Nr. 91 - Sommer 2024

UNTERWEGS IN FRANKREICH Nouvelle-Aquitaine / Charente-Maritime
Im Land, wo die
Stockrosen das Sagen haben
Je näher ich dem Zentrum von Mornac
komme, desto mehr wird mir klar, wie sehr
hier bereits eine maritime Atmosphäre herrscht,
obwohl der Ort noch zwanzig Kilometer von
der Atlantikküste entfernt ist. Die Möwen, die
am Himmel immer wieder über mich hinwegfliegen,
sind gut an ihrem charakteristischen
Gekreische zu erkennen. Doch darüber hinaus
tragen noch andere Dinge zu diesem Eindruck
bei. Die Fensterläden und Türen der Häuser
sind in harmonisch aufeinander abgestimmten
Pastelltönen gestrichenen, wie sie typisch für
die Charente-Maritime sind, vor allem je mehr
man sich dem Ozean nähert. Zudem wachsen
hier die symbolträchtigen Blumen der Region:
Stockrosen. Mit ihrem hohen, grafischen
Wuchs und den bunten Farben sind sie ein wahrer
Augenschmaus, der bekanntlich viele Maler,
Zeichner und Fotografen inspirierte. Es dauert
nicht lange, bis mir klar wird, dass sie hier offenbar
ein Teil des Kulturerbes sind. Ich bin gerade
dabei, eine dieser Blumen zu fotografieren, die
sich elegant vor einem Haus gen Himmel reckt,
als der Hausbesitzer herauskommt. Sichtlich
erfreut, dass seine Blume im Zentrum meiner
Aufmerksamkeit steht, bedeutet er mir, mich
nicht stören zu lassen, und erzählt mir gleichzeitig
eine originelle Anekdote: Nicht weit von
hier, genauer gesagt im Dorf Ars-en-Ré auf der
Île de Ré, fand vor einigen Jahren eine Art « populäre
Revolte » statt, bei der die Bevölkerung
für die Verteidigung von Stockrosen auf die
Barrikaden ging. Ein neuer Bewohner des Ortes
war gerade im Begriff, sein Haus zu renovieren,
und hatte dabei die schlechte Idee, eine Trockensteinmauer
einzureißen, die sein Grundstück
eingrenzte. Das war zwar juristisch gesehen
absolut legal, doch auf der zur Straße hin
gelegenen Seite der bewussten Mauer wuchsen
zur Freude der Menschen schon immer Stockrosen.
Insofern dauerte es nicht lange, bis die
Einwohner ihren Unmut kundtaten. Angesichts
des Drucks der Öffentlichkeit und der Medien
ließ der Mann schließlich die Mauer wieder
rekonstruieren und erneut Stockrosen pflanzen.
Im Jahr darauf musste er zugeben, dass es letzten
Endes eine gute Entscheidung gewesen war.
Zum Abschluss machte mein Gesprächspartner
noch lächelnd die scherzhafte Bemerkung:
« Das zeigt, dass man sich hier in Acht nehmen
muss, manchmal haben Stockrosen das Sagen! »
40 · Frankreich erleben · Sommer 2024