Nr. 91 - Sommer 2024

ON REGARDE
COMEDY-DRAMA
Suspended
Time
Während der
Coronaviruskrise
im Frühjahr 2020
ziehen sich der
Regisseur Étienne
(Micha Lescot) und
sein Bruder, der
Musikjournalist
Paul (Vincent
Macaigne), beim Lockdown in das Haus auf
dem Land zurück, in dem sie ihre Kindheit
verbrachten. Mit dabei sind ihre neuen
Lebensgefährtinnen Morgane (Nine d’Urso)
und Carole (Nora Hamzawi). Neben der Freude
über das durch die Pandemie ausgelöste
Zusammensein entdecken die Brüder jedoch
auch bislang unbekannte Seiten des anderen
... Der Regisseur Olivier Assayas gibt mit
diesem Film – der im Übrigen bei der letzten
Berlinale für den Goldenen Bären nominiert
war – mehr denn je von sich preis, denn er hat
diese Situation während der Ausgangssperre
selbst erlebt. Obwohl er eher für Filme mit
hohem Budget und mit internationalen Stars
wie Penelope Cruz oder Maggie Cheung
bekannt ist, bereitete es ihm offensichtlich
ein großes Vergnügen, in diesem Fall mit
bescheideneren Mitteln und in seinem eigenen
Elternhaus zu drehen. Die Bedingungen des
Lockdowns sind zwar sehr komfortabel und
mit etwas Abstand betrachtet, erscheinen
gewisse hypochondrische Züge und
Putzbesessenheiten nichts Neues, dennoch
berührt der Film, da es ihm gelingt, ein
sehr intimes und einfühlsames Porträt der
beiden Brüder zu zeichnen. Man spürt, dass
die lustigen Kindheitserinnerungen nur eine
Fassade sind, die darüber hinwegtäuschen
soll, wie schwer es ihnen fällt, über die
wichtigen Dinge im Leben – vor allem über
ihre Partnerinnen – zu reden. Nach und nach
stellt sich eine gewisse Melancholie ein. Das ist
bewegend und sehr persönlich. Assayas hat ins
Schwarze getroffen!
Suspended Time Frankreich 2024, 1 Std. 45
Min. • Originaltitel: Hors du temps • Ein Film von
Olivier Assayas, mit Vincent Macaigne, Micha
Lescot, Nine D’Urso, Nora Hamzawi, Maud
Wyler u. a. • Kinostart am 19. Juni 2024.
DRAMA
Das Zimmer der Wunder
Das ruhige Leben von Thelma (Alexandra Lamy)
nimmt eine tragische Wendung, als ihr 12-jähriger
Sohn Louis (Hugo Questel) nach einem Unfall im
Koma liegt. Sie ist entschlossen, ihn ins Leben
zurückzuholen, koste es, was es wolle. Daher stürzt
sie sich in das verrückte Abenteuer, die « 10 Dinge,
die man tun sollte, bevor die Welt untergeht »
abzuarbeiten, die Louis in seinem Tagebuch notiert
hat. Auf diese Weise will sie ihm zeigen, wie schön das Leben sein kann. Doch
diese Reise, von der ihr Sohn geträumt hat, führt sie viel weiter, als sie sich
vorstellen konnte. Sie führt so weit, dass sie selbst wieder Lust am Leben
verspürt. Die gleichnamige Buchvorlage für diesen Film stammt von Julien
Sandrel und ist sehr berührend. Beim Penguin-Verlag ist nun anlässlich des
Filmstarts die deutsche Fassung als E-Book verfügbar (Übersetzung Claudia
Marquardt, 7,99 €, EAN 978-3641235611). Lisa Azuelos bleibt zwar der Vorlage
treu, doch die Magie des Kinos und ihre einfühlsame Inszenierung voller
Überraschungen verstärken die positive Wirkung noch. Am Ende verlässt
man das Kino glücklich und hat mehr denn je Lust, jede Minute des Lebens
auszukosten!
Das Zimmer der Wunder Frankreich, 2023, 1 Std. 39 Min. • Originaltitel:
La Chambre des merveilles • Ein Film von Lisa Azuelos, mit Alexandra
Lamy, Muriel Robin, Hugo Questel u. a. • Kinostart am 16. Mai 2024
COMEDY-DRAMA
Die Gleichung ihres Lebens
Marguerite (perfekt verkörpert von
Ella Rumpf, die für diese Rolle den
César als weibliche Entdeckung
2024 erhielt) ist eine brillante
Mathematikstudentin an einer renommierten französischen Hochschule. Ihr
Leben scheint vorgezeichnet zu sein. Sie ist die einzige weibliche Absolventin
ihres Jahrgangs und hat gerade ihre Doktorarbeit beendet, die sie vor einem
Forschergremium präsentieren muss. Doch am Tag X stellt ein Fehler ihr
ganzes Leben auf den Kopf. Marguerite beschließt, alles hinter sich zu lassen
und noch einmal neu anzufangen. Anna Novion ist mit diesem originellen
und sehr persönlichen Film der Spagat zwischen « Wissenschaftsthriller »,
« mathematischer Romanze » und dem Porträt einer anziehenden jungen
Frau gelungen. Die Regisseurin musste als Zwanzigjährige krankheitsbedingt
sechs Monate von der Außenwelt abgeschieden verbringen. Nach ihrer
Genesung spürte sie eine Diskrepanz zwischen sich und Gleichaltrigen.
Durch die Fragen, die sich die zwar sehr selbstsichere, gleichzeitig aber auch
sehr unsichere und lange Zeit ausschließlich auf ihr Mathematikstudium
fokussierte Heldin des Films stellt, analysiert Anna Novion dieses Gefühl
der Distanz gegenüber der Welt und anderen Menschen. Ein Film, der
nachdenklich macht, der aber auch die Mathematik von einer sehr
menschlichen – vielleicht sogar poetischen – Seite zeigt.
Die Gleichung ihres Lebens Frankreich, Schweiz, 2023, 1 Std. 52 Min. • Originaltitel:
Le théorème de Marguerite • Ein Film von Anna Novion, mit Ella Rumpf, Jean-Pierre
Darroussin, Clotilde Courau, Julien Frison, Sonia Bonny u. a. • Kinostart am 27. Juni 2024.
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