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05 / 2024

Die Fachzeitschrift ORTHOPÄDIE TECHNIK ist die maßgebliche Publikation für das OT-Handwerk und ein wichtiger Kompass für die gesamte Hilfsmittelbranche.

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Info<br />

Sicherheit einen Rollator bekommen sollte und ihre größte<br />

Sorge war: Was sollen die Nachbarn denken?<br />

Es gibt aber auch andere Beispiele, die zeigen, dass sich<br />

sehr wohl etwas tut. Früher sollten Prothesen immer hautfarben<br />

sein und möglichst wenig auffallen. Heute wollen<br />

viele Patienten keine Kosmetik haben und wenn, dann<br />

eine knallbunte. Sie sagen: Ich stehe dazu. Und jeder soll<br />

das sehen.<br />

Was man außerdem nicht aus den Augen verlieren sollte:<br />

Manchmal ist es für die Eltern wichtiger, dass ihr Kind<br />

eine Prothese bekommt, als für das Kind selbst. Oft fließen<br />

die Tränen, wenn sie ihr Kind mit Prothese sehen. Zum<br />

ersten Mal ist ihr Kind „komplett“. Das berührt, zeigt aber<br />

auch, dass man von Anfang an aufklären und deutlich machen<br />

muss, dass es darum geht, was das Kind möchte.<br />

OT: Wie gehen Sie dabei vor? Wie gelingt es Ihnen, die Eltern<br />

zu erreichen?<br />

Hannen: Ich bin ein Freund von offener und ehrlicher<br />

Kommunikation und versuche, die Gespräche mit Ruhe zu<br />

führen. Ich sage in jedem Beratungsgespräch, dass es nicht<br />

darum geht, dass das Kind die Prothese jeden Tag stundenlang<br />

trägt. Es reicht, wenn es sie für bestimmte Tätigkeiten<br />

nutzt. Eltern sollten keinen Druck machen, sondern unterstützen.<br />

Die Kinder müssen den Mehrwert selbst erkennen<br />

und das gelingt am besten spielerisch. Manche Eltern stecken<br />

die Ziele viel zu hoch, gehen davon aus, dass die Prothese<br />

eine gesunde Hand mit all ihren Funktionen ersetzen<br />

kann. Deswegen finde ich es wichtig, von Anfang an aufzuzeigen,<br />

was möglich ist und was nicht. Wir können viel,<br />

die Technik kann viel, aber nicht alles.<br />

Ergo- und physiotherapeutische<br />

Begleitung<br />

OT: Mit einer Prothese gut umgehen zu können, erfordert auch<br />

Übung. Wie kam Niklas bei der ersten Anprobe zurecht?<br />

Hannen: Das ging schnell. Niklas hat nicht mal eine Stunde<br />

gebraucht, um die Prothese komplett bedienen zu können.<br />

Ich finde es wichtig – und zwar bei allen armprothetischen<br />

Versorgungen –, dass insbesondere Kinder ergo- und<br />

physiotherapeutisch begleitet werden. Physiotherapeuten<br />

sollten von Anfang an darauf achten, dass die Kinder die<br />

richtige Haltung einnehmen. Ansonsten entstehen Fehler,<br />

wie bei einem schlechten Gangbild auch, die man nur<br />

schwer wieder beheben kann. Ergotherapeuten haben die<br />

Aufgabe, die Übungen mit der Prothese spielerisch zu gestalten.<br />

Wir Orthopädietechniker sind während dieses Prozesses<br />

auch gefordert, da die Prothese immer wieder passend<br />

eingestellt werden muss. Am Anfang stellt man die<br />

Elektroden relativ großzügig ein, damit die Bewegungen<br />

recht schnell verstanden und ausgeführt werden können.<br />

Der Nachteil ist aber, dass es dadurch ungewollt zu Fehlsteuerungen<br />

kommen kann. Der Muskel gibt bereits bei<br />

kleiner Anspannung ein Signal und die Prothese führt eine<br />

ungewollte Bewegung aus. Unsere Aufgabe ist es, die Elektroden<br />

immer wieder zu justieren und somit ein gezieltes<br />

Greifen bzw. Ansteuern zu ermöglichen. Bei Open Bionics<br />

lassen sich solche Einstellungen über eine App vornehmen,<br />

bei anderen Handsystemen funktioniert das über die Steuerungsprogramme<br />

am Laptop sowie an der Elektrode.<br />

OT: Hat die Krankenkasse die Kosten problemlos übernommen?<br />

Hannen: Ich hatte als erstes die Vincent-Young-Hand eingereicht,<br />

weil ich zu diesem Zeitpunkt den Hero Arm noch<br />

nicht kannte. Weil sie Niklas besser gefiel, habe ich dann einen<br />

zweiten Vorschlag gemacht, die Versorgung aber nicht<br />

direkt eingereicht. Ich habe erst mit den Mitarbeitern der<br />

Krankenkasse gesprochen, weil ich wusste, dass ihnen das<br />

Produkt nicht bekannt ist. Ich habe die Funktionen und<br />

Vorteile erläutert und auch den Hersteller darum gebeten,<br />

in Kontakt mit der Krankenkasse zu treten. Probleme gab es<br />

bei der Übernahme dadurch nicht. Die Versorgung wurde<br />

direkt genehmigt.<br />

Back to basics<br />

OT: Die Frage ist ja immer: Was wünscht sich der Patient<br />

bzw. die Patientin? Viele Funktionen oder doch eher ein geringes<br />

Gewicht und eine schnelle Reaktionsgeschwindigkeit?<br />

Ist es denkbar, dass all die Vorteile der aktuell auf dem Markt<br />

erhältlichen Systeme künftig kombiniert werden?<br />

Hannen: Mit Sicherheit. Eine meiner ersten Fragen an Open<br />

Bionics war, ob ich die Komponenten des Systems einzeln<br />

bekommen kann. Denn dann würde genau das passieren,<br />

was Sie ansprechen. Ich könnte die Einzelteile mit anderen<br />

kombinieren. Anscheinend bin ich nicht der einzige Orthopädietechniker,<br />

der danach gefragt hat. Open Bionics<br />

arbeitet daran, diese Option möglich zu machen. Und bestimmt<br />

wird auch der eine oder andere Hersteller auf die<br />

Idee aufmerksam und setzt statt schwerem Titan, Stahl<br />

oder Aluminium auf 3D-druckbaren leichten Kunststoff.<br />

OT: Zwei Jahre sind seit dem letzten Interview vergangen.<br />

Wenn wir uns in zwei Jahren wieder treffen, was hoffen Sie<br />

dann berichten zu können?<br />

Hannen: Ich hoffe, dass es dann deutlich mehr Optionen<br />

für unsere Kleinsten gibt. Und ich hoffe, dass sich viele Hersteller<br />

wieder mehr auf die Basics konzentrieren anstatt auf<br />

Hightech-Prothesen. Ich würde mir außerdem wünschen,<br />

dass die Bürokratie abnimmt und dass die Krankenkassen<br />

uns die Möglichkeit bieten, nicht nur das, was im Hilfsmittelverzeichnis<br />

steht, abzubilden. Unser Beruf ist so vielseitig.<br />

Warum sollten wir uns durch einen Hilfsmittelkatalog einschränken<br />

lassen? Jeder Patient ist anders, es fällt mir schwer<br />

einem Kunden zu erklären, dass er keine Hobbys haben darf,<br />

nur weil eine Sportprothese nicht im Hilfsmittelverzeichnis<br />

aufgeführt ist. Wenn wir den Behinderungsausgleich tatsächlich<br />

schaffen wollen, müssen wir es richtig angehen.<br />

Die Fragen stellte Pia Engelbrecht.<br />

ORTHOPÄDIE TECHNIK <strong>05</strong>/24<br />

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