48 https://www.documentcloud.org/documents/21060628-epic-apple-injunction<br />

49 https://www.documentcloud.org/documents/21060697-apple-epic-judgment<br />

164 <strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024


Plattformökonomie im Fokus:<br />

Die Auswirkungen von Epic vs. Apple und Google auf die Videospielbranche<br />

den entgangenen Gewinn, auf Grund der illegalen Implementierung eines alternativen Bezahlsystems<br />

zu ersetzen. Das Gericht setzte diesen auf 3.65 Millionen US-$ fest.<br />

Auch wenn Epic nur in einem Punkt gegen Apple recht bekam, Apple aber wiederum mit seiner<br />

Klage auf Schadenersatz Erfolg hatte, so ließen diese Urteil die Tür für künftige Kartellbeschwerden<br />

offen. Rogers führt nämlich aus, dass „die Beweise darauf hindeuten, dass Apple mit seinem<br />

beträchtlichen Marktanteil nah an der Grenze zu einer Firma mit beträchtlicher Marktmacht oder<br />

Monopolmacht stehe“. „Apple würde nur dadurch gerettet, dass sein Anteil am Markt nicht höher<br />

sei, als jener von Konkurrenten, welche aus verwandten Teilmärkten in den Teilmarkt Mobile<br />

Gaming vordringen würde“ Die Richterin warf Epic vor, sich diesbezüglich nicht ausreichend auf<br />

dieses Thema konzentriert zu haben.<br />

Im Juli 2023 legte Epic gegen das Urteil Berufung beim Obersten Gerichtshof ein, ebenso wie<br />

Apple. Richterin Kagan lehnte im August 2023 Epics dringenden Antrag auf Aussetzung des<br />

Urteils ab. 50 Im Januar 2024 wies der Oberste Gerichtshof die vollständigen Berufungen von sowohl<br />

Apple als auch Epic im Fall zurück. Das Ergebnis des Falles stellte überwiegend einen Sieg<br />

für Apple dar, verpflichtete das Unternehmen jedoch weiterhin, Entwicklern zu erlauben, in ihren<br />

Apps Hinweise auf alternative Zahlungssysteme einzufügen.<br />

3 Rechtsstreit: Epic vs. Google<br />

Der Kern von Epics Vorwurf gegen Google war, dass der Play Store – gleich wie der App Store<br />

von Apple – eine Monopolstellung innehabe, welcher die Preise von Apps künstlich in die Höhe<br />

treibe, indem er Zahlungen und den Zugang zu alternativen Stores sowie Zahlungsformen<br />

einschränke. In der Auseinandersetzung mit Google 51 war Epic also mit den gleichen grundlegenden<br />

Herausforderungen wie im Fall gegen Apple konfrontiert, jedoch mit nuancierten<br />

Unterschieden, die die einzigartige Natur des Android-Ökosystems widerspiegeln. Während der<br />

initiale Rechtsstreit mit Apple als Fundament für das Verständnis der komplexen Beziehungen<br />

und Konflikte innerhalb der Plattformökonomie diente und daher ausführlich beschrieben wurde,<br />

konzentriert sich die Abhandlung über den Rechtsstreit zwischen Epic und Google auf die<br />

wesentlichen strategischen Anpassungen, die Epic in Reaktion auf die Erfahrungen und Erkenntnisse<br />

aus dem Urteil im Fall gegen Apple vorgenommen hatte. Besonders hervorzuheben ist<br />

hierbei, wie Epic die richtungsweisenden Aspekte des Urteilsspruchs der Richterin Gonzales als<br />

strategisches Learning integrierte und in seine Herangehensweise gegenüber Google hat einfließen<br />

lassen.<br />

50 https://www.reuters.com/legal/us-supreme-court-refuses-epic-bid-let-app-store-order-take-effect-applecase-2023-08-09/<br />

51 https://s3.documentcloud.org/documents/21046008/epic-v-google-unredacted-complaint.pdf<br />

<strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024<br />

165


Kai Erenli<br />

3.1 Technische Aspekte, Anklagepunkte und Hauptargumente<br />

Im Gegensatz zum iOS-Ökosystem erlaubt Android das Sideloading von Apps, was theoretisch<br />

mehr Freiheit für Entwickler und Nutzer bedeutet, sich außerhalb des offiziellen Play Stores zu<br />

bewegen. Epic nutzte diese Möglichkeit und bot Fortnite direkt über seine Website an, um die<br />

Gebühren des Play Stores zu umgehen. 52 Diese Strategie führt jedoch zu Konflikten mit Google,<br />

da Epic behauptet, Google würde technische und vertragliche Hürden schaffen, um den Einsatz<br />

alternativer Zahlungssysteme und die Verbreitung von Apps außerhalb des Play Stores zu erschweren.<br />

Epic behauptete in seiner Klage gegen Google folglich, dass Googles Praktiken im<br />

Play Store die Wettbewerbsfähigkeit einschränken und die Innovationsfreude dämpfe. Zu den<br />

Hauptvorwürfen Epics gehörte, dass Google durch seine <strong>Politik</strong> im Play Store und die damit<br />

verbundenen Entwicklungsvereinbarungen einen monopolähnlichen Kontrollmechanismus über<br />

den Android-App-Markt ausübe. Epic legte dar, dass diese Maßnahmen nicht nur die Entwickler<br />

einschränke, sondern auch den Konsument:innen schade, indem sie die Auswahlmöglichkeiten<br />

begrenze und die Preise für digitale Güter und Dienstleistungen erhöhe. Die Klage betonte durchgehend<br />

die Notwendigkeit, eine Balance zwischen dem Schutz der Ver braucher und der Förderung<br />

des Wettbewerbs zu finden.<br />

3.2 Das Gerichtsverfahren und das Urteil<br />

Vom 6. November bis zum 11. Dezember 2023 fand der Gerichtsprozess zwischen Epic und<br />

Google statt. 53 Im Verlauf der Verhandlungen legte Epic dar, wie Google mit verschiedenen Partnern<br />

Vereinbarungen traf, um die Vormachtstellung des Google Play Stores zu sichern und Konkurrenzplattformen<br />

abzuschrecken. Ein Schlüsselelement war hierbei das „Project Hug“ 54 , bei<br />

dem Google mit führenden Mobilspiel-Publishern wie Activision, Bandai Namco und vielen anderen<br />

kooperierte, um deren Apps exklusiv im Play Store zu halten. Dies umfasste Investitionen<br />

in Höhe von mehreren hundert Millionen Dollar.<br />

Ein weiteres Projekt, „Project Banyan“ 55 , beschäftigte sich mit einer Abmachung mit Samsung<br />

Electronics, um den Einfluss ihres Galaxy Stores auf Android-Geräten zu verringern. Epic machte<br />

deutlich, dass Google Epics Strategien als bedrohlich empfand, da sie befürchteten, dass andere<br />

Entwickler Epics Ansatz des Sideloading nachahmen könnten, was jährliche Einnahmeverluste<br />

in Milliardenhöhe bedeuten würde. Es kam sogar heraus, dass Google in Betracht zog, einen<br />

kontrollierenden Anteil an Epic zu erwerben, um sie von einer Umgehung des Play Stores abzuhalten.<br />

52 https://chromeunboxed.com/fortnite-google-play-store-epic-lawsuit/#google_vignette<br />

53 https://www.cnbc.com/2023/11/06/google-set-for-second-antitrust-trial-in-two-months-as-it-faces-epic.html<br />

54 https://www.theverge.com/2021/8/19/22632818/google-project-hug-game-developers-play-store-millions-epiclawsuit-complaint<br />

55 https://www.theverge.com/2023/11/13/23959570/samsung-knew-the-project-banyan-deal-was-anticompetitive<br />

166 <strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024


Plattformökonomie im Fokus:<br />

Die Auswirkungen von Epic vs. Apple und Google auf die Videospielbranche<br />

Zudem enthüllte Epic, dass Google spezielle Deals mit bestimmten Apps wie Spotify und Netflix<br />

abschloss, um die Gebühren des Play Stores zu umgehen oder zu senken. 56 Ein weiterer kritischer<br />

Punkt war die Entdeckung, dass Google relevante Chat-Nachrichten für den Fall gelöscht<br />

hatte, was ihre Glaubwürdigkeit vor der Jury beeinträchtigte. 57<br />

Die Jury traf ihre Entscheidung am 11. Dezember und urteilte in allen elf Anklagepunkten zugunsten<br />

von Epic. Sie bestätigte, dass Google mit seinem Play Store und dem zugehörigen<br />

Zahlungssystem wettbewerbswidrig gehandelt und seine Monopolstellung missbraucht hatte.<br />

Außerdem wurde festgestellt, dass Google seine Marktposition dadurch stärkte, dass es auf<br />

Android-Geräten von Drittanbietern wie Samsung den Play Store als vorinstallierte App forderte.<br />

3.3 Implikationen im Kontext europäischer Regulierung<br />

Die „Project Liberty“-Strategie von Epic Games und die darauffolgenden Klagen gegen Apple<br />

und Google haben zentrale Fragen bezüglich der Struktur und Funktionsweise digitaler Plattformmärkte<br />

aufgeworfen. Diese Fälle unterstreichen die Dringlichkeit einer regulatorischen<br />

Überprüfung und Anpassung im Umgang mit digitalen Großunternehmen und Plattformen. Die<br />

Einführung des DMA und des DSA durch die EU bildet einen wichtigen rechtlichen Rahmen, um<br />

die Marktbedingungen zu regulieren. Während der DMA darauf abzielt, die Marktmacht von<br />

Gatekeepern zu beschränken und gerechte Wettbewerbsbedingungen zu schaffen, konzentriert<br />

sich der DSA sich auf die Regulierung digitaler Dienste, insbesondere in Bezug auf Inhaltsverantwortung<br />

und Nutzer:innensicherheit. Diese Gesetzgebung ist entscheidend, um die durch<br />

die Auseinandersetzungen von Epic aufgezeigten Probleme anzugehen und den digitalen Markt<br />

gerechter und wettbewerbsfähiger zu gestalten.<br />

In den 109 Erwägungsgründen des DMA werden die in den Klagen von Epic gegen Apple bzw.<br />

Google angesprochenen Vorwürfe an vielen Stellen aufgegriffen. Gatekeeper haben nach Meinung<br />

der EU erhebliche Auswirkungen auf die digitalen Märkte. Sie würden den Zugang zu diesen<br />

in erheblichem Maße kontrollieren und hätten eine gefestigte Marktstellung. Dies wiederum führe<br />

zu einer starken Abhängigkeit vieler gewerblicher Nutzer von diesen Gatekeepern und in einigen<br />

Fällen auch zu unlauterem Verhalten gegenüber diesen gewerblichen Nutzer:innen. Zudem habe<br />

dies negative Auswirkungen auf die Bestreitbarkeit der betreffenden zentralen Plattformdienste.<br />

Ohne Maßnahmen auf EU-Ebene, so die Befürchtung, könnte es zu einer Fragmentierung des<br />

Binnenmarktes kommen. 58 Die VO richte daher gegen unlautere Praktiken von Gatekeepern, die<br />

entweder durch die bestehenden EU-Wettbewerbsvorschriften nicht abgedeckt seien oder im<br />

Rahmen dieser Vorschriften nicht wirksam unterbunden werden könnten. 59 Die Verordnung ist<br />

daher auch als lex specialis zu Art 101f AEUV zu verstehen. 60<br />

56 https://www.theverge.com/2023/11/13/23959217/here-is-what-google-planned-to-offer-oems-to-preloadgoogle-play-and-apps<br />

57 https://www.nytimes.com/2023/12/11/technology/epic-games-google-antitrust-ruling.html<br />

58 VO 2022/1925, EG 1-6.<br />

59 VO 2022/1925, EG 2.<br />

60 VO 2022/1925, EG 6.<br />

<strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024<br />

167


Kai Erenli<br />

In den Erwägungsgründen der RL wird festgehalten, dass zentrale Plattformdienste gleichzeitig<br />

eine Reihe von Merkmalen aufweisen würden, die deren Betreiber:innen zu ihrem eigenen Vorteil<br />

nutzen könnten 61 und dass große Anbieter:innen zentraler Plattformdienste beträchtliche<br />

wirtschaftliche Macht erlangt hätten und daher sich die Wahrscheinlichkeit erhöhe, dass die<br />

zugrunde liegenden Märkte bereits heute nicht mehr funktionieren würden oder aber zumindest<br />

in naher Zukunft nicht mehr gut funktionieren könnten. 62 Eine geringe Bestreitbarkeit und<br />

un lautere Praktiken sei insbesondere bei weitverbreiteten und allgemein genutzten digitalen<br />

Diensten der Fall, die meistens direkt zwischen gewerblichen Nutzern und Endnutzern vermitteln<br />

würden und bei denen Merkmale wie extreme Größenvorteile, sehr starke Netzwerkeffekte,<br />

die durch die Mehrseitigkeit dieser Dienste bedingte Fähigkeit, viele gewerbliche Nutzer mit vielen<br />

Endnutzern in Verbindung zu bringen, Lock-in-Effekte sowie fehlendes Multi-Homing oder<br />

eine vertikale Integration besonders stark ausgeprägt seien. Oft gäbe es nur einen oder sehr<br />

wenige Gatekeeper, was weitreichende Auswirkungen habe, da sie als solche nunmehr leicht<br />

zum Nachteil ihrer gewerblichen Nutzer:innen und Endnutzer:innen einseitig Geschäftsbedingungen<br />

festlegen könnten 63 oder aufgrund ihrer Position in bestimmten Fällen die Möglichkeiten<br />

gewerblicher Nutzer ihrer Online-Vermittlungsdienste Endnutzern über andere Online-Vermittlungsdienste<br />

Waren oder Dienstleistungen zu günstigeren Bedingungen (auch zu günstigeren<br />

Preisen) anzubieten zu beschränken. Durch diese Beschränkungen hätten Endnutzer auch nur<br />

begrenzte Wahlmöglichkeiten in Bezug auf Online-Vermittlungsdienste. 64<br />

Daher und um eine weitere Verstärkung der Abhängigkeit gewerblicher Nutzer:innen von den<br />

zentralen Plattformdiensten von Gatekeepern zu verhindern, sollen gewerbliche Nutzer:innen<br />

den Vertriebskanal, der sich ihrer Ansicht nach am besten für Interaktionen mit Endnutzern<br />

eignet, frei wählen können. Gleiches gilt auch für die Endnutzer:innen. Die Fähigkeit von<br />

Endnutzer:innen, außerhalb der zentralen Plattformdienste des Gatekeepers ohne Einschränkungen<br />

Inhalte, Abonnements, Funktionen oder andere Elemente zu erwerben, darf weder<br />

untergraben noch eingeschränkt werden. 65 Gewerbliche Nutzer:innen sollten die Möglichkeit<br />

haben, sich wegen verschiedener unlauterer Praktiken zu beschweren, zB wegen diskriminierender<br />

Zugangsbedingungen, einer ungerechtfertigten Schließung ihrer Nutzer:innenkonten<br />

oder unklarer Gründe für die Auslistung ihrer Produkte. 66 Letztendlich sollten die Preiskonditionen<br />

oder andere allgemeine Zugangsbedingungen als unlauter angesehen werden, wenn sie<br />

zu einem Ungleichgewicht zwischen den gewerblichen Nutzer:innen auferlegten Rechten und<br />

Pflichten führen oder dem Gatekeeper einen Vorteil verschaffen, der in Anbetracht seiner Dienstleistung<br />

für die gewerblichen Nutzer:innen unverhältnismäßig sei. 67 Die normativen Ausführungen<br />

zu den EG sprechen daher auch direkt die vorliegende Problematik der Aufteilung der Umsatzerlöse<br />

bzw. das Aufstellen von Distributionshemmnissen an.<br />

61 VO 2022/1925, EG 2.<br />

62 VO 2022/1925, EG 3.<br />

63 VO 2022/1925, EG 13.<br />

64 VO 2022/1925, EG 39.<br />

65 VO 2022/1925, EG 41.<br />

66 VO 2022/1925, EG 39.<br />

67 VO 2022/1925, EG 58.<br />

168 <strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024


Plattformökonomie im Fokus:<br />

Die Auswirkungen von Epic vs. Apple und Google auf die Videospielbranche<br />

Die EU hat am 6. September 2023 eine erste Klassifizierung der Gatekeeper vorgenommen 68<br />

Abbildung 3: Die erste „Gatekeeperliste“ der EU vom 6. September 2023<br />

Apple und Google (Alphabet) wurden von der EU als Gatekeeper identifiziert. Als Gatekeeper<br />

dürfen diese nicht länger ihre eigenen Dienste und Produkte auf ihrer Plattform bevorzugen,<br />

Verbraucher:innen daran hindern, mit Geschäften außerhalb ihrer Plattformen in Verbindung<br />

zu treten, Nutzern das Deinstallieren von vorinstallierter Software oder Apps verwehren oder<br />

Endnutzer außerhalb ihres Kernplattformdienstes für zielgerichtete Werbung ohne wirksame<br />

Zustimmung verfolgen. Die Europäische Kommission wird in regelmäßigen Abständen Marktuntersuchungen<br />

durchführen, um Unternehmen als Gatekeeper zu klassifizieren, die Pflichten<br />

für Gatekeeper dynamisch zu aktualisieren und bei systematischen Verstößen gegen das Gesetz<br />

über digitale Märkte entsprechende Maßnahmen vorzusehen. Bei Nichteinhaltung der im<br />

DMA festgehaltenen Regeln können gem Art 30ff DMA Geldbußen von bis zu 10 % des weltweiten<br />

Gesamtumsatzes des Unternehmens (bis zu 20 % bei wiederholter Zuwiderhandlung),<br />

Zwangsgelder von bis zu 5 % des durchschnittlichen Tagesumsatzes sowie Abhilfemaßnahmen<br />

verhängt werden. Diese können verhaltensorientierter oder struktureller Natur sein und im Falle<br />

von systematischen Verstößen nach einer Marktuntersuchung verhängt werden, einschließlich<br />

der Veräußerung von Geschäftsbereichen.<br />

In Hinblick auf die im amerikanischen Verfahren vorgebrachten Argumente von Epic wird davon<br />

auszugehen sein, dass Epic mit dem DMA eine hilfreiche Rechtsgrundlage erhält, seine Argumente,<br />

zumindest in der EU, erfolgreicher als in den USA vorbringen zu können, da die in Art<br />

6ff DMA angesprochene Möglichkeit für Gatekeeper angemessene Maßnahmen ergreife n zu<br />

68 https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/en/ip_23_4328<br />

<strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024<br />

169


Kai Erenli<br />

können, um sicherzustellen, dass Software-Anwendungen Dritter oder von Dritten betriebene<br />

Stores für Software-Anwendungen die Integrität der vom Gatekeeper bereitgestellten Hardware<br />

oder Betriebssysteme nicht gefährden, nur schwer begründbar sein wird. Auch das in Art 13<br />

DMA angeführte „Umgehungsverbot“ in vertraglicher, kommerzieller, technischer oder sonstiger<br />

Hinsicht kann als starker Versuch gewertet werden, die Marktmacht von Gatekeepern zu beschränken<br />

und vor allem umsatzschwächeren gewerblichen Nutzern ein rechtliches Instrument<br />

zur Verfügung zu stellen, sich gegen mögliche diskriminierende Maßnahmen zur Wehr zu setzen.<br />

Hatte Richterin Gonzales in ihrer Urteilsbegründung zu Epic vs Apple noch angeführt, dass die<br />

Klage auf Grund der in den USA geltenden Wettbewerbsregeln wenig Aussicht auf Erfolg habe,<br />

so zeigt der DMA hier deutlich, dass der europäische Gesetzgeber diese Aussagen als Aufforderung<br />

gesehen haben mag, diese Regelungslücke zu schließen.<br />

4 Fazit und Ausblick<br />

„Project Liberty“ hat einerseits gezeigt, dass der „Kampf um den Kuchen“ die Endnutzerinnen<br />

und Endnutzer zwar argumentatorisch (aus strategischen Gründen) mitdenkt, aber anderer seits<br />

die Verteilung der „großen Kuchenstücke“ zwischen den Diensteanbietern und Plattformbetreibern<br />

ausgetragen wird, ohne dass die Verbraucher:innen eine große Rolle spielen. Genau<br />

hier setzen DMA und der DSA der EU neue Maßstäbe in der Regulierung digitaler Märkte und<br />

beeinflussen sowohl die Rolle der Gatekeeper als auch die der Endnutzer:innen. Während der<br />

DMA darauf abzielt, die Macht großer Plattformen einzuschränken, fokussiert sich der DSA auf<br />

Nutzer:innenrechte und -sicherheit. Diese Gesetzgebung spiegelt ein gestiegenes Bewusstsein<br />

für die Komplexität digitaler Plattformökonomie wider. Für Endnutzer:innen bleibt abzuwarten,<br />

wie diese Veränderungen sich konkret auswirken. Der Rechtsstreit hat gezeigt, dass die Interessen<br />

der Verbraucher:innen oft in den Hintergrund treten und sie zu passiven Beobachtern<br />

der finanziellen Verteilungskämpfe zwischen Plattformbetreibern und Content-Anbieter:innen<br />

werden. (Richterin Gonzalez sprach den Verbrauchern in ihrem Urteil sogar allzu große Kenntnis<br />

über die tatsächliche Aufteilung des Geldes ab 69 ). Diese Entwicklungen betonen die Notwendigkeit<br />

einer fortlaufenden Beobachtung und Anpassung der Gesetzgebung, um die Interessen aller<br />

Beteiligten in der digitalen <strong>Wirtschaft</strong> zu wahren und auszugleichen. Auch wenn es abzuwarten<br />

bleibt, wie der Verteilungskampf in den USA letztendlich ausgeht und die Rechtsakte der EU<br />

gerade erst in Kraft gesetzt wurden und es daher noch Jahre brauchen wird, bis klar ist, ob die<br />

geplanten Ziele der EU auch tatsächlich erreicht werden konnten, so kann konstatiert werden,<br />

dass Videospiele inzwischen einen so starken Einfluss auf die Plattformökonomie haben, dass<br />

sie aus der politischen Debatte nicht mehr wegzudenken sind.<br />

69 Epic Games, Inc. v. Apple Inc., Urteil Rz 603 ff<br />

170 <strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024


Johannes Jäger<br />

Ist die Welt noch zu retten?<br />

Essay zur These vom Untergang des<br />

Abendlandes<br />

Michael Thöndl ist als Historiker und <strong>Politik</strong>wissenschafter ein herausragender und weithin anerkannter<br />

Kenner des geschichtsphilosophischen Werkes von Oswald Spengler. Spengler gilt<br />

nicht nur als wichtiger Kritiker der abendländischen Kultur, sondern hat auch ideengeschichtlich<br />

eine wichtige Rolle in der <strong>Politik</strong>wissenschaft inne (Thöndl 2015) und hat die bekannte These<br />

vom Untergang des Abendlandes formuliert. Laut Spengler zeigen bisherige historische Zivilisationen,<br />

von der ägyptischen über die Antike bis zum Aztekenreich, ähnliche Muster des Aufstiegs<br />

und Untergangs, ebenso wie die abendländische Kultur. Für letztere stellt sich die Frage,<br />

an welchem Punkt sich diese befindet. Die These lautet, das Abendland – und damit sind <strong>Europa</strong><br />

und die USA gemeint – ist bereits auf dem absteigenden Ast. Thöndl hat sich tiefgreifend mit<br />

den unterschiedlichen Dimensionen dieses Werkes auseinandergesetzt und seine aktuelle Bedeutung<br />

vielfach gezeigt (z.B. Thöndl 2004). Gerade weil Spengler heute wenig rezipiert wird, ist<br />

dies besonders verdienstvoll. Michael Thöndl hat mich damit – und auch im Zuge zahlreicher<br />

Gespräche zu anderen Themen – zum kritischen Nachdenken inspiriert, wofür ich sehr dankbar<br />

bin. Auch wenn ich mir nicht anmaßen kann, zur Diskussion um Spengler etwas beizutragen, so<br />

inspiriert seine zentrale These doch zu weitergehenden Reflexionen über die aktuelle Lage der<br />

Welt.<br />

Spenglers Zugang liegt quer zu postmodernen Erzählungen. Ebenso widerspricht er nach wie<br />

vor weit verbreiteten liberalen Machbarkeitsvorstellungen und Fortschrittsoptimismus. Auch<br />

unterscheidet sich Spenglers Zugang fundamental von geschichtsphilosophischen Werken in<br />

der Tradition der kritischen politischen Ökonomie. Bei letzterer steht nicht das Abendland im<br />

Sinne <strong>Europa</strong>s und der USA im Zentrum, sondern diese Herangehensweise fokussiert auf den<br />

Kapitalismus als umfassendes globales System. Dieses System wird in kritisch politökonomischer<br />

Perspektive als über die Weltwirtschaft verknüpft und von Imperialismus und Abhängigkeitsbeziehungen<br />

strukturierte dialektische Einheit begriffen (Jäger 2020). Während Marx vielfach<br />

den Fortschrittsoptimismus des 19. Jahrhunderts widerspiegelt, finden sich bei Marx auch<br />

gegensätzliche Ansätze. Geschichte ist für Marx bekanntermaßen eine Geschichte von Klassenkämpfen,<br />

die sich daraus ergeben, dass die Entwicklung der Produktivkräfte mit den sozialen<br />

Verhältnissen bzw. Klassenverhältnissen in Widerspruch gerät. Die Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse,<br />

und damit die Produktionsweise, ist heute jedoch eine ganz spezifische und<br />

unterscheidet sich fundamental von früheren Kulturen bzw. Zivilisationen, wie sie von Spengler<br />

erfasst wurden. Es stellt sich aber natürlich die Frage, ob sie nicht trotzdem ähnlichen Mustern<br />

folgen. Vorausgehende Kulturen, wie sie seit der neolithischen Revolution ausgebildet wurden<br />

– und wie sie sich durch eine spezifische Entwicklung der Produktivkräfte auszeichnen, können<br />

<strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024<br />

171


Johannes Jäger<br />

im weitesten Sinne als feudale Gesellschaften bezeichnet werden (van der Pijl 2007). Generell<br />

gilt, dass hier im Vergleich zu traditionellen auf Jagd und Sammeln ausgerichteten Produktionsweisen<br />

deutlich stärker Hierarchien herausgebildet wurden, politische und ökonomische Macht<br />

zusammenfallen und Gewalt und gewaltförmige Auseinandersetzungen dramatisch zugenommen<br />

haben. Wenn auch die Muster ähnlich sind, so zeigen sich diese Zivilisationen nicht nur<br />

als sehr instabil, sondern auch sehr unterschiedlich. Es gibt zwar klare strukturelle Tendenzen,<br />

dennoch finden sich historisch immer wieder Versuche, egalitärere Produktions- und damit egalitärere<br />

Herrschaftsverhältnisse für längere Zeiträume durchzusetzen, die teilweise auch erfolgreich<br />

waren (Graeber/Wengrow 2022).<br />

Die kapitalistische Produktionsweise unterscheidet sich jedoch fundamental von vorhergehenden,<br />

feudalen Produktionsweisen. Die kapitalistische Produktionsweise bedingt nicht nur eine<br />

wahre Explosion der Produktivkräfte, sondern führt auch zu neuartigen Herrschaftsweisen und<br />

Widersprüchen. Wenn auch im Kapitalismus die Mechanismen der Ausbeutung und Herrschaft<br />

neuartig sind, so sind sie doch nicht verschwunden. Die ursprüngliche Akkumulation, ein noch<br />

nicht abgeschlossener Prozess, der in jüngerer Zeit wieder neue Dynamiken erlangt hat (Harvey<br />

2009), beraubt Menschen des Zugangs zu Produktionsmitteln wie etwa Land. Lohnabhängige<br />

werden bzw. sind im Kapitalismus damit doppelt frei. Einerseits frei von Produktionsmitteln,<br />

anderseits frei, um ihre Arbeitskraft zu verkaufen. Die technologischen Revolutionen der Dampfmaschine<br />

(Malm 2016) sowie der Eisenbahn im 19. Jahrhundert haben weltweit traditionelle<br />

Arbeits- und Lebensformen zerstört und umgestaltet. Kapitalismus wird jedoch als in sich widersprüchliches<br />

System begriffen, das auch an seinen eigenen Widersprüchen scheitern müsse.<br />

Damit würden Revolutionen, die dem Kapitalismus zugrunde liegenden Ausbeutungsverhältnisse<br />

aufheben und zu einer klassenlosen Gesellschaft führen. Mit zunehmendem Fortschreiten<br />

der Geschichte und den zahlreichen Revolutionen und ihren Widersprüchen, Erfolgen, aber auch<br />

eklatanten Misserfolgen (Traverso 2021) tritt der Fortschrittsoptimismus und die Hoffnung<br />

auf egalitärere Produktionsweisen zunehmend in den Hintergrund. Bereits bei Adorno und<br />

Horkheimer (1947) ist angesichts der Gräuel des Zweiten Weltkriegs und des Holocaust vom<br />

aus der Aufklärung stammenden Fortschrittsoptimismus nicht mehr viel übrig.<br />

Vor dem Hintergrund der globalen ökologischen Katastrophen, die erst in den letzten Jahren<br />

stärker ins Bewusstsein gekommen sind, wird der Widerspruch zwischen grenzenloser Kapitalakkumulation<br />

und den ökologischen Grenzen des Planeten deutlich (Lawrence/Laybourn-Langton<br />

2021). Wie Saito (2017) zeigt, war sich auch Marx insbesondere in seinen späteren Schriften<br />

dieses Widerspruchs zwischen kapitalistischer Expansion und natürlichen Grenzen bewusst<br />

und hat sich insbesondere zur Frage der nicht-nachhaltigen Bewirtschaftung und daraus entstehenden<br />

Qualitätsminderung des Bodens auseinandergesetzt. Neben der ökologischen Krise des<br />

Kapitalismus wird durch das jüngste Aufflammen von Krieg auch in <strong>Europa</strong> die zerstörerische<br />

Tendenz kapitalistischer Rivalitäten in ihrer (inter-)imperialistischen Ausformung (van der Pijl<br />

2006) neuerlich deutlich. Angesichts des atomaren Auslöschungspotenzials ist die schwache<br />

Ausprägung friedenspolitischer Bewegungen erschreckend. Ökologische Krise, Krieg, autoritäre<br />

Tendenzen in etablierten Demokratien und sich verfestigende autokratische Strukturen weltweit,<br />

172 <strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024


Ist die Welt noch zu retten? Essay zur These vom Untergang des Abendlandes<br />

sowie die angesichts knapp einer Milliarde hungernder Menschen ungelösten sozialen Probleme<br />

(Davis 2007), stellen in der Tat ein düsteres Szenarium dar. Fast zwangsläufig drängt sich das<br />

Bild vom Untergang des Abendlandes auf. Dennoch – und das ist eine zentrale Erkenntnis der<br />

bisherigen Geschichte des Kapitalismus – folgt diese trotz gewisser Tendenzen nicht zwangsläufig<br />

einem festgelegten Muster. Zunehmende Widersprüche im Kontext der ökologischen<br />

Krise können, wie Foster (2022) argumentiert, auch progressive Kräfte stärken, Klassenkämpfe<br />

befeuern und zur Überwindung des Kapitalismus beitragen. Mit Ernst Bloch (1959) kann formuliert<br />

werden, dass zumindest die Hoffnung besteht, dass Menschen – trotz aller strukturell destruktiver<br />

Tendenzen – ihr Zusammenleben anders gestalten. Ein teleologisches Geschichtsbild<br />

und die Vorstellung fix ablaufender Muster sind da irreführend. Schließlich sind es, wie Marx<br />

(1848 [1999]) festhält, die Menschen, die ihre Geschichte machen, wenn auch nicht unter selbst<br />

gewählten Umständen.<br />

Literatur<br />

Adorno, Theodor W. / Horkheimer, Max (1997 [1947]): Dialektik der Aufklärung. Berlin: Suhrkamp.<br />

Bloch, Ernst (1959): Das Prinzip Hoffnung. Frankfurt a.M.: Suhrkamp<br />

Davis, Mike (2007): Planet of Slums. London: Verso.<br />

Foster, John Bellamy (2022): Capitalism in the Anthropocene. Ecological Ruin or Ecological<br />

Revolution. New York: Monthly Review Press.<br />

Graeber, David / Wengrow, David (2021): The dawn of everything: A new history of humanity.<br />

London: Penguin.<br />

Harvey, David (2009): The ‘New’ Imperialism: Accumulation by Dispossession. In: Panitch /Leys<br />

(Hg.): The New Imperial Challenge. Socialist Register. London: Merlin Press, 63-87.<br />

Jäger, Johannes (2020): From Marx to Critical International Political Economy. In: Vivares (Hg.):<br />

The Routledge Handbook to Global Political Economy. London: Routledge, 247-261.<br />

Lawrence, Mathew / Laybourn-Langton, Laurie (2021): Planet on Fire: A Manifesto for the Age of<br />

Environmental Breakdown. London: Verso.<br />

Malm, Andreas (2016): Fossil Capital: The Rise of Steam Power and the Roots of Global Warming.<br />

London: Verso.<br />

Marx, Karl (1848 [1999]): Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte. MEW Bd. 8. Berlin: Dietz<br />

Verlag.<br />

<strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024<br />

173


Johannes Jäger<br />

Saito, Kohei (2017): Karl Marx’s ecosocialism: Capital, nature, and the unfinished critique of<br />

political economy. New York: NYU Press.<br />

Thöndl, Michael (2004): Wie oft stirbt das Abendland?. In: Archiv für Kulturgeschichte, 86 (2),<br />

441-462.<br />

Thöndl, Michael (2015): Einführung in die <strong>Politik</strong>wissenschaft: Meilensteine, Methodik und<br />

Arbeitsweisen in der politischen Theorie und Ideengeschichte. Wien: Böhlau Verlag.<br />

Traverso, Enzo (2021): Revolution. An intellectual history. London: Verso<br />

Van der Pijl, Kees (2006): Global Rivalries. From the Cold War to Iraq. London: Pluto Press.<br />

Van der Pijl, Kees (2007): Nomades, Empires, States. Modes of foreign Relations and Political<br />

Economy, Volume I. London: Pluto Press.<br />

174 <strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024


Ina Pircher<br />

Faschistische <strong>Europa</strong>ideen und ihre Erben<br />

Abstract<br />

In der folgenden Auseinandersetzung mit den faschistischen <strong>Europa</strong>ideen wird die Genese eben<br />

dieser Ideen nachgezeichnet. Dabei wird auf den Faschismus und Mussolini eingegangen und<br />

der erste größere gemeinsame <strong>Europa</strong>kongress der Faschist:innen 1934 wird thematisiert. Auch<br />

die Beiträge faschistischer <strong>Politik</strong>er:innen und Intellektueller zur <strong>Europa</strong>idee werden behandelt.<br />

Darüber hinaus wird beschrieben, welche Ideen über das Kriegsende des zweiten Weltkrieges<br />

hinaus in rechtsextremistischen Parteien und Bewegungen konzipiert wurden.<br />

Spätestens mit dem Eintritt der Französischen Revolution beginnt die Epoche der Moderne und<br />

mit ihr das Zeitalter des Nationalismus. So wie die Enzyklopädist:innen 1 die Französische Revolution<br />

vorbereitet haben, haben Intellektuelle und Universitätsprofessor:innen den Nationalismus<br />

wissenschaftlich und philosophisch begründet. Sämtliche Ideen des 19. Jahrhunderts, wie beispielsweise<br />

der Sozialdarwinismus, der Kult der Technik und die Idee vom neuen Menschen,<br />

kulminierten im 20. Jahrhundert in ihrer extremsten Ausprägung in Faschismus und Nationalsozialismus.<br />

Mit Ende des ersten Weltkrieges wurde die staatliche Ordnung <strong>Europa</strong>s neu gegründet.<br />

Es entstanden moderne Nationalstaaten, in denen im Zuge von Krisen extrem nationalistische<br />

Bewegungen politische Macht gewinnen konnten. Entgegen langläufiger Meinung,<br />

dass diese Bewegungen ausdrücklich nur chauvinistisch und national gewesen seien, begeisterten<br />

sie sich auch immer für gemeinsame Mythen und konkrete politische Zusammenarbeit über<br />

die Staatsgrenzen hinweg. Der gemeinsame Gründungsmythos <strong>Europa</strong>s, bestehend aus hellenischer<br />

Kultur und römischer Zivilisation, wurde um den Mythos der Tat, konkret des Kampfes,<br />

erweitert, blieb jedoch faktisch konsequenzenlos, weil der Verlauf des zweiten Weltkrieges die<br />

Umsetzung verhinderte. <strong>Europa</strong>ideen der Zwischenkriegszeit und aus der Kriegszeit blieben jedoch<br />

bis heute in extremistischen Kreisen virulent und wirkmächtig.<br />

2 Von den universalen Reichen zum Nationalstaat<br />

Bevor das Zeitalter der Moderne und mit ihm das Zeitalter des Nationalismus begann, gab es<br />

universale Reiche, deren innere Ordnungen religiös konnotiert waren. Eine solche Ordnung<br />

sollte beispielsweise in römisch-katholischen Staaten die Ordnung des Himmelreiches auf Erden<br />

widerspiegeln. 2 Das russische Reich verstand sich beispielsweise als das Dritte Rom 3 und<br />

die Hohe Pforte 4 als die universale Vertretung der Islamischen Welt. Das Ende des ersten Weltkrieges<br />

brachte das Ende vieler universaler Reiche. So auch das Ende des Habsburger staates,<br />

der sich als Erbe des Heiligen römischen Reiches Deutscher Nation verstand, das Ende des<br />

Deutschen Reiches von 1871, das Ende des Osmanischen Reiches 1923 und das Ende des<br />

1 Als Enzyklopädist:innen werden die 144 Autor:innen der von Denis Diderot und Jean Baptiste le Rond d‘Alembert<br />

herausgegebenen Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences bezeichnet, die in der Zeit von 1751 bis 1780<br />

erschienen ist.<br />

2 Details siehe Theologische Realenzyklopädie (1997): Band 28 Pürstinger – Religionsphilosophie. Walter de Gruyter.<br />

3 Die Idee Moskau als Erbe Byzanz und somit als Drittes Rom zu sehen.<br />

4 ‚Hohe Pforte‘ war im Osmanischen Reich der Name des Tors des Topkapı-Palasts in Istanbul und wurde schließlich<br />

zum Metonym für den Sitz der osmanischen Regierung.<br />

<strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024<br />

177


Ina Pircher<br />

Zaristischen Russlands. Alle diese Reiche waren in <strong>Europa</strong> Ordnungsmächte und verstanden sich<br />

ausdrücklich nicht als Nationalstaaten. Der Nationalismus an sich war aber bereits im 19. Jahrhundert<br />

eine weitverbreitete Sichtweise, vor allem bei Akademiker:innen. Kernpunkt dieses<br />

Nationalitäten prinzips war die Tendenz, die Staatsgrenzen mit den vorhandenen Volksgrenzen in<br />

Übereinstimmung zu bringen und dies als Folge der Grundabsicht jedem geschichtsfähigen und<br />

seiner selbst bewussten Volk einen eigenen Staat zu sichern. Voraussetzung dieses Nationalitätenprinzips<br />

war der Nachweis, dass es Völker und eine eigene Volkskultur gab. Die Völker waren<br />

die eigentlichen geschichtlichen Größen. Ihre positive und grundsätzliche Bewertung und die<br />

Überzeugung, dass sie für den:die Einzelne:n übergreifende, geschichtliche Einheiten seien, war<br />

essentiell für diese Anschauung. Wesentlich ist auch, dass sich durch die Existenz von Völkern<br />

der Gang der Weltgeschichte vollziehe. Der daraus entspringende Wille fasse diejenigen in einer<br />

Einheit der politischen Organisation zusammen, die von Natur und Geschichte aus in objektiv<br />

vorgegebener Weise dazu bestimmt seien (vgl. Herder 1984: 7-61).<br />

Katalysator der Entwicklung eigenständiger Nationalstaaten war die Rede des Präsidenten<br />

der USA Woodrow Wilson gegen Ende des ersten Weltkrieges. Am 8. Januar 1918 hielt er eine<br />

programmatische Rede vor beiden Häusern des US-Kongresses, in denen er die sogenannten<br />

14 Punkte für einen Frieden in <strong>Europa</strong> formulierte. In den Punkten 6 bis 13 forderte er letztlich<br />

nichts anderes als die Schaffung von Nationalstaaten auf der Grundlage der Volkszugehörigkeit<br />

auf den Trümmern der sich damals noch im Krieg befindlichen Reiche <strong>Europa</strong>s. Mit der Entstehung<br />

dieser neuen Nationalstaaten ist auch die Entstehung neuer Bewegungen und Ideologien<br />

verbunden (vgl. Wilson 1918: online). Die Kriegsheimkehrer:innen fanden oftmals eine vom Krieg<br />

gezeichnete Heimat vor, die gewohnte politische Ordnung war verschwunden. Finanzkrisen, ökonomische<br />

Engpässe, Arbeitslosigkeit, soziale Entwurzelung und die militärische Niederlage oder<br />

die Enttäuschung nach hochgespannten Erwartungen prägten die Situation. Da man Dalmatien<br />

nicht als Kriegsbeute erhielt (vgl. Volpe 1934: 38), was unter anderem die Entstehung extremistischer<br />

Gruppen förderte, sprach man beispielsweise in Italien von einem „mit Füßen getretenen<br />

Sieg“ (Gayda 1941: 55).<br />

2 Mussolini und der Faschismus<br />

Um an das Thema der faschistischen <strong>Europa</strong>ideen heranzuführen, wird zunächst auf die Biographie<br />

Mussolinis und die Entstehung des Faschismus in Italien eingegangen. Das wirkmächtigste<br />

Vorbild, quasi die Blaupause aller Rechtsextremist:innen, sollte der Faschismus Mussolinis<br />

werden. Mussolini, einst Sozialdemokrat und unter anderem Chefredakteur der sozialistischen<br />

Tageszeitung „Avanti!“ in Mailand, war ein Kenner der Theoretiker:innen des utopischen Sozialismus,<br />

der Gewaltlehre George Sorels 5 , des Anarchismus von Bakunin und der Philosophie<br />

Nietzsches. Eigentlich ein Produkt der Nachkriegszeit, hatte die faschistische Ideologie ihre<br />

Wurzeln im italienischen Interventionismus der Jahre 1914/1915, das heißt in der Propaganda<br />

5 George Sorel war ein französischer Sozialphilosoph und Vordenker des Syndikalismus. Sein Buch „Über die Gewalt“<br />

beeinflusste auch den Faschismus.<br />

178 <strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024


Faschistische <strong>Europa</strong>ideen und ihre Erben<br />

für den Kriegseintritt Italiens an der Seite der Entente-Mächte. Mussolini war nach Herkunft und<br />

Erziehung Sozialist und blieb dies auch zwölf Jahre lang von 1902 bis 1914. Zwar legte er Marx<br />

undogmatisch aus, verteidigte aber den Klassenkampf, setzte sich für die Landarbeiter:innen<br />

und gegen die Großgrundbesitzer:innen ein, agitierte gegen den Kolonialkrieg Italiens in Libyen<br />

(1911) – was ihm sogar eine Gefängnisstrafe eintrug – und hielt Reden gegen den Nationalismus,<br />

da dieser aus seiner Sicht alt und überlebt war, und im Bündnis mit dem Vatikan und Österreich<br />

stand. Er war ein militanter Sozialist, der die Reformist:innen in der Partei verachtete, den<br />

Kampf, die Aktion und das gefährliche Leben verherrlichte und Marx in die Nähe von Nietzsche<br />

rückte. Als sich bei Kriegsbeginn die italienische Regierung für neutral erklärte und die sozialistische<br />

Partei ihren Grundsätzen getreu zustimmte, griff Mussolini sie in der „Avanti!“ an und<br />

forderte den Kriegseintritt Italiens an der Seite der Entente. Aus der Partei und der Redaktion<br />

ausgeschlossen, gründete er eine eigene Zeitung namens „Popolo d’Italia“ die auch noch den<br />

Untertitel „Eine sozialistische Tageszeitung“ trug, und das Motto „Wer Stahl hat, hat Brot“ vertrat,<br />

ein Wort von Auguste Blanqui 6 , dem Theoretiker der revolutionären Verschwörung und Gewaltanwendung.<br />

Für Mussolini stand jetzt der Krieg für die Revolution. Damals entstand auch eine<br />

für den Krieg demonstrierende Jugendorganisation, die 1919 in die „Fascio di Combattimento“<br />

(Kampfbünde) umgebildet wurde. 7 Kriegsheimkehrer:innen und Militante jeglicher Couleur sammelten<br />

sich in den Kampfbünden und den Squadre (Sturmtruppen). Den Kampf um die Macht<br />

im Staate führte der Faschismus mit Hilfe dieser Squadre d’azzione. Es ist die Methode des<br />

kontinuierlichen, sich steigernden Aufstandes in den Jahren der zerfallenden Staatsautorität.<br />

1922 kulminiert die Entwicklung im „Marsch auf Rom“ (vgl. Buchheit 1938: 138). Mussolini verhandelt<br />

in den entscheidenden Tagen von Mailand die Bildung einer Koalitionsregierung aus und<br />

stellt an das schwache Kabinett Facta 8 in Rom immer höhere Forderungen. Als der König den<br />

schon verhängten Ausnahmezustand wieder aufhob, ist für Mussolini der Weg zur Macht offen.<br />

Er verlässt Mailand, als ihm ein königliches Telegramm die Regierungsbildung zusichert. Das<br />

Abgeordnetenhaus spricht ihm mit 306 gegen 116 Stimmen das Vertrauen aus, und überträgt<br />

ihm die Regierungsvollmachten (vgl. Balbo 1933).<br />

Mussolinis Faschismus fand alsbald Nachahmer:innen. Ob es der Spanier José Primo de Rivera<br />

mit seiner Falange war, der Belgier Lèon Degrelle mit seiner Rexistenbewegung, der Engländer<br />

Oswald Mosley mit seiner British Union of Fascists, der Franzose Jacques Doriot mit der Parti<br />

populaire français, sowie der Rumäne Corneliu Zelea Codreanu mit der Legion Erzengel Michael<br />

– sie alle nahmen Anleihen an Mussolinis Faschismus sowohl inhaltlich als auch vom Auftreten<br />

her. So wurde beispielsweise Oswald Mosley zur Gründung einer faschistischen Partei durch<br />

einen Besuch im Jänner 1932 bei Mussolini in Rom inspiriert. Mosley wollte nach seiner Rückkehr<br />

nach England analog zum Marsch auf Rom einen Marsch auf Westminster durchführen.<br />

„Er kommt“, schrieb einer seiner Freunde in seinem Tagebuch, „von der Idee nicht los, an der<br />

Spitze von Stoßtrupps nach Westminster zu marschieren, die Trommeln schlagen zu lassen und<br />

MacDonald 9 zu verhaften, um ihn anschließend auf der Insel Wright zu internieren. Mosley ist ein<br />

6 Louis-Auguste Blanqui war ein französischer Revolutionär, Theoretiker und 1871 Mitglied der Pariser Kommune.<br />

7 Details zur Fascio di Combattimento siehe Volpe 1934.<br />

8 Luigi Facta war von 1919 bis 1920 Finanzminister und letzter Ministerpräsident vor Mussolini.<br />

9 James Ramsay MacDonald war ein britischer <strong>Politik</strong>er und zweimal Premierminister der Vereinigten Königreichs.<br />

<strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024<br />

179


Ina Pircher<br />

Romantiker“ (Schädlich 1993: 85). Trotz mannigfaltiger Unterschiede der faschistischen Bewegungen<br />

und Parteien untereinander, waren sie sich in der Ablehnung der Demokratie westlicher<br />

Art sowie im Kampf gegen den Kommunismus einig. Gemeinsam ist allen die Begeisterung für<br />

den Kampf in Spanien, der als verbindender Mythos mobilisierend wirken sollte.<br />

3 Der spanische Bürger:innenkrieg als verbindendes Element faschistischer Bewegungen<br />

In Spanien wurde am 15. Jänner 1936 ein linkes Bündnis gebildet. Dieser „Frente Popular“<br />

umfasste Republikaner:innen, Sozialist:innen, sowie Kommunist:innen und Trotzkist:innen,<br />

Katalanische Anarchist:innen und Separatist:innen. Am 16. Februar 1936 gewann diese Volksfront<br />

die Parlamentswahlen. Erstmals saßen Kommunist:innen in einer europäischen Regierung.<br />

Die Volksfrontregierung war abhängig von einer marxistisch-leninistischen Partei, deren Geldmittel<br />

die von Moskau gesteuerte Komintern (Kommunistische Internationale) überwies. Planmäßig<br />

kam es zu Streiks, Fabrikbesetzungen und Aufständen sowie zu einer Welle von Attentaten<br />

und politischen Morden. Als in der Nacht des 13. Juli 1936 der Führer der parlamentarischen<br />

Rechten in Spanien, Calvo Sotelo, ermordet wird (vgl. Payne 2006: 319), beginnt in Spanien ein<br />

Bürger:innenkrieg der drei Jahre andauert. Im Spanischen Bürgerkrieg, der zugleich der emotionale<br />

Höhepunkt des europäischen Faschismus ist, gilt der Ruf „¡Viva la Muerte!“ (Es lebe der<br />

Tod!) als Wahlspruch der Faschist:innen. Zunächst war der Ruf die Parole der Tercio Extranjero,<br />

der spanischen Fremdenlegion, und soll von deren Schöpfer General Josè Millàn Astray geprägt<br />

worden sein. Jedenfalls hatte er am 12. Oktober 1936 eine in Spanien sehr bekannte Auseinandersetzung<br />

mit dem Dichter und Universitätsrektor Miguel de Unamuno. Astray schrie seine<br />

Forderung in den Saal, dass alle Intellektuellen getötet werden müssten: „¡Muera la inteligencia!<br />

¡Viva la Muerte!“ („Tod den Intellektuellen! Es lebe der Tod!“) (Jensen 1992: 425).<br />

Der Krieg in Spanien war nicht nur ein Bürger:innenkrieg, sondern ein internationaler Krieg, der<br />

noch dazu ein ideologischer Krieg war, und der deshalb über Spaniens Grenzen hinaus von Bedeutung<br />

war. Neben dem Deutschen Reich unterstützt auch Italien den Kampf gegen die linke<br />

Volksfront, und zwar in weit größerem Umfang als die deutsche Seite. In der ersten Phase, als sie<br />

noch mit einem schnellen Sieg rechneten, sandten die Italiener:innen jedoch weniger reguläre<br />

Truppen als vielmehr Milizionär:innen nach Spanien. Auch irische Freiwillige in der Irischen Brigade<br />

unter der Führerschaft von Eoin O’Duffy 10 kämpften während des Spanischen Bürgerkrieges<br />

an der Seite Francos. Am 12. Dezember 1936 verschiffte im Auftrag des Deutschen Reiches<br />

Joseph Veltjens insgesamt 600 irische Freiwillige von Galway in den spanischen Marine-Hafen<br />

El Ferrol. Ebenso waren bis zu 12.000 Freiwillige des portugiesischen Nachbarlandes an Francos<br />

Seite und kämpften während des Bürgerkrieges für seine Sache. Es gab für diese im Gegensatz<br />

zum Deutschen Reich und Italien keine eigene Kommandostruktur. Bei der Siegesparade<br />

Francos am 19. Mai 1939 in Madrid bildete die portugiesische Legion Viriato mit der deutschen<br />

Legion Condor die Nachhut. Neben Italiener:innen und Deutschen kamen Freiwillige aus aller<br />

10 Details zum Nachlesen siehe O’Duffy, Eoin (2019): Crusade in Spain, Reconquista Press.<br />

180 <strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024


Faschistische <strong>Europa</strong>ideen und ihre Erben<br />

Welt, um auf der Seite des Faschismus in Spanien zu kämpfen (vgl. Beevor 2006: 253 ff.). So zum<br />

Beispiel der Südafrikaner Roy Cambell, der bei vielen als der bedeutendste Dichter Südafrikas<br />

gilt. Die Erfahrungen im Bürgerkrieg verarbeitete er im Gedicht „The Carmelites of Toledo“ 11 .<br />

Der Rumäne Ion I. Moța ging freiwillig an der Spitze einer Legionärsgruppe 1936 nach Spanien<br />

und war Mitbegründer der Legion Erzengel Michael, später Eiserne Garde genannt, einer christlich<br />

motivierten Organisation, deren Mitglieder als besonders gläubig und todesverachtend<br />

galten. Er war nach Codreanu die zweitgrößte Persönlichkeit der Bewegung und galt als deren<br />

intellektuelle Autorität. Er fiel am 13. Jänner 1937 bei Madrid gemeinsam mit seinem Freund<br />

Vasile Marin, einem Juristen, der die Eiserne Garde in vielen Prozessen erfolgreich verteidigte.<br />

Die Überstellung der Toten wurde als Prozession durch <strong>Europa</strong> gestaltet und die Beerdigung in<br />

Bukarest geriet zu einem Faschistischen Totenkult (vgl. Randa 1979).<br />

Auch die faschistischen Literaten unterschiedlichster Nationen widmeten sich dem Thema des<br />

spanischen Bürger:innenkrieges. Oben erwähnt wurde bereits das Gedicht „The Carmelites of<br />

Toledo“ des südafrikanischen Dichters Roy Campell. Ebenso bekannt ist der Schriftsteller Pierre<br />

Drieu la Rochelle, früherer Parteigänger Jaques Doriots 12 , der den spanischen Bürger:innenkrieg<br />

in seinem autobiographisch gefärbten Roman „Gilles“ (dt. „Die Unzulänglichen“) verarbeitete.<br />

Das Buch ist laut dem führenden Faschismusexperten Zeev Sternhell „sicher das bedeutendste<br />

Werk der faschistischen Weltliteratur“ (Sternhell 2019: 68 f.). Im letzten Kapitel seines Buches<br />

lässt la Rochelle Freiwillige ein Gespräch führen. Die Faschist:innen in den „Unzulänglichen“,<br />

die nachts, auf einem Schiff bei den Balearen als schwärmerische Ideolog:innen über den<br />

Faschismus debattieren, sind nicht Italiener:innen oder Deutsche, sondern ein Franzose, der es<br />

sich zur Aufgabe gemacht hat, den Faschismus mit dem Katholizismus auszusöhnen. Seine<br />

Gesprächspartner sind ein Ire und ein Pole (vgl. La Rochelle, 1966). Der Dialog zwischen den<br />

beiden mit dem Katholizismus als Oberklammer lässt die Interpretation zu, dass der Autor de la<br />

Rochelle hier offensichtlich versuchte, seiner Sehnsucht nach einem gemeinsamen <strong>Europa</strong> Ausdruck<br />

zu verleihen. Literarisch verarbeitet wurde auch der Zentrale Mythos des Faschismus, der<br />

Kampf um den Alcàzar von Toledo im spanischen Bürgerkrieg. Alcàzar bedeutet Festung und ist<br />

ein arabisches Wort. Der Alcàzar von Toledo wurde 72 Tage lang vom 21. Juli 1936 beginnend<br />

von rund 100 nationalistischen Offizieren, 800 Zivilgardisten, Mitgliedern der faschistischen<br />

Falange, Kadetten der Infantrieakademie, sowie etwa 550 Frauen gegen die Republikaner:innen<br />

verteidigt. Der Kommandant Oberst Moscardò opferte seinen eigenen Sohn, der Geisel der<br />

Republikaner:innen gewesen war, weil er sich weigerte die Festung zu übergeben (vgl. Timmermans<br />

1939: 217 ff). Am 28. September 1936 wurde die fast vollständig zerstörte Festung von<br />

den nationalspanischen Truppen entsetzt und die Geschichte des Alcàzar von Toledo wurde<br />

zum Europäischen Mythos. Bereits 1936 haben die französischen Faschisten Henri Massis und<br />

Robert Brasillach den Stoff literarisch unter dem Titel „Les Cadets de l’Alcazar“ bearbeitet. Dass<br />

der Mythos für rechtsextreme Bewegungen auch heute noch von Bedeutung ist, wird dadurch<br />

11 Publiziert unter Campell, Roy (1938): The Carmelites of Toledo, Spanish Press Services.<br />

12 Jaques Doriot gründete 1936 die Parti populaire français, eine faschistische Partei in der Dritten Französischen<br />

Republik.<br />

<strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024<br />

181


Ina Pircher<br />

ersichtlich, dass das Buch 2017 im rechtsextremen Jungeuropa Verlag als deutsche Erstübersetzung<br />

herausgegeben wurde 13 . Ebenso in jüngerer Zeit interpretierte der österreichische<br />

Holocaustleugner Gerd Honsik den Stoff als Ballade unter dem Titel „Im Alcazàr nichts Neues!<br />

Das Epos des Zwanzigsten Jahrhunderts“. 14<br />

4 Der erste große gesamteuropäische Kongress der Faschist:innen 1934 und<br />

paneuropäische Ideen<br />

Die gemeinsamen Erfahrungen des Kampfes im Spanischen Bürger:innenkrieg führten insgesamt<br />

nicht zu politischen Einigungen unter den europäischen Faschist:innen. Zu konträr waren<br />

die Vorstellungen der diversen Bewegungen der extremen Rechten. Dies zeigt sich auch in den<br />

Ergebnissen des ersten großen gemeinsamen gesamteuropäischen Kongresses. Dieser fand<br />

am 16./17. Dezember 1934 im schweizerischen Montreux unter dem Motto „fascismo universale“<br />

mit 14 Teilnehmer:innenländern statt. Veranstaltet wurde der Kongress vom Comitati<br />

d‘Azione per l‘Universalità di Roma (CAUR), einem Netzwerk, das 1933 von Benito Mussolini gegründet<br />

wurde. Sein Direktor war Eugenio Coselschi, und sein erklärtes Ziel war es, als Netzwerk<br />

für eine faschistische Internationale zu fungieren. Geladen waren beispielsweise die schweizerische<br />

Frontbewegung um Arthur Fonjallaz, die austrofaschistische Heimwehr, Ion Moța von der<br />

rumänischen Eisernen Garde, Vidkun Quisling von der norwegischen Nasjonal Samling, George<br />

S. Mercouris von der griechischen Nationalsozialistischen Partei, Ernesto Giménez Caballero<br />

von der spanischen Falangebewegung, Eoin O‘Duffy von den irischen Blueshirts, Marcel Bucard<br />

vom französischen Mouvement Franciste, sowie Vertreter:innen der litauischen Tautininkai, der<br />

portugiesischen Acção Escolar Vanguarda und der União Nacional des Portugiesen Salazar, die<br />

von António Eça de Queiroz geleitet wurde. Letztlich konnte man sich während des Kongresses<br />

lediglich auf drei gemeinsame Prinzipien einigen: erstens auf den gemeinsamen Kampf der<br />

europäischen Jugend gegen den Kommunismus und den kapitalistischen Egoismus, zweitens<br />

auf die Verbreitung des Korporatismus 15 und drittens auf die Achtung der nationalen Eigenarten<br />

der Völker (vgl. Neulen 1980: 48 f.).<br />

Differenzen bestanden zwischen den Bewegungen vor allem in der Beurteilung der „Rassenfrage“.<br />

Die spanische Falange kannte eine solche beispielsweise gar nicht. Für sie war die spanische<br />

Nation eine historische Einheit, keine sprachliche oder gar rassische (vgl. Geinitz 2008:<br />

139 f.). Gioacchino Volpe führt dazu im Vorwort seines Buches „Geschichte der Faschistischen<br />

Bewegung“ folgendes aus: „Um den Unterschied zwischen dem Faschismus und dem deutschen<br />

Nationalsozialismus zu charakterisieren, genügt eine Tatsache, dass nämlich das faschistische<br />

Italien immer mehr auf das altre (sic!) Rom zurückgeht, das noch heute ein Gefühl des<br />

Ruhmes, eine aktuelle aktive Kraft im italienischen Leben darstellt. Rom drückt in diesem Sinne<br />

13 Publikation Brasilliach, Robert/Massis, Henri (2017): Die Kadetten des Alcázar. Dresden: Jungeuropa Verlag.<br />

14 Publikation Honsik, Gerd (2000): Im Alcazar nichts Neues! Das Epos des Zwanzigsten Jahrhunderts. Gibraltar:<br />

Bright Rainbow Verlag<br />

15 Der Korporatismus war das von Faschist:innen entwickelte sozioökonomische Gegenmodell zu Kapitalismus und<br />

Kollektivismus, um die soziale Frage zu lösen und die Klassenkonflikte zu überwinden.<br />

182 <strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024


Faschistische <strong>Europa</strong>ideen und ihre Erben<br />

eine endgültige politische Idee aus. Es ist vielmehr ein beseelender Geist als nur eine Rasse.“<br />

(Volpe 1934: 12). Der Verfasser der „Faschistischen Rassenlehre“ 16 Julius Evola – 1939 vom Erziehungsminister<br />

Giuseppe Bottai auf einen Lehrstuhl für „Rassenlehre“ an die Universität Rom<br />

berufen – fasste Rasse nicht biologistisch, sondern metaphysisch auf. Zugespitzt teilte Evola<br />

die Italiener:innen in zwei Rassen, eine aus Faschist:innen gebildete faschistische Rasse und<br />

eine Anti-Rasse aus Antifaschist:innen (vgl. Thöndl 2010: 46 f.).<br />

An dieser Stelle sei auch erwähnt, dass die NSDAP zum Kongress nicht eingeladen war. Das<br />

faschistische Italien war die Schutzmacht des ständestaatlichen Österreichs und Garant für<br />

Österreichs Eigenstaatlichkeit. Während die NSDAP, die in Österreich seit 19. Juni 1933 verboten<br />

war, und am 25. Juli 1934 den österreichischen Bundeskanzler Dollfuß während eines Putschversuches<br />

ermordete, sich als Vertretung der Deutschen verstand und den Anschluss an das<br />

Deutsche Reich forderte. Die in Österreich herrschenden Bündnispartner:innen des faschistischen<br />

Italien, die Christlichsozialen, hatten als Erste für die Eigenstaatlichkeit Österreichs agitiert<br />

und den Österreichischen Menschen „kreiert“: „Diese der Christlichsozialen Partei nahestehenden<br />

Gruppen kreierten ein österreichisches Nationalbewusstsein, das erstmals 1929 auf<br />

der Cartellversammlung in Wien der Verbandsöffentlichkeit vorgestellt wurde. In einer konzertierten<br />

Aktion referierten Friedrich Funder, Herausgeber der ‚Reichspost‘, und Ignaz Seipel über<br />

‚Der österreichische Mensch‘ bzw. ,Die österreichische Idee‘“ (Popp 1984: 150). Die KPÖ postulierte<br />

die Österreichische Nation erst 1937. Es war der Theoretiker Alfred Klahr, der den Aufsatz<br />

„Zur nationalen Frage in Österreich“, veröffentlicht im März- und Aprilheft 1937 der aus der<br />

Tschechoslowakei nach Österreich geschmuggelten Zeitschrift „Weg und Ziel“, publizierte und<br />

damit die Österreichische Nation theoretisch entwickelte.<br />

Das Ergebnis der Tagung im schweizerischen Montreux war für Mussolini enttäuschend und er<br />

interessierte sich deshalb längere Zeit nicht mehr für paneuropäische Ideen. 1942 wurde erneut<br />

eine „paneuropäische Föderation faschistischer Nationen“ propagiert und 1943 im „Programm<br />

von Verona“ fixiert (vgl. Neulen 1980: 49). Das „Programm von Verona“ sah vor, dass eine zu<br />

schaffende Europäische Gemeinschaft als Konföderation konstituiert werden solle, um Grenzkriege<br />

und den Kapitalismus zu überwinden (vgl. Neulen 1987: 240 f.). Die Ordnungskonzepte<br />

für <strong>Europa</strong> waren mannigfaltig. In seinem programmatischen Buch „Russland und wir“ stellt der<br />

Norweger Vidkun Quisling, der Führer der Nasjonal Samling, seine Idee eines Nordischen Bundes<br />

vor: „Ein nordischer Bund zwischen Skandinavien und Großbritannien mit Einschluss von Finnland<br />

und Holland, in den später Deutschland und gegebenenfalls die britischen Dominions und<br />

Amerika aufgenommen werden könnten, würde jeder bolschewistischen Planung die Spitze nehmen<br />

und der europäischen Zivilisation den Frieden auf unabsehbare Zeit sichern.“ (Vidkun 1942:<br />

221 f.). Der Niederländer Anton Adriaan Mussert, Vorsitzender der Nationaal-Socialistische Beweging<br />

in Nederland, wiederum vertrat die Konzeption eines „groß-dietschen Reches“ worunter<br />

er ein Reich aller niederländisch sprechenden Personen verstand (vgl. Kwiet 1970: 164 ff.) Der<br />

Ausbruch des zweiten Weltkrieges im September 1939 setzte diesen und anderen Konzepten ein<br />

16 In Italien wurden erst im Sommer 1938 das „Manifesto della Razza“ und zwischen September und November desselben<br />

Jahres Rassengesetze verkündet.<br />

<strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024<br />

183


Ina Pircher<br />

Ende. Während des Krieges folgte die faschistische <strong>Politik</strong> naturgemäß den Möglichkeiten und<br />

Vorstellungen der Kriegsführenden Mächte Deutsches Reich und Italien. Während das Deutsche<br />

Reich sämtliche Formen der Verwaltung zur Anwendung brachte – von erzwungener über die<br />

freiwillige Kollaboration bis hin zur brutalen Repression und militärischer Besatzung – versuchte<br />

Italien seine imperiale Vision zu verwirklichen.<br />

Hier sei auch erwähnt, dass sich die Faschist:innen bereits seit den 1920er Jahren mit der Expansion<br />

befassten, die von ihnen als Recht als auch als Pflicht angesehen wurde. Die kulturelle<br />

Überlegenheit Italiens sollte analog zu Rudyard Kiplings Gedicht „The White Man‘s Burden“ (Judd<br />

1997: 37) den Überlegenen zum Imperium verpflichten. Ähnlich wie die Nationalsozialist:innen<br />

träumten auch die Faschist:innen davon, ein eigenes, faschistisches Imperium zu errichten, und<br />

einen eigenen Spazio Vitale zu schaffen. Auch wenn dieser italienische Ausdruck die wörtliche<br />

Übersetzung des deutschen Wortes ‚Lebensraum‘ ist, so unterschied sich die italienische Vorstellung<br />

deutlich von ihrem deutschen Pendant. Emilio Gentile 17 bringt die faschistische Idee<br />

des Imperiums auf den Punkt, wenn er ausführt: „Für den Faschismus deckte sich die Idee des<br />

Imperiums nicht mit Imperialismus, sie identifizierte sich weder mit Kolonialismus noch mit der<br />

Eroberung neuer Territorien, sondern sie äußerte in erster Linie die Absicht, eine neue Zivilisation<br />

zu erschaffen, welche im zwanzigsten Jahrhundert zu einem universellen Modell emporsteigen<br />

sollte, wie die römische Zivilisation in der Antike.“ (Schmid 2019: 25). Die Wiedererrichtung des<br />

antiken Römischen Imperiums verkündete Mussolini am 9. Mai 1936. Italien herrschte damals<br />

über Äthiopien, Eritrea und ausgedehnte Gebiete an der somalischen Küste, ferner über Libyen<br />

und Teile der Ägäis. Damit sei, so verkündete Mussolini, das antike Imperium Romanum wiedererrichtet.<br />

In <strong>Europa</strong> sollte das italienische Imperium französische, jugoslawische, albanische<br />

und griechische Gebiete umfassen, wobei die Ausdehnung sowie ihre Stellung im Imperium<br />

variierten (vgl. Reck 1944: 10 f.).<br />

Gegen Ende des zweiten Weltkrieges besann man sich erneut auf <strong>Europa</strong>ideen. Zu den nationalsozialistischen<br />

Vordenkern zählt hier Alexander Dolezalek. 18 Er entwarf beispielsweise 1943<br />

eine <strong>Europa</strong>-Charta welche die Idee einer „Europäischen Eidgenossenschaft“ beinhaltete, die<br />

einen Europäischen Sozialismus verwirklichen sollte (vgl. Dolezalek 1945: 25). Eine weitere<br />

<strong>Europa</strong>-Charta stammt von Werner Daitz 19 , der den Schwerpunkt auf wirtschaftliche Zusammenhänge<br />

legt. Die Teilhabe der Völker an der von Daitz definierten Völkerfamilie ergebe sich aus<br />

der Bedeutung der Völker in ihrer Leistung. Wie in einem Planetensystem sollten dabei kleine<br />

Völker um ein größeres Volk kreisen. Dies würde dann die durch Staatsverträge zu begründende<br />

„Gesamtordnung“ ergeben. Als ein europäischer „Völkerfamilienrat“ sollte ein europäischer Gerichtshof<br />

über die Einhaltung der Ordnung wachen (vgl. Daitz 1943: 7 ff). Da sämtliche Konzepte<br />

vom Kriegsverlauf überholt wurden, kam es zu keinem konkreten Umsetzungsversuch.<br />

17 Emilio Gentile ist ein emeritierter Professor der Universität La Sapienzia in Rom. Als Faschismusforscher prägte er<br />

den Begriff der Palingenese, der den Faschismus in seiner ideologischen Form als politische Religion beschreibt.<br />

18 Alexander Dolezalek war im Rasse- und Siedlungshauptamt der SS mit <strong>Europa</strong>planungen befasst.<br />

19 Werner Daitz war für das Amt Rosenberg mit vor allem rechtlichen Fragen eines geeinten <strong>Europa</strong>s befasst. Alfred<br />

Rosenberg war Beauftragter für die zentrale Bearbeitung der Fragen des osteuropäischen Raumes.<br />

184 <strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024


Faschistische <strong>Europa</strong>ideen und ihre Erben<br />

5 Faschistische <strong>Europa</strong>ideen nach 1945 und Beispiele für <strong>Europa</strong>ideen rechtsextremer<br />

Parteien und Bewegungen<br />

Die Einigung <strong>Europa</strong>s stand mit dem Ende des zweiten Weltkrieges in <strong>Europa</strong> faktisch nicht mehr<br />

zur Diskussion. Der Nationalsozialismus und der Faschismus waren machtpolitisch gescheitert,<br />

ihre Führer und Ideen waren gesellschaftlich diskreditiert, isoliert und ein Fall für die Strafjustiz.<br />

Mit dem Aufkommen des kalten Krieges und der Teilung <strong>Europa</strong>s in eine Sowjetische Einflusszone<br />

und eine Westlich-Demokratische Zone sollte sich das ändern. Schnell wurden im Westen<br />

ehemalige Faschist:innen und Nationalsozialist:innen wieder gesellschaftlich integriert und befassten<br />

sich mit der <strong>Europa</strong>idee. Der frühere Rexistenführer und höchstdekorierte Ausländer in<br />

der deutschen Wehrmacht, Léon Degrelle, schrieb in seiner Autobiographie über sein Verhältnis<br />

zu <strong>Europa</strong>: „Wenn ich mich heute weder als Franzose noch als Deutscher und schon gar nicht<br />

als Belgier betrachte, sondern schlicht als Europäer, so hat das seine aus der jahrtausendealten<br />

Geschichte unseres Kontinents verständliche Gründe.“ (Degrelle 1992: 257).<br />

Das Selbstbild keiner Nation außer der „Nation <strong>Europa</strong>“ anzugehören vertrat auch der bereits an<br />

anderer Stelle dieses Beitrags erwähnte Oswald Mosley. Nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs<br />

interniert, wurde Mosley 1943 aus Krankheitsgründen entlassen. Bereits am 7. Februar 1948 rief<br />

er die Union Movement ins Leben, die er als einen Zusammenschluss von 51 Organisationen<br />

bezeichnete, von denen die meisten rechtsgerichtete Buchklubs waren. Mit dieser Organisation<br />

verfolgte Mosley die Idee von einem „Staat <strong>Europa</strong>“ und blieb damit seinen Vorkriegsideen verpflichtet.<br />

Der jetzt von Faschismus in Europäischer Sozialismus umbenannte Weg sollte einer<br />

Amerikanisierung <strong>Europa</strong>s entgegenwirken und <strong>Europa</strong> vor dem Kommunismus schützen.<br />

Nach seiner Ansicht musste eine „Nation <strong>Europa</strong>“ geschaffen werden. Mosley verstand darunter<br />

keinen „melting pot“, sondern ein <strong>Europa</strong>, das vor der „allgemeinen Nivellierung und Vermischung<br />

bewahrt“ (Mosley 1962: 9) werden sollte. Der „Staat <strong>Europa</strong>“ bedarf nach Mosley eine<br />

dem Stand der Wissenschaft und Technik angepassten <strong>Wirtschaft</strong>s- und Sozialpolitik. Der Staat<br />

soll mittels einer europäischen Regierung verwaltet werden (vgl. Mosley 1962: 127 ff.). Darüber<br />

hinaus bezeichnet Mosley das freie Unternehmertum, die Gewinnbeteiligung der Arbeiter:innen<br />

und eine ständisch gegliederte Selbstverwaltung als Garant für den Wohlstand und das Fortkommen<br />

<strong>Europa</strong>s. Verwirklicht werden sollte diese „Nation <strong>Europa</strong>“ eingebettet in einen europäisch-afrikanischen<br />

<strong>Wirtschaft</strong>sraum, der den Europäer:innen die Ressourcen sichern sollte, um<br />

in kommenden <strong>Wirtschaft</strong>skämpfen bestehen zu können (vgl. Mosley 1962: 66 ff.). „Eurafrika“,<br />

die Verschmelzung von <strong>Europa</strong> und Afrika zu einer politisch-wirtschaftlichen Einheit, wurde erstmals<br />

in den 1920er Jahren von der Paneuropäischen Union als politisches Konzept entwickelt<br />

und 1929 in einem Artikel ihres Gründers und Leiters Richard Coudenhove-Kalergi als solches<br />

bezeichnet (Coudenhove-Kalergi 1929: 4).<br />

Ähnliche Ideen entwickelte der Österreicher Theodor Soucek. Dieser begann bereits unmittelbar<br />

nach seiner Gefangennahme im Mai 1945 an seinem Buch „Wir rufen <strong>Europa</strong>“ zu schreiben,<br />

das 1956 erschien: „Ich begann mein Buch ‚Wir rufen <strong>Europa</strong> – Vereinigung des Abendlandes<br />

auf sozial-organischer Grundlage‘. Es entstand in diesen Wochen, mich und meine Tage immer<br />

<strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024<br />

185


Ina Pircher<br />

mehr erfüllend, weil ich nach dem Kriegsende, nach der Kapitulation am 8. Mai 1945, in einer<br />

solchen Vereinigung <strong>Europa</strong>s den einzig gangbaren Weg in die Zukunft sah.“ (Soucek 2001:<br />

252). Soucek beruft sich ebenso wie Mosley auf die Ideen des Paneuropagründers Coudenhove­<br />

Kalergi: „Kein Mensch, dem das Schicksal der europäischen Zukunft am Herzen liegt, wird dem<br />

Grundgedanken Coudenhove-Calergis (sic!) seine Zustimmung und seinen Respekt versagen,<br />

das historische Verdienst dieses Mannes als Vorkämpfer der europäischen Einigung besteht<br />

unbestreitbar und echt.“ (Soucek 1956: 274). Auch Soucek sah die Zukunft <strong>Europa</strong>s in einem<br />

Europäischen Staat mit dem <strong>Wirtschaft</strong>sraum Eurafrika: „Wer die Vereinigung <strong>Europa</strong>s bejaht,<br />

muss folgerichtig die Gründung eines afrikanisch-europäischen Großraumes mit leidenschaftlicher<br />

Zustimmung begrüßen. <strong>Europa</strong>s Ausdehnungsdrang darf nicht nach Osten orientiert werden<br />

und nicht nach dem Südosten, sondern muss sich nach Süden der Erschließung Afrikas<br />

widmen.“ (Soucek 1956: 280). Und wie Mosely forderte Soucek, dass „eine <strong>Europa</strong>regierung die<br />

politische Führungsgewalt in wesentlichen Teilbereichen zentral übernehmen [...]“ (Soucek 1956:<br />

292) muss. Zu diesen Teilbereichen zählt Soucek eine gemeinsame Gesetzgebung, eine gemeinsame<br />

Währung, eine gemeinsame Verwaltung, sowie eine gemeinsame Sicherheits- und Außenpolitik.<br />

Die zur politischen Umsetzung notwendige „Sozial-organische Ordnungsbewegung“ soll<br />

„durch Gründung entsprechender Sektionen innerhalb jedes europäischen Staates als wahlwerbende<br />

Partei gemäß den demokratischen und verfassungsmäßigen Bestimmungen auftreten<br />

und einer aus Vertretern aller Sektionen gebildeten gemeinsamen <strong>Europa</strong>führung unterstehen.“<br />

(Soucek 1956: 300).<br />

Soucek war übrigens Teil des ersten prominenten Falles von nationalsozialistischer Wiederbetätigung<br />

in Österreich nach dem Zweiten Weltkrieg. Soucek und der frühere Wiener NS-Funktionär<br />

Hugo Rössner hatten in den ersten Nachkriegsjahren eine Untergrundorganisation gebildet,<br />

die Fluchthilfe für Nationalsozialist:innen leistete und sich durch Schleichhandel und Schiebergeschäfte<br />

finanzierte. Die Organisation wurde im November 1947 zerschlagen und die Verantwortlichen<br />

in Graz vor das Volksgericht gestellt. Soucek und Rössner wurden zum Tod durch<br />

den Strang verurteilt. Bundespräsident Karl Renner hob im Juni 1949 die verhängten Todesstrafen<br />

auf, um die Verurteilten nicht zu Märtyrern der nationalsozialistischen Sache zu machen.<br />

Souceks Strafe wurde zu lebenslänglichem Kerker umgewandelt, Rössners zu 20 Jahren. Am<br />

22. August 1952 wurden sie begnadigt und freigelassen.<br />

Im Jahr 1957 gründete Soucek die Sozialorganische Ordnungsbewegung <strong>Europa</strong>s (SORBE), die<br />

sein <strong>Europa</strong>konzept vertrat. Die transnationale Vernetzung der extremen Rechten in <strong>Europa</strong> wird<br />

durch den von Soucek organisierten <strong>Europa</strong>kongress veranschaulicht. Am 7. und 8. Dezember<br />

1957 fand in Salzburg der erste „<strong>Europa</strong>kongress“ der SORBE statt. Unter den Teilnehmer:innen<br />

war u.a. Erwin Vollenweider, der 1951 die Volkspartei der Schweiz gegründet hatte. Als man am<br />

15. und 16. November 1958 eine Nachfolgeveranstaltung abhalten wollte, handelte das österreichische<br />

Innenministerium. Der Innenminister Oskar Helmer (SPÖ) gab am 22. Oktober 1958<br />

in Wien bekannt, dass der von der Sozialorganischen Ordnungsbewegung <strong>Europa</strong>s für den 15.<br />

und 16. November in Salzburg geplante „<strong>Europa</strong>kongress“, auf dem sich ehemalige SS-Leute<br />

und NS-Kollaborateur:innen aus mehreren Ländern treffen wollten, verboten wurde. Gleichzeitig<br />

186 <strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024


Faschistische <strong>Europa</strong>ideen und ihre Erben<br />

wurde die als Veranstalter auftretende SORBE behördlich aufgelöst. Anfang Juni 1959 gab der<br />

Verfassungsgerichtshof jedoch einer Beschwerde der SORBE-Mitglieder statt: Die Gründe, die<br />

zur Vereinsauflösung geführt hätten, seien „nicht erwiesen“ (vgl. Gatterer 1960: 47).<br />

Auch im Denken und der Programmatik rechtsextremer Parteien und Bewegungen spielte nach<br />

1945 der <strong>Europa</strong>gedanke eine herausragende Rolle. So ist beispielsweise bereits der Punkt 2<br />

der Grundsätze der Nationaldemokratischen Partei Österreichs (NPD) des Norbert Burger ein<br />

<strong>Europa</strong>-Programmpunkt. Die NDP verstand sich ausdrücklich als Gesinnungspartei – also eine<br />

Weltanschauungspartei und keine Interessenspartei – wie es im Vorwort zum Programm vom<br />

11. Februar 1967 heißt. Über <strong>Europa</strong> findet sich im Programm folgendes: „<strong>Europa</strong> ist nicht nur<br />

ein geographischer Begriff. […] Unser Wille zur Arterhaltung erfordert den Zusammenschluss<br />

europäischer Völker auf der Grundlage der Gleichberechtigung und des Heimat- und Selbstbestimmungsrechtes<br />

als Ordnungsprinzip.“ (Thaler 1967: 3). Von einem gemeinsamen Staat der<br />

Europäer:innen ist hier zwar keine Rede, man will aber in einer Allianz „in allen wirklich gemeinsamen<br />

Angelegenheiten des europäischen Welteinflusses und der kontinentalen Verteidigung zusammengefasstes<br />

Handeln gewährleistet“ (Thaler 1967: 4) sehen. Zusammengefasst soll „ein<br />

<strong>Europa</strong> der Völker [...] daher Ziel nationaldemokratischer <strong>Politik</strong>“ (Thaler 1967: 4) sein. Herbert<br />

Schweiger, ein ehemaliger Offizier der Waffen-SS, war 1953 steirischer Landesobmann des FPÖ-<br />

Vorläufers Verband der Unabhängigen (VdU). 1956 war er FPÖ-Spitzenkandidat in Graz. Später<br />

gründete er den steirischen Landesverband der obengenannten NPD, die 1988 wegen neonazistischer<br />

Tätigkeit verbotenen wurde. Herbert Schweiger war Autor einiger Bücher und ein in neonazistischen<br />

Kreisen begehrter und vielbeachteter Redner. In seinem Hauptwerk „Evolution und<br />

Wissen – Neuordnung der <strong>Politik</strong>“ formulierte Schweiger eine <strong>Europa</strong>position, der sich bis heute<br />

viele Neonazis verpflichtet fühlen. Laut Schweiger gibt es „daher nur eine konstitutionelle Form<br />

einer Völkergemeinschaft: das ist der Staatenbund! In diesem Zusammenhang lassen sich viele<br />

Probleme von Volk zu Volk, regional abgestimmt, organisch lösen. Jedoch in den Hauptfragen<br />

muss eine europäische Lösung mit Hilfe eines Gesamtvertrages zustande kommen. Dies betrifft<br />

die politischen Sachbereiche wie Außen-, Verteidigungs- und indexgesicherte Währungspolitik.“<br />

(Schweiger 1995: 343). Konkret und radikal fordert er auch: „Zum Zwecke der Arterhaltung der<br />

weißen Rasse müssen sich alle germanischen, slawischen, und romanischen Völker zusammenschließen.“<br />

(Schweiger 1995: 341). Für Schweiger heißt „die neue geopolitische Achse [...] Berlin-<br />

Moskau, Berlin-Paris, Berlin-Prag-Wien“ (Schweiger 1995: 341).<br />

Neue Interpretationen erfuhr die <strong>Europa</strong>konzeption der extremen Rechten durch die Beschäftigung<br />

mit französischen Autor:innen der Nouvelle Droite. Die Nouvelle Droite ist eine rechtsextreme<br />

politische Bewegung, die Ende der 1960er Jahre in Frankreich entstand. Die Nouvelle<br />

Droite ist der Ursprung der weiter gefassten Europäischen Neuen Rechten. Die Nouvelle Droite<br />

begann mit der Gründung des Groupement de recherche et d‘études pour la civilisation européenne<br />

(GRECE; Forschungs- und Studiengruppe für die europäische Zivilisation) im Jahr 1968 in<br />

Nizza, einer französischen Gruppe, die hauptsächlich vom Philosophen Alain de Benoist geleitet<br />

wurde. De Benoist und andere frühe GRECE-Mitglieder waren seit langem in der rechtsextremen<br />

<strong>Politik</strong> engagiert, und ihre neue Bewegung wurde von älteren rechten Denkströmungen wie der<br />

<strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024<br />

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Ina Pircher<br />

deutschen konservativen revolutionären Bewegung 20 beeinflusst. Obwohl die Nouvelle Droite<br />

linke Ideen der menschlichen Gleichheit ablehnte, war sie auch stark von den Taktiken der Neuen<br />

Linken und einigen Formen des Marxismus beeinflusst. Besonders einflussreich waren die soziokulturellen<br />

Ideen des italienischen Marxisten Antonio Gramsci. Ebenso einflussreich sollten<br />

die Ideen des Dominique Venner werden. Als Unteroffizier während des Algerienkriegs war er in<br />

den 1950er Jahren Aktivist der rechten Bewegung Jeune Nation, schloss sich dann der Terrororganisation<br />

„Organisation de l’armée secrète (OAS)“ 21 an und gründete in den 1960er Jahren<br />

die nationalistische paneuropäische Gruppe Europe-Action (vgl. Lichfield 2013: online). Über<br />

den Versuch den Nationalsozialismus oder den alten Faschismus wiederzubeleben, urteilte der<br />

junge aktivistische Venner in den 60er Jahren wie folgt: „Das junge <strong>Europa</strong> lebt in der Wirklichkeit<br />

und weiß, dass der Nationalsozialismus 1945 gestorben ist.“ (Venner 2019: 86). Benedikt<br />

Kaiser, ein Stichwortgeber der sogenannten „Neuen Rechten“, rezipierte viele Ideen der französischen<br />

Faschist:innen, wie beispielsweise Pierre Drieu La Rochelles Vorstellungen. Er trug damit<br />

maßgeblich zur Verbreitung dieser Ideen unter den rechtsextrenmistischen Bewegungen im<br />

deutschen Sprachraum bei. Kaiser ist als wissenschaftlicher Mitarbeiter beim AfD-Bundestagsabgeordneten<br />

Jürgen Pohl angestellt 22 und verwirft den herkömmlichen Nationalstaat, wenn er<br />

schreibt: „Das Kapital ist transnational, die Eliten sind transnational – die Probleme, die Kapital<br />

und Eliten hervorrufen, sind es daher auch; der klassische Nationalstaat hat dem nur noch wenig<br />

entgegenzusetzen.“ (Kaiser 2017: 54).<br />

Während Mosley, Soucek und viele andere Personen und Bewegungen den Staatenbund, die<br />

Nation <strong>Europa</strong> oder eine Achse präferieren, gibt es als eine weitere Spielart des Rechtsextremismus<br />

die Regionalist:innen. Der Vordenker der „Neuen Rechten“ Alain de Benoist fasst dies so<br />

zusammen: „Aber in Frankreich lässt sich das Vaterland nicht mit einer Nation identifizieren, die<br />

ihnen in der Geschichte allzu oft die Seele geraubt hat. Seit dem Ende des letzten Jahrhunderts<br />

verkörpert der Regionalismus dies augenfällig. ‚Das Wort ‚Region’, schreibt Eric Le Naour, steht<br />

heute in der Avantgarde der Ideen, die <strong>Europa</strong> zu erneuern vermögen.‘ (L’ Avenir de la Bretagne,<br />

März 1971). Dies kommt daher, dass die Region konkret das darstellt, was die Nation nicht immer<br />

ist: den Rahmen, in dem Minderheitenkulturen sich selbst finden und behaupten können. Regionalismus<br />

und Volkstumskampf sind moderne Namen für die ewige Wiedergeburt der sinnlich<br />

erfahrenen Vaterländer aus Fleisch und Blut.“ (de Benoist 2017: 113 f.).<br />

6 Fazit<br />

Faschist:innen haben sich vor und während des zweiten Weltkrieges mit Ideen des geeinten<br />

<strong>Europa</strong>s beschäftigt. Manche Ideen erwiesen sich dabei als überraschend „modern“, und<br />

20 Ergänzend dazu: Mohler, Armin (2005): Die Konservative Revolution in Deutschland 1918-1932: Ein Handbuch. ARES<br />

Verlag. Mohler war der Sekretär von Ernst Jünger und gilt als Spiritus Rector der Konservativen Revolution und ihrer<br />

Epigonen.<br />

21 Die OAS bekämpfte die Unabhängigkeitsbestrebungen Algeriens von Frankreich mit militanten Mitteln.<br />

22 Details siehe https://www.welt.de/politik/deutschland/plus245569766/AfD-Abgeordneter-Pohl-beschaeftigtlangjaehrigen-Neonazi-Benedikt-Kaiser.html<br />

(29.12.2023).<br />

188 <strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024


Faschistische <strong>Europa</strong>ideen und ihre Erben<br />

ihre Vordenker:innen scheuten auch nicht davor zurück die Ideen ihrer ideologischen Antagonist:innen<br />

zu rezipieren, so beispielsweise Ideen des Pan-<strong>Europa</strong> Vordenkers Coudenhove­<br />

Kalergi. Die parlamentarisch Rechten nach 1945 kamen über das vom französischen Staatspräsidenten<br />

Charles de Gaulle geprägte Schlagwort vom „<strong>Europa</strong> der Vaterländer“ nicht hinaus.<br />

<strong>Europa</strong> ist für sie nur eine chauvinistische Projektionsfläche, an der sie sich antimodernistisch,<br />

antiauf klärerisch und gegen die staatliche Integration <strong>Europa</strong>s gerichtet abarbeiten. Insgesamt<br />

haben viele Ideen und Versatzstücke faschistischer Ideologie und ihrer <strong>Europa</strong>konzeptionen den<br />

zweiten Weltkrieg überdauert. Es heißt nach wie vor wachsam zu bleiben und <strong>Europa</strong> nicht der<br />

extremen Rechten zu überlassen. Zeev Sternhell beschreibt den Faschismus als irrational und<br />

nicht an Fakten interessiert: „Diese Bewegung, die sich selbst als eine neuer Menschen betrachtete,<br />

war zweifellos eine Bewegung junger Männer – solcher, die die etablierte Ordnung verachteten,<br />

die sich abgestoßen fühlten vom Widerspruch zwischen Prinzipien und Praxis, denen<br />

Rebellion natürlicher erschien als dem Rest der Bevölkerung, und für die Ideologie etwas war,<br />

was ernst genommen werden musste.“ (Sternhell 2019: 76).<br />

7 Literaturverzeichnis<br />

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<strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024<br />

189


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(15.11.2023)<br />

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190 <strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024


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(20.11.2023).<br />

<strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024<br />

191


Elisabeth Springler<br />

Europäische Integration angesichts steigender<br />

Asymmetrien und die Bedeutung eines pluralen<br />

ökonomischen Betrachtungswinkels<br />

Abstract<br />

Die Diskussion um die Neuausrichtung der europäischen Fiskalpolitik zur Stärkung der europäischen<br />

wirtschaftlichen Entwicklung in einem globalen Kontext bei einem gleichzeitigen<br />

Wandel in der Produktionsweise im Sinne einer sozial-ökologischen Transformation bedarf, wie<br />

vorliegender Beitrag zeigt, einer pluralen ökonomischen Betrachtungsweise. Die Rolle und der<br />

Umfang des Staates kann nicht in der paradigmatischen Enge des ökonomischen Mainstreams<br />

geklärt werden, sondern bedarf eines methodologisch wie methodisch offenen und interdisziplinären<br />

Deutungsrahmens. Im Folgenden werden die notwendigen Betrachtungswinkel für die<br />

künftige Gestaltung aus dem historischen Entstehungsprozess der fiskalischen Disziplin abgeleitet.<br />

Die europäische Fiskalpolitik steht nicht zuletzt durch die multiplen Krisen der letzten 15 Jahre<br />

vor zahlreichen Herausforderungen. Das Aussetzen der Fiskalregeln in der Eurozone in den<br />

Jahren 2020-2023 kann zum einen als Ausdruck der Ohnmacht der europäischen Kommission<br />

gewertet werden, einen notwendigen Reformbedarf voranzutreiben, zum anderen jedoch kann<br />

es auch als Form der Offenheit und Diskursfreudigkeit abseits des starren fiskalischen Regelwerks<br />

der letzten Jahrzehnte gedeutet werden. Ebenso breit, wie die Deutung der Gründe für die<br />

Länge des Diskursprozesses, sind auch die konkreten Handlungsspielräume der Implementierung<br />

der Neuausrichtung der Fiskalpolitik in der Eurozone.<br />

1 Historische Genese der Europäischen Integration und die Bedeutung der<br />

makro ökonomischen Koordinierung<br />

Das Wechselspiel zwischen politikwissenschaftlicher Analyse der Europäischen Integration und<br />

ökonomischer Umsetzung oder auch ökonomischer Fundierung, ist wesentlich durch die wirtschaftshistorischen<br />

Ergebnisse in der jeweiligen Epoche geprägt. Wie Bieling und Lerch (2005:<br />

25f) in der Strukturierung der Strömungen zur Europäischen Integration verdeutlichen, ist der<br />

Neofunktionalismus das dominante politikwissenschaftliche Paradigma der Phase der Europäischen<br />

Integration der 1950er und 1960er Jahre, das anschließend zum einen durch den Intergouvernementalismus,<br />

als auch durch kritische marxistische Ansätze und Vertreter:innen des<br />

Neofunktionalismus selbst aufgrund der empirisch beobachtbaren Entwicklungen der 1970er<br />

Jahre kritisiert wurde. Deutlich wird hierbei, dass auch, wenn aus einer politikwissenschaftlichen<br />

Perspektive Theorien der Europäischen Integration ein breiteres Spektrum angenommen<br />

haben, die ökonomische Dimension quasi unverändert weiterbesteht und auch zu einem weiteren<br />

Aufflammen der Debatte um den Neofunktionalismus in den 1990er Jahren geführt hat (vgl.<br />

Wolf 2005: 81f) – im Wesentlichen durch den Vertrag von Maastricht und das Voranschreiten<br />

der Währungsunion. Nachfolgend soll die historische Genese der Europäischen Integration aus<br />

ökonomischer Perspektive skizziert werden.<br />

<strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024<br />

193


Elisabeth Springler<br />

1.1 Neofunktionalismus als Fundament der Europäischen Integration aus ökonomischer<br />

Perspektive und der österreichische Diskurs um den Beitritt zur Europäischen<br />

Gemeinschaft<br />

Wessels und Faber (2007: 367) beschreiben in ihrer Analyse die Kennzeichen der treibenden<br />

Integrationstheorie der Europäischen Union von den 1950er Jahren bis in die späten 1990er<br />

Jahre als „eine schrittweise, evolutionäre Ausweitung der Kompetenzen der Gemeinschaft und<br />

die institutionelle Vertiefung der Zusammenarbeit in Abwesenheit einer klar definierten Finalität“.<br />

Damit werden der dadurch beschriebenen Methode Monnet sowohl Intransparenz und gesteigerte<br />

institutionelle Komplexität als auch Offenheit und damit das Potential, die unterschiedlichen<br />

Interessen am Weg zur Europäischen Integration wahren zu können, zugeschrieben.<br />

Jean Monnet hat diesen Weg für die Europäische Integration bereits Mitte der 1950er formuliert<br />

und er scheint auch bis heute nichts an seiner Schlagkraft verloren zu haben, wie Mario Draghi<br />

im Jahr 2017 in seiner Formulierung auf die wesentlichen Aufgaben der Europäischen Union<br />

rekurriert (vgl. Draghi 2017) und hierbei „die Bedeutung der Zielerreichung, das nachdrückliche<br />

Eintreten für Subsidiarität“ und den klaren „Kurs und die Sorge um demokratische Legitimation“<br />

als zentral für das Handeln in <strong>Europa</strong> betont. Es ist für ihn deutlich, dass der relative Verlust<br />

des globalen Einflusses der europäischen Staaten, die Bedeutung des strukturellen Wandels<br />

der internationalen Beziehungen, getrieben durch neue Technologien, sowie die Notwendigkeit<br />

eines offenen Handels, um den Wohlstand in den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union zu<br />

steigern, auch heute noch die wesentlichen Prämissen für Europäische Integration darstellen.<br />

Aus einer ökonomischen Perspektive hat der damit einhergehende politikwissenschaftliche Begriff<br />

des Neofunktionalismus, wie Ernst Haas ihn in den 1970er Jahren entwickelt hat, ein klares<br />

marktliberales Verständnis (siehe Plenk 2015 :20, Abbildung 2.1) in dem sich Europäische Integration<br />

als Notwendigkeit zur Optimierung einer gewinnbringenden Kooperation für einzelne sich<br />

in wechselseitigen Abhängigkeiten befindenden Nationalstaaten ergibt, und positive „spill-over“<br />

Effekte auf weitere wirtschaftliche und politische Bereiche nach sich zieht (vgl. Bieling/Lerch<br />

2005:26). Während aus einer politikwissenschaftlichen Perspektive der Diskurs auf das Wechselspiel<br />

in der Bedeutungshoheit zwischen Neofunktionalismus und Intergouvernementalismus<br />

auf die institutionellen und demokratiepolitischen Wechselbeziehungen im Rahmen der Integrationstheorie<br />

gelenkt wurde, soll der Blickwinkel in diesem Beitrag, auf den mit dem treibenden<br />

Konzept der Europäischen Integration verbundenen ökonomischen Rahmen, der auf Basis von<br />

Kosten-Nutzenkalkulationen erfolgt und durch eine (zweck)rationale Handlungslogik gesteuert<br />

wird, gelenkt werden.<br />

Ein Meilenstein in der strukturellen Ausgestaltung der Europäischen Union fand in den 1980er<br />

Jahren statt – Europäische Gemeinschaft zu diesem Zeitpunkt. Während die Umsetzung des<br />

Neofunktionalismus gemeinsam mit der sogenannten Bicycle Theory (vgl. unter anderem<br />

Moravcsik 2008) im Vordergrund stand, wurde deutlich, dass bei der Integration von Griechenland<br />

1981, sowie Portugal und Spanien 1986 nicht nur die Erweiterung des internen Marktes und die<br />

Suche nach möglichen positiven spillover-Effekten, die Heterogenität zwischen den Mitgliedsstaaten<br />

überwinden lassen könnte, sondern auch eine Restrukturierung und Erweiterung der<br />

194 <strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024


Europäische Integration angesichts steigender Asymmetrien und die Bedeutung eines pluralen ökonomischen Betrachtungswinkels<br />

Strukturfonds, die bereits schrittweise seit Ende der 1950er Jahre eingesetzt wurden, notwendig<br />

war. Ein weiterer wesentlicher Schritt für die Erweiterung der Europäischen Union der Bicycle<br />

Theory folgend fand schließlich 2004 mit der Integration von acht zentral- und südosteuropäischen<br />

Transformationsstaaten und zwei weiteren Staaten statt. Die Säulen der Methode<br />

Monnet fanden ihre ökonomische Umsetzung. Dies bedeutet, dass zum einen der Blick auf die<br />

Reduktion von Handelsbarrieren innerhalb der Europäischen Gemeinschaft gelenkt wurde und<br />

zum anderen eine Kosten-Nutzenanalyse für den Eintritt in die Europäische Gemeinschaft zwischen<br />

bestehenden und potenziell neuen Mitgliedsstaaten aufgebaut wurde. Zwar unterscheiden<br />

sich je nach Nationalstaat die primären Gründe für den Beitrittswunsch auf ökonomischer<br />

und politischer Ebene, so ist beispielsweise für Griechenland, das seine Beitrittsverhandlungen<br />

bereits unmittelbar nach dem Ende der Militärdiktatur begann, auch der sicherheitspolitische<br />

Aspekt der Europäischen Gemeinschaft wesentlich (siehe genauer unter anderem Ioakimidis<br />

1996: 34ff; Lavdas 1997: Kapitel 4.3), doch sind die unterstützenden Gelder der Strukturfonds<br />

ein wesentlicher übergreifender Anker. Anfang der 1990er Jahre waren die drei Länder mit den<br />

höchsten Transferleistungen aus den Strukturfonds Irland, Portugal und Griechenland, wobei<br />

diese im Fall von Griechenland zu zirka 0,5% Wachstum pro Jahr geführt haben sollen und beispielsweise<br />

1992 insgesamt rund 30% des gesamten öffentlichen Investitionsbudgets ausgemacht<br />

haben (vgl. Lavdas 1997: 213f).<br />

Auch für den Beitritt Österreichs standen derartige Optimierungsstrategien, zwischen ökonomisch-strukturellem<br />

Wandel, Bezuschussung durch die Strukturfonds der Europäischen Gemeinschaft<br />

und das Abschätzen der Effekte möglicher weiterer Erweiterungen vor allem im Hinblick<br />

auf eine „Osterweiterung“ im Mittelpunkt.<br />

Nicht nur Nowotny und Schuberth (1993: 15ff) fassen in ihrer Einleitung eines Unterrichts versuchs<br />

an der <strong>Wirtschaft</strong>suniversität Wien, der sich einer systematischen Aufarbeitung der Herausforderungen<br />

des strukturellen Wandels der österreichischen <strong>Wirtschaft</strong> und der möglichen Effekte<br />

eines Beitritts in die Europäische Gemeinschaft unter studentischer Mitarbeit widmete, zusammen,<br />

dass unter anderem der strukturelle Wandel in der <strong>Wirtschaft</strong>sstruktur vom primären zum<br />

tertiären Sektor, verstärkt werden würde, man vor allem im Bereich der Landwirtschaft einem<br />

größeren Preisdruck ausgesetzt wäre und entsprechend die Unterstützung der kleinteiligen<br />

betrieblichen Produktion im Rahmen der Gemeinsamen Agrarpolitik der Euro päischen Gemeinschaft<br />

sichergestellt werden müsse. Ähnlich argumentiert auch die Raum ordnungskonferenz<br />

(ÖROK 1993) zur Notwendigkeit der regionalpolitischen Abgrenzung von Regionen, die entsprechend<br />

den Strukturfonds der Europäischen Gemeinschaft förderwürdig wären. Demnach sei es<br />

notwendig, „einen nationalen Konsens über jene Gebiete herzustellen, welche nach dem aktuellen<br />

[Anmerkung: Jahr 1993] Informationsstand auch den Kriterien der EU entsprechen und für welche<br />

gemeinsame Anstrengungen der EG und Österreichs zur nachhaltigen Förderung der regional<br />

<strong>Wirtschaft</strong>sentwicklung gesetzt werden sollen“ (ÖROK 1993: o.S.).<br />

Im Rahmen von Makromodellen (vor allem durch das WIFO) wurden im Zuge der Beitragsverhandlungen<br />

positive wirtschaftliche Effekte im Vergleich zu einer Nicht-Mitgliedschaft von<br />

<strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024<br />

195


Elisabeth Springler<br />

+3,5% beim Bruttoinlandsprodukt und einem geringeren Preisniveau durch gestiegenen Wettbewerb<br />

von 5,25% jeweils nach 6 Jahren im Vergleich zu keiner Mitgliedschaft in der Europäischen<br />

Gemeinschaft (vgl. Breuss 1996) prognostiziert. Bei ex-post Evaluierungen der wirtschaftlichen<br />

Beiträge der Europäischen Integration inklusive der „Osterweiterung“ und Teilhabe an der <strong>Wirtschaft</strong>s-<br />

und Währungsunion (beides Elemente, die in die ersten Prognosen noch nicht eingehen<br />

konnten) ging man unter der Verwendung ähnlicher Modelle nach 20 Jahren Mitgliedschaft<br />

Österreichs in der Europäischen Union von +0,9% beim Bruttoinlandsprodukt pro Jahr aus<br />

(Breuss 2015). Sozialpolitische Indikatoren standen bei der Bewertung der Europäischen Integrationseffekte<br />

nicht im Zentrum. Dies zeigt nicht nur den Fokus der Modellbetrachtung, sondern<br />

spiegelt auch die Agenda der Europäischen Integration zu diesem Zeitpunkt wider. Eine kritische<br />

Bestandsaufnahme der Effekte des EU-Beitritts Österreichs liefert Stockhammer (2006: 72), der<br />

die Annahmen der Simulationsstudien zu den Effekten der Währungsunion hinter fragt. Insbesondere<br />

die unterstellten dynamischen Skalenerträge, die laut Stockhammer zirka 2/3 des prognostizierten<br />

zusätzlichen Wachstums für Österreich ausmachten und die dabei unterstellten<br />

hohen Preissteigerungen der ehemaligen Hartwährungsländer wie Österreich gegenüber den<br />

Weichwährungsländern, sowie die nicht beachteten restriktiven Effekte auf die Nachfrage durch<br />

den Stabilitäts- und Wachstumspakt und den damit verbundenen fiskalischen Sparkurs in der<br />

Europäischen Union, stehen im Zentrum der Kritik. Die Frage, auf welche Weise in der Europäischen<br />

Union eine Koordinierung der wirtschaftlich heterogenen Mitgliedsstaaten vorangetrieben<br />

wird, und welche langfristigen wirtschaftspolitischen Probleme sich daraus ergeben<br />

können, wird ins Zentrum gerückt. Für Stockhammer (2006: 68) sind diese deutlich durch die zugrundeliegende<br />

Struktur des Wachstums- und Stabilitätspakts determiniert, der die Fiskalpolitik<br />

zum Prinzip des ausgeglichenen Budgets verpflichtet. In Kombination mit dem Fokus der Geldpolitik<br />

auf die Einhaltung des Inflationsziels, ergibt sich tendenziell eine zu restriktive <strong>Wirtschaft</strong>spolitik<br />

(restriktive Geldpolitik und Kombination mit restriktiver Fiskalpolitik), um nachfragestimulierend<br />

und wachstumsfördernd zu agieren. Auch wenn dieser Befund von Stockhammer vor der<br />

Wende zur Phase der Niedrigzinspolitik der Europäischen Zentralbank getätigt wurde, die mehr<br />

als eine Dekade die Geldpolitik in <strong>Europa</strong> prägen sollte, so wird das systemische Zusammenwirken<br />

zwischen Geld- und Fiskalpolitik deutlich, welches sich in der methodischen Ausgestaltung<br />

der europäischen Koordinierung widerspiegelt.<br />

1.2 Europäische Koordinierung und Kooperation als wesentliche Begriffe<br />

Gleichzeitig mit den Erweiterungsphasen wurde bereits vor steigenden Divergenzen durch eine<br />

heterogene Mitgliederstruktur in der Europäischen Gemeinschaft und später Europäischen<br />

Union gewarnt. Ein kooperativer Ansatz wurde laut Koll (2020) bereits Ende der 1990er<br />

Jahre diskutiert und fand seine Umsetzung im „Makroökonomischen Dialog der EU“. Dessen<br />

wirtschafts politische Dimension wurde durch den Fokus auf Strukturreformen, welche für den<br />

ökonomischen Mainstream zentral für eine Kooperationsfunktion sind, beschnitten. Wie bereits<br />

in der historischen Darstellung der Kosten-Nutzenanalysen der potenziellen Beitrittskandidatenländer<br />

dominiert auch bei der Frage der Koordinierung der heterogenen <strong>Wirtschaft</strong>sstruktur der<br />

Mitgliedsstaaten der enge Blickwinkel des ökonomischen Mainstreams die wirtschaftspolitische<br />

196 <strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024


Europäische Integration angesichts steigender Asymmetrien und die Bedeutung eines pluralen ökonomischen Betrachtungswinkels<br />

Umsetzung. Begrifflich wird Koordinierung hierbei als vertiefte Strukturierung von Kooperation<br />

verstanden, wie unter anderem von Angelo und Schweighofer (2001: 51) verdeutlicht wird. Unter<br />

dem Verweis auf die Zitierung von Kenen bei Mooslechner und Schürz wird hierbei Koordinierung<br />

als Wille zur Verhaltensänderung oder Anpassung verstanden, während Kooperation das<br />

gemeinsame Erstellen von Analysen und Beraten umfasst und aus Informationsaustausch<br />

besteht.<br />

Es wird deutlich, dass der Stabilitäts- und Wachstumspakt ins Zentrum der Koordinierungsagenda<br />

des ökonomischen Mainstreams rückt, während dem nationalen Wunsch nach gestärkter<br />

Wettbewerbsfähigkeit aufgrund des durch Zollunion und Währungsunion eingeschränkten<br />

Handlungsspielraums letztlich nur durch Arbeitsmarkt-, Sozial- und Steuerpolitik auf nationaler<br />

Ebene nachgekommen werden kann und diese Agenden weitestgehend einer allgemeinen Kooperation<br />

unterliegen. In der Systematik unterschiedlicher Niveaus und Formen von Koordinierung<br />

am Weg zur Kooperation, wie Angelo und Schweighofer (2001) sie zusammenfassen, stellen<br />

die Maastricht-Kriterien demnach eine mittlere Stufe der Koordination dar, die über einen<br />

Informationsaustausch und eine ad-hoc Koordinierung hinausgehen, aber weder eine partielle<br />

Kooperation durch Delegation noch eine vollständige Kooperation darstellen.<br />

Während in den 2000er Jahren der konjunkturelle Aufschwung in <strong>Europa</strong> einsetzt, verdeutlichen<br />

kritische Ökonom:innen, dass <strong>Europa</strong> angesichts der bestehenden <strong>Wirtschaft</strong>spolitik vor allem<br />

aufgrund der Regelgebundenheit der Fiskalpolitik, die sich als Ausfluss einer neoliberalen,<br />

aus standard ökonomischen Ansätzen der ökonomischen Theorie inspirierten <strong>Wirtschaft</strong>spolitik<br />

– allen voran dem sogenannten Washington Consensus – präsentiert, Wachstumseinbußen hinnehmen<br />

muss (siehe unter anderem Schulmeister 2007; Hein/Truger 2007). Priewe (2007: 134)<br />

leitet hierfür den Begriff des „Brusseler Consensus“ ab, der die Wahrnehmung symbolisiert, dass<br />

eine Wachstumsschwäche nicht auf eine zu geringe aggregierte Nachfrage aufgrund restriktiver<br />

Geld- und Fiskalpolitik zurückzuführen ist, sondern durch angebotsseitige Faktoren determiniert<br />

wird.<br />

Die globale <strong>Wirtschaft</strong>s- und Finanzkrise ab 2007/08 setzt dem wirtschaftlichen Aufschwung<br />

<strong>Europa</strong>s ein Ende und trägt zu einer Restrukturierung der koordinativen Strukturen der<br />

Mitgliedsstaaten der Europäischen Union und im speziellen der Eurozonen-Länder bei. Die<br />

Restrukturierung der bestehenden Koordinierungsmaßnahmen besteht jedoch nicht in einem<br />

Richtungswechsel in den zugrundeliegenden paradigmatischen ökonomischen Annahmen,<br />

sondern in einer Vertiefung und Erweiterung dieser. Zum einen wurde die fiskalische Stringenz<br />

des Wachstums- und Stabilitätspaktes durch die zweigliedrige Struktur des Fiskalpaktes 1 , der<br />

einen präventiven Arm und bei einer Verfehlung der fiskalischen Kriterien einen Annäherungspfad<br />

vorgibt und einen korrektiven Arm, der im Fall längerfristiger Verfehlungen die finanziellen<br />

1 Der Fiskalpakt fokussiert auf die Überwachung und Bewertung der nationalen Haushaltspläne der Mitgliedsstaaten<br />

der Europäischen Währungsunion und vertieft die Rechtsakte des sogenannten Sixpacks, die für die Mitgliedsstaaten<br />

der Europäischen Union eine Haushaltskontrolle darstellen und durch das Erkennen von makroökonomischen<br />

Ungleichgewichten, sowie die nachfolgenden Verfahren, mögliche strukturelle Verwerfungen mitigieren<br />

sollen. (vgl. unter anderem EK 2011; EC 2016; Boysen-Hogrefe u.a 2014; Schweighofer 2012)<br />

<strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024<br />

197


Elisabeth Springler<br />

Konsequenzen für die jeweiligen Mitgliedsstaaten der Eurozone vorgibt, erhöht. Zum anderen<br />

wurden mit dem Verfahren zur frühzeitigen Erkennung und Ableitung eines Verfahrens zur<br />

Bekämpfung von makroökonomischen Ungleichgewichten die Maßnahmen zur Kontrolle der<br />

Haushaltspolitik der Mitgliedsstaaten der Europäischen Union verschärft (vgl. EC 2016). Zentral<br />

ist hierbei der Fokus auf die äußere und innere Wettbewerbsfähigkeit eines Landes innerhalb der<br />

Europäischen Union. Der Mechanismus bei einer Verfehlung oder dem Erkennen von strukturellen<br />

Schwächen ist jenem der fiskalischen Disziplin (Fiskalpakt) nachempfunden. Abbildung 1 zeigt<br />

die Auswertung der Makroökonomischen Ungleichgewichte für das Jahr 2022, die im Jahr<br />

2023 veröffentlicht wurde und die Basis für den Bericht der abzuleitenden Maßnahmen für das<br />

Jahr 2024 darstellt. Die angegebenen Schwellenwerte der insgesamt 14 Indikatoren, die den<br />

Kategorien Externe Ungleichgewichte und Wettbewerbsfähigkeit, Interne Wettbewerbsfähigkeit<br />

und Arbeitsmarkt zugewiesen sind, werden in diesem Jahr nur von Malta vollends erfüllt.<br />

198 <strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024


Europäische Integration angesichts steigender Asymmetrien und die Bedeutung eines pluralen ökonomischen Betrachtungswinkels<br />

Abbildung 1: Makroökonomische Ungleichgewichte<br />

Quelle: Eurostat (2023) online.<br />

<strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024<br />

199


Elisabeth Springler<br />

Es gelten in einigen Bereichen strengere Bandbreiten für die Mitgliedsstaaten der Eurozone<br />

als für Mitgliedsstaaten der Europäischen Union (siehe Abbildung 1). Österreich überschreitet<br />

die angegebenen Schwellenwerte im Bereich der nominellen Lohnstückkosten, sowie bei der<br />

Staatsverschuldung in Prozent des BIP. Weder dies noch die Tatsache, dass fast alle Staaten<br />

der Europäischen Union die Schwellenwerte nicht vollends erfüllen, stellt eine Besonderheit dar.<br />

Auch hat ein Überschreiten nicht notwendigerweise zur Konsequenz, dass eine weitere vertiefende<br />

Analyse angefordert wird oder, dass unmittelbar wirtschaftspolitische Gegenmaßnahmen<br />

ergriffen werden müssen. Vielmehr wird die Bedeutung des Überschreitens einiger Kennziffern<br />

im Gesamtkontext der jeweiligen wirtschaftlichen Situation evaluiert. So hatte beispielsweise<br />

Österreich bereits bei der erstmaligen Meldung der damals 10 gültigen Kennzahlen im Jahr 2012<br />

eine Überschreitung in drei Bereichen (durch einen zu stark gefundenen Exportmarktanteil, einer<br />

zu hohen Staatsschuldenquote und einer zu hohen Verschuldungsquote des Privatsektors) zu<br />

verzeichnen (vgl. Hahn u.a. 2012). In ihrer Evaluierung des Scoreboards machen Hahn u.a. (2012:<br />

393) bereits zu diesem Zeitpunkt deutlich, dass die Kennzahlen und Schwellenwerte des Scoreboards<br />

mit Problemen behaftet sind, da sowohl mangelhafte nationalstaatliche Datenquellen zu<br />

einer Verzerrung führen könnten, also auch die Schwellenwerte selbst keinen ausreichenden Indikator<br />

zur Abbildung von Ungleichgewichten und steigender Heterogenität zwischen den Staaten<br />

und Strukturwandel wären. Zwar wurden von der Europäischen Kommission 2015 weitere<br />

Indikatoren, welche die Entwicklung am Arbeitsmarkt beschreiben sollen, hinzugefügt (siehe EC<br />

2015), die von Hahn u.a. (2012) angemerkten Mängel wurden damit jedoch nicht adressiert, vielmehr<br />

sind die Schwellenwerte bis heute gültig. Besonders augenfällig ist in diesem Zusammenhang<br />

auch die asymmetrische Betrachtung von Leistungsbilanzüberschüssen und Leistungsbilanzdefiziten<br />

zugunsten von Überschüssen. Dies zeigt die bereits bestehenden Unterschiede<br />

zwischen den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union – zwischen dem sogenannten Europäischen<br />

Süden, der durch Leistungsbilanzdefizite gekennzeichnet ist und dem Europäischen<br />

Norden oder auch Zentrumsländer, die durch Überschüsse geprägt sind. So verwundert es nicht,<br />

dass sich insbesondere Deutschland, aber auch Österreich für diese asymmetrische Behandlung<br />

eingesetzt haben (vgl. Schweighofer 2012:62).<br />

Diese Entwicklungen haben insbesondere in der Phase nach der globalen Finanz- und <strong>Wirtschaft</strong>skrise<br />

weiter dazu beigetragen, dass Maßnahmen der Europäischen Zentralbank, die eine<br />

ultra-lockere Geldpolitik manifestierten, auf eine restriktive (kontraktive) Fiskalpolitik gestoßen<br />

sind. Diese Ungleichgewichte im sogenannten monetary und fiscal stance der Europäischen<br />

Währungsunion wurden selbst von der Europäischen Kommission (2016) kommentiert und die<br />

Mitgliedsstaaten der Eurozone „towards a Positive Fiscal Stance“ aufgerufen (EK 2016).<br />

Der bisher letzte Schritt der Makroökonomischen Koordinierung zwischen den Mitgliedsstaaten,<br />

durch den abermals das geringe <strong>Wirtschaft</strong>swachstum <strong>Europa</strong>s adressiert und gleichzeitig unter<br />

Bedachtnahme auf die Entwicklung der Geldpolitik und der Fiskalpolitik Herausforderungen der<br />

sozialen und ökologischen Transformation ins Zentrum rücken sollen, stellt die Schaffung von<br />

200 <strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024


Europäische Integration angesichts steigender Asymmetrien und die Bedeutung eines pluralen ökonomischen Betrachtungswinkels<br />

nationalen unabhängigen Produktivitätsräten 2 dar, deren Monitoring ebenfalls in die Struktur des<br />

Europäischen Semesters eingebunden wird. Der oben genannten Reihung von Niveaus der Koordinierung<br />

folgend, stellt diese Form einen grundlegenden Informationsaustausch dar, der bisher<br />

weder in ein weiteres Prozedere gegossen ist noch eine Form der Kooperation darstellt.<br />

Insgesamt zeigt diese Genese, dass die Europäische Integration durch eine Fülle von Maßnahmen<br />

zur Koordinierung, vor allem auf den unteren und mittleren Niveaus der Koordinierungsgrade<br />

geprägt ist. Eine strukturierte Kooperation zwischen den Mitgliedsstaaten, um einen<br />

wirtschaftspolitischen und strukturellen Wandel herbeizuführen, gibt es durch die angewandten<br />

Methoden jedoch nicht.<br />

2 Grundpfeiler und Verdienste einer pluralen Betrachtung<br />

Angesichts des historischen Abrisses wird das Grundkonzept der Europäischen Integration aus<br />

ökonomischer Sicht deutlich. Es kommt zur Anwendung einer durch den ökonomischen Mainstream<br />

geprägten Wahrnehmung von Europäischer Integration, in die durch den Zeitablauf eine<br />

Fülle von weiteren Agenden (über die Erhöhung der Wettbewerbsfähigkeit zur Steigerung der<br />

wirtschaftlichen Prosperität hinaus) integriert wurden. Dies hat zu Interessenskonflikten und<br />

Spannungslinien in der Europäischen Union beziehungsweise in der Beziehung zwischen ökonomischer<br />

Zielsetzung und politischer Umsetzung geführt. Bereits 1997 fasst Tsoukalis (1997) in<br />

seinen 10 Thesen zur Europäischen Integration diese Wahrnehmungen zusammen, beschreibt<br />

die Ausdehnung der Agenden, sowie deren Auswirkung auf die Institutionen. Beispielhaft sei hier<br />

zitiert: „The old trade model of integration has continuously expanded to include not only goods<br />

but also services and factors of production. Regulatory, redistribute and increasingly stabilization<br />

policies have entered the European Agenda. ..[..] (s.259 aus These 1). Gleichzeitig wird das Spannungsverhältnis<br />

zwischen den Aufgaben des Staates auf nationaler und supranationaler Ebene<br />

deutlich: „Integration has influenced the economic order by weakening the power of the state. This<br />

is true of the allocation, redistribution and, stabilization functions traditionally performed by state<br />

institutions.“ [..] (S.261 aus These 2). Dies hat zu einer Situation geführt, die Tsoukalis (1997: 261)<br />

als „Keynes at home and Smith abroad“ beschreibt.<br />

Angesichts steigender Disparitäten zwischen den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union<br />

wurden die fiskalischen Zielvorgaben vertieft und Kriterien zur Analyse der makroökonomischen<br />

Ungleichgewichte eingeführt. Beide Elemente bauen auf der Bedeutung der Wettbewerbsfähigkeit<br />

3 und dem Wunsch der Steigerung des Außenhandels auf und manifestieren die Position<br />

2 In Österreich wurde der Produktivitätsrat im Jahr 2022 etabliert und hat 2023 den ersten Bericht zur Analyse der<br />

Nationalen Produktivität und Wettbewerbssituation, sowie den bestehenden Einflussfaktoren und Herausforderungen<br />

abgegeben (siehe https://www.produktivitaetsrat.at/organisation.html). Eine Form der Koordinierung<br />

zwischen fiskalischer und wettbewerbspolitischer Betrachtung wird nicht nur durch die gemeinsame gesetzliche<br />

Grundlage des Fiskalrat- und Produktivitätsratsgesetz 2021 – FPRG 2021 geschaffen, sondern auch durch den<br />

Vorsitz personell umgesetzt. (§6 (4) FPRG 2021).<br />

3 Vgl. unter anderem Wigger (2015) für eine Argumentation der Perpetuierung bestehender Ungleichgewichte durch<br />

diese Maßnahmen.<br />

<strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024<br />

201


Elisabeth Springler<br />

einer geringen staatlichen Intervention als erstbeste Lösung zur Reduktion von (marktlichen)<br />

Fehlfunktionen.<br />

Da dennoch die Ungleichgewichte zwischen den Nationalstaaten der Europäischen Union nicht<br />

verringert werden konnten, stellt sich die Frage, auf welche Weise die Defizite der bestehenden<br />

ökonomischen Fundierung durch einen alternativen pluralen Ansatz adressiert werden können.<br />

Der ökonomische Mainstream fokussiert auf Lösungen entsprechend eines Kosten-Nutzen<br />

Ansatzes und geht nicht nur von einem Primat der Ökonomie über andere Disziplinen aus, sondern<br />

nimmt – dem Ansatz des kritischen Rationalismus folgend – weiters an, dass über den<br />

historischen Zeitablauf das dominante Paradigma durch werturteilsfreie und gesellschaftlich<br />

„neutrale“ Analysen determiniert wird (siehe unter anderem Jäger/Springler 2012: Kap. 1.3;).<br />

Demgegenüber setzt eine plurale Betrachtung die interdisziplinäre Betrachtung und gesellschaftliche<br />

Interaktionen zur Erklärung ökonomischer Phänomene ins Zentrum. Ehnts und Zeddies<br />

(2016) fassen folgende fünf Säulen der pluralen Ökonomik zusammen: Theoriepluralismus,<br />

Methodenpluralismus, historische Fundierung, wissenschaftstheoretische und ethische Reflexion<br />

und Inter- bzw. Transdisziplinarität. Obgleich diese fünf Säulen gleichermaßen wesentlich sind,<br />

um die plurale Ökonomie als Gegensatz zum Monismus der ökonomischen Orthodoxie zu positionieren,<br />

ergibt sich für die unmittelbare Anwendung auf die inhaltliche Fragestellung – sowohl<br />

des Umgangs und der Genese von Europäischer Koordinierung als auch für dessen Umsetzung<br />

– eine hierarchische Verteilung in der Bedeutung der Säulen. Der anzuwendende Methodenpluralismus<br />

und die geforderte Inter-bzw. Transdisziplinarität tritt gegenüber der historischen<br />

Fundierung, wissenschaftstheoretischen Reflexion und dem Theoriepluralismus in den abgeleiteten<br />

Rang der Implementierungsoffenheit 4 .<br />

4 Der allgemeine Diskurs um die Notwendigkeit einer bewussten Manifestation eines pluralen ökonomischen<br />

Zugangs, der nicht die perpetuierende Struktur des bestehenden Paradigmas der Orthodoxie in unterschiedlichen<br />

Spielarten widerspiegelt, kann innerhalb des thematischen Rahmens des Beitrags nicht geführt werden (siehe hierfür<br />

unter anderem Gräbner/Strunk 2019).<br />

202 <strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024


Europäische Integration angesichts steigender Asymmetrien und die Bedeutung eines pluralen ökonomischen Betrachtungswinkels<br />

Abbildung 2: Einhaltung der europäischen Fiskalregeln 2002-2021<br />

Quelle: Sachverständigenrat (2022), Abbildung 65.<br />

Die im historischen Ablauf beobachtbare steigende Heterogenität zwischen den Mitgliedsstaaten,<br />

die auch durch einen gestiegenen Fokus auf die Harmonisierung der nationalen Fiskalpolitiken<br />

in <strong>Europa</strong> nicht erreicht werden kann, ist der wesentliche Anker. Abseits des breiten Spektrums<br />

makroökonomischer Indikatoren, können hierzu sowohl die in Abbildung 1 dargestellten<br />

Indikatoren der Bestimmung makroökonomischer Ungleichgewichte als auch die Entwicklungen<br />

<strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024<br />

203


Elisabeth Springler<br />

der Fiskaldaten selbst (siehe Abbildung 2) herangezogen werden. Letztere zeigt, dass zur Überwindung<br />

von Krisen die fiskalischen Kriterien sowohl bei der bestehenden Defizitregel als auch<br />

bei der Schuldenregel gerissen werden. Darüber hinaus wird deutlich, dass auch große Volkswirtschaften<br />

in der Europäischen Währungsunion wie Italien, aber auch Frankreich kontinuierlich<br />

die Schuldenregel nicht einhalten, das bedeutet, dass diese Länder auch den hierfür vorgesehenen<br />

Anpassungspfad nicht einhalten. Im Gegensatz dazu ist beispielsweise Österreich, trotz<br />

einer Verschuldungsquote von mehr als 60% Staatsverschuldung gemessen am Bruttoinlandsprodukt<br />

nicht rot eingefärbt in Abbildung 2, da der vorgesehene Pfad zur Reduktion der Verschuldung<br />

eingehalten wurde. Die nach der Krise 2007/09 durch das Sixpack verstärkt ins Zentrum<br />

gerückten Kriterien der strukturellen Saldoregel und der Ausgabenregel zeigen ebenso wenig<br />

ein vermehrtes Maß der Einhaltung.<br />

Während bereits die grobe empirische Beobachtung dieser makroökonomischen Indikatoren<br />

die Defizite in Hinblick auf die Zielerreichung zeigt, hat der dahinterliegende wissenschaftstheoretische<br />

Fokus sich im Zeitablauf nicht geändert, der Fokus auf die axiomatische Umsetzung<br />

der Rahmenbedingungen entsprechend dem Washington Consensus und dessen Ableitung für<br />

den Brusseler Consensus (siehe oben) versteht sich in einer Vertiefung der Austeritätspolitik und<br />

folgt dementsprechend orthodoxen Theorieansätzen. Aus der Ableitung einer notwen digen wissenschaftstheoretischen<br />

Reflexion manifestiert sich auch die dritte für den Diskurs wesentliche<br />

Säule, der Theoriepluralismus, der, wie Ehnts und Zeddies (2026: 774) es beschreiben, sich angesichts<br />

der bestehenden multiplen Krisen und Herausforderungen der unterschied lichen „ B r i l l e n“<br />

auf die Ökonomie und die bestehenden kapitalistischen Strukturen bedient, um konkrete Lösungen<br />

zu finden und die Komplexität zu reduzieren. In der Anwendung dieser theoretischen<br />

Rahmenbedingungen erschließt sich die Notwendigkeit einer Integration unterschiedlicher Disziplinen<br />

und den damit einhergehenden Methoden des wissenschaftlichen Arbeitens.<br />

3 Zukunftsgerichtete <strong>Europa</strong>politik am Beispiel der Fiskalpolitik<br />

Für die Umsetzung dieser Forderungen in der europäischen <strong>Wirtschaft</strong>spolitik ergeben sich zwei<br />

unmittelbare Stoßrichtungen, zum einen der Umgang und die Reflexion mit den bestehenden<br />

Rahmenbedingungen und zum anderen die Einbettung beziehungsweise das lösungsorientierte<br />

Umgehen mit gesellschaftspolitischen Herausforderungen und exogenen Schocks.<br />

Die wesentlichen bestehenden Rahmenbedingungen der europäischen Fiskalpolitik sind die Fiskalregeln<br />

für die Mitgliedsstaaten der Europäischen Währungsunion, deren derzeit andauernde<br />

Revision möglicherweise einen Schritt in eine Steigerung des fiskalischen Spielraums für<br />

die Mitgliedstaaten bedeuten kann. Bewusst wird ‚kann‘ gewählt, da der im Dezember 2023,<br />

nach mehreren Konsultationsrunden, veröffentlichte Rahmen für das neue Regelwerk 5 Chancen<br />

für eine gezielte Umsetzung von Maßnahmen für eine sozial-ökologische Transformation<br />

5 Vgl. für eine genauere Darstellung des Rahmens Council of the European Union (2023).<br />

204 <strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024


Europäische Integration angesichts steigender Asymmetrien und die Bedeutung eines pluralen ökonomischen Betrachtungswinkels<br />

und größeren fiskalischen Handlungsspielraum für die Mitgliedsstaaten der Europäischen Währungsunion<br />

liefern kann, jedoch gleichzeitig bei näherer Betrachtung viele Fragen zur konkreten<br />

Umsetzung eröffnet und ein hohes Maß an Komplexität in der Umsetzung der Rahmenbedingungen<br />

gegeben zu sein scheint.<br />

Die Gegenüberstellung von Grossmann u.a. (o.J.) zwischen dem alten und dem neuen Regelwerk<br />

verdeutlicht diese Unsicherheit und das potenziell hohe Maß an Komplexität. Während der<br />

Zuwachs der Nettoprimärausgaben nun als einzige Zielgröße ins Zentrum rückt und damit eine<br />

leichtere Durchführbarkeit in der Berechnung der Fiskalposition eines Landes sicherstellen soll,<br />

liefert das flankierende System Unsicherheiten. Zum einen kann es als Option für das Setzen von<br />

Maßnahmen zur sozial-ökologischen Transformation gesehen werden, wodurch ein Teil der in den<br />

letzten Jahren von vielen Ökonom:innen und Institutionen geforderten Reformen der Fiskalregeln<br />

aufgegriffen werden, zum anderen ist durch den langen Prognosezeitraum (genannt werden 4-7<br />

Jahre für die Strukturpläne plus 10 Jahre für die Schuldentragfähigkeitsanalysen – siehe Grossmann<br />

u.a. (o.J.)) das Potential für steigende Komplexität und Unsicherheit in Prognosen und Umsetzbarkeit<br />

gegeben. Beispielsweise ist eine direkte Integration einer Goldenen Investitionsregel,<br />

wie unter anderem von Achim Truger (2015) gefordert, nicht integriert. Produktive öffent liche<br />

Investitionen weisen einen positiven Zusammenhang zur wirtschaftlichen Entwicklung über die<br />

Ausweitung privater Investitionstätigkeit auf, wobei Truger (2015) dies theoretisch aus dem ökonomischen<br />

Ansatz der Finanzwissenschaft nach Musgrave ableitet und empirisch mit Blick auf<br />

die Übermittlung von Daten zu öffentlicher Investitionstätigkeit im internationalen Vergleich, die<br />

eine Abgrenzung zwischen produktiven und nicht produktiven öffentlichen Investitionen ermöglichen,<br />

verdeutlicht. Daraus schließt er für die fiskalischen Maßnahmen der Europäischen Union:<br />

„In order to prevent a conflict between the Golden Rule of public investment and the goal of stabilizing<br />

public debt at below 60 per cent of GDP an upper limit of deductible net investment spending<br />

of 1 or 1.5 per cent of GDP could be set. Over time it could be technically and statistically refined<br />

and potentially include other – more in-tangible types – of investment like education expenditures“<br />

(Truger 2015: 52). Eine Alternative zur Integration einer goldenen Investitionsregel haben vor einem<br />

pluralen ökonomischen Hintergrund Heimberger und Lichtenberger (2022) im Vorfeld der<br />

Restrukturierung der europäischen Fiskalregeln vorgestellt, einen permanenten EU-Investitionsfonds<br />

in der Höhe von 1% der EU-<strong>Wirtschaft</strong>sleistung, der von den National staaten in Form von<br />

Zuschüssen für eine Restrukturierung der <strong>Wirtschaft</strong> genutzt werden kann. Durch diese Form der<br />

Finanzierung über das Dach der Europäischen Integration sollen neben den unmittelbaren nationalen<br />

wirtschaftlichen Effekten auch positive Zusatzeffekte für die wirtschaftlichen Transformation<br />

durch Kooperation zwischen den Nationalstaaten gehoben werden, ebensolche, die durch<br />

eine schwieriger werdende politische Kooperation aufgrund unterschiedlicher Betroffenheiten in<br />

der Bevölkerung zwischen den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union, solidarische Lösungen<br />

erschweren (vgl. Heimberger/Lichtenberger 2022: 15).<br />

Somit stellt das nun verabschiedete Regelwerk keine Abkehr von der bestehenden Systematik<br />

dar. Ob nachhaltig ein pluraler Blickwinkel in die europäische Fiskalpolitik Einzug hält, kann zum<br />

derzeitigen Zeitpunkt angesichts der unklaren Umsetzungspfade nicht bewertet werden.<br />

<strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024<br />

205


Elisabeth Springler<br />

4 Zusammenfassung<br />

Der ökonomische Mainstream stellt das bestimmende Paradigma der Europäischen Integration<br />

dar und ermöglichte vor allem in den 1950er und 1960er Jahren eine enge Verbindung zu den vorherrschenden<br />

politikwissenschaftlichen Ansätzen des Neofunktionalismus. Nicht nur die multiplen<br />

Krisen der letzten Jahre und die Notwendigkeit einer sozial-ökologischen Transformation<br />

in der <strong>Wirtschaft</strong>sweise, sondern auch die steigenden makroökonomischen Ungleichgewichte<br />

seit den 1990er Jahren verdeutlichen die Notwendigkeit des bisher nicht vollzogenen Richtungswechsels<br />

in der wirtschaftspolitischen Ausrichtung. Eine Änderung zu einem pluralen ökonomischen<br />

Diskurs würde nicht nur die bisherige fiskalische Austeritätspolitik in einen breiteren<br />

Blickwinkel rücken und die herrschenden sozialwirtschaftlichen Realitäten der makroökonomischen<br />

Ungleichgewichte miteinbeziehen, sondern auch durch einen interdisziplinären Rahmen<br />

eine kooperative Betrachtung – im Gegensatz zu einem koordinativen Rahmen auf niedrigem<br />

Niveau, wie im bisherigen Kontext – zwischen ökonomischen und politikwissenschaftlichen<br />

Ansätzen ermöglichen. Die bisherigen Reformen des europäischen Regelwerks der Fiskalpolitik<br />

können ein Schritt in diese Richtung sein, allerdings macht eine mangelnde Operationalisierung<br />

bisher keine Bewertung möglich. Die Aufgaben des öffentlichen Sektors im Rahmen einer aktiven<br />

europäischen Industriepolitik, stellen eine weitere wirtschaftspolitische Ebene dar, die im<br />

Rahmen eines pluralen ökonomischen und interdisziplinären Ansatzes eine zukunftsgerichtete<br />

<strong>Wirtschaft</strong>sweise unterstützen kann; deren Diskussion liegt jedoch außerhalb des Fokus dieses<br />

Beitrags.<br />

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Chaloupek, G. / Hein, E. / Truger, A. (Hrsg.): Ende der Stagnation? <strong>Wirtschaft</strong>spolitische Perspektiven<br />

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Sachverständigenrat (2022): Energiekrise solidarisch bewältigen, neue Realität gestalten,<br />

Jahresgutachten 2022/23; Bonifatius GmbH Druck-Buch-Verlag: Paderborn. https://www.<br />

sachverstaendigenrat-wirtschaft.de/fileadmin/dateiablage/gutachten/jg202223/JG202223_<br />

Gesamtausgabe.pdf<br />

Schulmeister, Stephan (2007): <strong>Wirtschaft</strong>spolitik und Finanzinstabilität als Ursachen der unterschiedlichen<br />

Wachstumsdynamik in den USA und <strong>Europa</strong>. In: Chaloupek, G. /Hein, E. /Truger,<br />

A. (Hrsg.): Ende der Stagnation? <strong>Wirtschaft</strong>spolitische Perspektiven für mehr Wachstum und<br />

Beschäftigung in <strong>Europa</strong>, Tagung der Kammer für Arbeiter und Angestellte für Wien und des<br />

Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) in der Hans-Böckler-Stiftung, Düsseldorf.<br />

Wien: AK Wien, 15-42.<br />

Schweighofer, Johannes (2012): Makroökonomische Ungleichgewichte aus verteilungspolitischer<br />

Sicht. Die Diskussion zum EU-Scoreboard am Beispiel von Leistungsbilanzen und Lohnstückkosten.<br />

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Nr. 138, Working Paper-Reihe der AK Wien. Wien: AK Wien.<br />

Tsoukalis, Loukas (1997): The New European Economy Revisited. Oxford: Oxford University<br />

Press.<br />

<strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024<br />

209


Elisabeth Springler<br />

Wessels, Wolfgang / Faber, Anne (2007): Vom Verfassungskonvent zurück zur ‚Methode<br />

Monnet‘? Die Entstehung der ‚Road map‘ zum EU-Reformvertrag unter deutscher Ratspräsidentschaft.<br />

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210 <strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024


Karl Wörle<br />

Kollektivverfahren und gütliche Streitbeilegung<br />

im römischen Recht und in der EU<br />

1 Von der römisch-rechtlichen actio popularis zur modernen Verbandsklage<br />

Ich freue mich sehr, meinem geschätzten Kollegen Prof. (FH) Dr. habil. Michael Thöndl einen<br />

Beitrag für seine Festschrift widmen zu dürfen. Ein Jahr lang war es mir ein großes Vergnügen,<br />

das Arbeitszimmer mit ihm zu teilen, und unsere Gespräche sind mir immer noch in lebendiger<br />

Erinnerung. Besonders einprägsam waren seine Erzählungen von seinem Forschungsschwerpunkt,<br />

dem Faschismus in Italien und dessen Ideengeschichte. Mit Italien haben wir ein<br />

gemeinsames Interesse, da sich im rechtswissenschaftlichen Curriculum auch das „Römische<br />

Recht“ findet, das bis heute die Europäischen Rechtsordnungen prägt. Sie reichen aber noch<br />

weit darüber hinaus, so sind etwa die checks and balances der US-amerikanischen Verfassung<br />

inspiriert von der römischen Republik und Ciceros Staatstheorie.<br />

Auch mein aktuelles Forschungsprojekt, die gütliche Streitbeilegung im kollektiven Rechtschutz,<br />

hat römische Vorbilder. Antiker Vorläufer der heutigen Verbandsklage ist gewissermaßen<br />

die römisch-rechtliche Popularklage (actio popularis). Diese konnte von jedermann erhoben<br />

werden, also auch von Personen, die nicht selbst in ihren Rechten verletzt wurden, zu<br />

Gunsten anderer oder der Allgemeinheit. Sie wurde eingesetzt zum Schutz der Rechtspflege,<br />

zB gegen unbefugtes Öffnen von Testamenten; um öffentliche Infrastruktur zu schützen, etwa<br />

öffentliche Abwasseranlagen, oder zum Schutz des Sakralen, insbesondere von Grabmälern.<br />

Darüber hinaus wurde sie auch zur Verfolgung von Individualansprüchen zugunsten von Personen<br />

verwendet, die dies entweder selbst nicht konnten oder wollten. So konnten etwa Bußgeldzahlungen<br />

für diverse strafbare Handlungen gegen Leib und Leben oder die Ehre (iniuria) von<br />

jedermann zugunsten des:der Geschädigten oder seiner Angehörigen eingeklagt werden, oder<br />

zugunsten eines Mündels im Fall von Pflichtverletzungen des Vormunds (Ahmadov 2018: 13ff;<br />

Halfmeier 2006: 35f; Hausmaninger/Selb: 110ff). Die actio popularis diente damit als eine Art<br />

soziales Kontrollinstrument (Halfmeier 2006: 3f, 29ff, 47ff). 1 Modernes Pendant der Popularklage<br />

ist die Verbandsklage, die in der EU im Jahr 1999 im Bereich des Konsumentenschutzes<br />

eingeführt wurde. Es handelt sich dabei um eine Unterlassungsklage, die also darauf abzielt,<br />

dass eine unerlaubte Handlung verboten wird (Steiner 2013: 1058; Meller-Hannich: 568). 2 Auch<br />

im römischen Recht gab es schon Unterlassungsklagen, nämlich die sog Popularinterdikte,<br />

die zB dem Schutz von Wasser wegen diente, oder dem Schutz von Passanten auf öffentlichen<br />

1 Vgl zur griechischen Popularklage Barta, Graeca non leguntur (2011) II/1, 598 ff.<br />

2 Richtlinie 98/27/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 19. Mai 1998 über Unterlassungsklagen zum<br />

Schutz der Verbraucherinteressen (ABl. 166 vom 11.6.1998: 51); Richtlinie 2009/22/EG des Europäischen Parlaments<br />

und des Rates vom 23. April 2009 über Unterlassungsklagen zum Schutz der Verbraucherinteressen (ABl L<br />

2009/110, 30)<br />

<strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024<br />

211


Karl Wörle<br />

Wegen vor aus Gebäuden herabfallenden Gegenständen (bzw vor Müll, der über die Fenster<br />

entsorgt wurde). Einst wie heute, können mit Unterlassungsklagen unerlaubte Praktiken zwar<br />

unterbunden werden, doch müssen Geschädigte auch kollektiv ihren Schaden einklagen können,<br />

um ihre Kräfte zu bündeln. Die Unzulänglichkeiten des derzeitigen kollektiven Rechtsschutzes<br />

wurden vielen schmerzlich im VW-Abgasskandal (Dieselgate) bewusst, wo Individualklagen<br />

gegen VW vor praktisch allen Landesgerichten anhängig sind. (Halfmeier 2006: 31f)<br />

Die erste Assoziation vieler, wenn sie an kollektiven Rechtsschutz denken, ist die US-amerikanische<br />

Sammelklage (class action). Sie ist vielen aufgrund des auf einer wahren Begebenheit<br />

beruhenden Justizdramas Erin Brockovich bekannt, in dem eine Grundwasservergiftung in einer<br />

kalifornischen Kleinstadt die Bevölkerung erkranken lässt, und die Geschädigten mit einer class<br />

action gegen das kontaminierende Unternehmen vorgehen.<br />

Das Konzept der class action ist zwar sehr schlagkräftig, aber im Grunde ein eingeschränkteres<br />

als jenes der Popularklage. Mit letzterer werden die Ansprüche von Geschädigten „lediglich“ gebündelt.<br />

So wird die class im Namen aller anderen geschädigten Personen, von einem Vertreter<br />

der Gruppe (named plaintiff) eingebracht (Heß 2000: 373; Fiedler 2010: 55). Bei der Popularklage<br />

hingegen liegt die Besonderheit in der Klagebefugnis des Verbands. Er kann – wie bei<br />

der class action – individuelle Rechtsansprüche zur kollektiven Durchsetzung bündeln, zusätzlich<br />

kommt ihm aber noch die sog „originäre Interventionskompetenz“ zu. Diese ist unabhängig<br />

von der Existenz individueller Ansprüche und stellt eine zusätzliche Spur des Rechtsschutzes<br />

dar (Halfmeier 2006: 5f). Die originäre Interventionskompetenz tritt etwa bei Unterlassungsklagen<br />

im Bereich des Datenschutzes zu Tage. Hier hat der EuGH entschieden, dass ein Verband<br />

Unterlassungsklagen zugunsten der Geschädigten einbringen darf, und zwar unabhängig von<br />

einer konkreten Rechtsverletzung und auch unabhängig von einem Mandat der Geschädigten<br />

(Leisler/Kern 2022; Wörle/Gstrein). 3<br />

Zu beachten ist jedoch, dass die class action, trotz ihres Individualansprüche bündelnden<br />

Charakters, sehr wohl auch zur Durchsetzung überindividueller Zielsetzungen eingesetzt wird.<br />

So spielten gemeinwohlorientierte class actions etwa in der US-Bürgerrechtsbewegung eine<br />

wichtige Rolle (institutional reform-Fälle, siehe näher Kapitel 3.) (Eichholtz 2020: 37ff; Kodek<br />

2022; Mom 2011: 34ff; Ahmadov 2018: 13f).<br />

Die neue europäische Verbandsklage beruht auf der Richtlinie über Verbandsklagen (Richtlinie<br />

[EU] 2020/1828; im Folgenden VK-RL), sie führt die kollektive Abhilfeklage ein, welche Leistungsklagen<br />

ieS (insb auf Schadenersatz) ermöglicht. An der VK-RL ist jedoch zu beachten, dass<br />

ihr Konzept im Grunde ein limitierteres ist als jenes der actio popularis, da sie nur zur Durchsetzung<br />

von Verbraucheransprüchen konzipiert ist.<br />

3 CJEU, case C-319/20, Meta Platforms Ireland, v. Bundesverband der Verbraucherzentralen, ECLI:EU:C:2022:322,<br />

paras. 34.<br />

212 <strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024


Kollektivverfahren und gütliche Streitbeilegung im römischen Recht und in der EU<br />

2 Prozessualer Vergleichsabschluss im antiken Rom und heute<br />

In meinem aktuellen Forschungsprojekt widme ich mich der gütlichen Beilegung von kollektiven<br />

Rechtsstreitigkeiten, und zwar durch den Abschluss eines Vergleichs. Zum Abschluss des<br />

Prozessvergleichs führt, dass die Parteien sich über das Bestehen oder die Reichweite ihrer<br />

Rechte uneinig sind, doch die Unklarheit nicht durch das Gericht entscheiden lassen wollen, um<br />

den Streit möglichst schnell und reibungslos zu bereinigen (Bydlinski 2020: Rz 816; Kodek/Mayr<br />

2016: Rz 609ff).<br />

Antikes Vorbild der gütlichen Beilegung von Rechtsstreitigkeiten ist die römisch-rechtliche<br />

transactio. Sie ist ein Vergleich über einen unsicheren Anspruch (Lehne-Gstreinthaler 2017:<br />

141-149), der während oder vor einem Prozess geschlossen wurde (Wacke 2011: 487-505). Die<br />

außergerichtliche transactio befreite den Beklagten von der Pflicht zur Einlassung in den Prozess<br />

und führte im Fall der dennoch erfolgten Klagserhebung zur denegatio actionis (Klagsversagung)<br />

(Anzenberger 2020: 7). Im Unterschied dazu gab es auch die pactio, eine Art Verzichtsoder<br />

Schuldaufhebungsvertrag, also über einen „sicheren Anspruch“, oder das pactum de non<br />

petendo, eine Art Stundung (Lehne-Gstreinthaler 2017: 141-149; Hausmaninger/Selb: 315). Nach<br />

modernem Zivilprozessrecht könnte man eine Vereinbarung wie die pactio auch in das prozessuale<br />

Kleid eines Vergleiches gießen, aus zivilrechtlicher Sicht fehlt es jedoch am beiderseitigen<br />

Nachgeben, um streitige oder zweifelhafte Rechte neu festzulegen. Bei Verzicht oder Stundung<br />

gibt ja nur eine Seite – zumindest vorübergehend – nach.<br />

Die transactio wurde häufig mit einem Eid oder der stipulatio Aquiliana verknüpft bzw bekräftigt.<br />

Eine stipulatio ist ein mündliches Schuldversprechen, das aus einer Frage- und Antwortformel<br />

besteht; ihr Unterfall, die stipulatio Aquiliana ist eine Art Novationsvertrag (Schuldänderungsvertrag)<br />

(Hausmaninger/Selb: 208, Lehne-Gstreinthaler 2017: 141-151). Dies ist dem Formalismus<br />

des römischen Zivilprozessrechts geschuldet (sog Formularprozess), wo das Prozessprogramm<br />

durch Verfahrensformeln vorgegeben war (Kaser/Knütel 2003: 48, 203; Hausmaninger/<br />

Selb: 374ff). Beim Vergleich ist jedoch seit der Antike eine kontinuierliche Entformalisierung zu<br />

beobachten. In der Neuzeit (16. und 17. Jahrhundert) wurde dann auch formlosen Vergleichen<br />

( transactio simplex) eine verfahrensbeendigende Wirkung zuerkannt (Anzenberger 2020: 9). Aus<br />

rechtsgeschichtlicher Metaperspektive kann man damit die Geschichte des Prozessvergleichs<br />

als eine Geschichte der Reduzierung seiner Sondernatur bezeichnen (Ebel 1988: 219). Dieser<br />

Trend setzt sich gewissermaßen bis heute fort, mit der Lehre vom Vergleich als Doppeltatbestand:<br />

Selbst wenn der Prozessvergleich Mängel als Prozesshandlung aufweist, beeinträchtigt<br />

dies nicht seine Natur als materiell-rechtlicher Vertrag – und vice versa (Trenker 2020:<br />

824ff). Die Judikatur vertritt zwar diese Lehre noch nicht konsequent, doch lassen vor allem<br />

jüngere Entscheidungen eine Präferenz dafür erkennen (Gitschthaler 2019: Rz 7; Jetzinger 2021:<br />

197-200). 4<br />

4 RIS-Justiz RS0032546: „Ein Prozessvergleich kann prozessual unwirksam, als materielles Rechtsgeschäft aber<br />

wirksam sein, und umgekehrt.“<br />

<strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024<br />

213


Karl Wörle<br />

3 Verbandsklage und Kollektivvergleich aus ökonomischer Perspektive<br />

Wie in Kapitel 1. beschrieben, wurde die römisch-rechtliche actio popularis zum Schutz der<br />

Rechtspflege, öffentlicher Infrastruktur und des Sakralen eingesetzt. In dieser Tradition können<br />

gewissermaßen auch die US-amerikanischen und niederländischen Gemeinwohlklagen gesehen<br />

werden, die mit ideeller Zielsetzung auf eine Systemänderung für die Zukunft abzielen ( Eichholtz<br />

2020: 37ff; Kodek 2022; Mom 2011: 34ff). Dieser Spielart von Kollektivverfahren wird in der<br />

deutschen Richtlinienumsetzung VDuG nicht Rechnung getragen, jedoch im niederländischen<br />

WAMCA (siehe näher Kapitel 4.), wo Verbandsklagen mit ideeller Zielsetzung eingebracht werden<br />

können (Art 3:305 Abs 6 Burgerlijk Wetboek (BW), Art 1018c Abs 1 lit d Wetboek van Burgerlijke<br />

Rechtsvordering (WBR)), wie etwa die erfolgreichen climate change litigations (van Rhee 2022:<br />

57f), die sowohl die Niederlande, als auch das Öl-Unternehmen Royal Dutch Shell zur Reduktion<br />

ihrer Treibhausgasemissionen verpflichteten (Pflügl 2021; Gharibian/Pieper/ Weichbrodt: 2819ff;<br />

Horeman/de Monchy 2022: Rz 150; Lein/Bonzé 2023: 85).<br />

Der kollektive Rechtsschutz wird heutzutage – jedenfalls auf EU-Ebene – primär im Kontext<br />

des Konsumentenschutzes eingesetzt (Halfmeier 2006: 4f). Im Vergleich mit der römischen<br />

Antike ist die Gefahr von Massenschäden – befeuert durch Industrialisierung, Globalisierung<br />

und Digitalisierung – drastisch erhöht. Hier helfen Kollektivverfahren, das Dilemma sog. Streuschäden<br />

zu lösen. Streuschäden sind geringfügige Schäden (Bagatellschäden), die durch ein<br />

einzelnes Ereignis oder wiederholt gleichartige Ereignisse einer Vielzahl von Personen zugefügt<br />

werden. Sie treten etwa auf, wenn bei Lebensmittelverpackungen systematisch die angegebene<br />

Füllmenge unterschritten wird, überhöhte Bankgebühren verrechnet werden oder Personen<br />

durch DSGVO-widrigen Cookie-Einsatz geschädigt werden. In diesen Fällen stehen Rechtsverfolgungsaufwand<br />

und möglicher Nutzen einer Klage außer Verhältnis, Prozesskosten werden<br />

prohibitorisch und nehmen den betroffenen Personen den Anreiz, ihre Ansprüche individuell<br />

durchzusetzen (Geroldinger 2022: 101-106ff; Schmidt 2023).<br />

Wenn jedoch viele geschädigte Verbraucher ihre Ansprüche bündeln, sinken die Rechtsverfolgungskosten<br />

pro Schadenfall und es kann auch das Kräfteungleichgewicht zwischen Geschädigten<br />

und Unternehmen wieder geradegerückt werden (Van den Bergh/Visscher 2008: 5;<br />

Posner 2014: 803; Jansen 2009: 5). Wichtig ist dabei auch der Präventiveffekt kollektiver Prozessführung,<br />

da das Damoklesschwert einer Sammelklage Unternehmen zu rechtskonformem<br />

Verhalten anhält (Posner 2014: 723; Thönissen 2022: 433).<br />

Eine besonders wichtige Rolle bei Kollektivverfahren spielt die gütliche Streitbeilegung. Erfahrungen<br />

aus den USA zeigen, dass class actions so gut wie nie durch meritorische (also inhaltliche)<br />

Entscheidung enden, sondern in den allermeisten Fällen durch Vergleich bereinigt werden<br />

(Heß 2000: 373; Hohl 2008: 113ff).<br />

Der empirische Befund hoher Vergleichsquoten steht im Einklang mit der Theorie: nach der<br />

Rechtsökonomie wird bei beidseits vorteilhaften Konditionen und niedrigen Transaktionskosten<br />

214 <strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024


Kollektivverfahren und gütliche Streitbeilegung im römischen Recht und in der EU<br />

ein Vertrag (bzw Vergleich) abgeschlossen (Posner 2014: 779). Vom Standpunkt der Rechtsökonomie<br />

stellt ein Zivilprozess damit eine Ausnahme, und nicht die Regel dar. Doch was sind die<br />

Gründe für diese Anomalie? (Fuchs 2019: 451; Ponschab 2023: 70; Meller-Hannich 2023: 339ff) 5<br />

Hier ist zunächst die Vermeidung der Unvorhersehbarkeit des Prozessausgangs ( Ponschab<br />

2023: 70; Meller-Hannich 2023: 320f, 342) anzuführen, verbunden mit Prozesskostenrisiken<br />

und langer Verfahrensdauer (Meller-Hannich 2023: 320f, 342). Bei Kollektivverfahren kommt<br />

die besonders komplexe Schadensberechnung hinzu. Da in Sammelverfahren der individuelle<br />

Schaden mit der Zahl der geschädigten Verbraucher multipliziert werden muss, können kleine<br />

Berechnungsfehler zu großen Abweichungen bei der Gesamtschadenssumme führen (Hebelwirkung<br />

bzw. leverage effect) (Eichholtz 2020: 306). Aus diesem Grund sind beim kollektiven<br />

Rechtsschutz pragmatische Verfahrensmechanismen und schematische Ansätze zur Komplexitätsreduktion<br />

erforderlich (Kehrberger 2019: 7). Einzelfallgerechtigkeit und Genauigkeit müssen<br />

zurücktreten, für einen besseren Zugang zum Recht und für Verfahrenseffizienz (Geroldinger<br />

2022: 101-126; Eichholtz 2020: 221; Kolba 2009: 14)).<br />

4 Die Verbandsklagen-Richtlinie und ihre nationalen Umsetzungen<br />

Die VK-RL ist eine mindestharmonisierende Richtlinie, die den Mitgliedstaaten große Umsetzungsspielräume<br />

lässt. 6 Sie war bis 25.12.2022 umzusetzen und die neuen Regelungen mussten<br />

bis spätestens 25.6.2023 in Kraft treten. Österreich ist mit der Umsetzung der VK-RL (bis<br />

dato) leider im Verzug, ein bereits seit Langem vorliegender Entwurf befinde sich nach wie vor in<br />

politischer Abstimmung“ (Oberhammer 2023: 117; Pflügl 2023).<br />

Die deutsche Umsetzung der VK-RL ist das Verbandsklagenrichtlinienumsetzungsgesetz<br />

(VRUG), das der deutsche Bundestag am 7.7.2023 beschlossen hat, und das am 13.10.2023 in<br />

Kraft getreten ist. Sein Kernstück ist das Verbraucherrechtedurchsetzungsgesetz (im Folgenden<br />

VDuG).<br />

In den Niederlanden besteht seit 2005 ein erfolgreiches kollektives Vergleichsverfahren für<br />

Massenschäden (Wet collectieve afwikkeling massaschade). Der Vergleichsabschluss ist freiwillig,<br />

das WCAM funktioniert aber nachweislich gut (Oberhammer 2015: 147), so etwa im<br />

Fall Royal Dutch Shell-Anlegerschadensfall mit einer Vergleichssumme von 350 Mio. USD<br />

(Tzankova/Kramer 2021: 97ff). 7<br />

Zusätzlich zum WCAM steht in den Niederlanden seit 1.1.2020 das kollektive Rechtsdurchsetzungsverfahren<br />

WAMCA zur Verfügung (Wet afwikkeling massaschade in collectieve actie), mit<br />

dem auch Abhilfeansprüche geltend gemacht werden können. Das WAMCA-Verfahren wurde<br />

5 Für Deutschland Meller-Hannich et al. 2023.<br />

6 Neben der VK-RL können bestehende, nationale Kollektivverfahren der Mitgliedstaaten erhalten bleiben (Art 1<br />

Abs 2 VK-RL).<br />

7 Berufungsgericht Amsterdam ECLI:NL:GHAMS:2009:BI5744 (Shell).<br />

<strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024<br />

215


Karl Wörle<br />

bereits vor Inkrafttreten der VK-RL etabliert und anschließend geringfügig adaptiert, um den<br />

Richtlinienvorgaben zu entsprechen. Diese Anpassungen sind zum 25.6.2023 in Kraft getreten<br />

(Boom/Pavillon 2019: 133; Halfmeier/Wimalasena 2012: 649-653).<br />

5 Der Kollektivvergleich<br />

Großer Vorteil des niederländischen Zivilprozessrechts ist das Kollektivvergleichsverfahren<br />

WCAM. Es ist ein sogenanntes settlement only-Verfahren, bei dem das Gericht nur zur Genehmigung<br />

des Vergleichs angerufen wird (Tzankova/Kramer 2021: 97-98). 8 So ein Vergleichsverfahren<br />

schafft Abhilfe in der Situation, dass viele Zivilprozessrechte der Bestätigung außergerichtlich<br />

vereinbarter Vergleiche skeptisch gegenüberstehen. Dies gilt etwa für die USA, wo unlängst<br />

ein Gericht abgelehnt hat, eine settlement class zuzulassen (vgl. Kodek 2022: 305-313). 9 Auch<br />

nach österreichischem Prozessrecht ist es streng genommen unzulässig, vorab vereinbarte Vergleiche<br />

vor Gericht protokollieren zu lassen. Eigentlich müsste in solchen Situationen, wo von<br />

vornherein keine Klage erhoben werden soll, ein vollstreckbarer Notariatsakt errichtet werden<br />

(Fucik 2019: Rz 6). Beim vollstreckbaren Notariatsakt besteht jedoch das Problem, dass keine<br />

gerichtliche Vergleichsüberprüfung stattfindet.<br />

Ein eigenes Vergleichsverfahren wie das WAMCA einzuführen, wird auch in einem internationalen<br />

Modellgesetz empfohlen (vgl. Kodek 2022: 305-313). 10 Solche settlement only-Verfahren<br />

werden von der VK-RL weder explizit zugelassen noch ausgeschlossen (Kodek/Dangl 2022: 105-<br />

118; Geroldinger 2022: 101-159). In der deutschen Richtlinienumsetzung wird leider gar nicht<br />

näher darauf eingegangen, inwieweit sich solche freiwilligen Kollektivvergleiche mit dem VDuG<br />

vereinbaren lassen (Fiebig 2016: 313-323). Hinzu kommt, dass ein Redaktionsversehen des<br />

deutschen Gesetzgebers Kollektivvergleiche erst in einer späten Verfahrensphase zuzulassen<br />

scheint (vgl § 17, § 42 VDuG). Dies würde unterminieren, was man mit dem Prozessvergleich<br />

eigentlich erreichen will, nämlich die Unwägbarkeiten bei der Tatsachenfeststellung und Beweiserhebung<br />

zu vermeiden und Rechtsstreitigkeiten kostenschonend aus der Welt zu schaffen. 11<br />

Das niederländische WCAM statuiert sehr detaillierte Vorgaben für die Vergleichsbestätigung<br />

(siehe näher Art 907 BW iVm Art 1018g WBR). In Deutschland hingegen ist der Genehmigungsstandard<br />

eher allgemein formuliert (§ 9 Abs 2 VDuG). 12 Wie man aus der Erfahrung mit der class<br />

action weiß, führen zu allgemein gehaltene Genehmigungsstandards zu Unsicherheiten. Damit<br />

die gerichtliche Vergleichsüberprüfung ihre wichtige Funktion im Kollektivverfahren als Richtigkeitsgarant<br />

sowie als Ausgleich für den Interessenskonflikt zwischen Gruppe, Repräsentant und<br />

8 Siehe weiterführend zu den settlement-only class actions in den USA Hohl 2008: 114ff.<br />

9 In re National Prescription Opiate Litigation 976 F 3d 664 (6th Cir 2020).<br />

10 ELI Unidroit Model European Rules of Civil Procedure, Rule 229ff.<br />

11 Vollkommer in Zöller 2024, § 9 VDuG Rz 5.<br />

12 BT-Drucks 20/6520, 74; Jetzinger 2021: 197-202f hält die Vorbildbestimmung für den deutschen Kollektivvergleich<br />

aus dem Musterfeststellungsverfahren jedoch für zweckdienlich.<br />

216 <strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024


Kollektivverfahren und gütliche Streitbeilegung im römischen Recht und in der EU<br />

Gericht 13 erfüllen kann, ist mE ein detaillierterer Prüfmaßstab wie in den Niederlanden vorzuziehen.<br />

Ein weiterer Vorteil des niederländischen WCAM (und auch des WAMCA) ist das sog Opt-out<br />

Verfahren, das Geschädigte automatisch in die Verbandsklage (bzw den Kollektivvergleich) einbezieht,<br />

ohne dass sie sich aktiv der Klage anschließen müssen (Halfmeier/Wimalasena 2012:<br />

649-653). Durch die automatische Einbeziehung Geschädigter steigt der Streitwert und damit der<br />

Vergleichsdruck für das beklagte Unternehmen, zugunsten der geschädigten Verbraucher:innen.<br />

Es bleibt zu hoffen, dass bei der österreichischen Umsetzung der VK-RL ein eigenes Verfahren<br />

für Kollektivvergleiche geschaffen wird (Wörle 2023b). Da der Prozessvergleich bereits im<br />

heutigen österreichischen Zivilprozessrecht nämlich nur sehr knapp geregelt wird (iW § 204<br />

ZPO) ( Anzenberger 2020: 3), bieten die vorhandenen Bestimmungen mE keine tragfähige Grundlage<br />

für das deutlich komplexere Verbandsklagen-Verfahren (vgl. Jetzinger 2021: 197-205f).<br />

6 Schlussbetrachtung<br />

Die Verbandsklage ist keineswegs eine neue Erfindung, bereits im alten Rom bestand ein vergleichbares<br />

Rechtsinstitut, die Popularklage (actio popularis). Sie ging sogar über die heutige<br />

Verbandsklage hinaus, die sich pointilistisch auf den Konsumentenschutz beschränkt. In den<br />

Niederlanden und den USA wird der kollektive Rechtsschutz hingegen umfassender verstanden,<br />

es sind zB auch ideelle Gemeinwohlklagen möglich.<br />

Besonders praxisrelevant beim kollektiven Rechtsschutz ist der Vergleichsabschluss, da die<br />

weitaus überwiegende Zahl der Verfahren gütlich verglichen wird. Aus rechtsvergleichender Perspektive<br />

erweist sich hier das niederländische Kollektivvergleichsverfahren WCAM als besonders<br />

effektiv. Frei nach Caesar, bieten solche kollektiven Vergleichsverfahren den prozessualen<br />

Rahmen, dass aus der Gerechtigkeit der Friede erwächst, und aus dem Frieden die Freude.<br />

Es bleibt zu hoffen, der österreichische Gesetzgeber lässt sich von den innovativen niederländischen<br />

Kollektivverfahren inspirieren, und beschränkt sich nicht bloß auf eine Pro forma-<br />

Umsetzung der VK-RL (Oberhammer 2023: 117; Wörle 2023a). Dem Vernehmen nach wird die<br />

österreichische Richtlinienumsetzung, die seit Ende 2022 überfällig ist, von <strong>Wirtschaft</strong>svertretern<br />

blockiert, weil sie unternehmensschädigende Verbraucherklagen und eine „Klageindustrie“<br />

befürchten. Diese Denkweise ist jedoch unangebracht, eher ermöglicht das Fehlen effektiven<br />

kollektiven Rechtsschutzes eine „Schädigerindustrie“, die davon profitiert, dass Konsument:innen<br />

Streuschäden nicht ökonomisch geltend machen können (Halfmeier/Wimalasena 2012: 649-<br />

658). Hoffentlich wird der österreichische Gesetzgeber die Rahmenbedingungen des kollektiven<br />

Rechtsschutzes verbessern, sodass wir in dieser Hinsicht nicht auf einem Niveau stecken<br />

13 Auch das Gericht ist in einem Interessenskonflikt, mit durch Arbeitsvermeidung motivierter „Vergleichspresserei“,<br />

siehe Kustor 2021: 191f.<br />

<strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024<br />

217


Karl Wörle<br />

bleiben, das (cum grano salis) wohl nicht einmal die alten Römer als fortschrittlich bezeichnet<br />

hätten.<br />

4 Literaturverzeichnis<br />

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Kommentar. Wien/New York: Springer.<br />

218 <strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024


Kollektivverfahren und gütliche Streitbeilegung im römischen Recht und in der EU<br />

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In: Anzenberger, P. / Klausner, A. / Nunner-Krautgasser, B. (Hrsg.): Kollektiver Rechtsschutz<br />

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Analyse, Meinungsumfrage. Wien: VKI.<br />

<strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024<br />

219


Karl Wörle<br />

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regierung-tr246delt-bei-verbraucherrechten<br />

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220 <strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024


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konsumenten-fehlt-oft-der-schutz-die-neue-sammelklage-koennte-das-aendern<br />

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Zöller, Richard (2024): ZPO – Zivilprozessordnung. Köln: Otto Schmidt.<br />

<strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024<br />

221


Michael Reiner<br />

Gewährleistung der Alterssicherung<br />

im Binnenmarkt<br />

Eine Forschungsskizze<br />

Der Arbeitstitel der Forschungsskizze lautet: „Die Gewährleistung der Alterssicherung im Binnenmarkt.“<br />

Zuerst möchte ich den wohlfahrtsstaatlichen Ausgangspunkt der Arbeit skizzieren,<br />

danach das darauf aufbauende rechtliche Forschungsdesign vorstellen und schließlich eine<br />

Frage herausgreifen und etwas näher betrachten. Es geht bei der Frage um die unterschiedliche<br />

Geltung und Reichweite des europäischen Binnenmarktrechts in den drei Pensionssäulen.<br />

1 Wohlfahrtsstaatliche Einbettung des Themas<br />

Vielleicht hat auch jemand die Neuübersetzungen des kleinen Prinzen zum Anlass genommen,<br />

dieses Buch wieder einmal zur Hand zu nehmen. Ich bin dabei u. a. über folgenden Satz gestolpert,<br />

den der Fuchs zum kleinen Prinzen spricht: „Du bist zeitlebens für das verantwortlich,<br />

was du dir vertraut gemacht hast.“ Der Fuchs meint damit die Verantwortung des kleinen Prinzen<br />

für die Rose auf seinem Planeten, den der kleine Prinz verlassen hat, weil ihm die Rose<br />

zu anstrengend war. Mein Thema ist die Verantwortung des Staates für die Alterssicherung,<br />

von der er sich zunehmend zurückzieht, jedenfalls soweit es darum geht, als Leistungsstaat<br />

die Verantwortung selbst einzulösen. Er produziert Alterssicherungsleistungen immer weniger<br />

selbst, sondern verlässt sich auf private Produktionsweisen der Alterssicherung. Wie der kleine<br />

Prinz, gibt er seine Verantwortung aber nicht endgültig ab, sondern kehrt gewandelt wieder, und<br />

zwar als Gewährleistungsstaat. Seine Gewährleistungsverantwortung erfüllt der Staat durch<br />

umfassende normative Einhegung der neu entstandenen privaten Wohlfahrtsbezirke. Er mandatiert,<br />

fördert, informiert, koordiniert, reguliert, beaufsichtigt etc. Der Staat wandelt sich damit<br />

vom produzierenden zum regulierenden Wohlfahrtsstaat, der Regulierungsstaat trifft auf den<br />

Wohlfahrtsstaat. Der Staat überlässt also die ehemals staatlichen Wohlfahrtsbezirke keineswegs<br />

ungebremst dem Markt, sondern verantwortet weiterhin, was dort passiert, wie die privaten<br />

Wohlfahrtsbeiträge koordiniert und in das staatliche System eingebettet werden. Treffend<br />

wurde dafür der Begriff des Wohlfahrtsmarktes geprägt. Ersichtlich bedeutet eine solche Entwicklung<br />

nicht zwingend einen Rückbau des Wohlfahrtsstaates, sondern zunächst primär einen<br />

Wandel des Wohlfahrtsstaates. Die Indienstnahme privater Wohlfahrtsproduktion für staatliche<br />

Zwecke, also die Erhebung privater Wohlfahrtsbeiträge in die Gemeinwohlsphäre ist keineswegs<br />

neu. Sie ist nämlich nicht nur bei der jetzigen partiellen Entstaatlichung der Alterssicherung zu<br />

beobachten, sondern auch bei der – wenn man so will – Verstaatlichung der Alterssicherung,<br />

also bei Beginn der staatlichen Alterssicherungspolitik. Da private Formen der Alterssicherung<br />

viel älter sind als staatliche Formen, fand der Staat bereits verschiedene Vorsorgearrangements<br />

<strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024<br />

223


Michael Reiner<br />

vor. Insbesondere das Versicherungs- und das gute alte Kassenwesen mit seinen Bruderläden,<br />

Fabrikskassen, Witwenkassen, Gesellenkassen etc. wurde sukzessive in die staatliche Wohlfahrtsplanung<br />

einbezogen. So wurden etwa zum Teil die Mitgliedschaft und die Beitragspflicht<br />

zu diesen privat organisierten Kassen später vom Staat verbindlich vorgeschrieben. Die Einbindung<br />

privater Wohlfahrtsproduktion in ein vom Staat gesteuertes und verantwortetes Gesamtkonzept<br />

ist daher zumindest sozialpolitisch ein bekanntes Phänomen. Dies ist kurz umrissen die<br />

wohlfahrtsstaatliche Einbettung der Forschungsskizze.<br />

2 Rechtliches Forschungsdesign<br />

Wenig untersucht ist, was diese Entwicklungen rechtlich bedeuten, wie sie rechtlich abgebildet<br />

und flankiert sind. Zwar gibt es Arbeiten zu den kurzfristigen Folgen des Sozialstaatsumbaus,<br />

etwa zu der Frage des Vertrauensschutzes pensionsnaher Versicherter. Diese Arbeiten betrachten<br />

aber stets nur die Folgen innerhalb der staatlichen Alterssicherung, also das Ausmaß und<br />

Tempo der Privatisierung als solche, nicht jedoch das Privatisierungsfolgerecht. Das ist verständlich,<br />

weil die Eröffnung privater Vorsorgemöglichkeiten knapp vor der Pension typischerweise<br />

keine taugliche Kompensation darstellt, also nicht in die Wahrung des Vertrauensschutzes<br />

einzustellen ist. Hier interessiert aber der langfristige Umbau, womit auch das Privatisierungsfolgerecht<br />

in den Blick gerät.<br />

Die juristische Forschungsskizze ist es nun, zwei bestehende und gut entwickelte juristische<br />

Diskurse auf den soeben beschriebenen Wandel der Alterssicherung umzulegen. Der eine<br />

Diskurs betrifft die Privatisierung von Dienstleistungen von allgemeinem Interesse, die dogmatisch<br />

zur Herausbildung des sog. Regulierungsrechts und zum Leitbild des sog. Gewährleitungsstaates<br />

geführt hat. Der andere Diskurs betrifft das Verhältnis des Binnenmarktrechts und der<br />

<strong>Wirtschaft</strong>s- und Währungsunion zur Sozialpolitik, die zunehmend in die Sogwirkung der Fiskalisierung<br />

und des Wettbewerbsprinzips gerät. Gut entwickelt sind diese beiden Diskurse insofern,<br />

als man die jeweiligen Grundprobleme erkannt und sich zu diesen Rechtsfragen so etwas wie ein<br />

Allgemeiner Teil herauskristallisiert hat. Ich möchte diese beiden Diskurse kurz vorstellen und<br />

ihre Ähnlichkeit zur und mögliche Relevanz für die Alterssicherung skizzieren.<br />

Zuerst zu den Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse: Die Entstaatlichungsdebatte<br />

reicht weit über die Alterssicherung hinaus und wurde als genereller Wandel<br />

von Staatlichkeit erfasst. Tatsächlich ist ein ähnlicher Rückzug des Staates auch in anderen<br />

Bereichen der Daseinsvorsorge zu beobachten. Es geht hier etwa um Verkehrsbetriebe, Post,<br />

Telekommunikation, Versorgungsbetriebe wie Strom, Wasser etc. Der Rückzug des Staates hat<br />

je nach Sektor freilich ganz unterschiedliche Formen. Alle führen aber dazu, dass die Rolle privater<br />

Akteure potentiell größer und damit wichtiger wird. Die Antwort auf bzw. der Kompromiss<br />

für diese Vorgänge ist das heute sog. Regulierungsrecht. Es wurde daher zutreffend als Privatisierungsfolgerecht<br />

beschrieben. Ziel des Regulierungsrechts ist u. a., die Vermarktlichung durch<br />

Regulierung so zu steuern, dass sie die – wie immer definierten – gemeinwohlerforderlichen<br />

224 <strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024


Gewährleistung der Alterssicherung im Binnenmarkt<br />

Eine Forschungsskizze<br />

Ergebnisse zeitigt. Das erforderte eine deutlich intensivere Regulierung hinsichtlich Zugangs,<br />

Qualität und Kosten der Leistung als bisher. Um dies sicherzustellen, wurden auch eigene Regulierungsbehörden<br />

errichtet, die die Märkte beobachten und bei Fehlentwicklungen eingreifen<br />

sollen.<br />

Blickt man nun auf die privatisierten Bereiche der Alterssicherung, zeigen sich deutliche Parallelen.<br />

Schon bei der Entstehung etwa der Privatversicherung war höchst umstritten, ob diese wirklich<br />

dem Markt überlassen werden sollte, handelte es sich doch zum einen um essentielle Dienstleistungen,<br />

von denen im Falle des Scheiterns eine große Gefahr ausging. Der Kompromiss war<br />

und ist – jedenfalls in Deutschland und Österreich – die Errichtung einer materiellen Staatsaufsicht<br />

mit dem Ziel des Funktionsschutzes. Materielle Staatsaufsicht bedeutet, dass laufend der<br />

gesamte Geschäftsbetrieb des Vorsorgeträgers nicht bloß formell beaufsichtigt wird, sondern<br />

anhand von Generalklauseln wie etwa den anerkannten Grundsätzen eines ordnungsgemäßen<br />

Geschäftsbetriebs in hohem Maße materiell beaufsichtigt wird. Funktionsschutz bedeutet, dass<br />

das Schutzgut der Beaufsichtigung die Funktionsfähigkeit des jeweiligen Vorsorgeträgers ist.<br />

So hat etwa die FMA bei der Beaufsichtigung der Pensionskassen ausdrücklich die Funktionsfähigkeit<br />

der Pensionskassen sowie das Interesse der Anwartschafts- und Leistungsberechtigten<br />

zu beachten. Wie bei der sonstigen Daseinsvorsorge hat der Staat erkannt, dass Versicherungsschutz<br />

im allgemeinen Interesse liegt und das Versicherungsgeschäft intensiv reguliert<br />

sowie eine eigene Aufsichtsbehörde geschaffen. Materielle Staatsaufsicht und Funktionsschutz<br />

zusammengenommen wurden treffend als Gewährleistungsaufsicht beschrieben, womit das<br />

Aufsichtsrecht für private Vorsorgeträger in unmittelbare Nähe zum Regulierungsrecht des Gewährleistungsstaates<br />

gerückt wird. Bejaht man die Vergleichbarkeit der beiden Regelungsfelder,<br />

können die Ergebnisse zur Gewährleistung von Dienstleistungen von allgemeinem Interesse für<br />

die Analyse der privaten Alterssicherung nutzbar gemacht werden.<br />

Der zweite Forschungsstrang betrifft den bekannten Diskurs zum Verhältnis der sozialpolitischen<br />

Kompetenzen und Verantwortlichkeiten der Mitgliedstaaten mit den europarechtlichen Vorgaben<br />

zum Binnenmarkt, insbesondere in Form der Grundfreiheiten und des Wettbewerbsrechts.<br />

Dieses Thema ist im Arbeits- und Sozialrecht durch etliche Entscheidungen des EuGH bestens<br />

bekannt. Auch in der Alterssicherung stellen sich ähnliche Fragen. In der ersten Pensionssäule<br />

geht es eher um die zumindest mittelbare Beeinflussung durch die WWU. In der privaten Alterssicherung<br />

sind die Gefährdungen durch das Binnenmarktrecht ungleich größer. Die einschlägigen<br />

Entscheidungen des EuGH etwa in den Rs Albany, Fédération française und Kommission<br />

gegen Polen betrafen bisher meist große betriebliche Pensionsfonds, denen bestimmte ausschließliche<br />

Rechte übertragen wurden; in der Rs Kommission gegen Tschechien war die Frage,<br />

inwieweit die Umsetzung der Pensionsfonds-RL der Einführung einer zweiten Pensionssäule<br />

gleichkommt und daher ein Grundprinzip der sozialen Sicherheit betrifft, deren Festlegung in<br />

der ausschließlichen Kompetenz der Mitgliedstaaten liegt. Die jeweiligen Urteilsbegründungen<br />

zeigen, dass die Einordnung dieser privaten Vorsorgearrangements zwischen Markt und<br />

Staat, zwischen Sozial- und Finanzinstitut schwierig ist und ein Alles-oder-Nichts-Prinzip bei der<br />

Anwendung des Binnenmarktrechts unsachgemäß erscheint. Neben diesen Systemaspekten<br />

<strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024<br />

225


Michael Reiner<br />

stehen aber auch die sozialpolitischen Regulierungsdetails auf dem Prüfstand der Grundfreiheiten.<br />

Dies betrifft etwa zwingende Risikoeinschlüsse, Regulierung von Übertragungs- oder Abfindungswerten,<br />

Gewinnzuteilungsmechanismen, Kostenbegrenzungen, Garantien oder die Mitbestimmung<br />

österreichischer Arbeitnehmer:innen bei einem ausländischen Vorsorgeträger. Die<br />

Anwendung solcher Regeln auf ausländische Vorsorgeträger erscheint als Beschränkung der<br />

Dienstleistungsfreiheit. In der Literatur wird tatsächlich die Unionsrechtswidrigkeit einiger dieser<br />

Regulierungen vertreten. Auch das Sekundärrecht kann die soziale Dimension der privaten<br />

Alterssicherung gefährden. Als sozialpolitischer Eingriff ist etwa die Liberalisierung des Versicherungsbinnenmarktes<br />

zu erwähnen, in dessen Rahmen die Erforderlichkeit einer Vorabgenehmigung<br />

der Versicherungsbedingungen und Tarife verboten wurde.<br />

Zusammengenommen geht es also um folgendes Problem: Der Staat errichtet ein mehrgliedriges<br />

System der Alterssicherung und versucht mit entsprechender Regulierung, Förderung und Koordinierung<br />

der Pensionssäulen ein bestimmtes Gesamtabsicherungsniveau zu gewährleisten.<br />

Der Staat wird aber in seiner Gewährleistungsverantwortung durch das Binnenmarktrecht der<br />

EU beeinträchtigt, weil er immer weniger die aus seiner Sicht erforderlichen Regulierungen festlegen<br />

kann. Die Mitgliedstaaten tragen zwar die Last der Aufgaben- und Ergebnisverantwortung,<br />

genießen aber nicht das erforderliche Korrelat der Regulierungsautonomie.<br />

3 Beispiel: Regelungskohärenz im 3-Säulenmodell<br />

Ich möchte nun einen Aspekt zur Veranschaulichung dieses Problems näher herausgreifen. Die<br />

europarechtliche Regulierung der Alterssicherung differenziert nach den drei Pensionssäulen.<br />

Hinsichtlich der Regelungsintensität ist die erste Säule bisher kaum materiellen Vorgaben<br />

unterworfen. Demgegenüber ist die zweite und dritte Pensionssäule schon in etlichen zentralen<br />

Punkten europarechtlich geprägt. Hinsichtlich der Reglungsperspektive liegt der Unterschied<br />

vor allem in der Anwendbarkeit des Binnenmarktrechts. Während die erste Pensionssäule kaum<br />

vom Binnenmarktrecht tangiert wird, ist die private Alterssicherung vollständig in die Sogwirkung<br />

des Binnenmarktes gekommen. Sämtliche diesbezüglich relevanten Rechtsakte sind entweder<br />

auf die Kompetenzen zur Realisierung der Grundfreiheiten gestützt oder auf die Kompetenz zur<br />

Rechtsangleichung zwecks Errichtung und Funktion des Binnenmarktes.<br />

Staatliche und private Vorsorgesysteme sind daher aus europarechtlicher Sicht völlig unterschiedlichen<br />

Regulierungsregimen unterworfen. Während für die erste Pensionssäule das<br />

Wettbewerbsprinzip völlig ausgeschaltet ist, gilt es für die private Alterssicherung nahezu uneingeschränkt.<br />

Warum? Diese Frage mag auf den ersten Blick leicht zu beantworten sein. Privatversicherungen<br />

gibt es und gab es immer schon viele, und auch Pensionsfonds gibt es mehrere.<br />

Es erscheint einleuchtend und entspricht der Lebenserfahrung, dass diese Vorsorgeträger miteinander<br />

konkurrieren. Dies war auch schon vor dem EU-Beitritt der Fall. Insofern erscheint die<br />

Regulierungsperspektive der EU durchaus naheliegend. Die innerstaatliche Entscheidung zur<br />

Geltung des Wettbewerbsprinzips erscheint weitgehend anerkannt und bloß auf die europäische<br />

226 <strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024


Gewährleistung der Alterssicherung im Binnenmarkt<br />

Eine Forschungsskizze<br />

Ebene hochgezont, so könnte man meinen. Das Problem liegt aber weniger im Wettbewerb als<br />

solchem, sondern in den damit verbundenen europäischen Re- oder besser gesagt Deregulierungsvorgaben.<br />

Fraglich ist aber vor allem, ob es sich bei den drei Pensionssäulen tatsächlich um derart unterschiedliche<br />

Phänomene handelt, die eine solch unterschiedliche Behandlung rechtfertigen. Geht<br />

es nicht in allen drei Pensionssäulen um Alterssicherung, also um funktional äquivalente Leistungen?<br />

Alterssicherung, gleich ob öffentlich oder privat, ist ähnlichen Problemen ausgesetzt<br />

und verfolgt – je nach Abstraktion der Perspektive – ähnliche Zielsetzungen, dies aber unter<br />

stark unterschiedlichen Gewährleistungsregimen. Dabei sprechen vor allem zwei Gründe dafür,<br />

öffentliche und private Alterssicherung als einheitliches Phänomen zu betrachten:<br />

• die Herausbildung eines Dreisäulenmodells und<br />

• die Hybridisierung der Regulierung der drei Säulen.<br />

Erwies sich die differenzierte Geltung des europarechtlichen Wettbewerbsprinzips für die drei<br />

Pensionssäulen zunächst als naheliegend, soll dies über die Koordinierung und Ähnlichkeit der<br />

drei Pensionssäulen nunmehr hinterfragt werden. Die Herausbildung eines Dreisäulenmodells ist<br />

ein langfristiger Prozess. Die wesentlichen Faktoren sind die sinkenden Ersatzraten in der ersten<br />

Pensionssäule, die parallele Regulierung und Förderung privater Alterssicherung sowie die Koordinierung<br />

der Pensionssäulen. Die EU verfolgt bereits seit längerem eine Dreisäulen politik.<br />

So wird in den Begründungserwägungen zur Pensionsfonds-RL der Ausbau der betrieblichen<br />

Altersvorsorge ausdrücklich als Kompensation für Kürzungen in der ersten Pensionssäule genannt.<br />

Vorläufiger Abschluss der Herausbildung eines Dreisäulenmodells in der EU sind das<br />

Grün- und Weißbuch zur Sicherung nachhaltiger und angemessener Renten. Die EU sieht dort<br />

die drei Säulen als ein Gesamtsystem, das ein Gesamtsicherungsniveau erreichen soll und daher<br />

eine übergeordnete Regulierungsperspektive erfordert. Wie gezeigt, schlägt sich diese politische<br />

Perspektive aber nicht in einer entsprechenden Regulierungskohärenz nieder.<br />

Auch das österreichische Pensionssystem wurde in den Jahren 1999 bis 2005 nach dem Drei-<br />

Säulenmodell umgestaltet. In diesen Jahren wurde parallel mit den Pensionskürzungen in der<br />

ersten Pensionssäule die private Altersvorsorge intensiv ausgebaut. Institutionell ist dies vor<br />

allem in der Einrichtung der Vorsorgekassen sichtbar. Daneben wurden für die private Alterssicherung<br />

verschiedene steuerliche Fördermodelle geschaffen:<br />

• die Zukunftssicherung nach § 3 Abs 1 Z 15 EStG<br />

• die tarifliche Öffnungsklausel für die steuerliche Begünstigung von AN-Beiträgen an PK<br />

nach § 26 Z 7 lit a EStG<br />

• die prämienbegünstigte Pensionsvorsorge nach § 108a EStG<br />

• die Pensionszusatzversicherung nach § 108b EStG und<br />

• die prämienbegünstigte Zukunftsvorsorge § 108g EstG<br />

<strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024<br />

227


Michael Reiner<br />

In den erläuternden Bemerkungen zu den großen Reformen der gesetzlichen Alterssicherung<br />

wird denn auch auf den gleichzeitigen Ausbau der privaten Alterssicherung verwiesen. Und in<br />

den erläuternden Bemerkungen zu den privaten Formen der Alterssicherung wird ebenfalls hingewiesen,<br />

dass die Maßnahmen im Kontext des Dreisäulenmodells zu sehen seien. Der nationale<br />

Gesetzgeber hat damit klar zum Ausdruck gebracht, dass er die Alterssicherung als Gesamtsystem<br />

sieht, das aus drei Pensionssäulen bestehen soll.<br />

Weiters hat der Gesetzgeber diese Säulen nicht bloß nebeneinandergestellt, sondern sie auch<br />

vielfältig verzahnt und koordiniert. Eine Grundentscheidung ist dabei, ob die private Alterssicherung<br />

die erste Säule ergänzt oder ersetzt. Ersetzt die private Alterssicherung die staatliche, ist<br />

die Einbindung in den staatlich verantworteten Alterssicherungsmix besonders intensiv. Dies gilt<br />

insbesondere für die Pensions- und Vorsorgekassen sowie die betriebliche Kollektivversicherung,<br />

weil hier die Beiträge nicht sozialversicherungspflichtig sind und brutto für netto erfolgen.<br />

Beiträge in die dritte Pensionssäule erfolgen hingegen stets vom versteuerten und verbeitragten<br />

Einkommen, wenn auch bestimmte steuerliche Vergünstigungen greifen. Weiters können Pensionskassen<br />

auf Antrag eine gemeinsame Versteuerung der gesetzlichen und der betrieblichen<br />

Pension vornehmen, was regelmäßig geschieht. Schließlich haben manche Mitgliedstaaten<br />

pensionssäulenübergreifende Vorsorgeinformationen eingeführt, damit der Vorsorgende einen<br />

Überblick über seine gesamte Vorsorgesituation erhält.<br />

Neben der Herausbildung eines Dreisäulenmodells ist eine zunehmende Hybridisierung der<br />

Pensionssäulen zu beobachten. Augenfälligste Entwicklung ist die Stärkung des Äquivalenzprinzips<br />

in der ersten Pensionssäule einerseits und die zunehmende Bedeutung der Umverteilung<br />

in der privaten Alterssicherung, eben aufgrund diverser sozialpolitischer Regulierungen wie<br />

Garantien und Risikoeinschlüsse. Besonders augenfällig geworden ist die Hybridisierung in der<br />

Novelle zum Pensionskassengesetz im Jahr 2012, mit der die sog. Sicherheits-VRG eingeführt<br />

wurde. Es handelt sich um eine Garantievariante innerhalb einer Pensionskassenvorsorge, bei<br />

der die Garantie, die Höchstkosten und die Versicherungstechnik detailliert vorgegeben sind.<br />

Vor allem aber wurde den Berechtigten per Gesetz ein zwingender Anspruch eingeräumt, spätestens<br />

in der Leistungsphase in diese Garantievariante wechseln zu können. Wenn nun das Ob<br />

und das Wie des Leistungsangebots eines Vorsorgeträgers gesetzlich zwingend vorgegeben ist,<br />

verschwimmt die Grenze zwischen privater und staatlicher Alterssicherung. Auf europäischer<br />

Ebene hat sich diese Diskussion zuletzt bei der laufenden Revision der Pensionsfonds-RL entzündet.<br />

Kontrovers ist dabei nämlich schon, was ein Pensionsfonds überhaupt ist bzw. sein soll.<br />

Auf der Rückseite des Handouts finden Sie einen Auszug zu dieser Debatte, die sich in dem Streit<br />

um jene Begründungserwägung der Pensionsfonds-RL dreht, in der der Pensionsfonds charakterisiert<br />

wird. Ersichtlich geht es um die Frage, ob der Pensionsfonds – und damit implizit die<br />

betriebliche Altersvorsorge überhaupt – eher sozialen oder wirtschaftlichen Charakter hat. Auch<br />

dies zeigt den zunehmenden Hybridcharakter privater Alterssicherung.<br />

Zusammengenommen kann gesagt werden, dass sich die drei Pensionssäulen zum einen zunehmend<br />

annähern und koordiniert werden. Dies ist m. E. auch bei der rechtlichen Betrachtung<br />

228 <strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024


Gewährleistung der Alterssicherung im Binnenmarkt<br />

Eine Forschungsskizze<br />

und Wertung zu berücksichtigen. Eine völlig unterschiedliche Regelungsperspektive hinsichtlich<br />

der Geltung und Reichweite des Marktmechanismus wird der sozialpolitisch einheitlichen Betrachtung<br />

wenig gerecht und gefährdet die Funktionsfähigkeit des Gesamtsystems. Für Dienstleistungen<br />

von allgemeinem Interesse wurde dies bereits früh erkannt und eine Sonderregel<br />

geschaffen, die den Gemeinwohlauftrag und das Marktprinzip in Einklang bringen soll. Nach<br />

Art. 106 Abs. 2 AEUV gilt hier das Binnenmarktrecht nur insoweit, als dies die Erfüllung der<br />

Gemeinwohlaufgaben nicht verunmöglicht. Tatsächlich hat der EuGH diese Bestimmung in der<br />

Rs Albany auf einen holländischen Branchenpensionsfonds angewendet. Bemerkenswert ist,<br />

dass der EuGH als Argument für die Qualifizierung als Dienstleistung von allgemeinem Interesse<br />

auch die niedrige Ersatzrate in der ersten Pensionssäule anführt. Auch die Kommission hat in<br />

einer Mitteilung aus 2013 betriebliche Vorsorgesysteme relativ pauschal als Dienstleistung von<br />

allgemeinem Interesse qualifiziert. Allerdings reicht dies zur Anwendung von Art. 106 Abs 2<br />

AEUV nicht aus. Der EuGH verlangt nämlich neben dem Gemeinwohlcharakter der Dienstleistung<br />

auch einen besonderen staatlichen Betrauungsakt, mit dem die Einrichtung mit der Erbringung<br />

einer Dienstleistung von allgemeinem Interesse betraut wird. Weiters muss die Universalität der<br />

Dienstleistung gewährleistet sein, indem die Einrichtung auch zum Anbieten der Dienstleistung<br />

verpflichtet ist. Beide Kriterien hat das EuG in der Grundsatzentscheidung BUPA zum irischen<br />

System der privaten Zusatzkrankenversicherung deutlich aufgeweicht. Diese Kriterien reflektieren<br />

im Übrigen aber vor allem auf das Wettbewerbsrecht und weniger auf die Grundfreiheiten,<br />

die jedoch in der Auslegung als Beschränkungsverbot und damit als Deregulierungsansprüche<br />

für die private Alterssicherung deutlich relevanter sind. Jedenfalls dort sollte es – neben den<br />

genannten Faktoren zur Gesamtsystembildung und Hybridisierung – m. E. ausreichen, dass die<br />

Leistungen hinsichtlich der ersten Pensionssäule ersetzend und nicht bloß ergänzend wirken,<br />

wenn und soweit die Beiträge zu einem Vorsorgeträger nicht pensionsversicherungspflichtig<br />

sind. In Österreich ist dies vor allem bei den Pensions- und Vorsorgekassen sowie der betrieblichen<br />

Kollektivversicherung der Fall. Hier ist der funktionsäquivalente Gemeinwohlcharakter der<br />

privaten Alterssicherung offensichtlich. Diese bewusste und ausdrückliche Einbindung privater<br />

Akteure in ein mehrgliedriges, vom Staat gesteuertes Wohlfahrtssystem hat bisher weder der<br />

EuGH noch der europäische Gesetzgeber sichtbar berücksichtigt. Bejaht man die Einordnung<br />

der privaten Alterssicherung in Art. 106 Abs. 2 AEUV stellt sich die Frage nach den Rechtsfolgen.<br />

Art. 106 Abs. 2 AEUV soll verhindern, dass das Binnenmarktrecht die Erbringung von Dienstleistungen<br />

von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse verhindert. Damit ist die Frage nach<br />

der Funktion und Aufgabe privater Alterssicherung aufgeworfen, die durch das Binnenmarktrecht<br />

nicht gefährdet werden darf. Dies im Einzelnen herauszuarbeiten, ist der Schwerpunkt der<br />

Forschungsskizze.<br />

4 Ausblick<br />

Wie gezeigt, ist das Verhältnis mitgliedstaatlicher Daseinsvorsorge in Form privater Alterssicherung<br />

und der EU konfliktär. Meine Arbeit soll einen Beitrag dazu leisten, diesen Konflikt zu<br />

analysieren und Lösungsvorschläge zu erarbeiten. Perspektivisch weist der durch den Vertrag<br />

<strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024<br />

229


Michael Reiner<br />

von Lissabon neu eingefügte Art. 14 AEUV den Weg zu einem anderen, neuen Verhältnis und<br />

Verständnis. Danach steht nicht mehr die Konfliktregel des Art. 106 Abs. 2 AEUV im Vordergrund<br />

steht, sondern die gemeinsame Sorge um die Funktionsfähigkeit der Alterssicherung, die in gemeinsamen<br />

Werten und Zielvorstellungen gründet. Eine solche Konstruktion wurde treffend als<br />

Gewährleistungsverbund bezeichnet. Ob diese Vorstellung Realität gewinnt, hängt maßgeblich<br />

vom EuGH ab. Die Forschungsskizze möchte dazu einen Beitrag leisten.<br />

230 <strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024


Judith E. Brücker<br />

Die globalen ökologischen Krisen:<br />

Eine empirisch basierte Einschätzung<br />

von Bearbeitungsstrategien<br />

„So fühlt sich Klimawandel an“ postete eine österreichische Tageszeitung im Juli 2023. Die Auswirkungen<br />

der Klimakrise sind mittlerweile auch in <strong>Europa</strong> sichtbar und spürbar angekommen.<br />

Die Nachrichten überschlagen sich mit Informationen über Hitze, Trockenheit und Waldbrände,<br />

Stürme, Überflutungen, Hangrutschungen und Muren – Schäden in Milliardenhöhe und nicht<br />

zuletzt Verletzte und Tote. Ein Vorgeschmack auf die neue Normalität?<br />

Die World Meteorological Organisation (WMO) hat im Jänner 2024 bestätigt, dass das Jahr 2023<br />

das mit Abstand wärmste Jahr in der Geschichte war. Der Jänner 2024 selbst hat auch einen<br />

Rekord gebrochen: es war weltweit der wärmste Jänner seit Beginn der Aufzeichnungen (EU<br />

2024). Neben dem menschgemachten Klimawandel (IPCC 2023) droht uns global ein massiver<br />

Biodiversitätsverlust, der Ressourcenverbrauch ist viel zu hoch, gleichzeitig herrschen nach wie<br />

vor Hunger und Armut auf der Welt sowie soziale Ungleichheit und ungleiche Verteilung – vor<br />

allem zwischen dem Globalen Norden und dem Globalen Süden. Und alles steht in einem komplexen<br />

Zusammenhang miteinander. Auch hat sich die geopolitische Lage mit dem Krieg in <strong>Europa</strong><br />

und im Nahen Osten gefährlich geändert – neben dem menschlichen Leid auch ein Problem<br />

für die Umwelt (OECD 2022). Seit rund 20 Jahren sprechen etliche Wissenschafter:innen von<br />

einem neuen geologischen Zeitalter, dem Anthropozän 1 , das vom Menschen bestimmt ist. Auch<br />

wenn das neue Zeitalter noch nicht offiziell ausgerufen wurde, hat es Eingang in die Umweltdebatte<br />

gefunden und wird heiß diskutiert.<br />

Was also tun? Daten und Fakten über die vielen menschgemachten Bedrohungen und Krisen<br />

liegen auf dem Tisch, es wird weltweit an Lösungsansätzen und Vorschlägen für eine (sozialökologische)<br />

Transformation, die ein gutes Leben für alle im Rahmen der planetaren Grenzen<br />

ermöglicht, geforscht und gearbeitet. Trotzdem geht alles viel zu langsam und die Herausforderungen<br />

werden von Teilen der Gesellschaft immer noch verharmlost, im schlechtesten Fall<br />

geleugnet – wie man hört, ist auch von Klimahysterie oder Klimareligion und vom Gebrauch des<br />

Hausverstands zur Lösung der Probleme manchmal die Rede.<br />

Die <strong>Politik</strong> ist seit Jahrzehnten säumig und reagiert nicht in notwendigem Umfang und mit<br />

der notwendigen Geschwindigkeit, so wie es viele Wissenschafter:innen global in weitgehendem<br />

Konsens fordern. Auch habe ich den Eindruck, dass von Teilen der <strong>Politik</strong>, von einigen<br />

1 Paul J. Crutzen brachte den Begriff im Jahr 2000 auf einem Kongress in Mexiko ins Spiel und sprach von einem<br />

neuen Zeitalter des Menschen. Während im Holozän die Natur allmächtig sei, habe im Anthropozän der Mensch<br />

den Einfluss auf die Erde übernommen. https://www.ardalpha.de/wissen/umwelt/nachhaltigkeit/anthropozaenerdzeitalter-geologie-mensch-100.html<br />

<strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024<br />

231


Judith E. Brücker<br />

Interessensvertretungen und Lobbyist:innen bewusst gebremst und blockiert wird. Das ruft<br />

vermehrt zivilgesellschaftliche Initiativen auf den Plan, durch die auch Macht- und Ungleichverhältnisse<br />

aufgezeigt werden: von weltweiten Demonstrationen, über Klimaklagen beim Europäischen<br />

Gerichtshof für Menschenrechte auf mehr Klimaschutz, über offene Briefe und Appelle<br />

bis hin zu Besetzungen, Klebe- und Schüttaktionen, um auf die menschgemachte Erderhitzung<br />

aufmerksam zu machen und entsprechenden Klimaschutz und Klimagerechtigkeit einzufordern.<br />

Daher die Frage: Sind wir auf dem Weg in Richtung Klimagerechtigkeit und einer lebenswerten<br />

Zukunft für alle?<br />

Um diese Frage beantworten zu können, gebe ich in den folgenden Kapiteln einen Überblick über<br />

den aktuellen Stand und die Herausforderungen zu den Themen Klima und Energie, Biodiversität,<br />

Ressourcen, Machtverhältnisse und Verteilung in <strong>Europa</strong> und global.<br />

1 Klima und Energie<br />

Der wirtschaftliche Wohlstand baut wesentlich auf dem Verbrauch fossiler Energieträger Kohle,<br />

Erdöl und Erdgas auf (Malm 2016) und befeuert die Erderhitzung, deren Konsequenzen mittlerweile<br />

auch in <strong>Europa</strong> zu spüren sind. <strong>Europa</strong> ist die Region, die sich von allen WMO-Regionen 2<br />

(WMO 2023) am raschesten erwärmt. Als ein Hotspot der Erderhitzung gilt in <strong>Europa</strong> der Mittelmeerraum,<br />

wie im Sommer 2023 eindrücklich spürbar war.<br />

Mit dem kontinuierlichen Anstieg der durch die Menschen verursachten Treibhausgase in der<br />

Atmosphäre – allen voran Kohlendioxid (CO 2 ), Methan (CH 4 ), Stickoxid (N 2 O) – geht ein kontinuierlicher<br />

Anstieg der durchschnittlichen globalen Temperatur seit Mitte des 20. Jahrhunderts<br />

einher. In den letzten 800.000 Jahren ist der CO 2 -Gehalt in der Atmosphäre nicht über 300 ppm<br />

gestiegen – dies änderte sich ungefähr ab der Mitte des 20. Jahrhunderts (siehe Abbildung 1).<br />

Aktuell liegt der CO 2 -Gehalt in der Atmosphäre bei rund 420 ppm (NOAA 2024a), die globale<br />

Durchschnittstemperatur ist um rund 1,2°C im Vergleich zum vorindustriellen Zeitalter gestiegen<br />

(NOAA 2024b) – Tendenz trotz Pariser Klimaabkommens (UNFCCC 2015) steigend. Der<br />

Emissions Gap Report 2023 (UNEP 2023) stellt fest, dass die Welt auf einen durchschnittlichen<br />

Temperaturanstieg von 2,5 bis 2,9°C über das vorindustrielle Niveau zusteuert, wenn die Länder<br />

ihre Maßnahmen nicht verstärken und mehr leisten, als sie im Rahmen des Pariser Abkommens<br />

für 2030 zugesagt haben.<br />

2 WMO-Regionen sind sechs Regionen der Welt, die von der World Meteorology Organisation eingeteilt wurden:<br />

Afrika, Asien, Südamerika, Nordamerika/Zentralamerika/Karibik, Süd-West Pazifik und <strong>Europa</strong>. https://wmo.int/<br />

about-wmo/regions<br />

232 <strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024


Die globalen ökologischen Krisen: Eine empirisch basierte Einschätzung von Bearbeitungsstrategien<br />

Abbildung 1: CO 2 -Gehalt in der Atmosphäre in den letzten 800.000 Jahren<br />

Quelle: Climate.gov 3<br />

Laut Europäischer Umweltagentur (EEA 2023a) verteilt sich der geschätzte Anteil an Emissionen<br />

der EU-27 im Jahr 2022 auf folgende Sektoren: Energieversorgung (26%), Transport (23%),<br />

Industrie (20%), Gebäude (14%), Landwirtschaft (11%), Abfall (3%), internationale Luftfahrt (3%).<br />

Die Pro-Kopf-Emissionen in der EU-27 lagen 2021 im Durchschnitt bei 7,8 Tonnen CO 2 -Äquivalenten<br />

– in Österreich mit 8,7 Tonnen CO 2 -Äquivalenten (Umweltbundesamt 2023) über dem<br />

EU-Durchschnitt (siehe Abbildung 2).<br />

3 www.climate.gov/news-features/understanding-climate/climate-change-atmospheric-carbon-dioxide<br />

<strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024<br />

233


Judith E. Brücker<br />

Abbildung 2: Treibhausgas-Emissionen der EU im Vergleich 2021<br />

Quelle: Europäische Umweltagentur<br />

Um die globale Erwärmung auf durchschnittlich 1,5°C oder 2°C (gemäß Pariser Klimaabkommen)<br />

zu begrenzen, müsste der CO 2 -Fußabdruck in einem globalen Zielbereich von etwa 1,6 bis<br />

2,8 Tonnen CO 2 pro Kopf und Jahr liegen (Bruckner et al. 2022).<br />

Seit den Anfängen der 2000er Jahre widmen sich einige Klimaforscher:innen den sogenannten<br />

Kippelementen. Das Potsdam Institut für Klimafolgenforschung (PIK) nennt sie die „Großrisiken<br />

im Erdsystem“ (PIK 2024), die sich unumkehrbar zu verändern drohen, wenn sie zu stark unter<br />

Druck geraten. Die Kippelemente werden in Kern-Kippelemente des Erdsystems und in regionale<br />

Kippelemente eingeteilt – das Kippen der jeweiligen Kippelemente, wie zum Beispiel das<br />

Grönland Eisschild oder der Amazonas Regenwald, wird in unterschiedlichen Temperaturbereichen<br />

der globalen Erderwärmung wahrscheinlich (siehe Abbildung 3). „Bei einer globalen Erwärmung<br />

von mehr als 2°C steigt das Risiko stark an, dass ein Kippelement andere Kippprozesse im<br />

Klimasystem der Erde auslöst.“ (PIK, 26.01.2024)<br />

234 <strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024


Die globalen ökologischen Krisen: Eine empirisch basierte Einschätzung von Bearbeitungsstrategien<br />

Abbildung 3: Räumliche Verteilung der globalen und regionalen Kippelemente. Die Farben<br />

bezeichnen den Temperaturbereich, in dem ein Kippen wahrscheinlich wird.<br />

Abbildung erstellt am PIK (unter CC-BY Lizenz), wissenschaftliche Grundlage ist<br />

Armstrong McKay et al., Science (2022).<br />

Quelle: PIK-Potsdam-Institut für Klimafolgeforschung 4<br />

Die EU will bis 2050 als erster Kontinent klimaneutral sein (Europäischer Grüner Deal, EK 2019)<br />

und auf dem Weg dorthin ihre Emissionen bis 2030 um mindestens 55% gegenüber dem Stand<br />

von 1990 senken. Das Paket Fit for 55 (EK 2021) enthält eine Reihe von Vorschlägen zur Überarbeitung<br />

und Aktualisierung der EU-Rechtsvorschriften und Vorschläge für neue Initiativen, mit<br />

denen sichergestellt werden soll, dass die Maßnahmen der EU im Einklang mit den EU-Klimazielen<br />

stehen. Mit dem Europäischen Klimagesetz (EU 2021a) wird die Verwirklichung des Klimaziels<br />

der EU zu einer rechtlichen Verpflichtung – Österreich hat mit Stand Februar 2024 immer<br />

noch kein Klimaschutzgesetz.<br />

Mit der EU-Taxonomie-Verordnung 5 (BMK 2024) für die Neuausrichtung der Kapital ströme hin zu<br />

nachhaltigen Investitionen hat die EU ein gemeinsames Klassifizierungssystem für nachhaltige<br />

<strong>Wirtschaft</strong>saktivitäten geschaffen. Den Bewertungsmaßstab stellen sechs U mweltziele dar:<br />

• Klimaschutz,<br />

• Klimawandelanpassung,<br />

• nachhaltige Nutzung und Schutz von Wasser- und Meeresressourcen,<br />

4 www.pik-potsdam.de/de/produkte/infothek/kippelemente<br />

5 EC – European Commission: EU taxonomy for sustainable activities. What the EU is doing to create an EU-wide<br />

classification system for sustainable activities.<br />

https://finance.ec.europa.eu/sustainable-finance/tools-and-standards/eu-taxonomy-sustainable-activities_<br />

en#legislation (07.02.2024)<br />

<strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024<br />

235


Judith E. Brücker<br />

• der Übergang zu einer Kreislaufwirtschaft,<br />

• Vermeidung und Verminderung der Umweltverschmutzung und<br />

• der Schutz und die Wiederherstellung der Biodiversität und der Ökosysteme.<br />

Österreich hat im Oktober 2022 eine Nichtigkeitsklage gegen den ergänzenden delegierten<br />

Rechtsakt vor dem Europäischen Gerichtshof (EuG) eingereicht, der vorsieht, dass <strong>Wirtschaft</strong>stätigkeiten<br />

im Zusammenhang mit Kernenergie und fossilem Gas als „ökologisch nachhaltig“<br />

gelten sollen (BMK 2024).<br />

Der European Scientific Advisory Board on Climate Change 6 skizziert in seinem neuen Bewertungsbericht<br />

(ESABCC 2024) 13 Schlüsselempfehlungen für eine effektivere Umsetzung und<br />

Gestaltung des klimapolitischen Rahmens der EU. Dabei geht es unter anderem um die Umsetzung<br />

des Fit for 55-Pakets bis 2030 und den schrittweisen Abbau der Subventionen für fossile<br />

Brennstoffe.<br />

Um den Ausstieg aus den fossilen Energieträgern zu schaffen, ist global ein umfassender Umbau<br />

des Energiesystems mit parallel stattfindenden massiven Energieeinsparungen vor allem<br />

im Globalen Norden nötig. Trotzdem sind nach wie vor klimaschädliche Förderungen und<br />

Anreizsysteme (auch in Österreich) an der Tagesordnung, wie beispielsweise eine Studie des<br />

Österreichischen Instituts für <strong>Wirtschaft</strong>sforschung (WIFO 2022) im Auftrag des BMK gezeigt<br />

hat: Im Durchschnitt der letzten Jahre belief sich das Volumen der klimakontraproduktiven<br />

Förderungen in Österreich auf 4,1 bis 5,7 Mrd. € jährlich.<br />

2 Biodiversität<br />

Die Biodiversität oder biologische Vielfalt umfasst drei große Bereiche, die eng miteinander verzahnt<br />

sind. Dazu gehören im Sinne der Biodiversitätskonvention der Vereinten Nationen 7 die Vielfalt<br />

innerhalb und zwischen den Arten und die Vielfalt von Ökosystemen. Zu den Ökosystemen –<br />

Wirkungsgefüge aus Lebensraum und Lebensgemeinschaft –, die wichtige Kohlenstoffspeicher<br />

und Kohlenstoffsenken sind, zählen unter anderem (alte) Wälder, Ozeane, (Permafrost-)Böden<br />

und Moore.<br />

Die biologische Vielfalt ist die Grundlage für die Ernährungssicherheit in der EU und weltweit. Im<br />

Jahr 2019 veröffentlichte die Welternährungsorganisation den ersten Bericht (FAO 2019) zum<br />

Zustand der weltweiten Artenvielfalt und deren Bedeutung für Ernährung und Landwirtschaft,<br />

in dem der vielfältige Nutzen der biologischen Vielfalt für Ernährung und Landwirtschaft her-<br />

6 Der Europäische Wissenschaftliche Beirat zum Klimawandel ist ein unabhängiges Gremium, das die Europäische<br />

Union mit wissenschaftlichen Erkenntnissen, Fachwissen und Ratschlägen zum Thema Klimawandel versorgt.<br />

https://climate-advisory-board.europa.eu/about<br />

7 Das Übereinkommen über die biologische Vielfalt ist 1992 auf dem Erdgipfel in Rio von 150 Staats- und Regierungschefs<br />

unterzeichnet worden und dient der Förderung einer nachhaltigen Entwicklung. https://www.cbd.int/doc/<br />

legal/cbd-en.pdf<br />

236 <strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024


Die globalen ökologischen Krisen: Eine empirisch basierte Einschätzung von Bearbeitungsstrategien<br />

vorgehoben wurde. Deutlich wird zudem, dass die Sicherung der Ernährung ohne die Bewahrung<br />

natürlicher biologischer Vielfalt langfristig nicht zu haben ist. Die Biodiversität ist auch eine<br />

wichtige Verbündete im Kampf gegen die Klimakrise, indem die Natur die Erderhitzung verlangsamt:<br />

54% des vom Menschen verursachten CO 2 wurde in den letzten 10 Jahren von Ozeanen,<br />

Pflanzen, Tieren und Böden aufgenommen (WWF 2023).<br />

Seit einigen Jahren sprechen Forscher:innen allerdings vom 6. Massensterben, da rund eine von<br />

geschätzten acht Millionen Tier- und Pflanzenarten vom Aussterben bedroht sind (IPBES 2019).<br />

Laut Weltbiodiversitätsrat gibt es fünf Hauptgründe für den Biodiversitätsverlust (IPBES 2019):<br />

• Veränderte Land- und Gewässernutzung,<br />

• direkte Ressourcenentnahme,<br />

• Klimawandel,<br />

• Schadstoffeinträge und<br />

• gebietsfremde „invasive“ Arten.<br />

Um dem Biodiversitätsverlust entgegenzuwirken, sollen nach den Zielen der EU-Biodiversitätsstrategie<br />

(EU 2021b) unter anderem 30% der Landflächen und 30% der Meere in der EU bis 2030<br />

unter Naturschutz gestellt werden – ca. ein Drittel davon als streng geschützte Gebiete. Laut<br />

dem Vorschlag für ein EU-Renaturierungsgesetz (EC 2022) sollen bei mindestens 20% der Landund<br />

Meeresflächen der EU eine Verbesserung bis 2030 erreicht werden. Die EU hat im Dezember<br />

2022 gemeinsam mit 195 Staaten auch das Kunming-Montreal Biodiversity Agreement (UNEP<br />

2022) unterzeichnet, in dem globale Ziele und Vorgaben zum Schutz und zur Wiederherstellung<br />

der Natur für heutige und künftige Generationen, zur Gewährleistung ihrer nachhaltigen Nutzung<br />

sowie zur Förderung von Investitionen in eine grüne Weltwirtschaft festgehalten sind.<br />

In Bezug auf die europäischen Meere tragen laut EEA (2023b) CO 2 und steigende Temperaturen<br />

dazu bei, „das ‚tödliche Trio‘ des Klimawandels für die biologische Vielfalt der Meere zu schaffen:<br />

Versauerung der Meere, Erwärmung der Meere und Sauerstoffmangel“.<br />

Im Bericht des IPBES-IPCC (2021), der im Zuge eines Expert:innen-Workshops entstanden ist,<br />

wurde das erste Mal versucht, den Klimaschutz mit dem Biodiversitätsschutz gemeinsam zu<br />

denken und zu schauen, welche Auswirkungen die beiden Handlungsfelder aufeinander haben,<br />

welche Maßnahmen zu setzen wären und welche Anpassungsmöglichkeiten bestehen. So hat<br />

beispielsweise der Schutz und die Wiederherstellung von kohlenstoffreichen Ökosystemen<br />

oberste Priorität aus der gemeinsamen Perspektive der Eindämmung des Klimawandels und<br />

dem Schutz der biologischen Vielfalt. Aber es wird auch nötig sein, Kompromisse zwischen den<br />

beiden Handlungsfeldern zu schließen.<br />

<strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024<br />

237


Judith E. Brücker<br />

3 Ressourcen<br />

Die Weltwirtschaft verbraucht immer mehr Ressourcen. Im Jahr 2023 fiel der Earth Overshoot<br />

Day 8 auf den 2. August, das bedeutet, dass bis zu diesem Tag die Menschheit statistisch gesehen<br />

ihre Ressourcen für das Jahr aufgebraucht hat. <strong>Europa</strong> ist in hohem Maße abhängig von<br />

Ressourcen, die außerhalb <strong>Europa</strong>s gewonnen oder genutzt werden, und trägt mehr zur Umweltzerstörung<br />

bei als viele andere Regionen weltweit (EEA 2020). Durch den produktions- und<br />

konsumbedingten massiven Ressourcenverbrauch entstehen auch übermäßig viel Abfall und<br />

Emissionen. Negativbeispiele und Probleme für Mensch und Umwelt sind der Plastikmüll, der<br />

Elektroschrott und Textilien („Fast Fashion“). Die Modebranche verursacht laut Schätzungen<br />

10% der weltweiten CO 2 -Emissionen (Europäisches Parlament 2024).<br />

Zur Veranschaulichung und Ermittlung des Ressourcenverbrauchs dient (neben anderen Berechnungsgrößen)<br />

der konsumbasierte Materialfußabdruck 9 . Der gesamte Materialfußabdruck<br />

der EU liegt über dem globalen Durchschnitt und ist weitaus größer als der der Nicht-EU-Länder<br />

mit niedrigem und mittlerem Einkommen (EEA 2023c). Zur Reduzierung des hohen Ressourcenverbrauchs<br />

setzt die EU auf die Kreislaufwirtschaft und will diese entlang des neuen EU-Aktionsplans<br />

für Kreislaufwirtschaft (EK 2020) als ein wesentlicher Baustein des Europäischen Grünen<br />

Deals schrittweise einführen. 2023 hat die Europäische Kommission den Überwachungsrahmen<br />

der Kreislaufwirtschaft überarbeitet und neue Indikatoren hinzugefügt 10 :<br />

– Materialfußabdruck und Ressourcenproduktivität zur Überwachung der<br />

Materialeffizienz und<br />

– Verbrauchsfußabdruck, um zu überwachen, ob der EU-Verbrauch innerhalb der<br />

planetarischen Grenzen liegt.<br />

Das Konzept der planetarischen Grenzen (planetare Belastungsgrenzen oder ökologische Belastungsgrenzen)<br />

wurde erstmals 2009 von J. Rockström und einer Gruppe von 28 internationalen<br />

Wissenschafter:innen (Rockström et al. 2009) vorgeschlagen. Es handelt sich um neun planetarische<br />

Grenzen, innerhalb derer sich die Menschheit auch in Zukunft entwickeln und gedeihen<br />

kann (SRC 2024). In der jüngsten Aktualisierung wurden nicht nur alle Grenzen quantifiziert,<br />

sondern es wurde auch festgestellt, dass sechs der neun Grenzen überschritten worden<br />

sind (Richardson et al. 2023): Globale Erwärmung, Biosphäre, Entwaldung, Schadstoffe/Plastik,<br />

Stickstoffkreisläufe und Süßwasser (siehe Abbildung 4). Gleichzeitig nimmt der Druck auf alle<br />

Grenzprozesse mit Ausnahme des Ozonabbaus zu. Eine Grenzüberschreitung markiert dabei<br />

eine kritische Schwelle für erheblich steigende Risiken.<br />

8 Earth Overshoot Day: https://overshoot.footprintnetwork.org/newsroom/past-earth-overshoot-days/<br />

9 Der Materialfußabdruck der EU bezieht sich auf die Menge an Material, die der Natur innerhalb und außerhalb der<br />

EU entnommen wird, um die von den EU-Bürger:innen konsumierten Waren und Dienstleistungen herzustellen oder<br />

bereitzustellen. https://www.eea.europa.eu/en/analysis/indicators/europes-material-footprint<br />

10 Circular economy action plan: The EU’s new circular action plan paves the way for a cleaner and more competitive<br />

Europe. https://environment.ec.europa.eu/strategy/circular-economy-action-plan_en<br />

238 <strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024


Die globalen ökologischen Krisen: Eine empirisch basierte Einschätzung von Bearbeitungsstrategien<br />

Abbildung 4: 11 The current status of the nine Planetary Boundaries<br />

Quelle: based on Richardson et al. 2023<br />

Im Zuge des sicheren Handlungsspielraums für die Menschheit wird auch von zu schützenden<br />

globalen Gemeingütern (Global Commons) gesprochen, zu denen die Atmosphäre und die<br />

Ozeane gezählt werden.<br />

In Abbildung 5 ist der Materialfußabdruck <strong>Europa</strong>s von 1970 und von 2024 in den Kategorien Biomasse,<br />

fossile Brennstoffe, metallische Erze und nicht-metallische Mineralien dargestellt, wobei<br />

der größte Anstieg in den letzten rund 50 Jahren bei den nicht-metallischen Mineralien stattgefunden<br />

hat. Dazu zählen Materialien wie Sand, Kies, Kalkstein, Gips und Ton, die hauptsächlich<br />

im Bauwesen und für industrielle Anwendungen verwendet werden.<br />

11 Diese Visualisierung wurde vom PIK unter der CC-BY-Lizenz veröffentlicht. Abbildung Version 1.1 (2024)<br />

<strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024<br />

239


Judith E. Brücker<br />

Abbildung 5: Materialfußabdruck <strong>Europa</strong>s 1970 & 2024<br />

Quelle: Daten: UNEP IRP Global Material Flows Database 12 ; eigene Darstellung<br />

Im kürzlich veröffentlichten Global Resources Outlook 2024 (UNEP 2024) wird die Bedeutung<br />

der Ressourcen für die wirksame Umsetzung der Agenda 2030 (UN 2015) und der multilateralen<br />

Umweltvereinbarungen zur Bewältigung des Klimawandels, des Biodiversitätsverlusts und der<br />

Umweltverschmutzung/des Abfalls beleuchtet. Eine der Hauptaussagen ist, dass Länder mit<br />

hohem Pro-Kopf-Einkommen sechsmal mehr Ressourcen verbrauchen und zehnmal klimawirksamer<br />

sind als Länder mit niedrigem Pro-Kopf-Einkommen. Ressourcennutzung und -management<br />

müssen laut Bericht in den Mittelpunkt der Bemühungen zur Bekämpfung des Klimawandels,<br />

des Bio diversitätsverlusts und der Umweltverschmutzung gerückt werden.<br />

Rohstoffe sind auch für die neuen Technologien global von großer Bedeutung. Der Hunger nach<br />

Rohstoffen wie beispielsweise Lithium und Kobalt, die unter anderem für die Energiewende und<br />

somit Dekarbonisierung benötigt werden, ist stark im Steigen und kann zu neuen alten Problemen<br />

führen, wenn nicht für entsprechende Rahmenbedingungen unter anderem bei der Gewinnung<br />

und Verarbeitung geachtet wird (Stichwort: Ressourcenextraktion). Um die negativen<br />

Auswirkungen von Bergbau und Aufbereitung auf Umwelt, Gesellschaft sowie Bergbau- und Verarbeitungsbetriebe<br />

einzuschränken, richtet sich die International Energy Agency (IEA 2023) mit<br />

fünf zentralen Empfehlungen an politische Entscheidungsträger:innen: erstens, Gewährleistung<br />

eines soliden rechtlichen und regulatorischen Schutzes für die Umwelt, Arbeitnehmer:innen und<br />

Gemeinden; zweitens, Lenkung der öffentlichen Ausgaben zur Förderung der Entwicklung besserer<br />

Praktiken und Belohnung guter Akteure; drittens, Sammlung und Berichterstattung von<br />

detaillierten und standardisierten Daten für ein Benchmarking und eine Fortschrittsverfolgung in<br />

der gesamten Branche und in der gesamten Lieferkette; viertens, Ermutigung und Verpflichtung<br />

der Unternehmen, die Transparenz in der gesamten Lieferkette zu verbessern, unter anderem<br />

12 https://www.resourcepanel.org/global-material-flows-database (05.03.2024)<br />

240 <strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024


Die globalen ökologischen Krisen: Eine empirisch basierte Einschätzung von Bearbeitungsstrategien<br />

durch die Durchführung von Due-Diligence-Prüfungen und die öffentliche Berichterstattung über<br />

Risiken und Maßnahmen zur Risikominderung; fünftens, Unterstützung der Entwicklung von<br />

glaubwürdigen freiwilligen Nachhaltigkeitsstandards und Förderung harmonisierter Ansätze im<br />

Einklang mit internationalen Standards.<br />

Die Europäische Kommission hat eine Liste wichtiger Rohstoffe für die EU erstellt, die regelmäßig<br />

überprüft und aktualisiert wird. Als kritische Rohstoffe werden Rohstoffe gesehen, die für<br />

die EU-<strong>Wirtschaft</strong> von großer Bedeutung sind – wegen der Verbindung zur Industrie, für moderne<br />

Technologie und für die Umwelt – und bei deren Lieferung ein hohes Risiko besteht (EC 2024).<br />

4 Machtverhältnisse und Verteilung<br />

Die globalen Einkommens- und Vermögensungleichheiten sind beträchtlich und eng mit<br />

ökologischen Ungleichheiten und ungleichen Beiträgen zum Klimawandel verbunden (WID<br />

2021). Im Jahr 2019 (Oxfam 2023) waren die superreichen 1% für 16% der weltweiten Kohlenstoffemissionen<br />

verantwortlich, was den Emissionen der ärmsten 66% der Menschheit – 5 Milliarden<br />

Menschen – entspricht. Oder: Die jährlichen globalen Emissionen der superreichen 1 %<br />

machen die Kohlenstoffeinsparungen für fast einer Million Festland-Windturbinen aus. Die negativen<br />

Auswirkungen und Folgen des menschgemachten Klimawandels spüren allerdings schon<br />

jetzt vor allem jene Länder und Menschen, die am wenigsten zur Erderhitzung beitragen. Länderbeispiele<br />

dafür sind Inselstaaten, wie Kiribati und Tuvalu (Wälterlin 2017, Emminger 2023), die<br />

durch den steigenden Meeresspiegel langsam untergehen, oder Pakistan, wo im Sommer 2022<br />

ein Drittel des Landes durch außergewöhnlich starke Regenfälle überflutet wurde und 33 Millionen<br />

Menschen betroffen waren (Otto et al. 2023).<br />

Zudem haben große Unternehmen und Konzerne global immer mehr Macht (vgl. auch Attac<br />

2016, Bode 2018, Oxfam 2021) und üben auf undemokratische Weise Einfluss auf die <strong>Politik</strong><br />

aus. Die globalen wirtschaftlichen Verflechtungen und fehlende rechtliche Regelungen machen<br />

es bis dato schwierig bis unmöglich, große Unternehmen und Konzerne für etwaige Menschrechtsverletzungen<br />

und Umweltzerstörung entlang der (globalen) Lieferketten verantwortlich<br />

zu machen. Da eine freiwillige Selbstverpflichtung für bessere Menschenrechts- und Umweltstandards<br />

bei weitem nicht ausreicht, hat die EU-Kommission im Februar 2022 einen Vorschlag<br />

für ein EU-weites Gesetz präsentiert, das große Unternehmen zu mehr Sorgfalt in ihrer <strong>Wirtschaft</strong>stätigkeit<br />

verpflichten soll: die EU-Richtlinie über die Sorgfaltspflichten von Unternehmen<br />

im Hinblick auf Nachhaltigkeit (EU Corporate Sustainability Due Diligence Directive, CSDDD) 13 .<br />

Mit der Richtlinie sollen Menschenrechte und die Umwelt in der EU und weltweit in globa len<br />

Lieferketten geschützt werden. Von der Regelung betroffen sind EU-Unternehmen und Mutterunternehmen<br />

mit mehr als 500 Mitarbeiter:innen mit einem weltweiten Nettoumsatz von mehr<br />

13 EC: Corporate sustainability due diligence. Fostering sustainability in corporate governance and management<br />

systems.https://commission.europa.eu/business-economy-euro/doing-business-eu/corporate-sustainabilitydue-diligence_en<br />

<strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024<br />

241


Judith E. Brücker<br />

als 150 Mio. EUR und Unternehmen mit mehr als 250 Mitarbeiter:innen und einem Umsatz von<br />

mehr als 40 Mio. EUR, wenn mind. 20 Mio. EUR des Umsatzes in Hochrisikosektoren (Landwirtschaft,<br />

Textilindustrie, Rohstoffindustrie) erwirtschaftet wird. Auch nicht in der EU gegründete<br />

Unternehmen fallen unter bestimmten Voraussetzungen in den Anwendungsbereich.<br />

KMU sind vom Anwendungsbereich nicht unmittelbar betroffen – in Österreich sind laut<br />

Bundesministerium für Arbeit und <strong>Wirtschaft</strong> 99,6% (BMAW 2024) der Unternehmen KMU. Nach<br />

der Einigung auf einen gemeinsamen Entwurf für das Sorgfaltspflichtengesetz im Rahmen der<br />

Trilog-Verhandlungen des EU-Parlaments, der Europäischen Kommission und Vertreter:innen<br />

der EU-Mitglied staaten im Dezember 2023 (EU Rat 2023) enthielten sich beim politischen Entscheidungsprozess<br />

am 28. Februar 2024 wichtige EU-Mitgliedstaaten wie Deutschland, Italien<br />

und auch Österreich der Stimme und verhinderten somit eine qualifizierte Mehrheit im EU-Rat.<br />

Dies bedeutet, dass das Sorgfaltspflichtengesetz in dieser Fassung nicht umgesetzt wird, auch<br />

wenn laut einer aktuellen Studie im Auftrag der AK Wien (Jäger et al. 2023) mit der Regelung<br />

durchwegs mit signifikant positiven Wirkungen in sozialer, ökologischer und ökonomischer Hinsicht<br />

in der EU und insbesondere im Globalen Süden zu rechnen ist.<br />

Der Ruf nach Klimagerechtigkeit (vgl. auch Brouns 2004, Santarius 2007) vor allem im Zusammenhang<br />

mit dem Globalen Süden ist in den letzten Jahren auch im Zuge der zivilgesellschaftlichen<br />

Protestbewegungen rund um den Globus lauter geworden, wie zum Beispiel durch Fridays<br />

for Future 14 , durch Indigene Völker oder durch diverse NGOs weltweit. Auf Initiative der Schwedin<br />

Greta Thunberg startete 2019 die Klimabewegung Fridays for Future als Jugendbewegung. Die<br />

Forschungswerkstatt Protest 15 hat eine Demonstration 2019 in Wien wissenschaftlich begleitet<br />

und analysiert. Eines der Ergebnisse (Bohl et al. 2021) sind die konkreten Forderungen vor allem<br />

nach einer stärkeren Regulierung des kapitalistischen Systems und der verantwortungsvolle<br />

Umgang mit Ressourcen. Hinter Fridays for Future stehen auch Wissenschafter:innen, die als<br />

Scientists for Future 16 – Zusammenschluss von Forschenden aller Disziplinen – die <strong>Politik</strong> und<br />

Gesellschaft über die wissenschaftlichen Fakten rund um die Klima- und Biodiversitätskrise<br />

informieren und die Forderungen und Aktionen der Klimaaktivist:innen unterstützen. Aus moralischer<br />

Verpflichtung (Ripple et al. 2020) haben mehr als 11.000 Wissenschafter:innen aus aller<br />

Welt klar und unmissverständlich erklärt, dass der Planet Erde vor einem Klimanotstand steht.<br />

Eine Auswirkung der zivilgesellschaftlichen Protestbewegungen ist – nicht erst seit den Protesten<br />

für ernsthaften Klimaschutz und Klimagerechtigkeit der letzten Jahre – das Denunzieren und teilweise<br />

auch Kriminalisieren von Aktivist:innen (vor allem der Gruppierungen Letzte Generation 17<br />

oder Extinction Rebellion 18 ) durch bestimmte politische Gruppierungen, deren Anhänger:innen<br />

und durch bestimmte Interessensvertretungen. In seinem Aufsatz Klimaaktivismus als ziviler<br />

Ungehorsam (Kiesewetter 2022) verteidigt der Autor die Auffassung, dass „die relevanten<br />

14 Fridays for Future: https://fridaysforfuture.org/<br />

15 Forschungswerkstatt Protest am Institut für Internationale Entwicklung der Universität Wien<br />

16 Scientists for Future: https://at.scientists4future.org/<br />

17 Letzte Generation: https://letztegeneration.org/<br />

18 Extinction Rebellion: https://rebellion.global/<br />

242 <strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024


Die globalen ökologischen Krisen: Eine empirisch basierte Einschätzung von Bearbeitungsstrategien<br />

Gesetzesübertretungen eine Form moralisch gerechtfertigten zivilen Ungehorsams gegen die<br />

K limapolitik darstellen“.<br />

5 Diskussion<br />

Betrachtet man die aktuellen Daten und Fakten, ist unsere Welt im Jahr 2024 von der nötigen<br />

Trendumkehr weit entfernt: die Erderhitzung steigt, die Biodiversität sinkt, der Ressourcenverbrauch<br />

steigt weiter an, die Verteilungsfrage und die Machtverhältnisse sind problematisch.<br />

Auch die wirtschaftlichen Verluste nehmen zu. Unwetter verursachten 2023 nach aktuellen<br />

Schätzungen weltweit Rekordschäden von fast 230 Milliarden Euro (ORFonline 2024).<br />

Seit die wachstumskritische Schrift „Grenzen des Wachstums“ (Meadows et al. 1972) vom<br />

Club of Rome 19 veröffentlicht wurde, sind über 50 Jahre vergangen und über 35 Jahre seit die<br />

Brundtland-Kommission ihren Abschlussbericht „Our Common Future“ (WCED 20 1987) vorgelegt<br />

hat. Darin ist auch jene Definition für nachhaltige Entwicklung niedergeschrieben, die es zur<br />

Berühmtheit gebracht hat:<br />

„Sustainable development is development that meets the needs of the present without compromising<br />

the ability of future generations to meet their own needs. It contains within it two key<br />

concepts:<br />

– the concept of ‘needs’, in particular the essential needs of the world’s poor, to which<br />

overriding priority should be given; and<br />

– the idea of limitations imposed by the state of technology and social organization<br />

on the environment’s ability to meet present and future needs.“ (Chapter 2: Towards<br />

Sustainable Development)<br />

Im Jahr 2015 hat sich die Weltgemeinschaft auf die beiden globalen Übereinkommen „Agenda<br />

2030“ (UN 2015) und „Pariser Klimaabkommen“ (UNFCCC 2015) mit der Absicht geeinigt, die<br />

globalen Probleme und Herausforderungen in den Griff zu bekommen.<br />

Die Risiken und Dynamiken sind bereits vor Jahrzehnten erkannt und aufgezeigt worden. Jedoch<br />

haben beispielsweise große Öl- und Gaskonzerne in den letzten Jahrzehnten gezielt und erfolgreich<br />

Desinformation und Verharmlosung rund um das Thema Verbrennung fossiler Brenn stoffe<br />

und deren Auswirkungen auf das Klima betrieben (Spiegel 2021). Forscher:innen haben in den<br />

letzten 30 Jahren immer genauere Daten zum Status Quo gesammelt und Prognosen für die<br />

Zukunft erstellt und immer wieder und immer öfter gewarnt und auch Lösungsvorschläge in<br />

Zusammenarbeit mit der Praxis für eine lebenswerte Zukunft erarbeitet. Und trotzdem geht vieles<br />

zu langsam, die <strong>Politik</strong> ist säumig, die <strong>Wirtschaft</strong> weiter auf Wachstum ausgerichtet. Die<br />

19 Club of Rome: https://www.clubofrome.org/<br />

20 World Commission on Environment and Development<br />

<strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024<br />

243


Judith E. Brücker<br />

ressourcenintensive <strong>Wirtschaft</strong>s- und Lebensweise hat zu einer steigenden Ausbeutung und<br />

Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen geführt. Die sozial ungleiche Nutzung der Natur<br />

und Umwelt wird von wenigen verursacht – die Mehrheit (und davon vor allem die Armen und<br />

weniger Privilegierten) ist und wird am stärksten von den negativen Folgen betroffen sein.<br />

Mit „System Change, not Climate Change“ und „There is no planet B“ fordern Teile der Gesellschaft<br />

die notwendigen und tiefgreifenden Änderungen von <strong>Politik</strong>, <strong>Wirtschaft</strong> und Gesellschaft<br />

selbst ein. Die Zivilgesellschaft als Treiberin für eine Systemänderung? Vielleicht. Es geht um<br />

Verteilungsgerechtigkeit zwischen der heutigen und zukünftigen Generationen; es geht um<br />

Gerechtigkeit zwischen Arm und Reich und zwischen dem Globalen Norden und dem Globalen<br />

Süden; es geht um ökologische Grenzen, die eingehalten werden müssen, und es geht um<br />

gesellschaftlichen Austausch und Beteiligung.<br />

Die Earth Commission 21 (Rockström et al. 2023) hat ein Mindestniveau für den Zugang zu den<br />

Ressourcen für ein menschenwürdiges Leben und die Freiheit von Armut für alle Menschen<br />

festgelegt – entwickelt von einer internationalen Wissenschaftskommission liefern die<br />

Wissenschafter:innen die erste Quantifizierung sicherer und gerechter Erdsystemgrenzen auf<br />

globaler und lokaler Ebene für mehrere biophysikalische Prozesse und Systeme, die den Zustand<br />

des Erdsystems regulieren. Die Herausgeber der Sondernummer des Journals für Entwicklungspolitik<br />

(Jäger/Schmidt 2020) sehen die sozial-ökologische Transformation als einen<br />

Prozess, der notwendig ist, um die globale Produktionsweise so zu gestalten, dass sie weltweit<br />

nachhaltig ist und weltweit für gerechte materielle Lebensbedingungen für alle sorgt. Im Bericht<br />

„Earth for all“ (Club of Rome 2022) werden fünf wesentliche Handlungsfelder genannt, mit denen<br />

große Veränderungen erreicht werden können: 1) gegen die Armut im Globalen Süden, 2) gegen<br />

grassierende Ungleichheit, 3) für eine regenerative und naturverträgliche Landwirtschaft, 4) für<br />

eine umfassende Energiewende und 5) für die Gleichstellung der Frauen.<br />

Die globale Klimagerechtigkeitsbewegung People’s Demands for Climate Justice 22 fordert,<br />

• fossile Brennstoffe im Boden zu lassen;<br />

• falsche Lösungen, die echte, auf den Menschen ausgerichtete Lösungen für die<br />

Klimakrise verdrängen, abzulehnen;<br />

• echte Lösungen voranzutreiben, die gerecht, machbar und wichtig sind;<br />

• die Verpflichtungen zur Klimafinanzierung gegenüber den Entwicklungsländern<br />

einzuhalten;<br />

• die Einmischung und Vereinnahmung der Klimaverhandlungen durch Unternehmen zu<br />

beenden;<br />

• und die Industrieländer müssen ihren „fairen Anteil“ an der Verursachung der Krise<br />

anerkennen.<br />

21 Earth Commission – Global Commons Alliance: https://earthcommission.org/<br />

22 The People’s Demands for Climate Justice: https://www.peoplesdemands.org/ (08.02.2024)<br />

244 <strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024


Die globalen ökologischen Krisen: Eine empirisch basierte Einschätzung von Bearbeitungsstrategien<br />

Die Politische Ökologie versteht die Klimakrise als eine Krise der gesellschaftlichen Naturverhältnisse,<br />

in die Herrschafts- und Ungleichheitsverhältnisse eingeschrieben sind und schaut<br />

bei Klimagerechtigkeit auf Macht, Herrschaft, Ungleichheiten, soziale Kämpfe und klimagerechte<br />

Alternativen (Kalt 2023).<br />

6 Conclusio<br />

Zusammenfassend zeichnen die aktuellen Daten und Fakten ein wenig positives Bild, und die<br />

Frage, ob wir auf dem Weg in Richtung Klimagerechtigkeit und einer lebenswerten Zukunft für<br />

alle sind, ist somit mit einem klaren Nein zu beantworten: <strong>Europa</strong>weit und weltweit müssten<br />

Änderungen (im <strong>Wirtschaft</strong>ssystem und in der Gesellschaft) viel schneller, ernsthafter und tiefgreifender<br />

vorangetrieben werden.<br />

7 Literatur<br />

Attac (Hrsg.) (2016): Konzernmacht brechen! Von der Herrschaft des Kapitals zum Guten Leben<br />

für Alle. Wien: Mandelbaum.<br />

Attac (2023): 25 Jahre Attac: Die Macht der Konzerne brechen. Langjährige Attac-Forderungen<br />

sind von einer „Utopie“ zu politischer Realität geworden. 02.06.2023. https://www.attac.at/<br />

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Bohl, C. / Braunhuber, B. / Daniel, A. / Glässer, D. / Ilchmann, O. / Lange, L. / Wingender, A. (2021):<br />

The Climate Crisis and the Fridays for Future Movement: Causes, Responsibilities and Solutions<br />

through the Lens of Framing Theory. In: ieWorkingPaper, No. 10.<br />

Brouns, B. (2004): Was ist gerecht? Nutzungsrechte an natürlichen Ressourcen in der Klima- und<br />

Biodiversitätspolitik. Wuppertal Paper 146.<br />

<strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024<br />

245


Judith E. Brücker<br />

Bruckner, B. / Hubacek, K. / Shan, Y. / Zhong, H. / Feng, K. (2022): Impacts of poverty alleviation<br />

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Critical raw materials. https://single-market-economy.ec.europa.eu/sectors/raw-materials/<br />

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246 <strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024


Die globalen ökologischen Krisen: Eine empirisch basierte Einschätzung von Bearbeitungsstrategien<br />

den Rat, den Europäischen <strong>Wirtschaft</strong>s- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen.<br />

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(EG) Nr. 401/2009 und (EU) 2018/1999 („Europäisches Klimagesetz“). https://eur-lex.europa.eu/<br />

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corporate-sustainability-due-diligence-council-and-parliament-strike-deal-to-protectenvironment-and-human-rights<br />

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<strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024<br />

247


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248 <strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024


Die globalen ökologischen Krisen: Eine empirisch basierte Einschätzung von Bearbeitungsstrategien<br />

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politik-macht-uebermaechtigen-konzernen-beschneiden (07.02.2024)<br />

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<strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024<br />

249


Judith E. Brücker<br />

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beim Klimawandel getäuscht haben. Ein Interview von Viola Kiel. https://www.spiegel.de/<br />

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Umweltbundesamt (2023): Treibhausgas-Emissionen in der Europäischen Union. https://www.<br />

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decisions/cop-15/cop-15-dec-04-en.pdf<br />

UNEP (2023): Emissions Gap Report 2023: Broken Record – Temperatures hit new highs, yet<br />

world fails to cut emissions (again). UN environment programme. https://doi.org/10.59117/20.5<br />

00.11822/43922<br />

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Future. Brundtland Report Oslo, 20.3.1987. https://www.are.admin.ch/dam/are/en/dokumente/<br />

nachhaltige_entwicklung/dokumente/bericht/our_common_futurebrundtlandreport1987.pdf.<br />

download.pdf/our_common_futurebrundtlandreport1987.pdf<br />

WID (2021): World Inequality Lab: Bericht zur weltweiten Ungleichheit 2022. Kurzzusammenfassung.<br />

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WIFO (2022): Analyse klimakontraproduktiver Subventionen in Österreich. Dezember 2022.<br />

Österreichisches Institut für <strong>Wirtschaft</strong>sforschung, Wien.<br />

250 <strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024


Die globalen ökologischen Krisen: Eine empirisch basierte Einschätzung von Bearbeitungsstrategien<br />

WMO (2023): State of the Climate in Europe 2022. WMO-No. 1320. World Meteorological Organization,<br />

Geneva. https://library.wmo.int/doc_num.php?explnum_id=11698<br />

WWF (2023): Die Verbündete unseres Klimas: Die Rolle der Natur im Sechsten IPCC-Sachstandsbericht.<br />

WWF International, WWF Deutschland, Berlin. https://www.wwf.de/fileadmin/fm-wwf/<br />

Publikationen-PDF/Klima/die-verbuendete-unseres-klimas-rolle-der-natur-im-sechsten-ipccbericht.pdf<br />

<strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024<br />

251


Verzeichnis der Autor:innen<br />

Dr. Andreas Breinbauer<br />

FH des BFI Wien<br />

DI in Judith E. Brücker<br />

FH des BFI Wien<br />

Dr. Franz Eder<br />

Universität Innsbruck<br />

Mag. a Sandra Eitler<br />

FH des BFI Wien<br />

Dr. Bernhard Ennser<br />

FH des BFI Wien<br />

Dr. Kai Erenli<br />

FH des BFI Wien<br />

Dr. Florian Hartleb<br />

Europäisches Institut für Terrorismusbekämpfung und Konfliktprävention<br />

Dr. Johannes Jäger<br />

FH des BFI Wien<br />

Dr. Christopher Kronenberg<br />

FH des BFI Wien<br />

Franziska Nemmer, MSc<br />

BFI Salzburg<br />

Dr. Harun Pačić<br />

FH des BFI Wien<br />

Mag. a (FH) Ina Pircher<br />

FH des BFI Wien<br />

Dr. Michael Reiner<br />

Österreichische Gesundheitskasse<br />

<strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024<br />

253


Dr. Reinhold Schodl<br />

FH des BFI Wien<br />

Dr. in Elisabeth Springler<br />

FH des BFI Wien<br />

Dr. Gernot Stimmer<br />

Universität Wien<br />

Dr. Alexander Straßner<br />

Universität Regensburg<br />

Dr. Karl Wörle<br />

FH des BFI Wien<br />

Dr. Bernhard Zeilinger<br />

FH des BFI Wien<br />

254 <strong>Wirtschaft</strong> und Management · Band 34 · Sonderausgabe · Mai 2024


Michael Thöndl im Porträt<br />

Michael Thöndl, der im Jahr 1986 für seine Arbeit über „Das <strong>Politik</strong>bild von Oswald Spengler“ promoviert<br />

wurde, ist ein ideengeschichtlich arbeitender <strong>Politik</strong>wissenschaftler, der sich mit Forschungen über<br />

den deutschen Geschichtsphilosophen und politischen Schriftsteller Oswald Spengler profiliert und<br />

Arbeiten aus folgenden Bereichen publiziert hat: Politische Theorie und Ideengeschichte, Italien, Totalitarismus,<br />

Faschismus, „Konservative Revolution“, Universitäts- und Bildungsgeschichte, Geschichte<br />

der Betriebswirtschaftslehre und Europäische Union. Im Jahr 2000 ist ihm der Theodor-Körner-Preis<br />

zur Förderung von Wissenschaft und Kunst verliehen worden. Thöndl ist Professor (FH) und leitet den<br />

Fachbereich für <strong>Politik</strong>wissenschaft an der FH des BFI Wien. Zudem ist er Lehrbeauftragter an der Universität<br />

Innsbruck, die ihm 2011 die Lehrbefugnis als Privatdozent für <strong>Politik</strong>wissenschaft erteilt hat.<br />

Zu seinen Publikationen zählen: Machtstaatsidee und Faschismus in Italien (1870–2007), in: Th. Geiger,<br />

M. Hartlieb, B. Winkel (Hrsg.), Fokus <strong>Politik</strong>wissenschaft. Ein Überblick, Innsbruck 2007, S. 162–173;<br />

Die Europäische Union. Institutionen, Verfahren, Akteure (mit K. Schermann und G. Stimmer), Wien<br />

(Manz) 2007; Der Abessinienkrieg und das totalitäre Potential des Faschismus in „Italienisch- Ostafrika“<br />

(1935–1941), in: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken 87 (2007),<br />

S. 402-419; Mussolinis ostafrikanisches Imperium in den Aufzeichnungen und Berichten des deutschen<br />

Generalkonsulats in Addis Abeba (1936–1941), in: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven<br />

und Bibliotheken 88 (2008), S. 449-488; Oswald Spengler in Italien, Kulturexport politischer Ideen der<br />

„Konservativen Revolution“, Leipzig (Leipziger Universitätsverlag) 2010; Der Angriff auf das Abendland.<br />

Bemerkungen zu Oswald Spenglers Demokratiekritik, in: S. Fink, R. Rollinger (Hrsg.), Oswald Spenglers<br />

Kulturmorphologie, Eine multiperspektivische Annäherung, Wiesbaden (Springer) 2018. Die jüngste<br />

Publikation im Leipziger Universitätsverlag handelt von: Richard Nikolaus Graf Coudenhove-Kalergi, die<br />

„Paneuropa-Union“ und der Faschismus 1923–1944.


Fachhochschule des BFI Wien Gesellschaft m.b.H.<br />

A-1020 Wien, Wohlmutstraße 22<br />

Tel.: +43/1/720 12 86<br />

Fax: +43/1/720 12 86-19<br />

E-Mail: info@fh-vie.ac.at<br />

www.fh-vie.ac.at<br />

ISBN 978-3-902624-72-7

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