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05 / 2024

Die Fachzeitschrift ORTHOPÄDIE TECHNIK ist die maßgebliche Publikation für das OT-Handwerk und ein wichtiger Kompass für die gesamte Hilfsmittelbranche.

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Dank René Schaar zog im vergangenen Jahr<br />

mit Elin die erste Bewohnerin im Rollstuhl<br />

in die ARD-Serie „Sesamstraße“ ein.<br />

feiert worden. Menschen aus Lateinamerika haben sich<br />

über die Figuren mit krausen Haaren und dunkler Hautfarbe<br />

in „Encanto“ gefreut, weil sie sich hier endlich repräsentiert<br />

sehen. Oft wird Behinderung nur beiläufig erwähnt<br />

beziehungsweise gezeigt, oder aber es wird – wie bei Nemo<br />

– ein wichtiges Thema angesprochen. Das, was Nemo im<br />

Meer erlebt, findet oft in der Gesellschaft statt. Eltern wollen<br />

ihre behinderten Kinder am liebsten in Watte packen<br />

und beschützen. Die Kinder müssen sich im wahrsten<br />

Sinne des Wortes freischwimmen und emanzipieren. Für<br />

mich persönlich ist das wirklich ein sehr schöner und gelungener<br />

Film. Welche Rolle ich am coolsten finde, ist die<br />

von Maya Lopez in „Hawkeye“, gespielt von Alaqua Cox.<br />

Auf Disney-Plus hat sie mit „Echo“ jetzt eine eigene Spinoff-Serie<br />

bekommen. Sie ist eine Frau, indigen, gehörlos<br />

und trägt eine Beinprothese. Was mir auch gefällt: Sie ist<br />

erst eine Bösewichtin, die dann aber zu einer Vertrauten<br />

wird, also ein sehr komplexer Charakter, der eine Entwicklung<br />

durchmacht. In der Netflix-Serie „Sex Education“ sind<br />

neben zwei behinderten Hauptcharakteren – eine Figur ist<br />

taub, eine andere im Rollstuhl unterwegs – auch eine Reihe<br />

von behinderten Statist:innen im Hintergrund zu sehen.<br />

Das ist normal an immer mehr Regelschulen und normal<br />

in Serien. Doch leider ist es noch immer eine Seltenheit,<br />

dass behinderte Rollen auch von behinderten Menschen<br />

gespielt werden.<br />

OT: Damit sprechen Sie ein großes Diskussionsthema an. Dürfen<br />

nicht behinderte Menschen behinderte Menschen spielen?<br />

Schaar: Ich mache gerne den Vergleich zu Blackfacing. Früher<br />

haben sich weiße Menschen schwarz angemalt und so<br />

getan, als wären sie schwarze Personen. Kann man machen,<br />

ist halt trotzdem scheiße. Ich traue Schauspieler:innen viel<br />

zu. Aber gelebte Diskriminierungserfahrungen haben einen<br />

sehr hohen und nicht zu unterschätzenden Wert. Die<br />

können Menschen aus eigener Betroffenheit in die Rolle<br />

einfließen lassen. Ich habe in London kürzlich das Musical<br />

„The Little Big Things“ gesehen, das die Geschichte des<br />

Autors Henry Fraser erzählt. Infolge eines Badeunfalls ist er<br />

seit seinem 17. Lebensjahr querschnittgelähmt. Das Musical<br />

behandelt, was der Unfall für die Familie bedeutet, welchen<br />

Einfluss er auf Freundschaften hat und den eigenen<br />

Selbstwert. Das war ein toller Abend mit grandioser Musik.<br />

Foto: NDR / Thorsten Jander<br />

Und gleichzeitig habe ich mich selten so gesehen gefühlt.<br />

Die behinderten Rollen wurden von behinderten Menschen<br />

gespielt und teilweise wurden die nicht behinderten<br />

Rollen von Menschen mit Behinderung gespielt. Die Behinderung<br />

hat in dem Fall gar keine Bedeutung gehabt. Es<br />

war eine Mischung aus authentischer Repräsentation und<br />

gleichzeitiger Beiläufigkeit. Da waren verzweifelte, tieftraurige,<br />

auch teilweise suizidale Momente dabei, die aber<br />

von Humor und Leichtigkeit unterbrochen wurden. Und<br />

diese Gratwanderung schafft man nur, wenn Menschen<br />

aus eigener Betroffenheit heraus an dem Drehbuch mitschreiben<br />

und mitspielen.<br />

Betroffene ins Boot holen<br />

OT: Kann es auch ein „zu viel“ an Diversität geben?<br />

Schaar: Eine Sorge, die ich von Redaktionen kenne, ist,<br />

dass wir unsere Zuschauer:innen nicht überfordern dürfen.<br />

Diese Sorge teile ich gar nicht, denn Vielfalt spiegelt<br />

doch die Lebensrealität wider. Also warum sollte ich mich<br />

daran nicht orientieren und diese Realität darstellen? Und<br />

gleichzeitig verstehe ich, woher der Widerstand kommt.<br />

Über Jahrzehnte haben wir Programm für einen bestimmten<br />

Typ Mensch gemacht. Jetzt befinden wir uns in einem<br />

Umgewöhnungsprozess. Die erste Reaktion ist Ablehnung<br />

und Kritik. Man muss aber verstehen, dass es nicht darum<br />

geht, etwas wegzunehmen, sondern darum, etwas zu ergänzen,<br />

was bisher fehlte.<br />

Eine Sache kann helfen, um nicht „übers Ziel hinauszuschießen“:<br />

Wenn das Know-how in der bestehenden<br />

Belegschaft nicht vorhanden ist, holt die Leute, die es<br />

betrifft, mit ins Boot, und zwar zum frühestmöglichen<br />

Zeitpunkt, also beim Schreiben des Drehbuchs, beim<br />

Entwickeln eines neuen Produkts oder beim Programmieren<br />

einer neuen Internetseite. Egal ob in Form von<br />

Beratungsunternehmen, Selbstvertretungsvereinen oder<br />

Influencer:innen.<br />

OT: Wie divers ist die internationale Medienlandschaft?<br />

Gibt es Vorreiter?<br />

Schaar: Ich stelle immer wieder fest, dass wichtige Impulse<br />

aus dem englischsprachigen Raum kommen.<br />

OT: Können Sie sich erklären, warum?<br />

Schaar: Ich habe eine Theorie. Ich glaube, das Zusammenleben<br />

ist dort selbstverständlicher. In Deutschland hingegen<br />

herrschen nach wie vor bestimmte Stereotype über<br />

Menschen mit Behinderungen vor. Wir leben in einer Leistungsgesellschaft,<br />

machen den Selbstwert von der individuellen<br />

Produktivität abhängig, und wer angeblich nichts<br />

beitragen kann, der hat es nicht oder weniger verdient, ein<br />

Teil dieser Gesellschaft zu sein. Dieses Denken hat sich in<br />

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ORTHOPÄDIE TECHNIK <strong>05</strong>/24

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