05 / 2024
Die Fachzeitschrift ORTHOPÄDIE TECHNIK ist die maßgebliche Publikation für das OT-Handwerk und ein wichtiger Kompass für die gesamte Hilfsmittelbranche.
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Aurora-Projekt: Ukrainische Fachkräfte<br />
schätzen „German Gründlichkeit“<br />
Seit November 2023 werden an fünf BG-Kliniken sowie<br />
an der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH)<br />
Ärzt:innen und Therapeut:innen aus der Ukraine fortgebildet.<br />
Im Gespräch mit der OT-Redaktion berichtet<br />
Dr. med. Sebastian Benner, Sektionsleiter Technische<br />
Orthopädie, Leitender Oberarzt BG Service- und Rehabilitationszentrum<br />
sowie Facharzt für Orthopädie und<br />
Unfallchirurgie an der BG Unfallklinik Frankfurt am<br />
Main, inwiefern die ukrainischen Fachkräfte von der<br />
Hospitation profitieren und welchen Nutzen die deutschen<br />
Kolleg:innen im Gegenzug haben. Über das Aurora-Projekt<br />
informiert Benner im OTWorld-Kongress<br />
innerhalb des Symposiums „Hilfsmittelversorgung im<br />
Krisengebiet: Was sind die Herausforderungen?“ am<br />
Donnerstag, 16. Mai.<br />
OT: Zehntausende Soldat:innen und Zivilist:innen wurden<br />
seit Beginn des Angriffskriegs Russlands auf die Ukraine<br />
verletzt. Es liegt auf der Hand, dass der Bedarf an Versorgungen<br />
seitdem enorm steigt. Inwiefern soll das Aurora-Projekt hier<br />
unterstützen?<br />
Sebastian Benner: Der Bedarf akutchirurgischer Versorgungen<br />
ist immens, wobei vor allem die langwierigen Verläufe<br />
nach Schusswunden oder Explosionen mit ausgedehnten<br />
Verletzungen der Extremitäten sowie Weichteilund<br />
Knocheninfekten eine Herausforderung darstellen.<br />
Oftmals ist ein Erhalten der Extremitäten nicht möglich<br />
und eine Amputation mit entsprechender Prothesenversorgung<br />
unumgänglich.<br />
Das Aurora-Projekt zielt auf die Schulung und den Austausch<br />
zwischen dem ukrainischen und deutschen medizinischen<br />
Personal ab. Dabei hospitieren seit November 2023<br />
insgesamt 72 Ärzte und Therapeuten in Kleingruppen für<br />
den Zeitraum eines Monats in insgesamt fünf BG-Kliniken<br />
und der Medizinischen Hochschule Hannover. Durch die<br />
hohe Expertise und die Multidisziplinarität der Berufsgenossenschaftlichen<br />
Unfallkliniken gelingt es, einen guten<br />
Überblick in den Bereichen Traumachirurgie, Septischeund<br />
Hand-/Plastische Chirurgie, aber auch der Fuß-, Sportund<br />
Wirbelsäulenchirurgie zu vermitteln. Einen großen<br />
Stellenwert nimmt aber vor allem die Rehabilitation und<br />
Prothesenversorgung von Amputierten ein. Dabei rotieren<br />
die Hospitanten durch die stationäre und ambulante Rehabilitationsabteilung<br />
der BG-Kliniken sowie die Sektion für<br />
Technische Orthopädie und die an die Klinik angegliederte<br />
Orthopädiewerkstatt.<br />
OT: In welchen Bereichen bestehen Wissenslücken bei den<br />
Fachkräften?<br />
Benner: Wir sehen uns als gleichgestellt und auf einer Ebene,<br />
weshalb ich nicht von Wissenslücken sprechen würde.<br />
Dennoch profitieren gerade die „jüngeren“ Chirurgen<br />
davon, komplexe Operationen mitzubegleiten, ohne<br />
den Druck einer Kriegssituation zu verspüren. Ich erinnere<br />
mich aber auch an die Rückmeldung eines älteren und<br />
erfahrenen Unfallchirurgen aus der Ukraine, welcher die<br />
„German Gründlichkeit“ hervorhob und für sich den Vorteil<br />
darin sah, kleinere, aber hilfreiche Unterschiede in<br />
einzelnen Operationsschritten aus Deutschland kennengelernt<br />
zu haben. Auch strukturelle Abläufe unseres Krankenhauses<br />
sind von großem Interesse.<br />
OT: Wie versucht „Aurora“ diese Lücken zu schließen?<br />
Benner: Wir geben unseren Gästen die Möglichkeit, ihre<br />
vierwöchige Hospitation so individuell zu gestalten, wie<br />
sie es wünschen. Aus diesem Grund wird meist tagesaktuell<br />
entschieden, in welcher Fachabteilung sie hospitieren<br />
möchten, um der für sie interessantesten Operation oder<br />
Therapie beizuwohnen. Genauso wichtig ist aber auch,<br />
dass Zeit zum „Durchatmen“ bleibt und zum Beispiel das<br />
Wochenende für einen Kurztrip innerhalb Deutschlands<br />
genutzt wird.<br />
OT: Essenziell sind nach einer Amputation und<br />
anderen kriegsbedingten operativen Eingriffen die<br />
orthopädietechnische Versorgung und Rehabilitation.<br />
Inwiefern unterscheiden sich die Strukturen bezüglich<br />
der Versorgung und die Begleitung der Patient:innen<br />
in der Ukraine von der in Deutschland?<br />
Benner: Ein sicher großer Unterschied liegt darin, dass der<br />
Beruf des ukrainischen „Prothesisten“ in seiner Wertigkeit<br />
nicht mit dem Ausbildungsberuf des deutschen Orthopädietechnikers<br />
zu vergleichen ist. Hinzu kommt die<br />
Problematik, dass bei rasant gestiegenem Bedarf nicht genügend<br />
Fachpersonal zur Prothesenversorgung zur Verfügung<br />
steht. Auch ein flächendeckendes Netzwerk an Orthopädietechnikern,<br />
wie wir es in Deutschland kennen,<br />
gab und gibt es in der Ukraine bisher nicht. Die Rehabilitation<br />
nach Amputation mit täglicher Prothesengehschule,<br />
wie wir dies vor allem aus der Welt der Arbeitsunfälle in<br />
BG-Kliniken kennen, war bisher in der Ukraine ebenfalls<br />
nicht existent.<br />
OT: Das beste Wissen nützt wenig, wenn die notwendigen<br />
Gegebenheiten und Ressourcen nicht zur Verfügung stehen.<br />
Kann das, was in Deutschland gelernt wird, dennoch auf die<br />
Arbeitsabläufe in der Ukraine übertragen werden?<br />
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ORTHOPÄDIE TECHNIK <strong>05</strong>/24