UNTERWEGS IN FRANKREICH Île-de-France / Paris 58 · Frankreich erleben · <strong>Sommer</strong> <strong>2024</strong>
« Bitte das Futter im Ärmel annähen. » Dieser kurze Satz ist auf einem kleinen Stück Papier zu lesen, das an einem Bügel mit einer Paillettenjacke befestigt ist. Der Satz wurde von Hand geschrieben und durch ein hübsches kleines Herz am Ende ergänzt. Vor dem Kleiderständer, direkt an der Wand des engen Ganges steht Patricia Berthe und muss lächeln, als sie die Worte liest. Sie hat eine Ausbildung als Haute-Couture-Schneiderin absolviert und arbeitet seit 1984 im Moulin Rouge. Nun nimmt sie den Bügel vom Ständer. « Ab ins Atelier! Es ist höchste Zeit, dich zu reparieren, heute Abend musst du wieder auf die Bühne! », sagt sie liebevoll zu dem Kleidungsstück, als spräche sie mit einer alten Bekannten, mit der sie öfter zu tun hat. Der Fingerhut, ein unverzichtbares Utensil Patricia Berthe arbeitet in der Schneiderwerkstatt des Moulin Rouge. Genauer gesagt in einer der beiden Schneiderwerkstätten des Hauses. Schließlich stehen Tag für Tag 60 Doriss Girls und 20 Doriss Dancers zweimal pro Abend – um 21 Uhr und um 23 Uhr – auf den Brettern der Bühne, um die vier Szenen von Féerie zu präsentieren, der berühmten Show des Moulin Rouge. 15 Mitarbeiter haben daher in der Schneiderei wahrlich alle Hände voll zu tun, um sicherzustellen, dass die knapp 1000 Kostüme und Accessoires, die jeden Abend benötigt werden, in einem einwandfreien Zustand sind. « Die Tänzerinnen und Tänzer müssen Kostüme haben, die immer in einem Topzustand sind und in denen sie sich bequem bewegen können. Dafür sind wir da », sagt Patricia Berthe beim Betreten des Ateliers. Vier Personen, alle Frauen, sind dort gerade mit Änderungen und Ausbesserungen beschäftigt. Es ist offensichtlich, dass dafür sehr akribisches Arbeiten erforderlich ist. Bis auf eine der Frauen tragen alle eine Brille. Trotz der mit Sicherheit für die Tätigkeit optimalen Beleuchtung kann man sich vorstellen, dass die Augen dabei sehr strapaziert werden. « Und die Finger auch! », meint Patricia Berthe. « Deswegen sage ich Neuankömmlingen immer, sie sollen mit einem Fingerhut nähen! Heutzutage lernen sie in der Schneiderschule nicht mehr, dass ein Fingerhut ein wichtiges Hilfsmittel ist. Als ob er überholt sei. Vielleicht in der Haute Couture, das mag sein, aber hier arbeiten wir oft mit Stoffen und anderen Materialien, die schwer zu durchstechen sind. Ohne Fingerhut leiden die Finger sehr ... » 24 Jahre Féerie Betrachtet man die Vielzahl an Stoffen, Bändern, Gummibändern, Borten, Garnrollen, Schachteln und anderen Behältern mit Tausenden von Strasssteinen, Knöpfen und Perlen, dann wird schnell klar, dass dieser Ort nicht etwa « nur » eine Art « Fundgrube » ist, in der Showkostüme ausgebessert werden, wie dies auch anderswo der Fall ist. Hier befinden wir uns in einer in ihrer Art einzigartigen Werkstatt. Es ist vermutlich eine der letzten in Frankreich, die eine derartige Vielfalt an unterschiedlichsten Materialien besitzt und in der handwerkliches Können in all seinen Facetten praktiziert wird. « Die Revue Féerie wird seit 24 Jahren auf der Bühne gezeigt », erläutert Patricia Berthe, während sie die Paillettenjacke auf ihren Arbeitstisch legt. « Die Kostüme wurden also mit Stoffen und Techniken der damaligen Zeit kreiert. Selbstverständlich werden sie regelmäßig erneuert, jedes Kostüm im Durchschnitt alle fünf Jahre, je nach Zustand und Abnutzung. Oft werden die Originalstoffe gar nicht mehr hergestellt, und auch den Originalstrass gibt es nicht mehr. Unsere Arbeit besteht darin, dem Publikum den Eindruck zu vermitteln, die Kostüme auf der Bühne seien dieselben wie vor 24 Jahren. Wir bleiben der ursprünglichen Kreation treu, das macht den Erfolg von Féerie aus. Daher haben wir auch ein ungeheuer großes Lager mit Resten der Originalmaterialien, die wir entweder noch hatten oder die wir irgendwo auf der Welt ergattern konnten. Das geht von riesigen Stoffballen bis hin zu kleinen, unverzichtbaren Artikeln wie Knöpfen. Und all das zu verwalten, ist eine organisatorische Meisterleistung! » Frankreich erleben · <strong>Sommer</strong> <strong>2024</strong> · 59