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Das Aufdecken und Bewahren vergessener queerer

Vergangenheiten ist seit langem ein dringendes

Bedürfnis queerer Gemeinschaften und hat sich in den

letzten Jahren zu einem wichtigen basisdemokratischen

Unterfangen in ganz Mittel- und Osteuropa entwickelt.

Wir haben Archivar:innen, Aktivist:innen, Forscher:innen

sowie Kurator:innen eingeladen, die als Erinnerungsvermittler:innen

agieren und das kollektive Gedächtnis

(post-)sozialistischer Länder queeren und diversifizieren,

über ihre Erfahrungen, Ziele und Praktiken zu sprechen.

Die Archive, die die oft gewaltsam ausgelöschten oder

unsichtbaren Spuren von Queerness in den Regionen

bewahren, sind von zentraler Bedeutung für die Neuformulierung

der Vergangenheit Mittel- und Osteuropas.

Entscheidend ist aber auch, dass die Archivalien

zirkulieren, denn das ist es, was Erinnerungen schafft,

wie Dagmar Brunow (2019) schreibt. Anamarija Horvat

macht einen ähnlichen Punkt in ihrem Buch Screening

Queer Memory: LGBTQ Pasts in Contemporary Film

and Television, in dem sie argumentiert, dass Film

eine „affektive Erinnerungsressource“ ist, da er ein

Schlüsselelement für die Übertragung des historischen

Gedächtnisses von LGBTQ+-Gemeinschaften ist. Queere

Erinnerung, schreibt sie,

„ist daher ein komplexes Thema, da es unmöglich

ist, von LGBTQ-Personen als einer Minderheitengemeinschaft

zu sprechen, die in der gleichen Weise

wie ethnische oder religiöse Minderheitengruppen

konstruiert ist, obwohl die Queer-Gemeinschaft sich

natürlich intersektional in vieler solcher Gruppen

wiederfindet. Mit anderen Worten, während die

Weitergabe von Erinnerungen in anderen Minderheitengemeinschaften

häufig entlang familiärer

Generationslinien erfolgt, wird die Erinnerung von

oder an LGBTQ-Personen häufiger ausgelassen, wenn

Familien ihre eigene Geschichte erzählen.“ (2021, 4)

Die Zukunft

Während der Kuratierung dieses Symposiums war es

manchmal eine Herausforderung, sich auf das Nachdenken

über queeres Kino und queere Kunst zu konzentrieren,

wenn so viele Leben, einschließlich des Lebens der

Ko-Kuratorin des Symposiums und der Teilnehmer:innen

aus der Ukraine und Armenien, oft aus weitreichenderen

Gründen als Sexualität und/oder Geschlechtsidentität

direkt bedroht sind. Andererseits verkündet das

russische diktatorische Regime sehr lautstark, dass

Nicht-Heteronormativität und Gender-expansives Leben

wichtige Säulen des „satanischen Westens“ sind, den

es verschlingen will. Obwohl es nicht leicht ist, sich

überhaupt eine Zukunft vorzustellen, wenn das eigene

physische Überleben bei den regelmäßig stattfindenden

Raketenangriffen reine Glückssache ist, unternehmen wir

diese Anstrengungen als Geste unseres Willens, frei zu

leben - und zu lieben. Die Freiheit der queeren Menschen

in der Ukraine wird jedoch nicht automatisch durch den

Fall des Imperiums garantiert, das gerade jetzt aktiv

versucht, sie (gemeinsam mit ihren Mitbürger:innen)

auszulöschen. Kriege sind dafür bekannt, dass sie die

Spaltung der Gesellschaft verstärken: Einige Leben von

queeren Ukrainer:innen sind bereits jetzt „betrauernswerter“

(und daher des Gedenkens in Film und Kunst würdig)

als andere (Butler, 2009) – das Leben der LGBT+-Personen,

die als Teil der ukrainischen Streitkräfte an der Front

kämpfen – während viele andere, insbesondere

Transgender-Frauen und gender-expansive Personen mit

der Bezeichnung „männlich“ in ihren Pässen, versuchen,

sich in der harten Realität des Kriegsrechts zurechtzufinden,

das ihnen verbietet, das Land zu verlassen, und mit

der drohenden Zwangsmobilisierung zurechtkommen

müssen (unter ihnen mehrere potenzielle, aber leider

abwesende Gäste dieses Symposiums). Dies ist zum jetzigen

Zeitpunkt ein äußerst brisantes und herausforderndes

Diskussionsthema, aber es ist auch ein perfektes Beispiel

dafür, warum es so wichtig ist, immer wieder Gespräche

über die Zukunft zu führen – trotz aller Widrigkeiten,

trotz der zahlreichen, von Menschen verursachten und

sich in der modernen Welt bahnbrechenden und sich

entfaltenden Tragödien. Es gibt wohl keinen geeigneteren

Ort, um solche Gespräche zu führen, als im Rahmen von

Veranstaltungen, die Queerness gewidmet sind.

José Esteban Muñoz (2009, 1), der leidenschaftlich über

das utopische, queere Potenzial schreibt, behauptet, dass

Queerness das sei, „was uns spüren lässt, dass diese Welt

nicht genug ist, dass in der Tat etwas fehlt“, aber auch eine

„warme Erleuchtung eines Horizonts, der von Potenzialität

durchdrungen ist“. Das Symposium wird über das

utopische Potenzial (queerer) Zukünfte nachdenken und

dabei den Begriff der queeren Vorstellungskraft als etwas,

das über Sexualität und Geschlechtsidentität hinausgeht,

erweitern. Wir werden darüber nachdenken, was „queeren“

als Verb bedeutet – ein ständiges Hinterfragen von

Hierarchien und Machtungleichheiten, die soziale und

politische Strukturen durchdringen, ein Werkzeug, um sie

aus dem Takt zu bringen und gleichzeitig alternative Vorstellungen

anzubieten. Muñoz vertrat die Ansicht, dass

ein queerer Idealismus nicht abstrakt, sondern politisch

sein muss. Wir haben Künstler:innen, Aktivist:innen,

Festivalprogrammer:innen und Filmemacher:innen aus

der Ukraine, Armenien und Kasachstan eingeladen, um

über das Potenzial des queer-feministischen Denkens als

Instrument der politischen Transformation zu sprechen.

Die slowenische Wissenschaftlerin Katja Čičigoj wird

in ihrem Vortrag „Utopian Disidentifications: Pleasure,

Critique and the Future in Queer Art“ über das Potenzial

queerer Kunst nachdenken, sich andere, bessere und

gerechtere Zukünfte und Gesellschaften vorzustellen.

Die Filmvorführungen führen uns in verschiedenen

queeren Welten: opulente campy Fantasien einer

marginalisierten Heldin wie in dem slowenischen Film

KILL ME GENTLY / UBIJ ME NEŽNO aus dem Jahr 1979;

oder weg von den aktuellen Bildern des Krieges hin zu

Landschaften der Potenzialität – wo man keine eindeutig

definierten Menschen sieht (in der Tat gibt es manchmal

überhaupt keine Menschen!), wie in dem Programm

Renegade Joy Till the End of the World mit subversiven

Kurzfilmen aus der Ukraine.

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