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frings. Das Misereor-Magazin 1/2024: Ab in den Garten!

Ab in den Garten! Ein Heft über Gemeinschaft, Gewinn und Genuss. www.misereor.de/magazin

Ab in den Garten!
Ein Heft über Gemeinschaft, Gewinn und Genuss.
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<strong>Misereor</strong> und Slow Food<br />

Wir brauchen mehr<br />

Geme<strong>in</strong>schaftsgärten<br />

Sieben L<strong>in</strong><strong>den</strong><br />

<strong>Das</strong> Comeback<br />

des Gemüsegartens<br />

Querbeet <strong>in</strong> Bolivien<br />

Mit Urban Gar<strong>den</strong><strong>in</strong>g<br />

gegen die Armut<br />

<strong>Ab</strong> <strong>in</strong> <strong>den</strong><br />

<strong>Garten</strong>!<br />

E<strong>in</strong> Heft<br />

über Geme<strong>in</strong>schaft,<br />

Gew<strong>in</strong>n und<br />

Genuss


EDITORIAL<br />

INHALT<br />

Vor e<strong>in</strong>iger Zeit stellten Gäste<br />

von <strong>Misereor</strong> aus Kolumbien<br />

bei ihrer Ankunft <strong>in</strong> Deutschland<br />

unmittelbar fest: „Bei euch ist<br />

es recht grün.“ Ob und wie<br />

grün e<strong>in</strong>e Stadt wirkt, ist subjektiv<br />

unterschiedlich. Die Beobachtung<br />

unserer Gäste, die aus ländlichen Regionen<br />

kommen und Teile der Betonlandschaft Bogotás kennen,<br />

unterstreicht <strong>den</strong>noch, wie wichtig kle<strong>in</strong>e Flecken Natur<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Stadt s<strong>in</strong>d. Freizeitgestaltung, Raum für gesundes<br />

Leben, Möglichkeiten der Begegnung, persönliches<br />

Wohlbef<strong>in</strong><strong>den</strong>, e<strong>in</strong> Mehr an Biodiversität und Verständnis<br />

für die Kreisläufe <strong>in</strong> der Natur. Unser <strong>Magaz<strong>in</strong></strong> zeigt,<br />

dass e<strong>in</strong> <strong>Garten</strong> all das se<strong>in</strong> kann: das private Paradies <strong>in</strong><br />

Bran<strong>den</strong>burg, der bio<strong>in</strong>tensive Gemüseanbau im Ökodorf,<br />

der Stadtgarten auf kle<strong>in</strong>stem Raum im bolivianischen<br />

El Alto oder die Corona-Gärten zur Selbstversorgung<br />

<strong>in</strong> Peru oder auf <strong>den</strong> Philipp<strong>in</strong>en.<br />

Foto: Klaus Mellenth<strong>in</strong><br />

LIEBE LESERINNEN<br />

UND LESER!<br />

Gärtnern liegt nicht nur im Trend, es ist zugleich s<strong>in</strong>nvoll.<br />

Der Weltklimarat führt e<strong>in</strong> Drittel der Erderwärmung auf<br />

das aktuelle Ernährungssystem zurück und empfiehlt für<br />

die Zukunft mehr Saisonalität, Regionalität, Vielfalt und<br />

weniger tierische Produkte.<br />

Es ist zu wenig bekannt, wie sehr Gärten das soziale Gefüge<br />

von Geme<strong>in</strong>schaften zum Positiven bee<strong>in</strong>flussen<br />

und Erderwärmung m<strong>in</strong>dern können.<br />

Lassen Sie sich durch dieses <strong>fr<strong>in</strong>gs</strong>-<strong>Magaz<strong>in</strong></strong> mitnehmen<br />

<strong>in</strong> die Gärten unserer Welt, oder nehmen Sie das Heft mit<br />

<strong>in</strong> Ihren <strong>Garten</strong> oder an e<strong>in</strong>en grünen Fleck <strong>in</strong> Ihrer Stadt.<br />

E<strong>in</strong>e erfrischende Lektüre wünscht Ihnen herzlich<br />

Ihr<br />

Pirm<strong>in</strong> Spiegel<br />

<strong>Misereor</strong><br />

GESICHTER DIESER AUSGABE<br />

Seite 2<br />

SCHWERPUNKT:<br />

AB IN DEN GARTEN!<br />

FOTOSTRECKE<br />

Die Welt als <strong>Garten</strong><br />

Seite 4<br />

BRANDENBURG<br />

Kat Menschiks grünes Paradies<br />

Seite 8<br />

GUT ZU WISSEN<br />

Wie e<strong>in</strong> Blumenkasten<br />

die Welt veränderte<br />

Seite 12<br />

BOLIVIEN<br />

Kle<strong>in</strong>e Stadtgärten,<br />

großer Unterschied<br />

Seite 14<br />

SELBSTVERSORGUNG<br />

Gärtnern im Lockdown<br />

Seite 18<br />

SLOW FOOD UND MISEREOR<br />

Gärten und gesunde Ernährung<br />

Seite 22<br />

INFOGRAFIK<br />

Obst- und Gemüsekonsum<br />

Seite 27<br />

FAIRER HANDEL<br />

Glückliche Blumen<br />

Seite 28<br />

Foto Titel: Klaus Mellenth<strong>in</strong><br />

Lebensaufgabe <strong>Garten</strong>: Der Grubber<br />

von Illustrator<strong>in</strong> Kat Menschik kommt<br />

regelmäßig zum E<strong>in</strong>satz.


SIEBEN LINDEN<br />

<strong>Das</strong> Comeback<br />

der Gemüsegärtnerei<br />

Seite 31<br />

HISTORIE<br />

Die Marktgärten von Paris<br />

Seite 35<br />

WEITERDENKEN<br />

Foto: Aldo Pavan via Getty Images<br />

28<br />

Die Nachfrage nach<br />

nachhaltig produzierten<br />

und fair gehandelten<br />

Pflanzen wächst<br />

PHILIPPINEN<br />

Mangobäume für die Zukunft<br />

Seite 36<br />

BERGBAU IN BRASILIEN<br />

Wenn das Wasser verschw<strong>in</strong>det<br />

Seite 39<br />

BILDBAND<br />

Rooted<br />

Grün er<strong>in</strong>nert an zu Hause<br />

Seite 42<br />

MISEREOR IN AKTION<br />

Waldgärten <strong>in</strong> Haiti<br />

Seite 44<br />

Foto: Kathr<strong>in</strong> Harms<br />

31<br />

<strong>Das</strong> Ökodorf Sieben<br />

L<strong>in</strong><strong>den</strong> produziert<br />

e<strong>in</strong>en Großteil se<strong>in</strong>er<br />

Lebensmittel selbst<br />

KOLUMNE<br />

Me<strong>in</strong> Leben<br />

ohne grünen Daumen<br />

Seite 46<br />

RÄTSEL<br />

Wer hat’s gesagt?<br />

Seite 48<br />

IMPRESSUM<br />

Seite 49<br />

Foto: Florian Kopp<br />

39<br />

Die Zerstörung von<br />

Natur- und Lebensraum<br />

<strong>in</strong> Brasilien betrifft<br />

auch die K<strong>in</strong>der<br />

EINS<strong>2024</strong><br />

1


Foto: Silvana Kopp<br />

Foto: Jörg Steck (BFF/DGPh)<br />

Porträt auf Seite 8<br />

und Reportage auf Seite 36<br />

KLAUS MELLENTHIN<br />

Den Fotografen Klaus Mellenth<strong>in</strong> hat der<br />

Besuch im Bran<strong>den</strong>burger <strong>Garten</strong> von<br />

Kat Menschik sehr <strong>in</strong>spiriert und gefreut.<br />

Normalerweise ist der Berl<strong>in</strong>er Wannsee<br />

mit se<strong>in</strong>em Grün und Wasser für ihn e<strong>in</strong><br />

großer Park-<strong>Garten</strong>, <strong>in</strong> <strong>den</strong> er e<strong>in</strong>taucht<br />

und <strong>den</strong> er für se<strong>in</strong>e Erholung nutzt. Se<strong>in</strong><br />

kle<strong>in</strong>es Boot nutzt er wie e<strong>in</strong> schwimmendes<br />

<strong>Garten</strong>haus, <strong>in</strong> dem er von Frühl<strong>in</strong>g<br />

bis Herbst auch mehrmals <strong>in</strong> der Woche<br />

Texte schreibt und über das Leben nach<strong>den</strong>kt.<br />

2<br />

EINS<strong>2024</strong><br />

Fotostory auf Seite 14<br />

und Reportage auf Seite 39<br />

FLORIAN KOPP<br />

Fotograf Florian Kopp lebt mit se<strong>in</strong>er Familie<br />

<strong>in</strong> Brasilien. Dort f<strong>in</strong>det er wie hier<br />

auf e<strong>in</strong>em kle<strong>in</strong>en Hof im atlantischen<br />

Regenwald Brasiliens <strong>in</strong> der Natur Ruhe<br />

und Inspiration. Und dort entstehen viele<br />

se<strong>in</strong>er schönen Bilder. Ebenso gerne<br />

arbeitet er mit Menschen, die gärtnern<br />

und dabei nicht auf Chemie setzen, sondern<br />

natürliche Prozesse und Zusammenhänge<br />

zu nutzen wissen wie die Stadtgärtner<strong>in</strong>nen<br />

<strong>in</strong> Bolivien.


ANNETTE JENSEN<br />

Foto: Klaus Mellenth<strong>in</strong> Foto: Britta Knäbel<br />

Reportage auf Seite 31<br />

<strong>Das</strong>s Pferdemist e<strong>in</strong> hervorragender Dünger<br />

ist, hat Reporter<strong>in</strong> Annette Jensen im<br />

Ökodorf Sieben L<strong>in</strong><strong>den</strong> erlebt. <strong>Das</strong>s auch<br />

menschliche Ausscheidungen wertvolle<br />

Nährstoffe enthalten, gilt dagegen als<br />

Tabu. <strong>Das</strong> will unsere Autor<strong>in</strong><br />

mit ihrem aktuellen Buch<br />

„Holy Shit – der Wert unserer<br />

H<strong>in</strong>terlassenschaften“ ändern.<br />

Dar<strong>in</strong> zeigt Jensen nicht nur,<br />

wie Kanalisation und Kunstdünger<br />

unsere Nahrungsgrundlagen<br />

gefähr<strong>den</strong>, sondern<br />

stellt auch e<strong>in</strong>e hochengagierte<br />

Bewegung vor, die<br />

längst an der Sanitär- und<br />

Nährstoffwende arbeitet.<br />

ULI HAGER<br />

Als K<strong>in</strong>d stibitzte Uli Hager gerne Blumen<br />

aus Nachbars Gärten, um sie ihrer Mutter<br />

zu schenken, selbst Pf<strong>in</strong>gstrosen<br />

waren vor ihr nicht sicher. Heute betreibt<br />

sie <strong>in</strong> Aachen e<strong>in</strong>e Gärtnerei mit lokalem<br />

Schnittblumenanbau und verkauft im angeschlossenen<br />

La<strong>den</strong> Sträuße mit Blumen<br />

vom eigenen Feld. Für diese Ausgabe<br />

hat sich die Gärtner<strong>in</strong> und <strong>Garten</strong>landschaftsplaner<strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>en Bildband über Mikrogärten<br />

<strong>in</strong> Flüchtl<strong>in</strong>gscamps näher angesehen.<br />

Foto: Anna Wawra<br />

Reportage auf Seite 36<br />

CONSTANZE BANDOWSKI<br />

Constanze Bandowski träumt manchmal<br />

von e<strong>in</strong>em unabhängigen Leben auf dem<br />

Land, e<strong>in</strong>em <strong>Garten</strong> mit Permakultur,<br />

Schafen, Solarstrom und e<strong>in</strong>em Brunnen.<br />

Dann fällt ihr aber ihr miserabler grüner<br />

Daumen e<strong>in</strong>. Wenn die Sehnsucht nach<br />

Natur zu groß wird, fährt sie am liebsten<br />

an die Schlei im Nor<strong>den</strong> Schleswig-Holste<strong>in</strong>s<br />

oder e<strong>in</strong>fach an die Elbe. Für das<br />

<strong>fr<strong>in</strong>gs</strong>-<strong>Magaz<strong>in</strong></strong> war sie aber bei <strong>den</strong><br />

Aetas auf <strong>den</strong> Philipp<strong>in</strong>en.<br />

Buchbesprechung auf Seite 42<br />

EINS<strong>2024</strong><br />

3


FOTOSTRECKE<br />

Titelthema:<br />

<strong>Ab</strong> <strong>in</strong> <strong>den</strong><br />

<strong>Garten</strong><br />

UND INS WASSER<br />

Foto: Son Nguyen/iStock.com<br />

Im vietnamesischen Long An im Moc-Hoa-Distrikt ernten<br />

Bäuer<strong>in</strong>nen auf traditionelle Weise Wasserlilien, die <strong>in</strong><br />

<strong>den</strong> zahlreichen Flüssen des Mekongdeltas wachsen. Die<br />

jährliche Flut ist Teil des Lebens im Mekong. Jedes Jahr<br />

während der Regenzeit steigt der Wasserstand der Flüsse<br />

an und lagert auch <strong>in</strong> <strong>den</strong> Wasserlilien-Gärten Schlamm<br />

mit organischem Material an. Gleichzeitig wäscht die Flut<br />

Salz und Düngemittel aus und br<strong>in</strong>gt Plankton und zahlreiche<br />

Fischarten mit sich. Die Wassergärten erreichen<br />

die Frauen mit ihren hölzernen Langbooten. Aus der Luft<br />

betrachtet gleicht die Ernte mit ihren Farben und Gerüchen<br />

e<strong>in</strong>em s<strong>in</strong>nlichen Tanz. Die Wasserlilie ist das Symbol<br />

des Mekongdeltas. Sie wird auf <strong>den</strong> lokalen Märkten<br />

verkauft und <strong>in</strong> der traditionellen Küche verwandt.<br />

4<br />

EINS<strong>2024</strong>


Titelthema:<br />

<strong>Ab</strong> <strong>in</strong> <strong>den</strong><br />

<strong>Garten</strong><br />

UND IN DIE VERTIKALE<br />

<strong>Das</strong> Parkroyal ist e<strong>in</strong> Luxushotel <strong>in</strong> der City von S<strong>in</strong>gapur,<br />

das für se<strong>in</strong>e vertikalen Gärten bekannt ist.<br />

Auf mehr als 15.000 Quadratmetern sprießt im<br />

ganzen Gebäude üppiges Grün. Gleichzeitig setzt<br />

das Hotel auf umweltfreundliche Lösungen von Solaranlagen<br />

bis zum Regenauffangbecken, um weniger<br />

Wasser zu verbrauchen. Die Energie, die das<br />

Parkroyal durch verschie<strong>den</strong>e Maßnahmen e<strong>in</strong>spart,<br />

kann 680 Haushalte e<strong>in</strong> Jahr lang mit Strom<br />

versorgen. <strong>Das</strong> Gebäude ist e<strong>in</strong> Beispiel für <strong>den</strong><br />

Trend <strong>in</strong> Großstädten, mehr nachhaltige, bepflanzte<br />

Gebäude zu schaffen, die das Klima <strong>in</strong> <strong>den</strong><br />

Städten verbessern und die Hitze reduzieren. In<br />

vielen überbevölkerten asiatische Städten bil<strong>den</strong><br />

vertikale Gärten die e<strong>in</strong>zige Möglichkeit, neue<br />

Grünflächen zu schaffen.<br />

Foto: Aad Clemens/iStock.com<br />

EINS<strong>2024</strong><br />

5


Titelthema:<br />

<strong>Ab</strong> <strong>in</strong> <strong>den</strong><br />

<strong>Garten</strong><br />

UND IN DIE GEMEINSCHAFT<br />

10.000 Geme<strong>in</strong>schaftsgärten mit lokalen, frischen<br />

Lebensmitteln zu schaffen, ist das Ziel e<strong>in</strong>er Initiative<br />

„Gärten <strong>in</strong> Afrika“ von Slow Food International,<br />

die es schon seit 2011 gibt. In 35 afrikanischen<br />

Ländern wur<strong>den</strong> bereits für mehr als<br />

50.000 Menschen über 3.600 nachhaltige Nutzgärten<br />

<strong>in</strong> Schulen, Dörfern und an Stadtperipherien<br />

<strong>in</strong>itiiert. Dabei spielt die Wissensvermittlung<br />

zwischen <strong>den</strong> Generationen und die Weitergabe<br />

von traditionellen und überlieferten Techniken<br />

e<strong>in</strong>e wichtige Rolle, um Ernährungssouveränität<br />

und Lebensmittelsicherheit zu fördern und Lösungen<br />

für aktuelle Krisen wie Klimawandel und Biodiversitätsverlust<br />

zu f<strong>in</strong><strong>den</strong>. Zudem wurde e<strong>in</strong> tragfähiges<br />

Slow-Food-Netzwerk aufgebaut, das e<strong>in</strong>en<br />

Wandel <strong>in</strong> <strong>den</strong> lokalen Geme<strong>in</strong>schaften bewirkt.<br />

6<br />

EINS<strong>2024</strong>


Foto: Slow Food<br />

EINS<strong>2024</strong><br />

7


8<br />

EINS<strong>2024</strong>


PORTRÄT<br />

<strong>Das</strong> Paradies liegt <strong>in</strong> Bran<strong>den</strong>burg. Zwischen schnurgera<strong>den</strong> Alleen, ausgedehnten W<strong>in</strong>dparks,<br />

tristen Dörfern und endlosen Feldern bef<strong>in</strong>det es sich gleich h<strong>in</strong>ter e<strong>in</strong>em Feldste<strong>in</strong>haus<br />

aus dem vorletzten Jahrhundert.<br />

Text von Michael Mondry<br />

Fotos von Klaus Mellenth<strong>in</strong><br />

H<strong>in</strong>term Haus kniet Kat Menschik als leuchtender<br />

Farbfleck mit rosa Latzhose und gelbem T-Shirt <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>em ihrer Tomatenbeete und b<strong>in</strong>det die schweren,<br />

violett-farbigen Früchte hoch. Die Tomate nimmt unbestritten<br />

e<strong>in</strong>e Sonderrolle im Leben der Berl<strong>in</strong>er Illustrator<strong>in</strong><br />

und Künstler<strong>in</strong> e<strong>in</strong>, ebenso wie ihr 4.000 Quadratmeter<br />

großer <strong>Garten</strong>, der tägliche Arbeitsstelle, geteilter Lebensraum,<br />

regenerierender Rückzugsort, aber auch andauernde<br />

Quelle der Freude und Inspiration ist. „Für mich und me<strong>in</strong>en<br />

Mann ist unser <strong>Garten</strong> so e<strong>in</strong>e Art Lebensaufgabe gewor<strong>den</strong>.<br />

Wir wollen der Natur mit dem Land, was wir<br />

haben, etwas zurückgeben.<br />

Deshalb nennen wir unseren<br />

<strong>Garten</strong> immer die Bio-Insel<br />

„Vielleicht ist<br />

und versuchen, wirklich alles<br />

im S<strong>in</strong>ne der Natur für<br />

ja der S<strong>in</strong>n des<br />

die Tiere, für die Biodiversität<br />

zu gestalten.“<br />

Ganzen, dass e<strong>in</strong><br />

In der chaotisch-überbor<strong>den</strong><strong>den</strong><br />

Vielfalt der Blumen-<br />

<strong>Garten</strong> e<strong>in</strong>fach<br />

beete nach dem heimlichen<br />

glücklich macht.“<br />

Motto „Mehr ist mehr“ spiegelt<br />

sich das <strong>in</strong> allen Ecken<br />

wider. Erkennbar ist aber<br />

auch die Liebe zu Sichtachsen und e<strong>in</strong>er <strong>Garten</strong>-Ästhetik,<br />

die das Zufällige beherrschbar macht. In <strong>den</strong> letzten 20 Jahren<br />

ist so mit Hilfe von „Learn<strong>in</strong>g by Do<strong>in</strong>g“ und zahlreichen<br />

Internet-Tutorials e<strong>in</strong> Permakultur-<strong>Garten</strong> entstan<strong>den</strong>,<br />

der ohne Umgraben, ohne Düngung, nur mit Mulchen auskommt.<br />

Für Kat Menschik, die sich selber als echtes Stadtk<strong>in</strong>d<br />

bezeichnet und mitten <strong>in</strong> Prenzlauer Berg aufgewachsen<br />

ist, war es immer e<strong>in</strong> Traum, e<strong>in</strong> altes Bauernhaus zu<br />

kaufen, um es sanieren zu können. <strong>Das</strong>s um das Haus auch<br />

Viele Produkte<br />

aus der Natur s<strong>in</strong>d<br />

Quelle der Inspiration:<br />

Zahlreiche<br />

Details aus dem<br />

<strong>Garten</strong> tauchen <strong>in</strong><br />

<strong>den</strong> Illustrationen<br />

wieder auf<br />

Der Frühsommer, wenn<br />

die Tulpen und der Flieder<br />

blühen, ist die Liebl<strong>in</strong>gsjahreszeit<br />

von Kat Menschik<br />

e<strong>in</strong> <strong>Garten</strong> lag, „wurde mir erst schmerzhaft bewusst, als<br />

ich vor der Aufgabe stand, 4.000 Quadratmeter Wiese runtersensen<br />

zu müssen“, er<strong>in</strong>nert sie sich. „Schon während<br />

der Umbauarbeiten am Haus habe ich so e<strong>in</strong> kle<strong>in</strong>es Gewürz-,<br />

Kräuter- und Blumenbeet angelegt und wurde<br />

immer dafür ausgelacht, wie man auf e<strong>in</strong>er riesigen Baustelle<br />

e<strong>in</strong> Blumenbeet anlegen kann.“ E<strong>in</strong>e kle<strong>in</strong>e Ecke zu<br />

haben, um e<strong>in</strong>fach e<strong>in</strong>en Kaffee zu tr<strong>in</strong>ken, hat sie aber<br />

schon damals genossen. „Und das ist ja vielleicht der S<strong>in</strong>n<br />

des Ganzen, dass e<strong>in</strong> <strong>Garten</strong> e<strong>in</strong>fach glücklich macht.“<br />

Der Zopf aus Knoblauchknollen, die blaue, verwitterte<br />

Bank mit der Aufschrift „Dumme rennen, Kluge warten, Weise<br />

gehen <strong>in</strong> <strong>den</strong> <strong>Garten</strong>“, der Dachbalken mit alten Hirschgeweihen<br />

und Probedrucken <strong>in</strong> der Keramik-Werkstatt:<br />

Alles wird weiterverwendet, kreativ umgestaltet und bekommt<br />

se<strong>in</strong>e eigene Aufwertung. Dabei behält die Natur<br />

viel Raum, es herrscht e<strong>in</strong>e zwanglose Ästhetik, die <strong>den</strong><br />

EINS<strong>2024</strong><br />

9


„Schon der Gedanke<br />

an Pläne<br />

zieht mir die<br />

Schuhe aus vor<br />

Langeweile.“<br />

Blick für Details erkennen lässt. Jedes Jahr wird e<strong>in</strong> neues<br />

<strong>Garten</strong>projekt begonnen, so s<strong>in</strong>d nach und nach der<br />

Schwimmteich, die Sauna und zuletzt der Pavillon und der<br />

Geräteschuppen „Im Paradies“ dazugekommen. In jedem<br />

W<strong>in</strong>kel atmen Haus und <strong>Garten</strong> die Lebensweise ihrer jetzigen<br />

Besitzer*<strong>in</strong>nen, aber auch die Geschichte längst weitergezogener<br />

Bewohner*<strong>in</strong>nen: Secondhand-<strong>Garten</strong>stühle, Kissen<br />

und Leuchten erzählen von Flohmarktbesuchen und<br />

der Lust aufs Recyceln; auf der Ziegelwand des alten Schobers<br />

ist e<strong>in</strong>e uralte, unbeholfene Zeichnung e<strong>in</strong>es unbekannten<br />

Bauern mit Mistgabel erhalten, die Keramiktöpfe<br />

haben das Moos von vielen <strong>Garten</strong>jahren angesetzt.<br />

Kat Menschik sitzt mittlerweile an ihrer Töpferscheibe.<br />

Ihre Werkstatt ist <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em der historischen Schober untergebracht.<br />

Die Künstler<strong>in</strong> stellt hier ihre Schmuckserie aus<br />

Porzellan her oder auch unverkäufliche kle<strong>in</strong>e Zierbecher<br />

für die Geburtstage ihren Freund<strong>in</strong>nen und Freunde, alles<br />

<strong>in</strong> Handarbeit und mit <strong>in</strong>dividuellen Motiven. Der Wechsel<br />

zwischen <strong>Garten</strong>pflege, Töpferei und natürlich der Arbeit<br />

an ihren Illustrationen geschieht dabei je nach Stimmung<br />

10 EINS<strong>2024</strong><br />

<strong>Garten</strong>-Projekt<br />

während der Corona-Zeit:<br />

<strong>den</strong> Geräteschuppen hat Kat<br />

Menschik sorgfältig bemalt<br />

und Tagesform. „Ich weiß auch nicht, was bei<br />

mir da irgendwie falsch läuft, aber ich kann<br />

ke<strong>in</strong>e Pläne machen. Schon der Gedanke daran<br />

zieht mir die Schuhe aus vor Langeweile.“ Gibt<br />

es hier Parallelen zwischen der Lebense<strong>in</strong>stellung<br />

von Kat Menschik und ihrem <strong>Garten</strong>, <strong>den</strong><br />

sie <strong>in</strong> ihrem Buch „Der gol<strong>den</strong>e Grubber“ als<br />

„Freigeist mit starkem Charakter“ beschreibt?<br />

Aufgewachsen <strong>in</strong> Ostberl<strong>in</strong> verbr<strong>in</strong>gt Kat Menschik<br />

ihre Jugend <strong>in</strong> <strong>den</strong> 80er Jahren <strong>in</strong> der DDR,<br />

mit der es, wie sie sich er<strong>in</strong>nert, damals schon<br />

bergab g<strong>in</strong>g. „Wir haben uns viele Freiheiten e<strong>in</strong>fach<br />

herausgenommen, für die man vielleicht<br />

noch e<strong>in</strong> Jahrzehnt vorher <strong>in</strong> das Gefängnis gekommen<br />

wäre. Es war wirklich e<strong>in</strong>e wilde freie<br />

Jugend. Nach dem <strong>Ab</strong>itur mit 18 b<strong>in</strong> ich im Sommer<br />

<strong>in</strong> so e<strong>in</strong> <strong>Ab</strong>risshaus <strong>in</strong> Prenzlauer Berg gezogen,<br />

und lauter Punks wohnten um mich rum.<br />

Wir s<strong>in</strong>d wirklich je<strong>den</strong> Tag ausgegangen auf illegale<br />

Konzerte, heimliche Ausstellungseröffnungen,<br />

auf irgendwelche Partys.“ Nach der Ausbildung<br />

zur Schaufensterdekorateur<strong>in</strong> beg<strong>in</strong>nt Kat<br />

Menschik dann e<strong>in</strong> Studium des Kommunikationsdesigns.<br />

Prägend s<strong>in</strong>d auch die zwei Austauschjahre<br />

<strong>in</strong> Paris, wo sie geme<strong>in</strong>sam mit Kommilitonen<br />

das monatliche Comicmagaz<strong>in</strong> „Spunk“ herausgibt und so<br />

zum ersten Mal Zeichnungen veröffentlicht: „So <strong>in</strong> Postkartengröße<br />

kopierte kle<strong>in</strong>e Heftchen mit Schnips-Gummi zusammengehalten.<br />

Die haben wir <strong>in</strong> <strong>den</strong> Comiclä<strong>den</strong> angeboten.<br />

<strong>Das</strong> hat gut funktioniert, weil Paris damals voll davon<br />

war.“ Zurück <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> gründet sie mit Kommiliton*<strong>in</strong>nen<br />

<strong>den</strong> Millionen-Verlag, der wenig bekannten Comic-Zeichner*<strong>in</strong>nen<br />

und schon bekannten Größen abseits des Ma<strong>in</strong>streams<br />

e<strong>in</strong>e Plattform bietet. „Andreas Platthaus, Comicexperte<br />

bei der FAZ, hat uns auf der Leipziger Buchmesse entdeckt,<br />

und am nächsten Tag stand <strong>in</strong> der Zeitung: <strong>Das</strong> ist<br />

das Beste, was Deutschland zurzeit zu bieten hat. Am Tag<br />

„<strong>Das</strong> Haus verlassen“:<br />

E<strong>in</strong>e Geschichte<br />

um e<strong>in</strong><br />

Feldste<strong>in</strong>haus von<br />

der Autor<strong>in</strong> Jacquel<strong>in</strong>e<br />

Kornmüller,<br />

illustriert von Kat<br />

Menschik mit<br />

vielen Details aus<br />

ihrer Umgebung


Jedes Objekt ist e<strong>in</strong> Unikat:<br />

In der Keramikwerkstatt<br />

im alten Schober entstehen<br />

Schmuck und Geschenke<br />

ihrer Meisterschulprüfung ruft Andreas Platthaus an und<br />

fragt, ob Kat Menschik für die FAZ zeichnen möchte.<br />

22 Jahre und 1.145 Zeichnungen später illustriert Kat<br />

Menschik noch immer das Fernsehprogramm der Sonntagszeitung.<br />

Dabei ist sie ihrer Arbeitsweise treu geblieben: Die<br />

Umrisse wer<strong>den</strong> mit typisch kräftigem Tusche-Strich vorgezeichnet.<br />

Dann wird die Zeichnung e<strong>in</strong>gescannt. <strong>Das</strong> Retuschieren,<br />

Schattieren und Kolorieren passiert dann am<br />

Computer. Seit 2016 gestaltet die 56-Jährige so auch Buchprojekte,<br />

wie die „Illustrierte Reihe“ für <strong>den</strong> Berl<strong>in</strong>er Galiani<br />

Verlag mit ihren Liebl<strong>in</strong>gserzählungen von Franz Kafka,<br />

E.T.A. Hoffmann und Edgar Allan Poe. Oder sie etabliert sich<br />

zur Liebl<strong>in</strong>gsillustrator<strong>in</strong> des japanischen Erfolgsautors<br />

Haruki Murakami. Und dann gibt es da noch viele andere<br />

Herzensprojekte, wie e<strong>in</strong> Kochbuch mit unprätentiösen Gerichten,<br />

das knallbunte Plakat mit über 60 Tomatensorten<br />

oder das <strong>Garten</strong>buch „Der gol<strong>den</strong>e Grubber – von großen<br />

Momenten und kle<strong>in</strong>en Niederlagen im <strong>Garten</strong>jahr“.<br />

Wie sehr <strong>Garten</strong> und Haus die künstlerische Arbeit von<br />

Kat Menschik <strong>in</strong>spirieren, zeigt nicht nur ihr letztes Buchprojekt<br />

mit der Autor<strong>in</strong> Jacquel<strong>in</strong>e Kornmüller „<strong>Das</strong> Haus<br />

verlassen“, <strong>in</strong> dem sie zahlreiche Details aus ihrer Umgebung<br />

illustriert hat. In ihren Zeichnungen tauchen immer<br />

wieder Pflanzen und Tiere auf, Ornamente, Muster, organische<br />

Formen, die sie überall <strong>in</strong> ihrer Umgebung f<strong>in</strong>det, aufnimmt<br />

und rastlos verarbeitet.<br />

„Mir ist me<strong>in</strong> ganzes<br />

Leben lang schon präsent,<br />

dass man nichts ver-<br />

„Man darf nichts<br />

geu<strong>den</strong> darf, nichts h<strong>in</strong>ausschieben.<br />

<strong>Das</strong> versuche<br />

vergeu<strong>den</strong>, nichts<br />

ich zu leben. Und deshalb<br />

h<strong>in</strong>ausschieben.<br />

<strong>Das</strong> versuche ich<br />

zu leben.“<br />

Liebl<strong>in</strong>gspflanze und<br />

Inspiration für Bücher und<br />

Plakate: Über 60 Tomatensorten<br />

wachsen im <strong>Garten</strong><br />

schaffe ich vielleicht auch so viel, weil ich das immer gleich<br />

mache und Lust darauf habe. Wenn ich die Idee habe, das<br />

Bad mal lila zu streichen, dann b<strong>in</strong> ich e<strong>in</strong> paar M<strong>in</strong>uten<br />

später schon am <strong>Ab</strong>kleben und Ausprobieren.“<br />

Ihr Paradies hat die Künstler<strong>in</strong> bereits gefun<strong>den</strong>. „Ich b<strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong> bisschen so e<strong>in</strong> Glücksk<strong>in</strong>d“, bekennt Kat Menschik nach<strong>den</strong>klich.<br />

„Vielleicht ist das zum Teil e<strong>in</strong>e Haltungsfrage, die<br />

ich mir mit der Zeit angeeignet habe. Sich bewusst zu machen,<br />

dass wir <strong>in</strong> dem größten möglichen Luxus leben, zur<br />

Kenntnis zu nehmen, wie gut es uns geht.“ Sagt es und ist<br />

schon wieder unterwegs <strong>in</strong> ihren Tomatenbeeten auf der<br />

Suche nach <strong>den</strong> kle<strong>in</strong>en D<strong>in</strong>gen, die glücklich machen. „Als<br />

letztens e<strong>in</strong> kurzer Regenguss kam, b<strong>in</strong> ich mit e<strong>in</strong>em<br />

Trockentuch durch alle Beete gerannt und habe jede Tomate<br />

e<strong>in</strong>zeln abgetrocknet.“<br />

Michael Mondry arbeitet als Redakteur bei <strong>Misereor</strong>. In se<strong>in</strong>em Wohnort <strong>in</strong><br />

Köln hat er nur e<strong>in</strong>en kle<strong>in</strong>en Stadtgarten zu betreuen.<br />

Klaus Mellenth<strong>in</strong> lebt <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> und fotografiert Persönlichkeiten aus Politik,<br />

Wirtschaft und Kultur und zu vielfältigen gesellschaftlichen Themen.<br />

EINS<strong>2024</strong> 11


1<br />

Wo die Fuchsien blühen<br />

Rosen, Jasm<strong>in</strong>, Fuchsien, Chrysanthemen<br />

und Rhodo<strong>den</strong>dren blühen <strong>in</strong> Gärten<br />

überall auf der Welt. Viele dieser Sorten<br />

stammen aus fernen Ländern. Diese Entwicklung<br />

ist vor allem dem Wardschen Kasten<br />

zu verdanken. E<strong>in</strong>e schlichte Kiste,<br />

die der englische Arzt und Naturforscher<br />

Nathaniel Bagshaw Ward 1829 entwickelte.<br />

Se<strong>in</strong>e Erf<strong>in</strong>dung fiel <strong>in</strong> die Zeit<br />

der globalen kolonialen<br />

Expansion.<br />

Der<br />

Wardsche Kasten –<br />

wie e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>fache Idee<br />

vor fast 200 Jahren<br />

<strong>den</strong> weltweiten<br />

Pflanzentransport<br />

revolutionierte<br />

Text von<br />

Birgit-Sara Fabianek<br />

Foto Wardscher Kasten: Nationaal Museum van Wereldculturen, Amsterdam; Illustration: iStock.com<br />

12<br />

EINS<strong>2024</strong><br />

2<br />

Farne und Palmen<br />

als Statussymbol<br />

Im 18. Jahrhundert wur<strong>den</strong> exotische<br />

Pflanzen aus Asien, Amerika und Australien<br />

zum Statussymbol der Vermögen<strong>den</strong> <strong>in</strong> Europa.<br />

Doch nur e<strong>in</strong>e von 100 Pflanzen überlebte<br />

damals die weite Seereise. Die Pflanzen<br />

mussten an Deck untergebracht wer<strong>den</strong>,<br />

wo sie viel Platz brauchten, weil sie der salzigen<br />

Gischt und meist großen Temperaturund<br />

Feuchtigkeitsschwankungen ausgesetzt<br />

waren. Wurde das<br />

Süßwasser an Bord knapp,<br />

vertrockneten sie.


3<br />

E<strong>in</strong>e<br />

revolutionäre Idee<br />

In e<strong>in</strong>em H<strong>in</strong>terhofexperiment<br />

entdeckte der Botaniker Ward, dass<br />

Pflanzen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em luftdicht verschlossenen<br />

Glasbehälter lange Zeit ohne zusätzliches<br />

Wasser überleben können.<br />

Erst mithilfe dieser bahnbrechen<strong>den</strong><br />

Entwicklung wurde der massenhafte<br />

Transport von Pflanzen auch auf<br />

langen Schiffspassagen<br />

möglich.<br />

4<br />

Wer alles profitierte<br />

Die neue Transportmethode erfreute<br />

nicht nur Pflanzenfreunde, sondern beschleunigte<br />

auch <strong>den</strong> globalen Austausch<br />

wichtiger Nutzpflanzen im Auftrag europäischer<br />

Kolonialmächte. In <strong>den</strong> Kästen reisten etwa<br />

Hanf, Tee, Gummi und Ch<strong>in</strong>ar<strong>in</strong>de um die Welt,<br />

weil England, Frankreich, Spanien und Portugal<br />

sie <strong>in</strong> ihren Kolonien anbauen wollten. So<br />

segelte 1848 Robert Fortune nach Ch<strong>in</strong>a<br />

und verschiffte 20.000 Teesetzl<strong>in</strong>ge <strong>in</strong><br />

Wardschen Kästen nach Indien. Ihre<br />

Blätter eroberten als Assam und<br />

Darjeel<strong>in</strong>g die Welt.<br />

5<br />

Kaum erforschte<br />

Umweltgeschichte<br />

Der Wardsche Kasten war nicht nur<br />

an der kolonialen Ausbeutung, sondern<br />

auch an komplexen ökologischen Veränderungen<br />

beteiligt. Denn die Kisten enthielten<br />

auch Erde, dar<strong>in</strong> wur<strong>den</strong> unbeabsichtigt<br />

auch immer Insekten und Krankheitserreger<br />

um die Welt geschickt. E<strong>in</strong>ige davon<br />

wur<strong>den</strong> zu e<strong>in</strong>er Bedrohung für die<br />

Ökosysteme, <strong>in</strong> die sie umgesiedelt<br />

wur<strong>den</strong>, darunter der Kaffeerost,<br />

der im heutigen Sri Lanka<br />

ausbrach.<br />

6<br />

Und heute<br />

In <strong>den</strong> 1940er Jahren<br />

verboten die meisten Länder die<br />

E<strong>in</strong>fuhr von Erde, deshalb wurde die<br />

Produktion des Wardschen Kastens nach<br />

und nach e<strong>in</strong>gestellt. Heute können<br />

lebende Pflanzen ohne Erde transportiert,<br />

<strong>in</strong> Plastik e<strong>in</strong>gewickelt<br />

und direkt an Kontrollstellen<br />

geschickt wer<strong>den</strong>, bevor sie<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong> Land e<strong>in</strong>geführt<br />

wer<strong>den</strong>.<br />

EINS<strong>2024</strong><br />

13


BOLIVIEN<br />

El Alto ist <strong>in</strong>s Kraut geschossen.<br />

Auf <strong>den</strong> staubigen Straßen herrschen<br />

Armut, Angst und Gewalt.<br />

<strong>Ab</strong>er mittendr<strong>in</strong>, <strong>in</strong> <strong>den</strong> Stadtgärten,<br />

bauen Frauen wie Perpetua Condori<br />

e<strong>in</strong>e andere, bessere Zukunft an:<br />

Für sich, ihre Familien und die ganze Stadt.<br />

Text von Suzanne Lemken<br />

Fotos von Florian Kopp<br />

14<br />

EINS<strong>2024</strong>


Perpetua Condori<br />

arbeitet täglich stun<strong>den</strong>lang<br />

an ihrer grünen Oase. <strong>Ab</strong>er<br />

diese Mühe lohnt sich.<br />

E<strong>in</strong> Stück<br />

heile Welt: Hier im<br />

Familiengarten können<br />

sich <strong>Ab</strong>diel und se<strong>in</strong> Bruder<br />

<strong>Ab</strong>ner frei bewegen. Dies<br />

ist auf El Altos gefährlichen<br />

Straßen unmöglich, weil<br />

Armut und Gewalt das<br />

Viertel prägen.<br />

„Ich habe extra Rezepte<br />

entwickelt, die<br />

K<strong>in</strong>der mögen. <strong>Das</strong>s<br />

sie Geschmack an gesun<strong>den</strong><br />

Gerichten f<strong>in</strong><strong>den</strong>,<br />

ist so wichtig.“<br />

E<strong>in</strong> H<strong>in</strong>terhof, e<strong>in</strong> kle<strong>in</strong>es Beet, zwei selbst gebaute Gewächshäuser,<br />

bespannt mit gelber Kunststoffplane. Perpetua<br />

Condori ist froh über ihren <strong>Garten</strong>: Hier wachsen<br />

Mangold, Salat, Sp<strong>in</strong>at, Karotten und Rote Bete. Erdbeerpflanzen<br />

hängen <strong>in</strong> Töpfen an <strong>den</strong> Wän<strong>den</strong>. Aus leeren<br />

Getränkeflaschen sprießen Kräuter. Und immer gibt es<br />

auch Platz für Blumen. Dieser <strong>Garten</strong> ist e<strong>in</strong>e Oase, <strong>in</strong><br />

der die ganze Familie Frie<strong>den</strong> f<strong>in</strong>det. Dafür arbeiten alle<br />

hart. Auch <strong>Ab</strong>diel und <strong>Ab</strong>ner, sieben und neun Jahre alt,<br />

s<strong>in</strong>d <strong>in</strong>zwischen erfahrene Nachwuchsgärtner. „Die Jungs<br />

helfen immer mit“, berichtet Perpetua Condori stolz. Als<br />

sie vor Jahren vom Land nach El Alto kam, fand sie bei<br />

der <strong>Misereor</strong>-Partnerorganisation FOCAPACI Starthilfe für<br />

ihren Stadtgarten – Infos, Saatgut, Material und Beratung.<br />

Heute ist sie selbst Multiplikator<strong>in</strong> für das Projekt<br />

und begleitet andere Familien.<br />

EINS<strong>2024</strong> 15


Auf dem Markt verkaufen<br />

viele Familien ihre<br />

Produkte. FOCAPACI bietet<br />

Setzl<strong>in</strong>ge und Saatgut an.<br />

Spielerisch haben<br />

<strong>Ab</strong>diel und <strong>Ab</strong>ner viel<br />

im Stadtgarten gelernt.<br />

<strong>Das</strong> stärkt sie fürs Leben.<br />

Durch Kurse,<br />

Märkte und Nachbarschaftstreffen,<br />

optimiert<br />

mithilfe gezielter Sozialforschung,<br />

stärkt <strong>Misereor</strong>-<br />

Partner FOCAPACI die Geme<strong>in</strong>schaft.<br />

Schon die Kle<strong>in</strong>sten<br />

wachsen mit dem Projekt auf.<br />

<strong>Das</strong> verbreitet es <strong>in</strong> der<br />

Bevölkerung.<br />

16<br />

EINS<strong>2024</strong>


„Wenn wir zu <strong>den</strong><br />

Gruppentreffen<br />

gehen und die anderen<br />

Familien besuchen,<br />

erleben die<br />

K<strong>in</strong>der ganz selbstverständlich<br />

e<strong>in</strong>e<br />

gute Geme<strong>in</strong>schaft.“<br />

Hohe Mauern<br />

umschließen w<strong>in</strong>zige,<br />

triste Grundstücke <strong>in</strong><br />

El Alto und erzählen<br />

davon, dass die Angst<br />

vor Krim<strong>in</strong>alität<br />

hier ständig präsent<br />

ist.<br />

Gesunde Ernährung ist <strong>in</strong> El Alto<br />

nicht selbstverständlich. Hier suchen<br />

immer mehr Menschen Zuflucht,<br />

<strong>den</strong>en anderswo die Lebensgrundlage<br />

weggebrochen ist.<br />

So kam auch Perpetua Condori mit ihrem Mann <strong>in</strong> die<br />

Stadt – um festzustellen, dass die Arbeit unsicher und<br />

selten gut bezahlt ist. Auch wenn die Familien von El Alto<br />

bis zu 80 Prozent ihres E<strong>in</strong>kommens für Lebensmittel aufwen<strong>den</strong>,<br />

reicht es meist nur für e<strong>in</strong>fache Sattmacher.<br />

Viele Erwachsene s<strong>in</strong>d krank und viele K<strong>in</strong>der <strong>in</strong> der Entwicklung<br />

verzögert. E<strong>in</strong> weiteres Problem: Wo man e<strong>in</strong>ander<br />

kaum kennt und es ke<strong>in</strong>e Perspektiven gibt, wuchert<br />

die Krim<strong>in</strong>alität. Diesen Herausforderungen begegnet<br />

das Stadtgärten-Konzept der <strong>Misereor</strong>-Partnerorganisation<br />

FOCAPACI auf mehreren Ebenen.<br />

Zunächst dadurch, dass die Familien<br />

im Projekt sich und ihr Umfeld mit gesunder<br />

Nahrung versorgen. Mittelbar dadurch,<br />

dass Schulungen, Märkte und gegenseitige<br />

Besuche aus Frem<strong>den</strong> Nachbarn machen,<br />

die e<strong>in</strong>ander zur Seite stehen. So verwandelt<br />

sich El Alto, Radieschen für Radieschen<br />

– <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e neue, lebenswerte Stadt.<br />

Räume zum Aufatmen,<br />

für die Großen<br />

und die Kle<strong>in</strong>en: Wo<br />

FOCAPACI die Menschen<br />

im Rahmen<br />

des Projekts zusammenbr<strong>in</strong>gt,<br />

geht es<br />

bunt und fröhlich zu.<br />

Mehr Informationen<br />

über das Stadtgarten-<br />

Projekt und Möglichkeiten<br />

zur Unterstützung unter:<br />

misereor.de/bolivienbrasilien-stadtgaerten<br />

Eltern und K<strong>in</strong>der<br />

sorgen geme<strong>in</strong>sam für <strong>den</strong><br />

Stadtgarten – das tut dem<br />

Familienleben spürbar gut.<br />

Suzanne Lemken, Fundraiser<strong>in</strong> bei <strong>Misereor</strong>, <strong>in</strong>formiert über die Late<strong>in</strong>amerika-Spen<strong>den</strong>projekte<br />

und lädt zu kreativen Spen<strong>den</strong>aktionen e<strong>in</strong>.<br />

Florian Kopp lebt <strong>in</strong> Rio de Janeiro, Brasilien. Als Fotograf dokumentiert er<br />

soziale und ökologische Konflikte <strong>in</strong> Late<strong>in</strong>amerika.<br />

EINS<strong>2024</strong><br />

17


Terence Lopez hat während der Coronapandemie<br />

auf <strong>den</strong> Philipp<strong>in</strong>en geme<strong>in</strong>sam mit Tagelöhnern<br />

Gärten zur Selbstversorgung angelegt. Hier erzählt<br />

er, wie es dazu kam und was er daraus gelernt hat.<br />

Protokoll von Birgit-Sara Fabianek<br />

Fotos von Raffy Lerma<br />

Die Situation der städtischen Armen<br />

<strong>in</strong> der Pandemie<br />

T. L.: Die Maßnahmen gegen Covid-19<br />

haben die Tagelöhner auf <strong>den</strong> Philipp<strong>in</strong>en<br />

<strong>in</strong> extreme Armut katapultiert. Präsi<strong>den</strong>t<br />

Rodrigo Duterte hat das Land<br />

2020 von e<strong>in</strong>em Tag auf <strong>den</strong> anderen<br />

mit e<strong>in</strong>em Lockdown nach <strong>in</strong>nen und<br />

außen dicht gemacht. Es wurde alles<br />

abgeriegelt, alle Lä<strong>den</strong> waren geschlossen,<br />

der Verkehr wurde lahmgelegt<br />

und es gab Ausgangssperren, die militärisch<br />

überwacht wur<strong>den</strong>. Bis<br />

2021 wurde das Land immer wieder<br />

zugemacht. Bereits während<br />

des ersten Lockdowns waren<br />

die Armen sehr hungrig, weil<br />

es kaum Versorgung gab.<br />

Zu dieser Zeit arbeitete ich als<br />

Freiwilliger für die „Nationale<br />

Allianz der städtischen Armen“<br />

<strong>in</strong> Quezon-City und <strong>in</strong> Pandi,<br />

e<strong>in</strong>er von <strong>in</strong>formellen Siedler<strong>in</strong>nen<br />

und Siedlern besetzten Geme<strong>in</strong>de<br />

nördlich von Manila. Die<br />

Nationale Allianz ist e<strong>in</strong>e große<br />

Organisation auf <strong>den</strong> gesamten Philipp<strong>in</strong>en,<br />

sehr konsequent, sehr fortschrittlich.<br />

Wir dachten darüber nach,<br />

was wir dem Hunger, der dort überall<br />

herrschte, entgegensetzen könnten.<br />

Die Regierung reagierte nicht auf die<br />

Appelle der Armen, die je<strong>den</strong> Tag ums<br />

Überleben kämpften.<br />

<strong>Das</strong> besetzte Dorf <strong>in</strong> Pandi<br />

Ich hatte Kontakt zu e<strong>in</strong>em besetzten<br />

Dorf <strong>in</strong> Pandi. Dort leben <strong>in</strong>formelle<br />

Siedler<strong>in</strong>nen und Siedler <strong>in</strong> besetzten<br />

Häusern. Als der Lockdown kam, durften<br />

sie nicht mehr aus dem Haus. Sie<br />

konnten nicht mehr arbeiten und hatten<br />

deshalb ke<strong>in</strong> Geld mehr für Essen.<br />

Zuerst habe ich für diese Menschen Lebensmittelsammlungen<br />

organisiert, später<br />

habe ich Obst- und Gemüsespen<strong>den</strong><br />

von Bio-Bauernhöfen aus der Umgebung<br />

bekommen, weil diese ihre<br />

Waren nicht mehr verkaufen konnten.<br />

Wir haben geme<strong>in</strong>sam mit der Good<br />

Food Company, die etwas für die Armen<br />

<strong>in</strong> der Stadt tun wollte, an jedem Wo-<br />

18<br />

EINS<strong>2024</strong>


Rey de la Cruz hält<br />

frisch geerntete<br />

Bittermelonen und<br />

Okraschoten aus<br />

se<strong>in</strong>em städtischen<br />

<strong>Garten</strong> <strong>in</strong> <strong>den</strong> Hän<strong>den</strong><br />

EINS<strong>2024</strong><br />

19


chenende vegane Gerichte aus diesen<br />

Bio-Produkten gekocht und haben sie<br />

dann unter <strong>den</strong> Armen verteilt. <strong>Das</strong><br />

war mit der Zeit sehr erschöpfend.<br />

Wie aus Tagelöhnern Gärtner wer<strong>den</strong><br />

Irgendwann hatte ich die Idee: Lasst<br />

uns unser eigenes Essen produzieren!<br />

Denn es sah nicht so aus, als ob der<br />

Lockdown bald aufgehoben wer<strong>den</strong><br />

würde und die Pandemie vorbei wäre.<br />

Ich habe me<strong>in</strong>en Vorschlag <strong>in</strong> <strong>den</strong> Geme<strong>in</strong><strong>den</strong><br />

vorgestellt und diskutiert:<br />

Viele wollten es ausprobieren, aber sie<br />

cher Zeit leicht anzubauen s<strong>in</strong>d und<br />

wie man die Ernte zubereitet. Ich habe<br />

<strong>in</strong> dieser Zeit Spen<strong>den</strong> gesammelt, um<br />

Saatgut und Geräte zu kaufen.<br />

Wir haben die Gärten auf ungenutztem<br />

Land angelegt. Die Gebäude, die<br />

darauf stan<strong>den</strong>, waren ursprünglich<br />

für das Militär und die Polizei gebaut<br />

wor<strong>den</strong>, aber sie waren seit Jahren verlassen<br />

und baufällig. Vor acht Jahren<br />

hatten sich Obdachlose aus der Umgebung<br />

selbst organisiert und diese Häuser<br />

besetzt. In Pandi haben sich rund<br />

12.000 Leute niedergelassen, etwa<br />

Emelisa Araco<br />

hat während der Coronapandemie<br />

am Stadtrand von<br />

Manila das Gärtnern gelernt<br />

wussten nicht wie. Man muss wissen,<br />

auf <strong>den</strong> Philipp<strong>in</strong>en kann man <strong>in</strong><br />

jedem Monat des Jahres damit beg<strong>in</strong>nen,<br />

e<strong>in</strong>en <strong>Garten</strong> anzulegen.<br />

Ich b<strong>in</strong> ke<strong>in</strong> Bauer, aber ich hatte<br />

Kontakte zu Gruppen, die sich mit<br />

Landwirtschaft und biologischem Anbau<br />

auskannten, die habe ich mobilisiert,<br />

um Workshops zu geben und die<br />

Leute zu schulen: Wie man <strong>den</strong> Bo<strong>den</strong><br />

vorbereitet, welche Pflanzen <strong>in</strong> welzweie<strong>in</strong>halbtausend<br />

Familien. Bis zum<br />

Lockdown wäre niemand dieser Menschen,<br />

die sich je<strong>den</strong> Tag aufs Neue Arbeit<br />

suchen mussten, auf die Idee gekommen,<br />

im <strong>Garten</strong> zu arbeiten und<br />

sich selbst zu versorgen.<br />

Ich habe die etwa e<strong>in</strong>hundert Gärtner<strong>in</strong>nen<br />

und Gärtner, die sich dem<br />

Projekt angeschlossen haben, jede<br />

Woche besucht, um zu sehen, wie es<br />

ihnen geht und was sie brauchen. Sie<br />

Die Armen<br />

mussten je<strong>den</strong><br />

Tag ums Überleben<br />

kämpfen<br />

waren sehr organisiert. <strong>Das</strong> half ihnen<br />

auch, sich gegen <strong>den</strong> Staat zu wehren,<br />

der viele Menschen während der Covid-Maßnahmen<br />

drangsalierte. E<strong>in</strong>mal<br />

habe ich erlebt, wie Polizei und Militär<br />

kamen, während wir <strong>in</strong> <strong>den</strong> Gärten<br />

arbeiteten. Ich unterhielt mich gerade<br />

mit <strong>den</strong> Müttern aus der Geme<strong>in</strong>de,<br />

als die Polizei mich festnehmen<br />

wollte. Da setzten mich die Mütter auf<br />

e<strong>in</strong> Motorrad, sodass ich entkommen<br />

konnte.<br />

Die Menschen aus Payatas<br />

Zur selben Zeit leitete ich geme<strong>in</strong>sam<br />

mit Aktivisten <strong>in</strong> Manila zusätzlich<br />

das Gärtnern <strong>in</strong> Conta<strong>in</strong>ern an. Die<br />

Projekte lagen <strong>in</strong> Quezon-City, <strong>in</strong> Payatas,<br />

e<strong>in</strong>e der größten und am meisten<br />

von Armut betroffenen Geme<strong>in</strong><strong>den</strong>.<br />

Die Geme<strong>in</strong>schaften dort überleben<br />

im Müll. Während der <strong>Ab</strong>riegelung<br />

gab es wochenlang ke<strong>in</strong>en Deponiebetrieb,<br />

und die Menschen hatten ke<strong>in</strong>e<br />

Möglichkeit, Geld für <strong>den</strong> nächsten<br />

Tag zu verdienen, um zu überleben.<br />

Deshalb unsere Idee, das Nötigste zum<br />

Leben <strong>in</strong> Conta<strong>in</strong>ern selbst anzupflanzen,<br />

anderswo war ke<strong>in</strong> Platz dafür.<br />

Selbst das Land, um die Conta<strong>in</strong>er aufzustellen,<br />

war knapp.<br />

Unsere Idee:<br />

das Nötigste<br />

zum Leben<br />

<strong>in</strong> Conta<strong>in</strong>ern<br />

selbst anpflanzen<br />

20<br />

EINS<strong>2024</strong>


Die Menschen <strong>in</strong> Payatas mussten bereits<br />

20 Jahre vorher ums Überleben<br />

kämpfen, als sie Opfer e<strong>in</strong>es Erdrutsches<br />

aus Müll wur<strong>den</strong>. Viele starben,<br />

<strong>den</strong>n ihre Häuser hatten sie auf dem<br />

Müll errichtet. Sie arbeiten je<strong>den</strong> Tag<br />

auf der Deponie, suchen das Brauchbare<br />

aus dem Müll, der von Lastwagen<br />

angeliefert wird, sortieren es und verkaufen<br />

es an Recycl<strong>in</strong>g-Unternehmen<br />

weiter.<br />

<strong>Das</strong> Conta<strong>in</strong>er-<strong>Garten</strong>projekt haben<br />

wir mit 20 Haushalten begonnen. Wir<br />

sammelten Spen<strong>den</strong> und<br />

kauften davon für je<strong>den</strong><br />

Haushalt e<strong>in</strong> Set aus Behälter,<br />

Erde, Saatgut und Geräten.<br />

Die Menschen aus<br />

Payatas hatten ebenso wenig<br />

Ahnung vom Gärtnern<br />

wie die <strong>in</strong>formellen Siedler<br />

aus Pandi und wir haben<br />

sie ebenso dar<strong>in</strong> geschult.<br />

<strong>Das</strong> Conta<strong>in</strong>ergärtnern<br />

haben die Menschen<br />

e<strong>in</strong> Jahr lang beibehalten, bis der Lockdown<br />

aufgehoben wurde. Danach haben<br />

sie ihren Alltag wieder aufgenommen,<br />

das Gärtnern geriet <strong>in</strong> <strong>den</strong> H<strong>in</strong>tergrund<br />

und wurde schließlich aufgegeben.<br />

Ihr Alltag auf der Deponie lässt<br />

ihnen ke<strong>in</strong>en Raum, nachhaltiger zu<br />

leben.<br />

Was die <strong>Garten</strong>arbeit gebracht hat<br />

Die Gärten der <strong>in</strong>formellen Siedler <strong>in</strong><br />

Pandi existieren dagegen noch. Die<br />

Gärtner<strong>in</strong>nen und Gärtner dort hatten<br />

es etwas leichter, urbanes<br />

Gärtnern zu<br />

e<strong>in</strong>em Teil ihres Alltags<br />

zu machen. Neben<br />

dem Ziel, sich<br />

selbst zu versorgen,<br />

um nicht zu hungern,<br />

hat das Gärtnern<br />

diejenigen, die<br />

mitgemacht haben,<br />

gestärkt und ihre Widerstandsfähigkeit<br />

erhöht.<br />

Sie hatten das<br />

Gefühl, etwas tun zu<br />

können. Sie s<strong>in</strong>d eigentlich<br />

unsichtbar. Niemand <strong>in</strong>teressiert<br />

sich für ihre Situation, staatliche<br />

Stellen schon gar nicht.<br />

Auch wer arm<br />

ist, hat das<br />

Recht, über<br />

gesunde<br />

Lebensmittel<br />

nachzu <strong>den</strong>ken<br />

E<strong>in</strong> K<strong>in</strong>d pflückt<br />

e<strong>in</strong>e noch unreife<br />

Aratilis-Beere vom<br />

Baum. E<strong>in</strong> Teil der<br />

Ernte aus <strong>den</strong> städtischen<br />

Gärten wird<br />

auch auf kle<strong>in</strong>en<br />

Märkten angeboten.<br />

Was ich aus dieser Zeit gelernt habe<br />

Ich habe erlebt, wie sich das Bewusstse<strong>in</strong><br />

ändern kann: Die Armen <strong>in</strong> <strong>den</strong><br />

Städten, die während der Pandemie ihr<br />

eigenes Essen angebaut haben, wissen<br />

Terence Lopez ist <strong>in</strong> der Bewegung der<br />

städtischen Armen <strong>in</strong> <strong>den</strong> Außenbezirken<br />

von Manila aktiv. Er hat während<br />

der Coronapandemie, <strong>in</strong> der die Philipp<strong>in</strong>en<br />

<strong>den</strong> umfassendsten Lockdown weltweit<br />

verhängten, Gärten angelegt mit<br />

<strong>den</strong> Menschen, die <strong>in</strong> dieser Zeit zu<br />

wenig von dem hatten, was man zum<br />

Leben braucht. Lopez lebt <strong>in</strong> der Stadtgeme<strong>in</strong>de<br />

Pandi auf <strong>den</strong> Philipp<strong>in</strong>en,<br />

knapp 30 Kilometer von Manila entfernt.<br />

Er arbeitet aktuell beim Asian People‘s<br />

Exchange für Ernährungssouveränität<br />

und Agrarökologie. <strong>Das</strong> Projekt ist Teil<br />

des Pesticide Action Network Asia Pacific<br />

(PAN AP), das sich für die Beseitigung<br />

von Pestizi<strong>den</strong> <strong>in</strong> Lebensmitteln<br />

im asiatisch-pazifischen Raum e<strong>in</strong>setzt.<br />

<strong>Misereor</strong> ist Partner dieses Netzwerks.<br />

jetzt, dass die billigen Lebensmittel<br />

nicht unbed<strong>in</strong>gt die Nahrungsmittel<br />

s<strong>in</strong>d, die sie brauchen. Wenn es zu Katastrophen<br />

kommt, erhalten sie heute<br />

nicht mehr nur Nudeln oder Konserven.<br />

Stattdessen fordern sie von ihren<br />

lokalen Regierungen: „Unterstützt unsere<br />

Gärten oder kauft für uns Bio-Produkte<br />

von <strong>den</strong> Bauern!“ Da gibt es<br />

noch viel zu tun. <strong>Ab</strong>er Projekte wie<br />

diese haben auf je<strong>den</strong> Fall Auswirkungen<br />

auf die E<strong>in</strong>stellung zu Lebensmitteln.<br />

Zum Beispiel auf die Erkenntnis:<br />

Auch wer arm ist, hat das Recht, über<br />

gesunde Lebensmittel nachzu<strong>den</strong>ken.<br />

Um das zu verstärken und wirklich<br />

etwas zu verändern, haben wir Aktivisten<br />

e<strong>in</strong>e Koalition von E<strong>in</strong>zelnen gegründet,<br />

die Erkenntnisse aus unseren<br />

<strong>Garten</strong>projekten auf nationaler Ebene<br />

voranzubr<strong>in</strong>gen. <strong>Das</strong> macht mich zuversichtlich.<br />

Birgit-Sara Fabianek lebt als freie Journalist<strong>in</strong> <strong>in</strong><br />

Aachen und schreibt gern über konstruktive Ideen<br />

und Menschen, die Mut machen.<br />

Raffy Lerma lebt und arbeitet als freier Fotojournalist<br />

<strong>in</strong> Manila. Dort ist er um die fotografische<br />

Dokumentation des Drogenkriegs bemüht.<br />

Verschie<strong>den</strong>e Gemüsesorten<br />

für<br />

<strong>den</strong> Marktverkauf<br />

EINS<strong>2024</strong><br />

21


„In Afrika sprießen<br />

überall Gärten,<br />

das ist e<strong>in</strong>e Revolution“<br />

Fotos: Marco del Comune, Klaus Mellenth<strong>in</strong><br />

22<br />

EINS<strong>2024</strong>


INTERVIEW<br />

Edward Mukiibi, <strong>in</strong>ternationaler Präsi<strong>den</strong>t von Slow Food und Pirm<strong>in</strong> Spiegel, Hauptgeschäftsführer<br />

von <strong>Misereor</strong>, im Videogespräch über die Bedeutung von Gärten für e<strong>in</strong>e gesunde<br />

Ernährung, die Weitergabe von Wissen und Saatgut und was sie als K<strong>in</strong>der über <strong>Garten</strong>arbeit<br />

gelernt haben.<br />

<strong>Das</strong> Gespräch moderierte Birgit-Sara Fabianek<br />

„Familiäre Landwirtschaft<br />

ist<br />

immens wichtig<br />

für die globale<br />

Ernährungssicherheit.“<br />

Pirm<strong>in</strong> Spiegel<br />

Was verb<strong>in</strong>det <strong>Misereor</strong><br />

und Slow Food?<br />

Pirm<strong>in</strong> Spiegel: Vor e<strong>in</strong>igen Jahren haben<br />

<strong>Misereor</strong> und Slow Food Deutschland<br />

zum Jubiläumsjahr von Luthers<br />

Reformation 95 Thesen für Kopf und<br />

Bauch präsentiert und e<strong>in</strong>e Reformation<br />

des globalen Ernährungssystems<br />

gefordert. Denn Ernährungs<strong>in</strong>dustrie<br />

und Chemiekonzerne behaupten immer<br />

wieder aufs Neue, dass wir mehr<br />

und hoch<strong>in</strong>dustrielle Lebensmittel brauchen,<br />

um <strong>in</strong> Zukunft bis zu zehn Milliar<strong>den</strong><br />

Menschen ernähren zu können.<br />

Von unseren Partnern <strong>in</strong> Afrika,<br />

Asien und Late<strong>in</strong>amerika wissen wir,<br />

dass der größte Anteil der Lebensmittel,<br />

der weltweit Menschen satt macht<br />

und gesund erhält, aus lokaler Landwirtschaft<br />

mit kle<strong>in</strong>teiligen Strukturen<br />

stammt. Diese familiäre Landwirtschaft<br />

und ihre teilweise geme<strong>in</strong>schaftlich<br />

bewirtschafteten Gärten<br />

und Felder s<strong>in</strong>d immens wichtig für<br />

die globale Ernährungssicherheit und<br />

ebenso für <strong>den</strong> Erhalt der Artenvielfalt.<br />

Den kle<strong>in</strong>en, unabhängigen Produzenten,<br />

die so viel für unsere gesunde<br />

Ernährung und unsere Ökosysteme<br />

tun, vor Ort und auf der <strong>in</strong>ternationalen<br />

Bühne mehr Gewicht und Gehör<br />

zu verschaffen, das verb<strong>in</strong>det Slow<br />

Food und <strong>Misereor</strong>.<br />

Sie s<strong>in</strong>d beide <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Bauernfamilie<br />

aufgewachsen, der e<strong>in</strong>e <strong>in</strong> der Pfalz und<br />

der andere <strong>in</strong> Uganda. Was haben Sie <strong>in</strong><br />

Ihrer K<strong>in</strong>dheit über <strong>Garten</strong>arbeit und<br />

Selbstversorgung gelernt?<br />

Edward Mukiibi: Unsere Farm lag <strong>in</strong> der<br />

Nähe des Viktoriasees. Ich habe als<br />

K<strong>in</strong>d von me<strong>in</strong>en Eltern gelernt, welche<br />

Leistung dar<strong>in</strong> steckt, gesunde<br />

Nahrungsmittel anzubauen. Welche<br />

Entwicklungsmöglichkeiten dar<strong>in</strong> liegen,<br />

sich um se<strong>in</strong> Land zu kümmern –<br />

nicht nur, um Nahrung herzustellen<br />

und <strong>den</strong> Bo<strong>den</strong> zu nutzen, sondern<br />

auch, wie man <strong>den</strong> Bo<strong>den</strong> und se<strong>in</strong><br />

Ökosystem tatsächlich schützen und<br />

fördern kann. Auf unserer Farm haben<br />

wir ganz verschie<strong>den</strong>e Sorten angebaut:<br />

Kaffee, Bananen, Bohnen, Gemüse,<br />

es gab unterschiedliche Obstbäume<br />

und auch Kakao. All das wuchs nebene<strong>in</strong>ander.<br />

Dieses Nebene<strong>in</strong>ander hat<br />

uns dabei geholfen, uns auch dann<br />

selbst zu versorgen, wenn es aus Klimagrün<strong>den</strong><br />

Probleme mit der Ernte<br />

gab. Denn irgendwas war immer reif,<br />

mal Bohnen, mal Süßkartoffeln. So<br />

habe ich schon als K<strong>in</strong>d erlebt, welche<br />

Vorteile e<strong>in</strong> vielfältiger Anbau bietet,<br />

um satt zu wer<strong>den</strong>. Deshalb baue ich<br />

bis heute immer noch die gleichen<br />

alten Sorten an.<br />

Foto: <strong>Misereor</strong><br />

Bei e<strong>in</strong>em Besuch<br />

<strong>in</strong> Madagaskar begleiten<br />

K<strong>in</strong>der Pirm<strong>in</strong> Spiegel durch<br />

ihren Familiengarten<br />

Heißt das, Sie s<strong>in</strong>d Präsi<strong>den</strong>t von<br />

Slow Food und gleichzeitig Landwirt?<br />

Mukiibi: Genau. Ich b<strong>in</strong> aktiver Landwirt,<br />

das ist me<strong>in</strong> erster Beruf. Ich arbeite<br />

jedes Wochenende im <strong>Garten</strong>,<br />

wenn ich zu Hause <strong>in</strong> Uganda b<strong>in</strong>.<br />

Letztes Wochenende haben wir zum<br />

Beispiel Mais und Bohnen gepflanzt.<br />

Wir bewirtschaften außerdem e<strong>in</strong>e Bananenplantage<br />

und bestellen e<strong>in</strong>en<br />

großen <strong>Garten</strong>.<br />

Und Sie, Herr Spiegel?<br />

Spiegel: Nach dem <strong>Ab</strong>itur habe ich<br />

kurz Landwirtschaft studiert, aber ich<br />

b<strong>in</strong> ke<strong>in</strong> aktiver Landwirt. Trotzdem<br />

prägt mich die Erdverbun<strong>den</strong>heit me<strong>in</strong>er<br />

K<strong>in</strong>dheit bis heute, sie gehört zu<br />

me<strong>in</strong>er DNA. Ich kannte <strong>in</strong> unserem<br />

Dorf <strong>in</strong> der Pfalz je<strong>den</strong> Acker und<br />

jedes Bächle<strong>in</strong>, unser Hof hatte von<br />

EINS<strong>2024</strong> 23


Foto: Isaac Kasamani/AFP via Getty Images<br />

In Uganda besucht<br />

Edward Mukiibi e<strong>in</strong>e von vielen<br />

Schulen, <strong>in</strong> <strong>den</strong>en Slow<br />

Food Gärten angelegt hat<br />

allem e<strong>in</strong> bisschen: E<strong>in</strong>en <strong>Garten</strong> mit<br />

Gemüse, Obst, Kräutern und Beeren,<br />

Felder mit Rüben, Weizen und We<strong>in</strong><br />

und auch e<strong>in</strong> paar Kühe. Ich b<strong>in</strong> mit<br />

dem Trecker auf die Wiese gefahren,<br />

habe Gras gemäht, das Vieh gefüttert<br />

und überall mitgemacht. <strong>Das</strong> hat mir<br />

sehr geholfen, als ich später <strong>in</strong> Brasilien<br />

viele Jahre mit Bauernfamilien gelebt<br />

habe, die kle<strong>in</strong>ere Flächen vielfältig<br />

bewirtschafteten.<br />

Herr Mukiibi, Sie haben für Slow Food<br />

<strong>in</strong> Uganda vor knapp 15 Jahren e<strong>in</strong>e Art<br />

<strong>Garten</strong>-Revolution <strong>in</strong>itiiert: Worum geht<br />

es <strong>in</strong> Ihrem Projekt „Gärten <strong>in</strong> Afrika“?<br />

Mukiibi: <strong>Das</strong> Projekt haben wir gestartet,<br />

weil wir erlebt haben, dass für<br />

viele Schul- oder Dorfgeme<strong>in</strong>schaften<br />

eigene Gärten der Schlüssel dafür s<strong>in</strong>d,<br />

sich ausgewogen ernähren zu können.<br />

Und wir wussten, wie wichtig es ist,<br />

dieses Wissen und die Fähigkeiten an<br />

die nächste Generation weiterzugeben,<br />

damit sie erhalten bleiben. Und<br />

wir wollten damit auch das schlechte<br />

Image überw<strong>in</strong><strong>den</strong>, das bis dah<strong>in</strong> mit<br />

Landwirtschaft verbun<strong>den</strong> war: Als ich<br />

zur Schule g<strong>in</strong>g, wur<strong>den</strong> wir zur Strafe<br />

für schlechtes Benehmen auf <strong>den</strong><br />

Schulacker geschickt. Wir wollen unserer<br />

Jugend dagegen klarmachen, dass<br />

e<strong>in</strong>e lokale, unabhängige und vielfältige<br />

Landwirtschaft Zukunft hat und sie<br />

selbst Teil der Lebensmittelerzeugung<br />

auf ihrem Kont<strong>in</strong>ent wer<strong>den</strong> kann.<br />

Wie erfolgreich ist Ihr Projekt?<br />

Mukiibi: Unser Hauptziel war es, zu zeigen,<br />

wie wichtig Gärten für unseren<br />

Kont<strong>in</strong>ent s<strong>in</strong>d. Inzwischen gibt es <strong>in</strong> 35<br />

afrikanischen Ländern mehr als 5.000<br />

aktive Gärten, sie sprießen überall.<br />

<strong>Das</strong> ist wirklich e<strong>in</strong>e Revolution bei<br />

uns. Wir erleben auch, mit welcher Lei<strong>den</strong>schaft<br />

und Begeisterung viele Geme<strong>in</strong>schaftsgärtner*<strong>in</strong>nen<br />

<strong>in</strong>zwischen<br />

ihr Saatgut tauschen und teilen und<br />

dass diese Gärten zu Orten der Begegnung<br />

wer<strong>den</strong>, auch um sich politisch<br />

auszutauschen. Wir sehen, wie K<strong>in</strong>der<br />

sich <strong>in</strong> Slow-Food-Gärten treffen und<br />

enthusiastisch über e<strong>in</strong>zelne Anbausorten<br />

diskutieren oder darüber sprechen,<br />

welchen Nährwert diese oder je-<br />

24<br />

EINS<strong>2024</strong>


„Wo es Vielfalt<br />

im <strong>Garten</strong> gibt,<br />

können sich Menschen<br />

gesund<br />

und ausreichend<br />

ernähren.“<br />

Edward Mukiibi<br />

ne Pflanze hat. Sie lernen dort so viel.<br />

Diese Gärten erleichtern es <strong>den</strong> Menschen,<br />

sich wieder damit ause<strong>in</strong>anderzusetzen,<br />

was sie essen und wie man<br />

Lebensmittel anbaut. <strong>Das</strong> Thema wird<br />

so wieder zu e<strong>in</strong>em Teil ihrer Realität.<br />

Was können wir hier bei uns von Afrika<br />

über regionale Versorgung lernen?<br />

Spiegel: Ich sehe das Gärten-<strong>in</strong>-Afrika-<br />

Projekt als mächtige Inspiration: Auch<br />

unsere Städte und Geme<strong>in</strong><strong>den</strong> brauchen<br />

mehr öffentliche Räume, <strong>in</strong> <strong>den</strong>en<br />

Menschen geme<strong>in</strong>sam etwas anpflanzen<br />

und e<strong>in</strong>en eigenen Beitrag zu<br />

ihrer Ernährung leisten und dadurch<br />

Nahrung wieder schätzen lernen. Urban<br />

Gar<strong>den</strong><strong>in</strong>g, Vergrünung, Balkon-Anbau<br />

und lokale, solidarische Landwirtschaftsgeme<strong>in</strong>schaften<br />

– das s<strong>in</strong>d alles Schritte<br />

und Beiträge h<strong>in</strong> zu e<strong>in</strong>er verträglicheren<br />

und nachhaltigeren Produktion<br />

von Lebensmitteln. Wir brauchen<br />

diesen Weg, um weniger <strong>in</strong>tensiv und<br />

<strong>in</strong>dustriell hergestellte Lebensmittel<br />

zu konsumieren und die damit e<strong>in</strong>hergehen<strong>den</strong><br />

versteckten Kosten wie<br />

die Auslaugung der Bö<strong>den</strong>, Wasserverbrauch,<br />

Treibhausgasemissionen oder<br />

Verlust der Artenvielfalt zu verr<strong>in</strong>gern.<br />

Herr Mukiibi, welche Unterstützung<br />

brauchen Ihre Ideen aus Ländern wie<br />

Deutschland?<br />

Mukiibi: Aus me<strong>in</strong>er Sicht ist es wichtig,<br />

dass Menschen aus Deutschland<br />

und Europa verstehen, dass die Politik<br />

<strong>in</strong> ihren Ländern Auswirkungen auf<br />

uns hat. Zum Beispiel, wenn Milch,<br />

Fleisch oder Eier aus Europa exportiert<br />

wer<strong>den</strong> und dann <strong>in</strong> Tassen und auf<br />

Tellern <strong>in</strong> Westafrika lan<strong>den</strong>. <strong>Das</strong> rui-<br />

Drei Fragen<br />

zum <strong>Ab</strong>schied<br />

Pirm<strong>in</strong> Spiegel ist seit 2012 Hauptgeschäftsführer<br />

von <strong>Misereor</strong>. Ende Juni wird er nach<br />

12 Jahren das bischöfliche Werk für Entwicklungszusammenarbeit<br />

verlassen.<br />

Was waren die wichtigsten Momente<br />

Ihrer Arbeit <strong>in</strong> <strong>den</strong> letzten 12 Jahren?<br />

Schwer zu sagen. An erster Stelle die<br />

vielfältigen Begegnungen mit Menschen<br />

<strong>in</strong> Süd und Nord. Dann: 2015<br />

wurde die Enzyklika Laudato si’ veröffentlicht,<br />

Wegbereiter<strong>in</strong> für die<br />

Amazoniensynode. Im selben Jahr<br />

die 17 Nachhaltigkeitsziele der Vere<strong>in</strong>ten<br />

Nationen und die COP <strong>in</strong><br />

Paris mit dem Ziel, die Erderwärmung<br />

auf 1,5 Grad zu begrenzen.<br />

D<strong>in</strong>ge, die bisher als unterschiedlich<br />

wahrgenommen wur<strong>den</strong>, wur<strong>den</strong> zusammengedacht.<br />

Ergebnis: wir brauchen<br />

e<strong>in</strong> neues Modell für globale<br />

Entwicklung, das Säulen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er<br />

Kultur der Achtsamkeit hat, im Geme<strong>in</strong>wohl<br />

und <strong>in</strong> der <strong>in</strong>tegralen Ökologie.<br />

Die Amazoniensynode 2019 erlebte<br />

ich als e<strong>in</strong>e starke Vision.<br />

Was haben Sie aus Ihrer Zeit<br />

als Landpfarrer im Nordosten Brasiliens<br />

am Rande des Amazonasgebiets<br />

mitgenommen?<br />

Geduld lernte ich, ebenso, dass Genügsamkeit<br />

und E<strong>in</strong>fachheit reich<br />

machen können. <strong>Das</strong>s Entwicklung<br />

<strong>den</strong> Vulnerablen nützen muss und<br />

es nicht die e<strong>in</strong>e Lösung für Probleme<br />

gibt, ebenso wenig die e<strong>in</strong>e richtige<br />

Sicht auf die Welt. Auf unsere globalen<br />

Herausforderungen wer<strong>den</strong> wir<br />

nur Antworten f<strong>in</strong><strong>den</strong>, wenn wir <strong>den</strong><br />

verschie<strong>den</strong>en Stimmen Raum geben,<br />

ihre eigenen Lösungen zu f<strong>in</strong><strong>den</strong>.<br />

Foto: Rentke/<strong>Misereor</strong><br />

Was wünschen Sie sich<br />

für die Zeit nach <strong>Misereor</strong>?<br />

Weiterh<strong>in</strong> h<strong>in</strong>auszugehen über die<br />

eigenen Planquadrate; e<strong>in</strong>e s<strong>in</strong>nstiftende<br />

Arbeit zu tun und <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Beziehungsgeflecht<br />

zu leben, das reich<br />

macht. Ebenso, dass mir das Lei<strong>den</strong><br />

anderer nicht gleichgültig wird – dabei<br />

helfen mir Spiritualität und Erdung.<br />

Begegnungen mit<br />

Menschen <strong>in</strong> Ch<strong>in</strong>a:<br />

Genügsamkeit und E<strong>in</strong>fachheit<br />

können reich machen<br />

weiter auf Seite 26<br />

EINS<strong>2024</strong><br />

25


„Wir wollen<br />

unserer Jugend<br />

klarmachen, dass<br />

e<strong>in</strong>e lokale, unabhängige<br />

und<br />

vielfältige Landwirtschaft<br />

Zukunft<br />

hat.“<br />

Edward Mukiibi<br />

niert unsere lokale Produktion vor Ort,<br />

auch wenn es nicht beabsichtigt ist.<br />

Europäischen Wähler*<strong>in</strong>nen sollte bewusst<br />

se<strong>in</strong>, dass sie sich auch für uns<br />

für bessere politische Entscheidungen<br />

e<strong>in</strong>setzen. Wir wollen zum Beispiel e<strong>in</strong><br />

Institut für afrikanische Ernährung<br />

aufbauen, um das vorhan<strong>den</strong>e Wissen<br />

zu sammeln und besser zu verteilen<br />

und weitergeben zu können. Und um<br />

Geme<strong>in</strong>schaften, die auf Selbstversorgung<br />

setzen wollen, Hilfe anzubieten.<br />

Dafür brauchen wir Ressourcen. Es<br />

wäre gut, wenn der Globale Nor<strong>den</strong> Initiativen<br />

wie diese unterstützt.<br />

Verborgener Hunger existiert nicht<br />

nur im Globalen Sü<strong>den</strong>, sondern ist<br />

auch <strong>in</strong> Deutschland e<strong>in</strong> wachsendes<br />

Problem: Oft s<strong>in</strong>d es K<strong>in</strong>der, die übergewichtig<br />

und unterernährt zugleich s<strong>in</strong>d,<br />

weil ihnen Vitam<strong>in</strong>e und M<strong>in</strong>eralstoffe<br />

fehlen: Haben Sie e<strong>in</strong>e Lösung dafür?<br />

Mukiibi: Verborgener Hunger ist auch<br />

<strong>in</strong> Afrika e<strong>in</strong> wachsendes Problem, vor<br />

allem bei Schulk<strong>in</strong>dern. <strong>Das</strong> sehen wir<br />

zum Beispiel <strong>in</strong> Malawi und Sambia,<br />

wo 90 Prozent der Schulk<strong>in</strong>der täglich<br />

nur e<strong>in</strong> Gericht aus Mais und Bohnen<br />

zu essen bekommen. Und auch <strong>in</strong><br />

Uganda beobachten wir, dass K<strong>in</strong>der,<br />

die zur Schule gehen, 20 Tage im<br />

Monat nur Reis und Bohnen essen,<br />

ohne andere Lebensmittel und Nährstoffe<br />

zu sich zu nehmen.<br />

Woran liegt das?<br />

Mukiibi: <strong>Das</strong> liegt am Verlust der Artenvielfalt.<br />

Dort, wo es Schulgärten<br />

wie von unserem Projekt „Gärten <strong>in</strong><br />

Afrika“ gibt, können wir dieses Problem<br />

überw<strong>in</strong><strong>den</strong> und gesundes und<br />

nährstoffreiches Essen anbieten, <strong>in</strong>dem<br />

wir dort neben Bohnen ganz verschie<strong>den</strong>e<br />

Gemüsesorten anbauen wie<br />

Süßkartoffeln, Frühl<strong>in</strong>gszwiebeln, Paprika<br />

oder Avocados und auch Obst<br />

wie Bananen. Diese traditionelle mehrdimensionale<br />

Anbauweise bewahrt die<br />

K<strong>in</strong>der vor verborgenem Hunger und<br />

versorgt sie mit allem, was sie brauchen.<br />

<strong>Das</strong> gilt ebenso für die Geme<strong>in</strong>schaftsgärten:<br />

Überall dort, wo große<br />

Monokulturen angebaut wer<strong>den</strong>, haben<br />

Sie lange Hungerzeiten oder verborgenen<br />

Hunger. Unsere Erfahrungen<br />

zeigen klar: Dort, wo es Vielfalt im<br />

<strong>Garten</strong> gibt, können sich Menschen gesund<br />

und ausreichend ernähren.<br />

Was ist Ihre Lösung, Herr Spiegel?<br />

Spiegel: Für e<strong>in</strong>e „Lösung“ sollten alle<br />

Involvierten zusammenkommen. Notwendig<br />

dafür ist: Es sollte verb<strong>in</strong>dliche<br />

Richtl<strong>in</strong>ien dafür geben, dass jedes<br />

K<strong>in</strong>d, <strong>in</strong> Deutschland ebenso wie überall<br />

auf der Welt, zum<strong>in</strong>dest e<strong>in</strong>e gesunde<br />

und ausgewogene Mahlzeit <strong>in</strong><br />

K<strong>in</strong>dertagesstätte oder Schule erhält.<br />

Diese Mahlzeit sollte kostenlos se<strong>in</strong>,<br />

weil jedes K<strong>in</strong>d das Recht auf e<strong>in</strong>e gesunde<br />

Ernährung hat. Außerdem fordern<br />

wir geme<strong>in</strong>sam mit Slow Food<br />

e<strong>in</strong>e agrarökologische Wende, weg<br />

von der kapital<strong>in</strong>tensiven Landwirtschaft,<br />

h<strong>in</strong> zu mehr Vielfalt und kle<strong>in</strong>eren<br />

Strukturen. Zur Ernährungswende<br />

gehört auch e<strong>in</strong>e stärker pflanzenbasierte<br />

Ernährung, sodass nicht<br />

mehr 40 bis 50 Prozent der Agrarflächen<br />

weltweit für <strong>den</strong> Anbau von<br />

Futtermitteln verwendet wer<strong>den</strong>. Und<br />

wir müssen die Lebensmittelverschwendung<br />

e<strong>in</strong>dämmen – die bei uns, weil<br />

zu viel weggeworfen wird, und die im<br />

Globalen Sü<strong>den</strong>, weil oft die Infrastruktur<br />

fehlt, um Lebensmittel zeitgerecht<br />

weiterzuverarbeiten oder zu verbrauchen<br />

und sie zu häufig zu verrotten<br />

drohen.<br />

Entwicklungszusammenarbeit steht<br />

<strong>in</strong> der Kritik. Sie sei nicht mehr zeitgemäß,<br />

heißt es: Wie sehen Sie das?<br />

Spiegel: Ich stimme zu, dass e<strong>in</strong>e Entwicklungszusammenarbeit,<br />

die paternalistische<br />

Strukturen und <strong>Ab</strong>hängigkeiten<br />

unterstützt, überwun<strong>den</strong> wer<strong>den</strong><br />

muss.<br />

Mukiibi: Richtig. E<strong>in</strong>e Entwicklungszusammenarbeit,<br />

die neokoloniale Ten<strong>den</strong>zen<br />

unterstützt, lehnen wir ab.<br />

<strong>Ab</strong>er e<strong>in</strong>e Entwicklungsarbeit, die Geme<strong>in</strong>schaften<br />

und Menschen vor Ort<br />

stärkt und sie dar<strong>in</strong> unterstützt, unabhängiger<br />

und widerstandsfähiger zu<br />

wer<strong>den</strong>, ihre Rechte e<strong>in</strong>zufordern und<br />

mehr soziale Gerechtigkeit zu schaffen,<br />

erleben wir als sehr hilfreich.<br />

Diese Art der Entwicklungszusammenarbeit,<br />

wie sie auch <strong>Misereor</strong> leistet,<br />

heißen wir willkommen.<br />

Edward Mukiibi ist 2022 zum <strong>in</strong>ternationalen Präsi<strong>den</strong>ten von Slow<br />

Food gewählt wor<strong>den</strong>. Zuvor war der Agrarökonom aus Uganda Stellvertreter<br />

von Slow Food-Gründer Carlo Petr<strong>in</strong>i. Der Sohn e<strong>in</strong>er Bauernfamilie<br />

gilt als e<strong>in</strong>er der e<strong>in</strong>flussreichsten Agronomen Afrikas. Es ist<br />

ihm gelungen, mit Slow Food Initiativen wie etwa dem Projekt „Gärten<br />

<strong>in</strong> Afrika“ Ugandas Landwirtschaftssektor zu reformieren und ihn nachhaltiger<br />

zu machen. <strong>Das</strong> ostafrikanische Land gilt mit se<strong>in</strong>en fruchtbaren<br />

Bö<strong>den</strong> und dem mil<strong>den</strong> Klima als Gemüsegarten Ostafrikas. Bis vor<br />

wenigen Jahren setzte die Regierung noch auf <strong>den</strong> Ausbau der <strong>in</strong>dustrialisierten<br />

Landwirtschaft, <strong>in</strong>zwischen ist Uganda e<strong>in</strong>es der wenigen<br />

Länder weltweit, die e<strong>in</strong>e agrarökologische Wende begonnen haben.<br />

26<br />

EINS<strong>2024</strong>


INFOGRAFIK<br />

Noch immer s<strong>in</strong>d viele Menschen nicht e<strong>in</strong>mal <strong>in</strong> der Lage,<br />

genug Kalorien zu sich zu nehmen, um satt zu wer<strong>den</strong>.<br />

Kommentiert von Lutz Depenbusch,<br />

Referent für Ländliche Entwicklung bei <strong>Misereor</strong><br />

Konsum von Obst und Gemüse<br />

pro Person und Tag<br />

400 g 390 g<br />

Empfohlene<br />

Aufnahme<br />

Weltweite<br />

Produktion (2017)<br />

190 g<br />

Weltweiter Konsum<br />

Gemüse<br />

Quellen: fao.de; Harris, J. et al. (2023) – Fruits and vegetables for healthy diets<br />

81 g<br />

Weltweiter Konsum<br />

Obst<br />

Zero Hunger<br />

<strong>in</strong> weiter Ferne<br />

Die Welt hat sich das Ziel gesetzt,<br />

bis 2030 <strong>den</strong> Hunger zu besiegen.<br />

Bei der derzeitigen Entwicklung<br />

wer<strong>den</strong> jedoch 58 Länder<br />

nicht mal e<strong>in</strong> niedriges Hungerniveau<br />

erreichen.<br />

Quelle:<br />

welthunger<strong>in</strong>dex.org<br />

„Wegen fehlender Kühlung<br />

wird vieles schlecht und die Menschen<br />

<strong>in</strong> vielen Ländern können sich Obst und<br />

Gemüse nicht leisten.“<br />

Der perfekte Speiseplan, um <strong>den</strong> Planeten zu retten<br />

Der Planet leidet massiv unter unseren Essgewohnheiten. Deshalb haben<br />

Forschende e<strong>in</strong>en Speiseplan entwickelt, der die natürlichen Grenzen des Planeten<br />

berücksichtigt und e<strong>in</strong>e gesunde Ernährung aller Menschen sicherstellen will.<br />

„Ohne e<strong>in</strong> deutliches<br />

E<strong>in</strong>greifen wer<strong>den</strong><br />

im Jahr 2030 immer noch fast<br />

600 Millionen Menschen<br />

unter chronischem<br />

Hunger lei<strong>den</strong>.“<br />

IInfografik: Infotext Berl<strong>in</strong><br />

Quelle: statista.de<br />

EINS<strong>2024</strong><br />

27


FAIRER HANDEL<br />

Die Nachfrage nach nachhaltig produzierten und<br />

fair gehandelten Blumen und Pflanzen wächst.<br />

<strong>Ab</strong>er die Produzenten verdienen immer noch zu wenig.<br />

Nicht nur <strong>in</strong> Afrika, sondern auch bei uns.<br />

Text von: Mart<strong>in</strong>a Hahn<br />

Foto: Aldo Pavan via Getty Images<br />

28<br />

EINS<strong>2024</strong>


Schwer liegt der Duft der Rosen über<br />

der riesigen Packhalle der Farm.<br />

<strong>Ab</strong>er Agnes Chebii hat nicht das<br />

Meer von Farben, Rot, Gelb, Rosé oder Lila<br />

im Blick. Sie konzentriert sich auf die<br />

empf<strong>in</strong>dlichen Köpfe der Blumen, die<br />

frisch geschnitten und entdornt vor ihr<br />

auf dem Pult liegen und die ihrer Familie<br />

e<strong>in</strong> E<strong>in</strong>kommen sichern. Erst wenn Chebii,<br />

Teamleiter<strong>in</strong> auf der Karen-Roses-<br />

Farm <strong>in</strong> Kenia, die Blätter der Blüten geprüft<br />

hat, die hier für <strong>den</strong> Fairen Handel<br />

wachsen, wer<strong>den</strong> die Stiele im Akkordtempo<br />

auf 80 oder 40 Zentimeter gekappt, immer zwölf auf<br />

e<strong>in</strong> Stück Karton gelegt, zu e<strong>in</strong>em Bündel gerollt, mit dem<br />

Fairtrade-Etikett beklebt und auf ihre Reise nach Europa geschickt.<br />

Zwei Tage später und 6.370 Kilometer weiter nördlich<br />

zieht Katr<strong>in</strong> Jahn nache<strong>in</strong>ander neun rosa Rosen aus dem<br />

Eimer, <strong>den</strong> Strauß hat e<strong>in</strong>e Kund<strong>in</strong> geordert, sie möchte<br />

fair gehandelte Ware. Katr<strong>in</strong> Jahn hat mit zwei Freun<strong>den</strong><br />

<strong>den</strong> Blumenhandel „Marsano“ gegründet, sie beschäftigt 35<br />

Männer und Frauen und ist Fördermitglied der Slowflower-<br />

Bewegung. Auf dem Bo<strong>den</strong> und <strong>in</strong> <strong>den</strong> Glasregalen des liebevoll<br />

e<strong>in</strong>gerichteten La<strong>den</strong>s stehen Blumen <strong>in</strong> großen Vasen<br />

und Töpfen. Von der Decke hängen Trockensträuße. „Wir<br />

werfen ke<strong>in</strong>e Blumen weg, Nachhaltigkeit ist uns wichtig“,<br />

sagt Jahn. Im Sommer hat sie nur Schnittblumen vom eigenen<br />

Feld im Sortiment, Dahlien, Cosmeen, Amaranthus<br />

oder Gladiolen – aber zwischen Oktober und März bietet<br />

Jahn Blumen aus der ganzen Welt an, auch Rosen mit dem<br />

Fairtrade-Siegel. „Anders können wir im W<strong>in</strong>ter <strong>den</strong> Bedarf<br />

an Ware, auch an nachhaltiger, gar nicht stillen.“<br />

2,7 Milliar<strong>den</strong> Euro geben die Deutschen jährlich für Blumen<br />

aus. <strong>Das</strong> s<strong>in</strong>d im Schnitt pro Kopf 35 Euro, so der Zentralverband<br />

<strong>Garten</strong>bau (ZVG). Allerd<strong>in</strong>gs kann die europäische<br />

Blumenproduktion diese<br />

Nachfrage nicht befriedigen.<br />

Blumen s<strong>in</strong>d<br />

das viertwichtigste<br />

Fairtrade-<br />

Produkt nach<br />

Kakao, Kaffee<br />

und Bananen<br />

Foto: Aldo Marsano Pavan via Getty Images<br />

Kenia ist Deutschlands zweitgrößter<br />

Lieferant für Rosen.<br />

Neun von zehn Rosen wer<strong>den</strong><br />

importiert, 1,3 Milliar<strong>den</strong> Stiele<br />

pro Jahr. Doch das blühende<br />

Geschäft mit Rosen ist häufig<br />

Katr<strong>in</strong> Jahn erntet<br />

im Sommer die Blumen<br />

für ihren La<strong>den</strong> auf zwei eigenen<br />

Feldern <strong>in</strong> Bran<strong>den</strong>burg<br />

e<strong>in</strong> schmutziges: Miserable Löhne für die Pflücker*<strong>in</strong>nen,<br />

kaputte Masken für Mitarbeitende, die im Pestizidnebel stehen,<br />

oder unbezahlte Überstun<strong>den</strong> s<strong>in</strong>d auf vielen konventionell<br />

arbeiten<strong>den</strong> Blumenplantagen <strong>in</strong> Afrika und Late<strong>in</strong>amerika<br />

eher Regel als Ausnahme. Auch überdüngte Seen<br />

und kaputte Bö<strong>den</strong> rund um die meist riesigen Blumenfarmen<br />

<strong>in</strong> Übersee kratzen am Image der Rosen. Auch wegen<br />

solcher Missstände achten immer mehr Verbraucher*<strong>in</strong>nen<br />

bei Blumen und Pflanzen darauf, dass sie bio, regional oder<br />

fair erzeugt wor<strong>den</strong> s<strong>in</strong>d. Inzwischen stammt jede dritte<br />

Rose, die <strong>in</strong> Deutschland über <strong>den</strong> La<strong>den</strong>tisch geht, aus e<strong>in</strong>er<br />

Fairtrade-Blumenfarm, 464 Millionen Stiele alle<strong>in</strong> im<br />

Jahr 2023, e<strong>in</strong> Umsatz von 128 Millionen Euro. Blumen s<strong>in</strong>d <strong>in</strong>zwischen<br />

das viertwichtigste Fairtrade-Produkt nach Kakao,<br />

Kaffee und Bananen.<br />

Auch die nachhaltige Slowflower-Bewegung hat <strong>in</strong><br />

Deutschland Zulauf: Die Gärtner*<strong>in</strong>nen und Florist*<strong>in</strong>nen<br />

bieten Blumen, Stau<strong>den</strong> und Setzl<strong>in</strong>ge vom eigenen Feld an,<br />

etliche von ihnen s<strong>in</strong>d biozertifiziert.<br />

Und die Nische wächst. Die Berl<strong>in</strong>er Florist<strong>in</strong> Jahn etwa<br />

erntet im Sommer die Blumen für ihren Marsano-La<strong>den</strong> auf<br />

zwei eigenen Feldern <strong>in</strong> Bran<strong>den</strong>burg. Sie verwendet dort<br />

Bio-Saatgut und erzeugt <strong>den</strong> Kompost selbst. Pestizide, synthetischer<br />

Dünger und Monokulturen s<strong>in</strong>d tabu. All das<br />

s<strong>in</strong>d wichtige Kriterien für die Slowflower-Bewegung, sagt<br />

Emma Auerbach, Sprecher<strong>in</strong> von Slowflower Deutschland –<br />

ebenso wie Regionalität: „Wir bauen nur an, was zu Jahreszeit<br />

und Klima passt.“ Damit verzichten etliche Slowflower-<br />

Mitglieder zwischen November und März auf e<strong>in</strong> E<strong>in</strong>kommen<br />

durch Schnittblumen. Auskömmlich wirtschaften<br />

kann kaum e<strong>in</strong> Betrieb, die meisten arbeiten alle<strong>in</strong>e oder<br />

EINS<strong>2024</strong> 29


Wir bauen nur an,<br />

was zu Jahreszeit<br />

und Klima passt<br />

In e<strong>in</strong>em zertifizierten<br />

Unternehmen wer<strong>den</strong><br />

Fairtrade-Rosen für <strong>den</strong> Versand<br />

nach Europa vorbereitet<br />

zu zweit und auf weit unter e<strong>in</strong>em<br />

Hektar Land. Ihnen hilft, dass sie die<br />

Blumen im eigenen La<strong>den</strong> oder über<br />

Selbstpflückmodelle verkaufen. Damit<br />

bleibt mehr vom Verkaufspreis<br />

bei ihnen.<br />

Auch Fairtrade International (FI)<br />

hat die Menschen im Blick, die Pflanzen<br />

pflegen und ernten. Seit 2002 zertifiziert<br />

die Dachorganisation im Globalen<br />

Sü<strong>den</strong> Farmunternehmen, die<br />

Rosen züchten. Nach <strong>den</strong> FI-Richtl<strong>in</strong>ien<br />

arbeiten weltweit 73 Blumen-Zu-<br />

Auf der Fiduga- Blumenfarm<br />

<strong>in</strong> Uganda<br />

wer<strong>den</strong> Setzl<strong>in</strong>ge für<br />

lieferer mit 71.000 Arbeiter*<strong>in</strong>nen.<br />

die Niederlande produziert.<br />

Umliegende<br />

<strong>Das</strong> bedeutet: Die Farm darf ke<strong>in</strong>e<br />

K<strong>in</strong>der beschäftigen. Sie muss feste<br />

Farmer beklagen <strong>den</strong><br />

hohen Pestizidausstoß<br />

und Wasserschaften<br />

zulassen und Frauen för-<br />

Arbeitsverträge ausstellen, Gewerkknappheitdern.<br />

E<strong>in</strong>e Fairtrade-Farm muss das<br />

Regenwasser auffangen, Brauchwasser<br />

filtern, die Rosen per Tröpfchen bewässern, <strong>Ab</strong>fälle kompostieren<br />

und <strong>den</strong> E<strong>in</strong>satz von Pestizi<strong>den</strong> reduzieren. Dafür<br />

darf die Karen-Roses-Farm an je<strong>den</strong> Stängel das blau-grüne<br />

Siegel anbr<strong>in</strong>gen.<br />

Für die Arbeiter<strong>in</strong>nen wie Agnes Chebii bedeutet das Siegel<br />

auf <strong>den</strong> Rosen zudem, dass sie <strong>in</strong> Kenia aufgrund des<br />

von Fairtrade auf Blumenfarmen e<strong>in</strong>geführten Basis-Lohns<br />

mehr Geld bekommen als jene, die <strong>in</strong> Kenia auf e<strong>in</strong>er nicht<br />

zertifizierten Farm arbeiten. Doch trotz besserer Bed<strong>in</strong>gungen<br />

liegt auch Chebiis Monatslohn<br />

nur 35 Prozent über der Armutsgrenze,<br />

e<strong>in</strong> existenzsichernder<br />

Lohn läge dreimal so hoch.<br />

„Wir wissen, dass die Blumenarbeiter<strong>in</strong>nen<br />

mehr verdienen müssten“,<br />

räumt Claudia Brück e<strong>in</strong>, sie sitzt<br />

im Vorstand von Fairtrade Deutschland.<br />

„Deswegen müssen die Blumen<br />

bei uns teurer wer<strong>den</strong>.“<br />

S<strong>in</strong>d angesichts dieser globalen<br />

Lieferketten nur regional produzierte<br />

Blumen oder andernfalls<br />

der Verzicht auf gekaufte Blumen<br />

wirklich nachhaltig? Ne<strong>in</strong>, sagt<br />

Klaus Piepel, bis 2020 Afrikareferent von <strong>Misereor</strong> und heute<br />

Aufsichtsrat von Fairtrade Deutschland. „Wer nur konsumiert,<br />

was die Natur <strong>in</strong> der eigenen Region zur Verfügung<br />

stellt, nimmt h<strong>in</strong>, dass Leute im Globalen Sü<strong>den</strong> ke<strong>in</strong> E<strong>in</strong>kommen<br />

durch bestimmte Produkte haben oder dieses E<strong>in</strong>kommen<br />

verlieren.“ Deutschland exportiere Agrarprodukte<br />

und Fleisch <strong>in</strong> alle Welt. „Den Ländern<br />

im Globalen Sü<strong>den</strong> jetzt vorzuschreiben,<br />

dasselbe bitteschön<br />

se<strong>in</strong> zu lassen, weil es dem Klima<br />

schade oder Blumen re<strong>in</strong>er Luxus<br />

seien, ist sche<strong>in</strong>heilig.“<br />

Fair erzeugte Blumen und<br />

Topfpflanzen aus Übersee erkennen<br />

Sie am Fairtrade-Siegel, dessen Entwicklung<br />

von <strong>Misereor</strong> mit unterstützt wurde:<br />

www.fairtrade-deutschland.de<br />

Anbieter für nachhaltige Schnittblumen<br />

aus hiesigem Anbau f<strong>in</strong><strong>den</strong> sich unter:<br />

www.slowflower-bewegung.de<br />

Mart<strong>in</strong>a Hahn ist freie Journalist<strong>in</strong> aus Berl<strong>in</strong>. Seit 20 Jahren recherchiert sie<br />

weltweit zu <strong>den</strong> Themen Fairer Handel und nachhaltiger Konsum.<br />

Fotos: Hartmut Fiebig (o.), Hartmut Schwarzbach (u.)<br />

30<br />

EINS<strong>2024</strong>


DEUTSCHLAND<br />

<strong>Das</strong> Ökodorf Sieben<br />

L<strong>in</strong><strong>den</strong> produziert<br />

e<strong>in</strong>en Großteil<br />

se<strong>in</strong>er Lebensmittel<br />

selbst<br />

Text von Annette Jensen<br />

Fotos von Kathr<strong>in</strong> Harms<br />

EINS<strong>2024</strong><br />

31


Pestizid-E<strong>in</strong>satz<br />

wird im Ökodorf<br />

vermie<strong>den</strong>: Kapuz<strong>in</strong>erkresse<br />

und Tagetes<br />

schützen das Gemüse<br />

vor Nemato<strong>den</strong> und<br />

Läusen<br />

Ökodorf Sieben<br />

L<strong>in</strong><strong>den</strong>: Früher war hier e<strong>in</strong><br />

riesiger, konventionell bewirtschafteter<br />

Getreideacker<br />

In e<strong>in</strong>er dünn besiedelten Gegend 50 Kilometer nordöstlich<br />

von Wolfsburg liegt das Ökodorf Sieben L<strong>in</strong><strong>den</strong>. Als<br />

die ersten Bewohner*<strong>in</strong>nen vor e<strong>in</strong>em Vierteljahrhundert<br />

ihre Häuser <strong>in</strong> Stroh-Lehmbauweise errichteten, war<br />

das ganze Gelände e<strong>in</strong> riesiger, konventionell bewirtschafteter<br />

Getreideacker mit angrenzendem Kiefernwald. Heute<br />

wachsen auf schmalen Feldstreifen dicht an dicht pralle Salatköpfe,<br />

üppige Grünkohlbüsche, Rote Bete und Zuckerhut.<br />

„Durch <strong>den</strong> engen Anbau entsteht e<strong>in</strong> Mikroklima zwischen<br />

<strong>den</strong> Pflanzen. So kann der Bo<strong>den</strong> das Wasser besser halten",<br />

beschreibt Lorena Castro e<strong>in</strong> Element der hier praktizierten<br />

hocheffizienten Anbaumethode, die ke<strong>in</strong>e schweren Masch<strong>in</strong>en<br />

nutzt und Dutzende Gemüsesorten auf wenig Raum<br />

kultiviert.<br />

Die 27-Jährige stammt aus Mexiko. Ihr ist wichtig zu demonstrieren,<br />

dass Selbstversorgung möglich ist. „Deutschland<br />

ist es gewohnt, e<strong>in</strong>en Großteil der Lebensmittel zu importieren<br />

auf Kosten von Menschen anderswo“, sagt die<br />

kle<strong>in</strong>e, energiegela<strong>den</strong>e Frau mit dem Strohhut. Sie verweist<br />

auf <strong>den</strong> Weltklimarat. Der führt e<strong>in</strong> Drittel der Erderwärmung<br />

auf das aktuelle Ernährungssystem zurück und<br />

empfielt für die Zukunft weniger tierische Produkte, Saisonalität,<br />

Regionalität und Vielfalt.<br />

Tatsächlich landet alles, was Castro und ihre bei<strong>den</strong> Kolleg<strong>in</strong>nen<br />

mit Unterstützung zahlreicher Freiwilliger auf<br />

dem drei Hektar großen <strong>Garten</strong>gelände ernten, <strong>in</strong> Kochtöpfen,<br />

Salatschüsseln und E<strong>in</strong>machgläsern <strong>in</strong> fußläufiger Entfernung.<br />

Die 150-köpfige Dorfgeme<strong>in</strong>schaft ernährt sich<br />

und die zahlreichen Gäste zum allergrößten Teil mit eigenem<br />

Gemüse, Brot, Müsli und Nudeln. Öle und e<strong>in</strong>ige andere<br />

Produkte wie Kaffee wer<strong>den</strong> zugekauft.<br />

Markus Wolter, Referent für Landwirtschaft und Ernährung<br />

bei <strong>Misereor</strong>, kennt Anbaupraktiken auf fast allen<br />

Kont<strong>in</strong>enten und war auch mehrfach <strong>in</strong> Sieben L<strong>in</strong><strong>den</strong>. <strong>Das</strong><br />

<strong>in</strong> der sachsen-anhalt<strong>in</strong>ischen Prov<strong>in</strong>z praktizierte Marktgartenkonzept<br />

hält der Diplomgeograf für beispielhaft<br />

32<br />

EINS<strong>2024</strong>


Durch <strong>den</strong> engen<br />

Anbau entsteht<br />

e<strong>in</strong> Mikroklima<br />

zwischen <strong>den</strong> Pflanzen.<br />

So kann der<br />

Bo<strong>den</strong> das Wasser<br />

besser halten.<br />

dafür, wie sich die gesamte Menschheit gut und planetenfreundlich<br />

versorgen ließe. „Es gibt heute im<br />

Allgeme<strong>in</strong>en genug Essenskalorien für alle; der<br />

Hunger ist unter anderem e<strong>in</strong>e Folge von Kriegen<br />

und ungerechter Verteilung – niemand müsste hungern“,<br />

fasst Wolter zusammen. Doch Reis, Soja, Weizen<br />

und andere lagerfähige Lebensmittel reichen alle<strong>in</strong><br />

nicht für e<strong>in</strong>e ausgewogene Ernährung. Dafür<br />

müsste weltweit viel mehr Gemüse produziert wer<strong>den</strong><br />

– und das sollte dann auch aus der jeweiligen<br />

Umgebung kommen und ökologisch erzeugt wer<strong>den</strong>,<br />

um frisch auf <strong>den</strong> Tellern zu lan<strong>den</strong>.<br />

Lorena Castro ist <strong>in</strong> Sieben L<strong>in</strong><strong>den</strong> für vier Gewächshäuser<br />

und die Gemüseanzucht verantwortlich.<br />

Tomatenpflanzen recken sich bis zum Dach, <strong>in</strong><br />

<strong>den</strong> Reihen dazwischen kauern üppige Basilikumbüschel,<br />

Paprika- und Auberg<strong>in</strong>enstau<strong>den</strong>. Hier und da<br />

leuchten die orangefarbenen Blüten von Kapuz<strong>in</strong>erkresse<br />

und Tagetes. <strong>Das</strong> erfreut nicht nur das Auge,<br />

sondern schützt auch das Gemüse vor Nemato<strong>den</strong><br />

und Läusen. „Wir geben <strong>den</strong> Tieren was zu fressen,<br />

damit sie nicht auf unsere Hauptkulturen gehen“,<br />

erklärt die Gärtner<strong>in</strong>, während sie durch die Reihen<br />

streift und rasch e<strong>in</strong> paar Tomatentriebe ausgeizt.<br />

Die vorhan<strong>den</strong>e Bo<strong>den</strong>qualität war hier sehr<br />

schlecht, e<strong>in</strong> Problem, mit dem die Gegend <strong>in</strong> Sachsen-Anhalt<br />

ke<strong>in</strong>eswegs alle<strong>in</strong>e dasteht.<br />

In vielen Weltregionen hat die „grüne Revolution“ durch<br />

hohen Pestizide<strong>in</strong>satz und Monokulturen die Bö<strong>den</strong> ausgelaugt.<br />

„Knapp e<strong>in</strong> Viertel der Bö<strong>den</strong> weltweit s<strong>in</strong>d heute<br />

degradiert – Ten<strong>den</strong>z steigend“, bilanziert Markus Wolter.<br />

Schrumpft der Humusgehalt, hält der Bo<strong>den</strong> auch weniger<br />

Wasser. <strong>Das</strong> ist fatal <strong>in</strong> Zeiten steigender Temperaturen<br />

und zunehmender Dürrephasen.<br />

Um dem entgegenzuwirken, lässt das <strong>Garten</strong>-Team <strong>in</strong> Sieben<br />

L<strong>in</strong><strong>den</strong> bei der Ernte die schlappen Außenblätter liegen<br />

und die Wurzeln im Bo<strong>den</strong>. Dann kommt für drei bis vier<br />

Es gibt zahlreiche<br />

Tomatenpflanzen:<br />

Tröpfchen-Bewässerung<br />

hilft, das knappe<br />

Wasser möglichst<br />

effektiv e<strong>in</strong>zusetzen,<br />

die Erde wird mit<br />

Blättern abgedeckt<br />

Lorena Castro ist <strong>in</strong><br />

Sieben L<strong>in</strong><strong>den</strong> für vier<br />

Gewächshäuser und die Gemüseanzucht<br />

verantwortlich<br />

Wochen e<strong>in</strong>e dunkle Plane über das feuchte Feld. Milliar<strong>den</strong><br />

von Mikroorganismen, Würmer und Pilze haben jetzt<br />

Ruhe, die Reste <strong>in</strong> Humus zu verwandeln. Sofort danach erfolgt<br />

die nächste Pflanzung: Zu ke<strong>in</strong>em Zeitpunkt ist der Bo<strong>den</strong><br />

nackt Sonne und W<strong>in</strong>d ausgesetzt. Tröpfchenbewässerung<br />

hilft, das knappe Wasser gleichmäßig zu verteilen<br />

und möglichst effektiv e<strong>in</strong>zusetzen.<br />

<strong>Misereor</strong>-Partner haben viel Erfahrung mit Bo<strong>den</strong>-Regeneration<br />

durch Kompostdüngung und anderen agarökologischen<br />

Metho<strong>den</strong>, die Kohlenstoff <strong>in</strong> der Erde b<strong>in</strong><strong>den</strong> und<br />

das Bo<strong>den</strong>leben fördern. „Intensiver Gemüsebau geht kaum<br />

ohne tierisches Material wie Mist, Schafwoll- oder Hornpellets“,<br />

ist Wolter überzeugt. <strong>Das</strong> sieht auch Uga Wolf so, der<br />

vor 25 Jahren <strong>in</strong> Sieben L<strong>in</strong><strong>den</strong> auf e<strong>in</strong>em Hektar Land Obstbaumreihen<br />

im <strong>Ab</strong>stand von zwölf Metern gepflanzt hat.<br />

Sternrenette, Kaiser Wilhelm, Herbstpr<strong>in</strong>z und Holste<strong>in</strong>er<br />

Cox – se<strong>in</strong>e Baumschule hat <strong>in</strong>zwischen über 500 verschie<strong>den</strong>e<br />

Apfel- und Birnensorten im Angebot. Dazwischen ge-<br />

EINS<strong>2024</strong><br />

33


deihen Zucch<strong>in</strong>i, Kürbisse, Tomaten und Mais, die Wolf an<br />

<strong>den</strong> Dorfla<strong>den</strong> verkauft.<br />

Wolf entwickelte e<strong>in</strong>e Komposttechnik, bei der er alle<br />

zwei Wochen e<strong>in</strong>en langen Haufen um zwei Meter verlängert.<br />

Neben Grünschnitt und Fallobst arbeitet er auch Pferdemist<br />

e<strong>in</strong>es benachbarten Betriebs mit e<strong>in</strong>. „Dafür haben<br />

wir hier zu viele Veganer, eigentlich<br />

gehören mehr Tiere <strong>in</strong> die<br />

Landwirtschaft“, me<strong>in</strong>t er. <strong>Das</strong>s<br />

Der Weltklimarat<br />

führt e<strong>in</strong><br />

Drittel der Erderwärmung<br />

auf das aktuelle<br />

Ernährungssystem<br />

zurück<br />

das Marktgarten-Team Kompost<br />

aus e<strong>in</strong>er Anlage bei Hamburg antransportieren<br />

lässt, missfällt ihm.<br />

<strong>Ab</strong>er <strong>in</strong> Sieben L<strong>in</strong><strong>den</strong> haben unterschiedliche<br />

Metho<strong>den</strong> Platz. Alle<br />

e<strong>in</strong>t der Wunsch, e<strong>in</strong> gutes Leben<br />

ohne Überschreitung der planetaren<br />

Grenzen führen zu wollen.<br />

<strong>Ab</strong>nehmer und Verteiler der gesamten<br />

Gemüseernte <strong>in</strong> Sieben L<strong>in</strong><strong>den</strong><br />

ist der La<strong>den</strong>. E<strong>in</strong>en Teil deponieren<br />

die Mitarbeiten<strong>den</strong> im e<strong>in</strong>zigen<br />

unterkellerten Altbau im<br />

Dorf. Hier gibt es zahlreiche Fächer<br />

mit mäusesicheren Gittern, aus <strong>den</strong>en sich alle das nehmen<br />

können, was sie brauchen und mögen. Auch e<strong>in</strong>e große Auswahl<br />

von Pasten, Marmela<strong>den</strong> und E<strong>in</strong>gelegtem ist hier zu<br />

f<strong>in</strong><strong>den</strong>. Der andere Teil geht an die Geme<strong>in</strong>schaftsküche,<br />

E<strong>in</strong>ige junge Leute<br />

haben sich <strong>in</strong> Bauwagen mit<br />

politischen Botschaften um<br />

Sieben L<strong>in</strong><strong>den</strong> angesiedelt<br />

Immer wieder<br />

helfen Gäste und<br />

Freiwillige bei<br />

der Ernte oder bei<br />

<strong>den</strong> E<strong>in</strong>machwochen<br />

im Sommer<br />

und Herbst<br />

die je<strong>den</strong> Mittag und <strong>Ab</strong>end etwa 60 Portionen für die Bewohnerschaft<br />

zubereitet und auch die Sem<strong>in</strong>arteilnehmen<strong>den</strong><br />

versorgt.<br />

Reste wer<strong>den</strong> kreativ <strong>in</strong> <strong>den</strong> Essensplan vom Folgetag e<strong>in</strong>gebaut.<br />

„Wir kochen mit dem, was gerade verfügbar ist“, erzählt<br />

Tatjana Schubert. Sie wohnt e<strong>in</strong>e M<strong>in</strong>ute vom Regiohaus<br />

entfernt und schaut frühmorgens nach, was die Kolleg*<strong>in</strong>nen<br />

vom La<strong>den</strong> ihr <strong>in</strong>s Fach gelegt haben, damit sie es<br />

vordr<strong>in</strong>glich verarbeitet. Dann checkt sie, wie viele Gäste<br />

und Unterstützende zu erwarten s<strong>in</strong>d und entscheidet sich<br />

für zwei oder drei Gerichte. Gemüse ist immer die Basis,<br />

komb<strong>in</strong>iert mit etwas Eiweißhaltigem wie L<strong>in</strong>sen, Erbsen<br />

oder Soja und Kohlenhydraten aus Kartoffeln oder Getreide.<br />

Schritt für Schritt ist die Infrastruktur <strong>in</strong> Sieben L<strong>in</strong><strong>den</strong><br />

gewachsen, die <strong>Ab</strong>läufe s<strong>in</strong>d bestens e<strong>in</strong>gespielt. Im Sommer<br />

und Herbst gibt es E<strong>in</strong>machwochen. In der dafür e<strong>in</strong>gerichteten<br />

Küche produzieren Mitglieder aus der Geme<strong>in</strong>schaft<br />

und Gäste unter Anleitung Sauerkraut, Pesto, Brotaufstriche,<br />

Marmela<strong>den</strong> und süß-saure Zucch<strong>in</strong>i.<br />

„Es geht nicht darum Geld zu sparen, sondern<br />

alles zu verarbeiten, was hier wächst“, sagt Schubert,<br />

für die schon als K<strong>in</strong>d e<strong>in</strong> großer Nutzgarten<br />

zum Leben gehörte. Sp<strong>in</strong>at, Hirschhorn- und<br />

Schnittsalat gibt es dank kluger Anbauplanung <strong>in</strong><br />

der kalten Jahreszeit ebenfalls.<br />

Damit entspricht die Ernährung <strong>in</strong> Sieben L<strong>in</strong><strong>den</strong><br />

schon stark dem, was 37 Wissenschaftler*<strong>in</strong>nen<br />

aus aller Welt vor fünf Jahren als Planetary<br />

Health Diet empfohlen haben: E<strong>in</strong> Speiseplan, der<br />

sowohl der menschlichen Gesundheit dient als<br />

auch die planetaren Belastungsgrenzen respektiert<br />

und zur Artenvielfalt beiträgt. Allerd<strong>in</strong>gs unterschei<strong>den</strong><br />

sich die weltweiten Esskulturen stark.<br />

Während die höheren Kasten <strong>in</strong> Indien traditionell<br />

nur pflanzliche Kost zu sich nehmen und<br />

Fleisch e<strong>in</strong> eher negatives Image hat, ist die Auswahl<br />

an Gemüse <strong>in</strong> Late<strong>in</strong>amerika oft begrenzt.<br />

„Dort leben bis zu 70 Prozent der Menschen <strong>in</strong><br />

Städten und dort gibt es oft wenig Platz, um Frisches<br />

anzubauen“, erklärt Wolter. So ist die<br />

Küche <strong>in</strong> Bolivien extrem kohlenhydrat- und<br />

fleischlastig, weil viele nicht mehr kochen und<br />

sich lieber schnell e<strong>in</strong> frittiertes Hähnchen und<br />

34<br />

EINS<strong>2024</strong>


Die Geme<strong>in</strong>schaftsküche<br />

versorgt<br />

je<strong>den</strong> Mittag<br />

und <strong>Ab</strong>end die<br />

Bewohner mit 60<br />

Essens-Portionen<br />

Reis, Soja und<br />

Weizen alle<strong>in</strong><br />

reichen nicht für<br />

e<strong>in</strong>e ausgewogene<br />

Ernährung<br />

Pommes kaufen. Und<br />

wenn Gemüse angeboten<br />

wird, dann stammt<br />

dieses aus e<strong>in</strong>er Produktion<br />

mit viel Pestizi<strong>den</strong><br />

und belastetem Wasser.<br />

Dieses Problem versuchen<br />

<strong>Misereor</strong>-Projektpartner<br />

<strong>in</strong> der auf 4.000<br />

Meter Höhe liegen<strong>den</strong><br />

Großstadt El Alto durch Gewächshäuser anzugehen. Dar<strong>in</strong><br />

gedeihen nun auf engstem Raum bis zu 40 Kulturen, die <strong>in</strong>zwischen<br />

auf das Interesse der Stadtbevölkerung stoßen<br />

und damit auch die Esskultur verändern und zeigen, dass<br />

gesunde Ernährung möglich ist.<br />

Mit <strong>den</strong> Jahren wur<strong>den</strong> <strong>in</strong> Sieben L<strong>in</strong><strong>den</strong> immer mehr<br />

Bäume und Hecken gepflanzt, als W<strong>in</strong>dschutz und Schattenspender.<br />

Bei alldem geht es um weit mehr als um die<br />

Produktion und <strong>den</strong> Konsum von Nahrungsmitteln, es geht<br />

auch ums Wohlbef<strong>in</strong><strong>den</strong>. Irma Fäthke, die älteste Bewohner<strong>in</strong><br />

von Sieben L<strong>in</strong><strong>den</strong>, lebt <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Bauwagen und ist<br />

überzeugt, e<strong>in</strong> Luxusdase<strong>in</strong> zu führen. Während sie durchs<br />

Dorf bummelt und Kräuter für Smoothies und T<strong>in</strong>kturen<br />

sammelt, hört sie das Lachen e<strong>in</strong>es Grünspechts. „Früher<br />

war es hier total öde und ich habe mich gefragt, ob wir jemals<br />

Früchte ernten wer<strong>den</strong>“, sagt sie, während sie <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en<br />

Baum voll reifer Birnen blickt. Auch freut sie sich, dass sich<br />

gerade mehrere junge Menschen<br />

<strong>in</strong> Sieben L<strong>in</strong><strong>den</strong> angesiedelt<br />

haben, die sich<br />

politisch engagieren und<br />

mit <strong>den</strong>en sie viel diskutiert.<br />

E<strong>in</strong>er hat weit sichtbar<br />

e<strong>in</strong> Plakat aufgehängt:<br />

„Up with trees, down with<br />

capitalism.“ <strong>Das</strong> f<strong>in</strong>det Irma<br />

Fäthke gut.<br />

Annette Jensen ist freie Autor<strong>in</strong> <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> und schreibt seit 25 Jahren über<br />

Wirtschaft, Umwelt und Transformation.<br />

Kathr<strong>in</strong> Harms arbeitet und lebt mitten im Großstadtdschungel Berl<strong>in</strong>. Als<br />

Fotograf<strong>in</strong> taucht sie tief e<strong>in</strong> <strong>in</strong> die verschie<strong>den</strong>sten Ökosysteme der Welt.<br />

Foto: Reuters<br />

Gemüseparadies Paris<br />

E<strong>in</strong> Gemüsegarten<br />

auf dem Dach der Bastille-<br />

Oper: Früher war Paris e<strong>in</strong><br />

Zentrum des Gemüseanbaus<br />

Mitte der 19. Jahrhunderts war Paris e<strong>in</strong> Zentrum des<br />

Gemüseanbaus. E<strong>in</strong>ige tausend Gärtner und Gärtner<strong>in</strong>nen<br />

im Stadtgebiet produzierten genug, um die gesamte<br />

Bevölkerung der Metropole mit vitam<strong>in</strong>reicher,<br />

frischer Kost zu versorgen. <strong>Das</strong> ausgeklügelte Marktgartensystem<br />

fand auf M<strong>in</strong>ifarmen statt, die durchschnittlich<br />

5.000 bis 10.000 Quadratmeter groß waren<br />

und sechs Prozent des Stadtgebiets belegten.<br />

Die Gärtner<strong>in</strong>nen und Gärtner orientierten sich am Bedarf<br />

ihrer Kun<strong>den</strong> und erstellten exakte Anbaupläne<br />

fürs gesamte Jahr. Sechs Ernten waren üblich, auf<br />

manchen Feldabschnitten wuchsen sogar noch mehr<br />

Kulturen nache<strong>in</strong>ander. Die Gemüsegärtner pflanzten<br />

sehr dicht, um <strong>den</strong> Bo<strong>den</strong> rasch zu verdunkeln und so<br />

das Sprießen von Unkraut zu verh<strong>in</strong>dern. Außerdem<br />

entsteht dadurch e<strong>in</strong> Mulcheffekt, der <strong>den</strong> Bo<strong>den</strong> länger<br />

feucht hält. Im W<strong>in</strong>ter stülpten sie Glasglocken<br />

über die Pflanzen, um die Sonnenwärme zu halten.<br />

E<strong>in</strong> zentraler Produktionsfaktor war das <strong>Ab</strong>fallprodukt<br />

des damaligen Verkehrssystems: Pferdemist. Damit<br />

fütterten die Gärtner<strong>in</strong>nen und Gärtner das Bo<strong>den</strong>leben<br />

und hielten die Fruchtbarkeit aufrecht. Doch<br />

die Motorisierung machte dem ganzen System e<strong>in</strong><br />

Ende. Asphaltpisten verdrängten die üppigen Gärten,<br />

Lkw br<strong>in</strong>gen heute Gemüse aus fernen Regionen.<br />

Inzwischen aber geht es <strong>in</strong> Paris wieder <strong>in</strong> die umgekehrte<br />

Richtung. Bürgermeister<strong>in</strong> Anne Hidalgo hat<br />

nicht nur zahlreiche Parkplätze <strong>in</strong> Parks umwandeln<br />

lassen, sondern fördert auch <strong>in</strong>tensiv <strong>den</strong> Gemüseanbau<br />

auf Dächern und an Fassa<strong>den</strong>.<br />

EINS<strong>2024</strong><br />

35


PHILIPPINEN<br />

Tangkoy Domulot ist Stammesvertreter<br />

der <strong>in</strong>digenen M<strong>in</strong>derheit der Aeta.<br />

Mit Agroforstwirtschaft und Bildung<br />

will er se<strong>in</strong>en Nachkommen<br />

e<strong>in</strong>e gesicherte Zukunft aufbauen.<br />

Text von Constanze Bandowski<br />

Fotos von Klaus Mellenth<strong>in</strong><br />

36<br />

EINS<strong>2024</strong>


<strong>Das</strong> Essen wird <strong>in</strong><br />

Bambusrohren und<br />

Bananenblättern<br />

über dem offenen<br />

Feuer gegart, so haben<br />

es die Vorfahren<br />

getan, ohne Töpfe,<br />

Plastik oder <strong>Ab</strong>fall<br />

E<strong>in</strong>ige D<strong>in</strong>ge s<strong>in</strong>d für Tangkoy Domulot<br />

glasklar: „Sonntag gehört der Familie“,<br />

sagt der 57-jährige Filip<strong>in</strong>o mit <strong>in</strong>digenen<br />

Wurzeln. „Sonntags pflegen wir unsere traditionellen<br />

Bräuche.“ Die kommen unter der Woche<br />

zu kurz, <strong>den</strong>n die Männer arbeiten als Tagelöhner<br />

auf <strong>den</strong> Reisfeldern oder auf dem Bau, die<br />

Frauen gehen putzen und die K<strong>in</strong>der lernen <strong>in</strong><br />

der Schule. „Wir müssen unsere Kultur bewahren<br />

und unsere Geme<strong>in</strong>schaft stärken, sonst<br />

gehen wir unter“, me<strong>in</strong>t der Stammesführer der <strong>in</strong>digenen<br />

M<strong>in</strong>derheit der Aeta. Also hat der siebenfache Vater und<br />

fünffache Großvater im Morgengrauen se<strong>in</strong>en Len<strong>den</strong>schurz<br />

umgebun<strong>den</strong>, die<br />

Kette mit <strong>den</strong> drei Wildschwe<strong>in</strong>zähnen<br />

um <strong>den</strong> Hals<br />

„Wir müssen<br />

unsere Kultur<br />

bewahren und<br />

unsere Geme<strong>in</strong>schaft<br />

stärken,<br />

sonst gehen<br />

wir unter.“<br />

gehängt, Pfeil und Bogen ergriffen<br />

und drei Vögel erlegt.<br />

Se<strong>in</strong>e Frau Nenita hat trockene<br />

Zweige gesammelt. Geme<strong>in</strong>sam<br />

entfachen sie nun<br />

das Feuer auf dem Hügel<br />

oberhalb ihrer Siedlung. Im<br />

Schatten hoher Mangobäume<br />

hat sich die Großfamilie<br />

Domulot auf ihrem Feld versammelt.<br />

Die Mädchen waschen<br />

Wäsche, die Jungs<br />

plantschen im klaren Bergwasser,<br />

die Frauen ernten<br />

Taro-Wurzeln, Ingwer, Süßkartoffeln, Chili und knackige<br />

Flügelbohnen. <strong>Das</strong> Ältestenpaar gart das Mahl <strong>in</strong> Bambusrohren<br />

und Bananenblättern über dem offenen Feuer, so<br />

wie es ihre Vorfahren jahrhundertelang getan<br />

haben, ohne Töpfe, Plastik oder <strong>Ab</strong>fall.<br />

Tangkoy Domulot weiß, wie wichtig e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>takte<br />

Natur ist, <strong>in</strong>sbesondere für <strong>in</strong>digene Geme<strong>in</strong>schaften.<br />

„Als K<strong>in</strong>d g<strong>in</strong>g ich noch regelmäßig<br />

mit me<strong>in</strong>em Vater jagen“, er<strong>in</strong>nert sich<br />

der kle<strong>in</strong>e, muskulöse Mann mit kurzgeschorenem<br />

Haar und ergrauten Bartstoppeln an die<br />

1970er Jahre. In <strong>den</strong> dichten Wäldern ihrer angestammten<br />

Territorien an <strong>den</strong> Ausläufern des<br />

Vulkans P<strong>in</strong>atubo rund 200 Kilometer nordwestlich der<br />

Hauptstadt Manila lebten die Aeta von und mit der Natur.<br />

Sie fischten und jagten, sammelten Früchte, Beeren und<br />

Wurzelgemüse. „Wir hatten alles, was wir brauchten“, sagt<br />

Tangkoy Domulot. Bis Holzfirmen <strong>in</strong> ihre Wälder e<strong>in</strong>drangen<br />

und die nationale Ölgesellschaft Probelöcher <strong>in</strong> ihre<br />

heilige Erde bohrte.<br />

Um ihre Rechte als <strong>in</strong>digene M<strong>in</strong>derheit zu verteidigen,<br />

organisierten sich die Familien 1982 <strong>in</strong> das Bündnis LAKAS.<br />

Die <strong>Ab</strong>kürzung bedeutet „<strong>Das</strong> wahre Bündnis der Indigenen<br />

Aeta aus Zambales“. Unterstützt wur<strong>den</strong> sie von Franziskaner<strong>in</strong>nen<br />

und <strong>Misereor</strong>s Partnerorganisation PREDA (Peoples<br />

Recovery Empowerment and Development Assistance).<br />

Die katholischen Schwestern brachten ihnen lesen, schreiben<br />

und die philipp<strong>in</strong>ische Sprache Tagalog bei. Geme<strong>in</strong>sam<br />

mit der Menschen- und K<strong>in</strong>derrechtsorganisation PRE-<br />

DA klärten sie die Indigenen über ihre Rechte auf.<br />

Als der Vulkan P<strong>in</strong>atubo am 15. Juni 1991 ausbrach, legte<br />

er die Heimat der Aeta <strong>in</strong> Schutt und Asche. „Wir mussten<br />

fliehen und verloren alles“, sagt Tangkoy Domulot. In <strong>den</strong><br />

Evakuierungslagern und Städten des Tieflands erfuhr der<br />

junge Vater mit se<strong>in</strong>er Familie schwere Diskrim<strong>in</strong>ierungen.<br />

„Die Tiefländer dachten, wir seien dumm und wür<strong>den</strong> stehlen.“<br />

Erst als der Staat<br />

ihnen e<strong>in</strong> Jahr später ihr<br />

heutiges Siedlungsgebiet<br />

Leben mit der<br />

Natur: Die Familien<br />

waschen<br />

und plantschen<br />

im klaren Bergwasser<br />

Bei <strong>den</strong> Dorffesten<br />

lehren die Alten <strong>den</strong> Jungen<br />

die traditionellen Tänze,<br />

Lieder und Rituale<br />

EINS<strong>2024</strong><br />

37


auf der grünen Wiese zuwies, kam die Geme<strong>in</strong>schaft etwas<br />

zur Ruhe. <strong>Misereor</strong> f<strong>in</strong>anzierte die ersten 150 Häuser und<br />

<strong>den</strong> Start für e<strong>in</strong> neues Leben. Mit dem Geld verteilte PREDA<br />

Mangosetzl<strong>in</strong>ge und andere Obstbäume, die <strong>den</strong> Aeta heute<br />

Schatten, Schutz und Nahrung liefern, schulte sie <strong>in</strong> ökologischem<br />

Gemüseanbau und stärkte<br />

sie <strong>in</strong> ihren Rechten. So erhielt Lakas<br />

als erste Aeta-Geme<strong>in</strong>schaft 1993 e<strong>in</strong>en<br />

offiziellen Landtitel für die sieben<br />

Hektar große Siedlung und 43 Hektar<br />

landwirtschaftlicher Nutzflächen.<br />

Heute leben 286 Familien <strong>in</strong> LAKAS<br />

unter mächtigen Mangobäumen, Bananenstau<strong>den</strong><br />

und Büschen. Es gibt<br />

e<strong>in</strong> Kulturzentrum, e<strong>in</strong>e Bücherei, e<strong>in</strong>e<br />

Krankenstation, e<strong>in</strong>en K<strong>in</strong>dergarten,<br />

e<strong>in</strong>e Grundschule und seit 2013<br />

e<strong>in</strong>e weiterführende Schule mit eigenem<br />

Lehrplan. Die ersten Aeta haben studiert und arbeiten<br />

als Lehrer<strong>in</strong>nen, Sozialarbeiter oder Anwält<strong>in</strong>nen, doch die<br />

meisten Familien ernähren sich nach wie vor von kle<strong>in</strong>bäuerlicher<br />

Landwirtschaft und schlecht bezahlten Hilfsjobs.<br />

Immerh<strong>in</strong> bauen sie dank <strong>Misereor</strong>s Unterstützung gesunde<br />

Nahrungsmittel an. „Bildung ist das E<strong>in</strong>zige, was wir un-<br />

„Jeder Mango-<br />

Baum bedeutet<br />

Leben, <strong>den</strong>n er<br />

erhöht die Produktion.“<br />

Durch das Aufforstungsprojekt<br />

konnten sechs<br />

junge Mangobäume gepflanzt<br />

wer<strong>den</strong><br />

seren K<strong>in</strong>dern mitgeben können“, weiß Tangkoy Domulots.<br />

„Sie kann uns ke<strong>in</strong>er nehmen.“<br />

Er selbst hat viel von PREDA gelernt. „Ich b<strong>in</strong> zwar ke<strong>in</strong><br />

Mangobauer aus dem Fairtrade-Projekt, aber ich stelle jetzt<br />

me<strong>in</strong>en eigenen Biodünger her und wende ke<strong>in</strong>e Chemie<br />

an.“ Gegen Insekten braut er e<strong>in</strong>en Sud aus Chili, Ingwer<br />

und Knoblauch. Auf se<strong>in</strong>em Feld hat er <strong>in</strong>zwischen mehr<br />

als 30 Mangobäume. Alle<strong>in</strong> <strong>in</strong> diesem Jahr hat er durch das<br />

Aufforstungsprojekt „Mango Tango“ von <strong>Misereor</strong> und dem<br />

Tatort-Vere<strong>in</strong> sechs junge Mangobäume, e<strong>in</strong>e behaarte Litschi<br />

und zwei philipp<strong>in</strong>ische Limonen gepflanzt. Heute sollen<br />

fünf weitere Mangobäume h<strong>in</strong>zukommen. „Jeder Baum<br />

bedeutet Leben, <strong>den</strong>n er erhöht me<strong>in</strong>e Produktion“, sagt<br />

Tangkoy Domulot und gräbt mit e<strong>in</strong>em Spaten e<strong>in</strong> tiefes<br />

Loch <strong>in</strong> die rote Erde.<br />

„Wir wollen, dass unsere K<strong>in</strong>der stolz auf ihre Wurzeln<br />

s<strong>in</strong>d“, sagt Tangkoy Domulot. Dafür vertritt er se<strong>in</strong>e Geme<strong>in</strong>schaft<br />

selbstbewusst <strong>in</strong> <strong>den</strong> lokalen Gremien, nimmt<br />

an <strong>in</strong>digenen Netzwerktreffen teil und trägt dabei grundsätzlich<br />

se<strong>in</strong>e traditionelle Kluft. Damit die alten Bräuche nicht<br />

verloren gehen, gibt es neben dem Familiensonntag speziellen<br />

Kulturunterricht für die K<strong>in</strong>der. Auch bei <strong>den</strong> Dorffesten<br />

lehren die Alten <strong>den</strong> Jungen die traditionellen Tänze,<br />

Lieder und Rituale. „Unsere K<strong>in</strong>der sollen rausgehen und<br />

studieren“, me<strong>in</strong>t Tangkoy Domulot. <strong>Ab</strong>er sie sollen auch<br />

gerne zurückkommen. Damit sie genug zu essen haben,<br />

pflanzt er weiter Mangobäume und andere Obstsorten.<br />

„Jeder neue Baum gibt uns Nahrung“, sagt der Stammesälteste.<br />

„Jeder neue Baum sichert unsere Zukunft. Ohne PREDA<br />

hätten wir das alles nicht geschafft.“<br />

10.000 Mangobäume<br />

Als langjährige Partner von PREDA <strong>in</strong> Deutschland<br />

haben der Kölner Vere<strong>in</strong> Tatort – Straßen der Welt<br />

und <strong>Misereor</strong> e<strong>in</strong>e Aktion gestartet, um 10.000<br />

Mango-Baum-Setzl<strong>in</strong>ge zu f<strong>in</strong>anzieren. Für e<strong>in</strong>e<br />

Spende <strong>in</strong> Höhe von zehn Euro beschafft PREDA<br />

e<strong>in</strong>en Setzl<strong>in</strong>g und lässt ihn <strong>in</strong> der Region der<br />

Aetas <strong>in</strong> Zambales pflanzen.<br />

Mehr zu der Mango-Baum-Aktion unter:<br />

www.misereor.de/mangotango<br />

Constanze Bandowski lebt <strong>in</strong> Hamburg und beschäftigt sich als freie Journalist<strong>in</strong><br />

seit vielen Jahren vor allem mit Themen der E<strong>in</strong>en Welt.<br />

Klaus Mellenth<strong>in</strong> lebt <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> und fotografiert Persönlichkeiten aus Politik,<br />

Wirtschaft und Kultur und zu vielfältigen gesellschaftlichen Themen.<br />

38<br />

EINS<strong>2024</strong>


BRASILIEN<br />

Wasserknappheit, Zerstörung von Natur- und Lebensraum,<br />

Vertreibung und die Verletzung von Menschenrechten<br />

s<strong>in</strong>d die Folge der extensiven Produktion von<br />

Eisenerz <strong>in</strong> Brasilien. Der Kampf um die Rechte der Betroffenen<br />

dauert seit Jahrzehnten an.<br />

Text von Ralph Allgaier<br />

Fotos von Florian Kopp<br />

EINS<strong>2024</strong><br />

39


Eukalyptusbäume<br />

verbrauchen<br />

dreibis<br />

viermal so<br />

viel Wasser wie<br />

e<strong>in</strong>heimische<br />

Baumarten<br />

Eisenerz für die<br />

halbe Welt: E<strong>in</strong> Güterzug<br />

auf dem Weg zur brasilianischen<br />

Atlantikküste.<br />

Es ist noch ziemlich früh an diesem Sonntag auf e<strong>in</strong>er<br />

staubigen Huckelpiste im Nordwesten des brasilianischen<br />

Bundesstaates M<strong>in</strong>as Gerais. Und doch herrscht<br />

reger Verkehr, darunter schwere Sattelschlepper, vollgepackt<br />

mit riesigen Eukalyptus-Baumstämmen. Sie stammen<br />

aus der Region und wer<strong>den</strong> unter anderem zu großen Brennöfen<br />

transportiert, wo aus ihnen Holzkohle hergestellt wird.<br />

Vor e<strong>in</strong>igen Jahrzehnten, so berichtet Valmir Soares de<br />

Macedo von der <strong>Misereor</strong>-Partnerorganisation CAV, war hier<br />

vieles noch von artenreichem Mischwald geprägt. Dieser<br />

wurde dann aber systematisch abgeholzt und durch Eukalyptus<br />

ersetzt. Aufgereiht wie an der Schnur gezogen prägen<br />

nun die immer gleichen Baumfelder das Gebiet. In<br />

M<strong>in</strong>as Gerais wachsen Eukalyptus-Bäume auf 1,4 Millionen<br />

Hektar Land.<br />

E<strong>in</strong>er der größten Betreiber der Eukalyptus-Plantagen ist<br />

mit der Firma Aperam e<strong>in</strong> Tochterunternehmen des Stahlkonzerns<br />

Arcelor-Mittal. Auch die Holzkohle-Herstellung besorgt<br />

das Unternehmen selbst. Denn das Produkt wird <strong>in</strong><br />

großen Mengen für die Verhüttung von Eisenerz<br />

benötigt. Spricht man mit Repräsentanten<br />

des Unternehmens, dann fallen vor allem<br />

Wörter wie „nachhaltig“, „klimaneutral“ oder<br />

„Emissionsm<strong>in</strong>derung“. Aperam sieht sich zukunftsfest<br />

und auf der Höhe der Zeit. Als Nutzer<br />

e<strong>in</strong>es nachwachsen<strong>den</strong> Rohstoffs, der bei<br />

se<strong>in</strong>er Verbrennung exakt so viel Kohlendioxid<br />

<strong>in</strong> die Atmosphäre entlässt, wie <strong>in</strong> ihm zuvor<br />

gebun<strong>den</strong> war. Kritischen Fragen bezüglich<br />

e<strong>in</strong>es drastischen Rückgangs an natürlichen<br />

(Tr<strong>in</strong>k-) Wasserressourcen weicht die Firma dagegen<br />

aus. Ja, es gebe Probleme mit zunehmender<br />

Trockenheit. <strong>Ab</strong>er das sei eher die Folge der<br />

Klimaerhitzung. Aktivist<strong>in</strong>nen und Aktivisten<br />

von CAV halten diese Aussage für vorgeschoben.<br />

Es sei nachweisbar, dass Eukalyptusbäume dem<br />

Bo<strong>den</strong> etwa drei- bis viermal so viel von dem<br />

kostbaren Nass entzögen wie andere, e<strong>in</strong>heimische<br />

Baumarten.<br />

An verschie<strong>den</strong>en Orten <strong>in</strong> Brasilien ist zu<br />

beobachten, wie der <strong>Ab</strong>bau von Eisenerz und<br />

dessen Weiterverarbeitung die umliegende Bevölkerung<br />

belastet. In M<strong>in</strong>as Gerais ist dieses Problem gravierend.<br />

Dort gibt es mit der M<strong>in</strong>e Apolo Planungen für e<strong>in</strong><br />

besonders großes Projekt des Vale-Konzerns. Anwohner und<br />

Nichtregierungsorganisationen zeigen sich alarmiert. Denn<br />

die Rohstoffförderung soll auf gleicher Höhe wie beträchtliche<br />

unterirdische Wasserspeicher realisiert wer<strong>den</strong>. Diese<br />

könnten durch <strong>den</strong> Bergbau unwiederbr<strong>in</strong>glich verloren<br />

gehen, die gesicherte Wasserversorgung der Region um<br />

Belo Horizonte, der Hauptstadt von M<strong>in</strong>as Gerais, wäre gefährdet,<br />

warnt Constant<strong>in</strong> Bittner, <strong>Misereor</strong>-Berater für<br />

Bergbau, Umwelt und Menschenrechte <strong>in</strong> Late<strong>in</strong>amerika. E<strong>in</strong>ige<br />

tausend Kilometer weiter nordöstlich s<strong>in</strong>d im brasilianischen<br />

Bundesstaat Maranhão Umsiedlungen e<strong>in</strong> großes<br />

Thema. Der Insel Cajual <strong>in</strong> der Atlantikbucht Baía Sao Marcos<br />

droht Natur- und Lebensraumzerstörung. Zur besseren<br />

Verschiffung von Erzen und landwirtschaftlichen Gütern<br />

für <strong>den</strong> Export vor allem nach Europa und Ch<strong>in</strong>a ist hier<br />

e<strong>in</strong> Tiefseehafen geplant. Dieser wird e<strong>in</strong>e Fläche von zwölf<br />

Millionen Quadratmetern e<strong>in</strong>nehmen.<br />

40<br />

EINS<strong>2024</strong>


Bergbau und<br />

<strong>in</strong>dustrielle<br />

Landwirtschaft,<br />

Wasserbelastung,<br />

Pestizid-E<strong>in</strong>satz:<br />

Die Zeichen stehen<br />

auf Umsiedlung<br />

Die Dimensionen<br />

des Rohstoffabbaus<br />

<strong>in</strong><br />

Brasilien spiegeln<br />

die globale<br />

Nachfrage wider<br />

Der Hafen würde e<strong>in</strong>e für die Anwohnen<strong>den</strong> bedeutsame<br />

Landschaftsidylle brutal zerschnei<strong>den</strong>. E<strong>in</strong>e tropisch-urwüchsig<br />

bewachsene Fläche, von der die dortigen Menschen sich<br />

gut ernähren können. Die Stimmung unter <strong>den</strong> Menschen<br />

auf der Insel ist gespalten. Von expliziter <strong>Ab</strong>lehnung des<br />

Projekts bis zu vorsichtiger Zustimmung reicht das Me<strong>in</strong>ungsspektrum.<br />

Der Investor<br />

habe schließlich auch<br />

versprochen, e<strong>in</strong> neues Gesundheitszentrum<br />

zu bauen,<br />

die schulische Versorgung<br />

zu verbessern. Dennoch:<br />

Vom ursprünglichen<br />

Zustand der Insel bliebe<br />

nicht mehr viel übrig.<br />

Auch anderswo <strong>in</strong> Maranhão<br />

stehen die Zeichen auf<br />

Umsiedlung: Bewohner von<br />

Piquia de Baixo, die wegen<br />

Bergbau und <strong>in</strong>dustrieller<br />

Landwirtschaft von Staub,<br />

Wasserbelastung, Pestizid-E<strong>in</strong>satz und Lärm durch mit Eisenerz<br />

bela<strong>den</strong>e Güterzüge stark <strong>in</strong> Mitlei<strong>den</strong>schaft gezogen<br />

wer<strong>den</strong>, können nun <strong>in</strong> relativer Nähe zu ihren Heimatstandorten<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>e neue, besser gelegene Siedlung umziehen<br />

– nach fast zwei Jahrzehnten zähem R<strong>in</strong>gen um Gerech-<br />

tigkeit. Gleichzeitig wird <strong>in</strong> der Region<br />

vom Eisenerzkonzern Vale bereits e<strong>in</strong>e<br />

weitere, 520 Kilometer lange Bahnstrecke<br />

von Açailândia zum Atlantik geplant,<br />

die <strong>den</strong> Transport von Erzen, Soja<br />

und anderen Exportprodukten beschleunigen<br />

soll – mutmaßlich auf Kosten traditioneller<br />

Quilombola-Geme<strong>in</strong><strong>den</strong>, deren<br />

ökologisch sensible Naturareale dadurch<br />

geschädigt wür<strong>den</strong>, wie Constant<strong>in</strong><br />

Bittner befürchtet. Zu <strong>den</strong> möglichen Betreibern der<br />

Strecke könnte mit der E.C.O-Group auch e<strong>in</strong>e Tochterfirma<br />

der Deutschen Bahn gehören, die allerd<strong>in</strong>gs e<strong>in</strong>en entsprechen<strong>den</strong><br />

Vertrag bisher nicht unterzeichnet hat. Die riesigen<br />

Dimensionen des Rohstoffabbaus <strong>in</strong> Brasilien zeugen<br />

von der wachsen<strong>den</strong> globalen Nachfrage, angesichts derer<br />

Fragen von Umwelt- und Menschenrechtsschutz vielfach <strong>in</strong><br />

<strong>den</strong> H<strong>in</strong>tergrund treten.<br />

Eukalyptus-Monokultur<br />

<strong>in</strong> M<strong>in</strong>as Gerais. <strong>Das</strong> Holz<br />

ist unter anderem zur Eisenproduktion<br />

nötig.<br />

Am 25. Januar 2019 brach der Staudamm <strong>in</strong> Brumad<strong>in</strong>ho,<br />

der zu e<strong>in</strong>er Erzm<strong>in</strong>e des Unternehmens<br />

Vale gehört. Dabei ergossen sich riesige Schlammmassen<br />

<strong>in</strong> der näheren und weiteren Umgebung.<br />

272 Menschen fan<strong>den</strong> bei dem Unglück <strong>den</strong> Tod.<br />

Geme<strong>in</strong>sam mit der Menschenrechtsorganisation<br />

ECCHR hat <strong>Misereor</strong> im Jahr 2019 bei der Staatsanwaltschaft<br />

<strong>in</strong> München e<strong>in</strong>e Anzeige gegen <strong>den</strong><br />

TÜV Süd e<strong>in</strong>gereicht. <strong>Das</strong> Unternehmen hatte <strong>den</strong><br />

Damm im Rahmen e<strong>in</strong>es Zertifizierungsverfahrens<br />

für sicher erklärt. Die Staatsanwaltschaft ermittelt<br />

nach wie vor <strong>in</strong> der Angelegenheit. Ob und wann<br />

sie e<strong>in</strong> Verfahren gegen TÜV Süd eröffnen wird, ist<br />

weiter offen.<br />

Im Umfeld e<strong>in</strong>er<br />

M<strong>in</strong>e Im Südosten<br />

von M<strong>in</strong>as Gerais<br />

wer<strong>den</strong> ökologisch<br />

sensible Naturareale<br />

durch Erzabbau und<br />

-transport geschädigt.<br />

Auch auf Kosten<br />

der Anwohner.<br />

Ralph Allgaier lebt <strong>in</strong> Aachen und arbeitet als Pressesprecher bei <strong>Misereor</strong>.<br />

Zuvor war er Redakteur bei der Aachener Zeitung.<br />

Florian Kopp lebt <strong>in</strong> Rio de Janeiro, Brasilien. Als Fotograf dokumentiert er<br />

soziale und ökologische Konflikte <strong>in</strong> Late<strong>in</strong>amerika,<br />

EINS<strong>2024</strong> 41


BILDBAND<br />

Der Bildband des niederländischen Fotografen Henk Wildschut zeigt Pflanzen<br />

und Gärten, die Geflüchtete neben ihren Behelfsunterkünften angelegt haben.<br />

Die Gärtner<strong>in</strong> Uli Hager hat sich davon berühren lassen.<br />

D<br />

ROOTED<br />

Henk Wildschut,<br />

2019, 160 Seiten,<br />

im Eigenverlag,<br />

39,– Euro<br />

as Zitat „When I see green, I remember home“, das<br />

dem Band vorangestellt ist, zieht sich wie e<strong>in</strong> roter<br />

Fa<strong>den</strong> durch Henk Wildschuts langjähriges Fotobuchprojekt<br />

„Rooted“. Dar<strong>in</strong> dokumentiert der niederländische<br />

Fotograf Kle<strong>in</strong>stgärten, die Menschen <strong>in</strong> verschie<strong>den</strong>en<br />

Flüchtl<strong>in</strong>gslagern <strong>in</strong> Tunesien, Jordanien und dem Libanon<br />

angelegt haben: Pflanzen und Gärten stehen hier für die<br />

Verb<strong>in</strong>dung zwischen Vergangenem und Zukünftigem, sie<br />

s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong>e Er<strong>in</strong>nerung an die Heimat und e<strong>in</strong> S<strong>in</strong>nbild für die<br />

Hoffnung, die man hegt und<br />

pflegt, um sie nicht zu verlieren.<br />

In knappen Erzählungen und<br />

fast schlicht anmuten<strong>den</strong> Fotos<br />

zeigt Wildschut die Sehnsucht der<br />

Geflüchteten nach lebendigem<br />

Grün, nach persönlichen Spuren<br />

<strong>in</strong> der uniformen Tristesse und<br />

dem Aufbegehren gegen die Unwirtlichkeit<br />

des Lagerdase<strong>in</strong>s –<br />

ohne e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>zige Person direkt<br />

abzubil<strong>den</strong>.<br />

Bei der Betrachtung stelle ich<br />

mit Erstaunen fest, dass viele der<br />

liebevoll gezogenen Pflanzen auch<br />

bei uns bekannt s<strong>in</strong>d: Zierpflanzen<br />

wie Geranien und Mittagsblumen,<br />

Sukkulenten, Jasm<strong>in</strong>, Oleander, Gar<strong>den</strong>ien, Nelken, Rosen,<br />

Löwenmäulchen, Amaryllis und Sonnenblumen; Obstgehölze<br />

wie Granatapfel, We<strong>in</strong>reben, Feigen, Zitronenbäumchen<br />

sowie Kürbis, Rote Bete, Zwiebeln und Erbsen. E<strong>in</strong>ige<br />

Pflanzen wer<strong>den</strong> mittels ausgeklügelter – vermutlich<br />

aus der Heimat bekannter – simpler Bewässerungstechniken<br />

versorgt, zum Beispiel mithilfe e<strong>in</strong>er Tröpfchenbewässerung<br />

aus verbun<strong>den</strong>en Plastikflaschen. Andere Pflanzen<br />

gedeihen, weil sie von Natur aus wahre Überlebenskünstler<br />

s<strong>in</strong>d und e<strong>in</strong> Symbol für Ausdauer und Widerstandskraft.<br />

Die Mikrogärtner*<strong>in</strong>nen erzählen, wie wohltuend für sie<br />

e<strong>in</strong> Aufenthalt <strong>in</strong> direkter Nähe der Pflanzen und deren<br />

Duft sei, dass ihre Kle<strong>in</strong>stgärten e<strong>in</strong>en Platz für geme<strong>in</strong>same<br />

Treffen und Entspannung ermöglichen und lebenswichtig<br />

für ihr geistiges Überleben seien.<br />

Der Buchtitel „Rooted“, verwurzelt, verweist auf e<strong>in</strong>en<br />

Widerspruch, <strong>den</strong>n alle, die <strong>in</strong> <strong>den</strong> von Wildschut besuchten<br />

Lagern leben, s<strong>in</strong>d Entwurzelte. Und auch viele der gezogenen<br />

Pflanzen wer<strong>den</strong> <strong>in</strong> Gefäßen kultiviert und eben<br />

nicht <strong>in</strong> die Erde gesetzt, um dort e<strong>in</strong>zuwurzeln. Sie bleiben<br />

mobil und spiegeln die Lebensrealität und <strong>in</strong> gewisser<br />

Weise auch die I<strong>den</strong>tität der Menschen wider: Weder sie<br />

noch ihre Pflanzen verorten sich im Camp. Sie bef<strong>in</strong><strong>den</strong><br />

sich im Transit. Wildschut sieht dar<strong>in</strong> auch e<strong>in</strong>e Form von<br />

Widerstand gegen das Wurzeln <strong>in</strong> fremdem Bo<strong>den</strong>. Fast<br />

schon skurril mutet vor diesem H<strong>in</strong>tergrund die Rasenfläche<br />

neben e<strong>in</strong>er Hütte an. Der Geruch von gemähtem<br />

Gras er<strong>in</strong>nere <strong>den</strong> Besitzer an se<strong>in</strong> zerstörtes Haus mit<br />

großen Rasenflächen <strong>in</strong> Homs, erzählt der Autor. Se<strong>in</strong> Bildband<br />

bee<strong>in</strong>druckt und er beschämt. Denn er erzählt <strong>in</strong><br />

sche<strong>in</strong>bar simplen Bildern, wie es selbst <strong>in</strong> extremen Lebensumstän<strong>den</strong><br />

und trotz Armut und Kargkeit manchen Menschen<br />

gel<strong>in</strong>gt, auf die Kraft des Lebendigen vertrauen.<br />

42<br />

EINS<strong>2024</strong>


Fotos aus dem besprochenen Bildband, © Henk Wildschut<br />

EINS<strong>2024</strong><br />

43


MISEREOR IN AKTION<br />

In <strong>den</strong> kle<strong>in</strong>en Gärten<br />

gedeiht e<strong>in</strong>e große Vielfalt<br />

an Gemüse und verschie<strong>den</strong>e<br />

Getreidesorten<br />

Foto: Wolfgang Radtke<br />

Haiti: Waldgärten geben<br />

Sicherheit und Stabilität<br />

H<br />

aiti kommt nicht zur Ruhe. Bittere Armut, die Folgen<br />

von häufigen Naturkatastrophen und die politisch <strong>in</strong>stabile<br />

Lage wirken sich dramatisch auf die Sicherheitslage<br />

aus. Gewalt und Krim<strong>in</strong>alität s<strong>in</strong>d allgegenwärtig, besonders<br />

<strong>in</strong> der Hauptstadt Port-au-Pr<strong>in</strong>ce und ihrem Umland.<br />

Viele Menschen verlassen die Region, suchen Zuflucht im<br />

Ausland oder im Sü<strong>den</strong> des Landes. Hier, <strong>in</strong> der Region Les<br />

Cayes, setzen die Partnerorganisationen des <strong>Misereor</strong>-Spen<strong>den</strong>projekts<br />

„Waldgärten – neues Fundament für Haiti“<br />

ihre Arbeit trotz aller Widrigkeiten mit großem Engagement<br />

fort und schaffen ertragreiche Waldgärten. Sie unterstützen<br />

die Familien vor Ort dabei, sich mit nachhaltiger<br />

Landwirtschaft nach dem Agroforst-Pr<strong>in</strong>zip selbst zu versorgen<br />

und so e<strong>in</strong>e bessere Zukunft aufzubauen. Davon profitieren<br />

nun auch diejenigen, die aus <strong>den</strong> Städten fliehen<br />

müssen und auf dem Land Schutz und Nahrung f<strong>in</strong><strong>den</strong>.<br />

Was allen Partnerorganisationen im Projekt besonders<br />

wichtig ist: Sie vermitteln <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie Wissen, das alle Katastrophen<br />

überdauert. Und sie organisieren Gruppen, <strong>in</strong><br />

<strong>den</strong>en die Familien e<strong>in</strong>ander unterstützen. Hier wer<strong>den</strong><br />

Tipps, tatkräftige Hilfe, Saatgut und Setzl<strong>in</strong>ge ausgetauscht.<br />

Zusammenhalt ist stärker als Verzweiflung. Deshalb wächst<br />

<strong>in</strong> <strong>den</strong> Waldgärten nicht nur Nahrung, sondern auch e<strong>in</strong><br />

wirksames Mittel gegen die Gewalt. <strong>Das</strong> Konzept der Waldgärten<br />

hat sich bewährt. Mehr als 5.500 Kle<strong>in</strong>bauernfamilien<br />

haben grüne Inseln <strong>in</strong>mitten des weitgehend abgeholzten<br />

Berglands geschaffen.<br />

Mehr über das Waldgärtenprojekt erfahren Sie unter:<br />

www.misereor.de/haiti-waldgaerten<br />

44<br />

EINS<strong>2024</strong>


Solibrot schickt das Ahrtal<br />

auf Trommelreise<br />

A<br />

us der Verbandsgeme<strong>in</strong>de Altenahr durften sich zum<br />

Welttag der K<strong>in</strong>derrechte 400 K<strong>in</strong>der über e<strong>in</strong> besonderes<br />

<strong>Ab</strong>enteuer freuen. Mit spannen<strong>den</strong> Geschichten und fasz<strong>in</strong>ieren<strong>den</strong><br />

Liedern hat Trommelerzähler Markus Hoffmeister<br />

sie zum <strong>Ab</strong>schluss der <strong>Misereor</strong>-Solibrot-Aktion vor Ort<br />

auf e<strong>in</strong>e große geme<strong>in</strong>same Fantasiereise mitgenommen.<br />

Die K<strong>in</strong>der waren gut darauf e<strong>in</strong>gestimmt: In <strong>den</strong> Wochen<br />

vor dem Event hatten sie <strong>in</strong> Kitas und Grundschulen begeistert<br />

die Solibrot-Aktion umgesetzt, sich mit dem Thema<br />

„Teilen“ beschäftigt und <strong>den</strong> Blick auf das Leben <strong>in</strong> anderen<br />

Ländern gerichtet. Sie haben Brote gebacken, anderen Menschen<br />

damit e<strong>in</strong>e Freude gemacht und natürlich auch Spen<strong>den</strong><br />

gesammelt. So haben sie K<strong>in</strong>der mit e<strong>in</strong>er Beh<strong>in</strong>derung<br />

<strong>in</strong> Kambodscha, Stadtgärten für Familien <strong>in</strong> Bolivien oder<br />

Schulen <strong>in</strong> Madagaskar unterstützt und e<strong>in</strong>drucksvoll gelernt:<br />

Wir K<strong>in</strong>der haben Rechte. Und wenn anderen K<strong>in</strong>dern<br />

diese Rechte nicht zugestan<strong>den</strong> wer<strong>den</strong>, können wir<br />

ihnen helfen! Diese Kraft und diese Verbun<strong>den</strong>heit<br />

durften sie auf dem<br />

großen <strong>Ab</strong>schlussfest durch die<br />

Trommelreise noch e<strong>in</strong>mal<br />

ganz <strong>in</strong>tensiv erleben.<br />

Informieren und mitmachen!<br />

Mehr unter:<br />

www.trommelreise.de<br />

Backen. Teilen. Gutes Tun.<br />

Schmeckt nicht nur <strong>den</strong> Kle<strong>in</strong>en!<br />

W<br />

ussten Sie, dass es <strong>in</strong> Deutschland mehr als 3.200<br />

verschie<strong>den</strong>e Brotsorten gibt? Diese bee<strong>in</strong>druckende<br />

Zahl hat der Zentralverband des deutschen Bäckerhandwerks<br />

ermittelt. Sie zeigt: Brot ist mehr als nur e<strong>in</strong><br />

fester Bestandteil unseres Speiseplans. Nicht umsonst<br />

steht es als „täglich Brot“ s<strong>in</strong>nbildlich für alles, was wir<br />

zum Leben brauchen. Deshalb bietet die Solibrot-Aktion<br />

von <strong>Misereor</strong> so viele Anknüpfungspunkte, wenn Sie sich<br />

für e<strong>in</strong>e gute Sache starkmachen und andere dabei mitnehmen<br />

möchten. Die gilt ganz besonders für K<strong>in</strong>der,<br />

<strong>den</strong>en die anschaulichen Solibrot-Materialien für Kita<br />

und Grundschule e<strong>in</strong>en spielerischen Zugang zum großen<br />

Thema der weltweiten Solidarität ermöglichen.<br />

<strong>Ab</strong>er Solibrot erreicht auch Erwachsene. Zum Beispiel<br />

Ihren Vere<strong>in</strong> oder Ihr Team, mit dem Sie geme<strong>in</strong>sam Brote<br />

backen und gegen Spen<strong>den</strong> abgeben können. Vielleicht<br />

möchte auch Ihre Bäckerei e<strong>in</strong> besonderes Solibrot anbieten?<br />

Bei <strong>Misereor</strong> bekommen Sie Spen<strong>den</strong>dosen, Spen<strong>den</strong>tüten,<br />

Brotbanderolen, Infomaterial und natürlich<br />

e<strong>in</strong>e ausführliche Beratung rund um die Aktion.<br />

Aktiv wer<strong>den</strong>, andere mitnehmen –<br />

Inspiration f<strong>in</strong><strong>den</strong> Sie hier: www.misereor.de/solibrot<br />

Fotos: Achim Pohl, N<strong>in</strong>a Efkes, Illustration: Kat Menschik<br />

Auch FC St. Pauli-Fan<br />

Jonte aus Heiligenhaus<br />

macht <strong>in</strong> der Fastenzeit bei<br />

der Solibrot-Aktion mit<br />

Trommelerzähler<br />

Markus Hoffmeister<br />

<strong>in</strong> Aktion<br />

EINS<strong>2024</strong><br />

45


KOLUMNE<br />

Beim Wühlen <strong>in</strong> der <strong>Garten</strong>erde Frie<strong>den</strong> und Freude f<strong>in</strong><strong>den</strong>?<br />

Muss nicht se<strong>in</strong>, f<strong>in</strong>det Autor<strong>in</strong> Anne Lemhöfer.<br />

Sie geht gänzlich ohne grünen Daumen durchs Leben.<br />

Illustration von Kat Menschik<br />

Ich liebe Gärten. Ich mag es, wenn<br />

es um mich herum grünt und<br />

blüht, wenn Bienen summen und<br />

K<strong>in</strong>der fröhlich Gießkännchen schwenken.<br />

Ist das M<strong>in</strong>ze, die da so wunderbar<br />

duftet? Und diese gelben Tomaten,<br />

nach <strong>den</strong>en ich nur die Hand ausstrecke<br />

– e<strong>in</strong>fach wunderbar als Snack<br />

zwischendurch. Himbeeren, Mangold,<br />

Chilischoten, alles wächst und gedeiht.<br />

„Nimm dir von allem mit“, sagt me<strong>in</strong>e<br />

Freund<strong>in</strong>, „wir haben viel zu viel davon.“<br />

Es ist nämlich ihr <strong>Garten</strong>, <strong>in</strong> dem<br />

wir auf e<strong>in</strong>er ochsenblutroten Holzbank<br />

sitzen und die Gedanken schweifen<br />

lassen. „Dieses Trampol<strong>in</strong> da, damit<br />

haben sie sich <strong>den</strong> ganzen <strong>Garten</strong><br />

verschandelt“, lästert me<strong>in</strong>e Freund<strong>in</strong><br />

über die Nachbarn von gegenüber. Ich<br />

wechsele rasch das Thema. Denn ich<br />

liebe Gärten, <strong>in</strong> <strong>den</strong>en Menschen Gemüse,<br />

Obst und Kräuter anbauen. Also,<br />

andere Menschen. Im <strong>Garten</strong> unseres<br />

eigenen Hauses steht dagegen, nun ja,<br />

e<strong>in</strong> Trampol<strong>in</strong>. Außerdem haben wir<br />

zwei Schaukeln, e<strong>in</strong>e Rutschbahn und<br />

e<strong>in</strong> K<strong>in</strong>der-Fußballtor angepflanzt, im<br />

Sommer entfaltet sich <strong>in</strong> üppiger<br />

Pracht e<strong>in</strong> Planschbecken. Wir erfreuen<br />

uns daran. Den Menschen, die uns<br />

besuchen, gefällt es ebenso.<br />

Hier könnte diese Geschichte eigentlich<br />

en<strong>den</strong>. Alle s<strong>in</strong>d glücklich, alles<br />

ist gut. Doch ich fühle mich immer<br />

häufiger unwohl mit me<strong>in</strong>en Vorlieben.<br />

Denn fast alle, die ich kenne, gärtnern,<br />

und sei es auf der Fensterbank,<br />

oder nehmen an irgendwelchen Urban<br />

Gar<strong>den</strong><strong>in</strong>g-Projekten teil oder ziehen<br />

Kartoffeln aus dem Solawi-Acker, bei<br />

dem sie Mitglied s<strong>in</strong>d – während ich<br />

stattdessen lieber auf der Terrasse<br />

sitze, dicke Bücher lese und <strong>den</strong> K<strong>in</strong>dern<br />

beim Rutschen und Schaukeln<br />

zuschaue: Ist noch alles <strong>in</strong> Ordnung<br />

mit mir? Darf das se<strong>in</strong>? Könnten Pflanzen<br />

sprechen, würde die komplette Botanik<br />

im Chor rufen: Ja, es ist okay,<br />

bitte die F<strong>in</strong>ger von uns lassen! Auf<br />

me<strong>in</strong>er Fensterbank geht sogar das Basilikum<br />

e<strong>in</strong>, das ich alle paar Wochen<br />

hochmotiviert im Töpfchen aus dem<br />

Supermarkt dort h<strong>in</strong>stelle. Die Natur<br />

und ich, wir pflegen e<strong>in</strong>e gewisse beidseitige<br />

Distanz zue<strong>in</strong>ander. Ich kenne<br />

me<strong>in</strong>e Grenzen. Und weiß, dass ich<br />

mit dieser Haltung unter <strong>den</strong> Menschen,<br />

mit <strong>den</strong>en ich zu tun habe, <strong>in</strong>zwischen<br />

die Ausnahme b<strong>in</strong>.<br />

Es ist gesellschaftlich toleriert, se<strong>in</strong><br />

Fahrrad oder Auto nicht selbst zu reparieren,<br />

sondern das e<strong>in</strong>em Profi zu<br />

überlassen. Auch die Wände <strong>in</strong> me<strong>in</strong>em<br />

Haus muss ich nicht selbst verputzen<br />

können. <strong>Ab</strong>er mir sche<strong>in</strong>t der<br />

moralische Freiraum immer enger dafür<br />

zu wer<strong>den</strong>, ke<strong>in</strong>en Spaß am E<strong>in</strong>kochen<br />

von Aronia-Beeren für die eigene<br />

Marmelade zu haben und handgemachtes<br />

Bärlauchpesto lieber im Fe<strong>in</strong>kostla<strong>den</strong><br />

zu besorgen als die Zutaten<br />

dafür mit eigenen Hän<strong>den</strong> aus dem<br />

46<br />

EINS<strong>2024</strong>


Bo<strong>den</strong> zu rupfen. Von allen Seiten<br />

wird mir achtsam Mut zugesprochen,<br />

es e<strong>in</strong>fach mal zu versuchen. „Gärtnern<br />

ist nicht nur für de<strong>in</strong> Gehirn sehr<br />

vorteilhaft. Dadurch kannst du auch<br />

Stress und Ängste abbauen“, schreibt<br />

e<strong>in</strong>e Frauenzeitschrift. Okay, ich habe<br />

es verstan<strong>den</strong>: Wer gärtnert, ist e<strong>in</strong><br />

guter Mensch! E<strong>in</strong> kluger Mensch! Und<br />

gute, kluge Menschen gärtnern.<br />

Andererseits: Wenn jede und jeder<br />

im Schrebergarten wurschtelt, passt es<br />

auch wieder nicht. Wer nähme <strong>den</strong>n<br />

dann noch dankend und ungefragt die<br />

riesigen Mengen an Zucch<strong>in</strong>i und Fallobst<br />

an, die bei <strong>den</strong> <strong>Garten</strong>begeisterten<br />

oft übrigbleiben? Eben. Um die Welt<br />

im Gleichgewicht zu halten, braucht<br />

es Nicht-Gärtner<strong>in</strong>nen wie mich. Und<br />

was <strong>den</strong> Kapitalismus angeht, sehe ich<br />

durchaus Vorteile: Denn es ist überaus<br />

beruhigend, dass das Überleben me<strong>in</strong>er<br />

Familie nicht von me<strong>in</strong>em grünen<br />

Daumen abhängt. Ich weiß das Privileg<br />

zu schätzen, für e<strong>in</strong>e ausgewogene<br />

Ernährung e<strong>in</strong>fach <strong>in</strong> <strong>den</strong> nächsten<br />

Supermarkt spazieren zu können.<br />

<strong>Ab</strong>er ist me<strong>in</strong>e Haltung noch zeitgemäß?<br />

Was, wenn die nächste Pandemie<br />

oder etwas Vergleichbares kommt?<br />

Der jüngste virologische Ausnahmezustand<br />

hat verstärkt, was vorher vielleicht<br />

als etwas exzentrischer Trend<br />

fürs grüne Bürgertum galt: Im Lockdown<br />

wur<strong>den</strong> plötzlich überall Bananenbrote<br />

gebacken, Gärten verschönert<br />

und alte Gemüsesorten wiederentdeckt,<br />

Hashtags wie #altesorten boomen<br />

noch immer. Was noch vor 40 Jahren<br />

als Statement für die <strong>Ab</strong>kehr vom<br />

Konsum verstan<strong>den</strong> wurde, schien mit<br />

e<strong>in</strong>em Mal geradezu lebensnotwendig.<br />

Und wer wollte <strong>in</strong> <strong>den</strong> vergangenen<br />

Jahren nicht ab und an die Augen verschließen,<br />

sich die Ohren zuhalten und<br />

<strong>in</strong> grüne Paradiese entfliehen? Doch<br />

alles Verdrängen hilft ja nichts. Gerade<br />

<strong>in</strong> Zeiten, <strong>in</strong> <strong>den</strong>en vieles aus <strong>den</strong><br />

Fugen zu geraten droht, kommt es aus<br />

me<strong>in</strong>er Sicht auf ganz andere D<strong>in</strong>ge<br />

an: auf Arbeitsteilung und Solidarität<br />

nämlich. Alle können <strong>in</strong> Krisenzeiten<br />

dazu beitragen, die Lebenschancen der<br />

anderen wachsen zu lassen. Wir müssen<br />

nicht alle Beete umgraben und Tomaten<br />

hochb<strong>in</strong><strong>den</strong>. Manche organisieren<br />

lieber Fußballturniere, lesen K<strong>in</strong>dern<br />

etwas vor oder kümmern sich um<br />

die Steuererklärung. Ich b<strong>in</strong> zum Beispiel<br />

besonders gut dar<strong>in</strong>, mir alles<br />

über die Königshäuser dieser Welt zu<br />

merken und unterhaltsam darüber zu<br />

erzählen. Vielleicht ist das sogar wahre<br />

Grund, wieso mich Freund<strong>in</strong>nen und<br />

Freunde gern <strong>in</strong> ihre Gärten e<strong>in</strong>la<strong>den</strong> –<br />

und nicht nur, damit sie mir h<strong>in</strong>terher<br />

Tüten voller wurmstichiger Äpfel<br />

<strong>in</strong> die Hand drücken können. <strong>Das</strong> ist<br />

je<strong>den</strong>falls e<strong>in</strong>e schöne Vorstellung.<br />

Anne Lemhöfer arbeitet als Redakteur<strong>in</strong> für das<br />

Ressort <strong>Magaz<strong>in</strong></strong> und Reportage der Frankfurter<br />

Rundschau, zudem frei für <strong>den</strong> Reiseteil der ZEIT.<br />

Kat Menschik arbeitet seit 1999 als freiberufliche<br />

Illustrator<strong>in</strong> <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> und Bran<strong>den</strong>burg. Sie zeichnet<br />

für Zeitungen, <strong>Magaz<strong>in</strong></strong>e und Buchverlage.<br />

EINS<strong>2024</strong><br />

47


RÄTSEL<br />

Zu gew<strong>in</strong>nen<br />

gibt es<br />

1. Preis:<br />

<strong>Garten</strong>schürze aus Jeans<br />

mit Taschen<br />

Die Schürze vom Fairhandelshaus<br />

Gepa ist bei der <strong>Garten</strong>arbeit<br />

sehr nützlich, <strong>den</strong>n<br />

<strong>in</strong> <strong>den</strong> Taschen hat alles<br />

Platz, was gebraucht wird. Gefertigt wer<strong>den</strong><br />

die praktischen <strong>Garten</strong>schürzen <strong>in</strong> Bangladesch.<br />

Die Schürze besteht aus 100 Prozent Baumwolle und<br />

ist mit synthetischem Leder abgesetzt.<br />

„Auch wer arm ist,<br />

hat das Recht,<br />

über gesunde<br />

Lebensmittel<br />

nachzu<strong>den</strong>ken.“<br />

Dieses Zitat* stammt von<br />

a<br />

b<br />

c<br />

Victoria Mendozae<br />

Geme<strong>in</strong>schaftsköch<strong>in</strong>,<br />

Peru<br />

Edward Mukiibi<br />

Slow-Food-Präsi<strong>den</strong>t,<br />

Uganda<br />

Terence Lopez<br />

Food-Aktivist,<br />

Philipp<strong>in</strong>en<br />

*Sie f<strong>in</strong><strong>den</strong> es<br />

<strong>in</strong> dieser Ausgabe.<br />

2. Preis:<br />

Buch „<strong>Das</strong> Haus verlassen“ –<br />

von Kat Menschik gestaltet<br />

E<strong>in</strong>e poetische Geschichte von Jacquel<strong>in</strong>e Kornmüller<br />

voll leisem Humor über e<strong>in</strong> altes Feldste<strong>in</strong>haus,<br />

das sich nicht so ohne weiteres von se<strong>in</strong>er Besitzer<strong>in</strong><br />

trennen möchte. Und über e<strong>in</strong>e Besitzer<strong>in</strong>, die eigentlich<br />

fortgehen will. Aus der Kat-Menschik-Reihe<br />

„Illustrierte Liebl<strong>in</strong>gsbücher“.<br />

3. Preis:<br />

Blütenmischung „Essbare Blumen“<br />

Aus der gehobenen Sterneküche ist sie nicht mehr<br />

wegzu<strong>den</strong>ken, die Blumendekoration auf Salaten<br />

und Tellern. <strong>Das</strong> Anzuchtset mit e<strong>in</strong>er Mischung von<br />

sieben Sorten essbarer Blumen: Stockrose, Borretsch,<br />

R<strong>in</strong>gelblume, Kornblume, Stu<strong>den</strong>tenblume, Kapuz<strong>in</strong>erkresse<br />

und Veilchen. E<strong>in</strong>fach die Dose öffnen, vorsichtig<br />

angießen und an e<strong>in</strong>en sonnigen Ort stellen.<br />

E<strong>in</strong>sendeschluss ist der 15. Juli <strong>2024</strong><br />

Der Rechtsweg ist ausgeschlossen. Wir speichern Ihre<br />

Daten nur zur Durchführung der Verlosung. Wenn<br />

Sie weitere Informationen zu <strong>Misereor</strong> erhalten wollen,<br />

vermerken Sie das unter dem Lösungswort „Ja“.<br />

Sie können die E<strong>in</strong>willigung jederzeit widerrufen.<br />

Sen<strong>den</strong> Sie die Lösung an:<br />

<strong>fr<strong>in</strong>gs</strong>@misereor.de<br />

oder<br />

Bischöfliches Hilfswerk <strong>Misereor</strong><br />

Redaktion <strong>Magaz<strong>in</strong></strong> „<strong>fr<strong>in</strong>gs</strong>“<br />

Mozartstraße 9, 52064 Aachen<br />

Fotos: Avocadostore, galiani-Verlag, GEPA – Fairhandelshaus, iStock.com<br />

48<br />

EINS<strong>2024</strong>


<strong>Misereor</strong> ist das katholische Werk für Entwicklungszusammenarbeit<br />

an der Seite von Menschen <strong>in</strong> Afrika und<br />

im Nahen Osten, <strong>in</strong> Asien und Ozeanien, Late<strong>in</strong>amerika<br />

und <strong>in</strong> der Karibik.<br />

Es leistet seit 66 Jahren Hilfe zur Selbsthilfe durch geme<strong>in</strong>same<br />

Projekte mit e<strong>in</strong>heimischen Partnerorganisationen<br />

und setzt sich mit <strong>den</strong> Menschen <strong>in</strong> Deutschland<br />

für weltweite Gerechtigkeit, Solidarität und die Bewahrung<br />

der Schöpfung e<strong>in</strong>.<br />

<strong>Misereor</strong> besitzt mit 6,2 Prozent an Kosten für Verwaltung,<br />

Werbung und Öffentlichkeitsarbeit das Spen<strong>den</strong>siegel<br />

des Deutschen Zentral<strong>in</strong>stituts für soziale Fragen (DZI).<br />

Spen<strong>den</strong>konto<br />

DE75 3706 0193 0000 1010 10<br />

<strong>Das</strong> Umweltmanagement<br />

von <strong>Misereor</strong> ist nach EMAS<br />

geprüft und zertifiziert.<br />

<strong>Ab</strong>o für mich!<br />

Sie möchten ke<strong>in</strong>e Ausgabe<br />

von <strong>fr<strong>in</strong>gs</strong> verpassen?<br />

Über magaz<strong>in</strong>@misereor.de<br />

können Sie unter dem Stichwort<br />

„<strong>Ab</strong>o“ e<strong>in</strong> kostenloses <strong>Ab</strong>onnement<br />

bestellen (und jederzeit wieder<br />

kündigen).<br />

IMPRESSUM<br />

Herausgeber: Bischöfliches Hilfswerk <strong>Misereor</strong> e. V.; Redaktion:<br />

Beate Schneiderw<strong>in</strong>d (verantw.), Michael Mondry und Birgit-Sara<br />

Fabianek (redaktionelle Koord<strong>in</strong>ation), Ralph Allgaier, Charleen<br />

Kovac, Suzanne Lemken, Julia Stollenwerk; Korrektorat: Dr. Kerst<strong>in</strong><br />

Burmeister; Grafische Gestaltung: Anja Hammers; Repro: Roland<br />

Küpper, type & image, Aachen; Druck: Evers Druck GmbH – e<strong>in</strong> Unternehmen<br />

der Eversfrank Gruppe, Ernst-Günter-Albers-Straße 13,<br />

D25704 Meldorf; Gedruckt auf Papier aus ökonomisch, ökologisch<br />

und sozial nachhaltiger Waldbewirtschaftung; Herstellung und Vertrieb:<br />

MVG Medienproduktion und Vertriebsgesellschaft, Aachen.<br />

Zuschriften an<br />

<strong>Misereor</strong>, Mozartstraße 9, 52064 Aachen,<br />

magaz<strong>in</strong>@misereor.de


Mit Ausbeutung<br />

oder mit Menschen?<br />

Mit Menschen.<br />

Foto: Klaus Mellenth<strong>in</strong><br />

Fairer Handel, Bildung und Rechte für<br />

<strong>in</strong>digene Familien auf <strong>den</strong> Philipp<strong>in</strong>en.<br />

Mehr erfahren: misereor.de/mitmenschen

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