matthäuspassion 1112 - Gürzenich Orchester
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tag über den Leidenden Jesum, In einem oratorio entworffen«,<br />
der jedoch nicht als Vorform des endgültigen Librettos der Matthäus<br />
Passion anzusehen ist. Der Bibeltext ist hier nicht wörtlich übernommen,<br />
sondern durch gereimte Paraphrasen ersetzt, was im<br />
Leipziger Gottesdienst sicherlich nicht durchgegangen wäre.<br />
Die Erfahrungen mit diesem Text konnte Henrici gleichwohl für die<br />
MatthäusPassion nutzen, deren Libretto er, wohl auf Betreiben<br />
Bachs, ganz neu dichtete und das aufgrund seiner sicheren<br />
Beherrschung der Form, seiner vielen fantasievollen Sprachbilder<br />
und des Beziehungsreichtums der Gedanken besser ist als sein<br />
Ruf. Was dieses Libretto aber vor allem von anderen, etwa dem<br />
zur JohannesPassion, unterscheidet: Nicht das Bibelwort steht<br />
im Zentrum, sondern die betrachtende Poesie der Arien und Chorsätze,<br />
die so genannten »madrigalischen« Texte, die freilich auch<br />
musikalisch der gewichtigste Teil der Passionsvertonung sind.<br />
Henrici gliedert die Passionsgeschichte mit den Ereignissen von<br />
Gründonnerstag und Karfreitag in fünfzehn »Szenen« (die durch<br />
Einleitungen zu den beiden Teilen ergänzt werden), in denen<br />
jeweils madrigalischer Text mit Evangelienbericht und Choral abwechselt,<br />
quasi von ihnen kontrapunktiert wird. Die »Szenen«<br />
reichen von der Salbung in Bethanien (Sätze 4–6), dem Verrat des<br />
Judas (Sätze 7–8) und dem Letzten Abendmahl (Sätze 9–13) bis<br />
hin zu Kreuzigung (Sätze 58–60), Tod (Sätze 61–63) und Grablegung<br />
(63–68) des Erlösers. Dass die beiden grundverschiedenen<br />
Textschichten – hier madrigalische Dichtung, dort Bibelwort und<br />
Choral – nicht beziehungslos nebeneinander stehen, wird schon<br />
im Einleitungschor deutlich, wo Choral und Dichtung eindrucksvoll<br />
miteinander verwoben werden. Diesem monumentalen, die Vision<br />
des Lammes als Herrscher des himmlischen Jerusalem beschwörenden<br />
Chorsatz antwortet am Ende der Passion ein eher schlichter<br />
Satz. Dieses »Wir setzen uns mit Tränen nieder« löst die ungeheure<br />
dramatische Spannung der Passionsgeschichte nur bedingt<br />
auf – und soll es auch nicht, denn die eigentliche »Auflösung« hat<br />
nach christlicher Vorstellung erst zwei Tage später am Ostermorgen<br />
mit dem Trompetenglanz und den jubelnden Klängen einer Osterkantate<br />
zu erfolgen. Leider wissen wir nicht, welche Kantate 1727<br />
zu Ostern aufgeführt wurde und ob sie der Größe der Matthäus<br />
Passion angemessen war.<br />
Die MatthäusPassion ist das protestantische Kunstwerk schlechthin.<br />
Dass sie diesen Ruf heute genießt, ist nicht zuletzt ihrer<br />
»Wiederentdeckung« im 19. Jahrhundert zu verdanken. Diese<br />
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