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Die Vergangenheit
Die Erforschung der Vergangenheit queerer Repräsentation
in MOE ist eine Herausforderung - nicht, weil es
keine queeren Bilder gab, sondern weil sie selbst unter
MOE-Wissenschaftler:innen nur unzureichend erforscht
sind. Nebojša Jovanović, Gast des Symposiums, schrieb
über diese „soziale Amnesie“ und ihre Folgen: „Trotz
einiger wertvoller Ausnahmen [...] sträuben wir uns im
Allgemeinen, queere Erfahrungen während des Sozialismus
in den Vordergrund zu stellen, und verdrängen sie
damit stärker, als es jede Homophobie oder Kriminalisierung
von Homosexualität in den sozialistischen Ländern
tun konnte“ (2012: 212).
Entgegen der landläufigen Meinung und alten Stereotypen
waren nicht-heteronormative und LGBT+-Filmbilder
schon immer Teil der sehr unterschiedlichen
Filmlandschaften in Mittel- und Osteuropa. Manchmal
subtil, manchmal explizit oder sogar radikal, brachen
diese Bilder heteronormative Gesellschaften auf und
konstruierten komplexe Sexualitäten und Ausdrucksformen
von Geschlecht auf der Leinwand. Im Filmprogramm
des Symposiums sind selten gezeigte queere Filmbilder
aus der Vergangenheit zu sehen und werden durch
Vorträge und Gespräche (re)kontextualisiert, um die
Vorstellung einer homophoben Vergangenheit, gefolgt von
einer liberaleren Haltung gegenüber Queerness in der Zeit
nach der Wende, zu destabilisieren. Das soll nicht heißen,
dass der öffentliche Diskurs über LGBT+-Themen in den
MOE-Ländern in der Vergangenheit nicht von Stereotypen,
gewalttätiger Homophobie, Zensur und Diskriminierung
geprägt war, aber es ist wichtig, darauf hinzuweisen, dass
queere Bilder in den MOE-Ländern existierten, wenn auch
oft in einem zweideutigen Verhältnis zur öffentlichen
Haltung gegenüber Homosexualität.
Nehmen wir zum Beispiel FIVE MINUTES OF PARADISE
/ PET MINUT RAJA (1959): Als der slowenische Regisseur
Igor Pretnar in seinem Heimatland keine Finanzierung
für seinen ersten Spielfilm finden konnte, wandte er
sich an Bosna Film, wo er seine Geschichte über zwei
KZ-Häftlinge realisierte, die in das Haus eines deutschen
Offiziers geschickt werden, um eine Bombe zu entschärfen.
Da es sich um eine Selbstmordmission handelt,
lassen die Wachen sie gewähren, und die Männer, die
kaum Überlebenschancen haben, nutzen die Gelegenheit,
sich zu verkleiden, zu rauchen, zu trinken und von
der Freiheit zu träumen. Die 1950er Jahre waren ein
produktives Jahrzehnt für jugoslawische queere Bilder,
die in den männlichen Kollektiven der soz-realistischen
Filme angesiedelt waren. Diese Filme verwischten nicht
nur die Grenzen zwischen homosozial und queer - sie
lieferten den Jugoslaw:innen auch die ersten Bilder von
Cross-Dressing und Schwulen, die ihre Sexualität lebten.
Jovanović stellt fest, dass diese Filme „das totalitäre
Modell der sozialistischen Vergangenheit“ destabilisieren,
das Film und Kunst als von der Ideologie und Propaganda
des Regimes völlig unterdrückt ansieht. Anstelle der Idee
einer von oben verordneten Homophobie schlägt er vor,
dass Queerness „an verschiedenen sozialen Orten und
von vielen sozialen Akteuren im frühen jugoslawischen
Sozialismus ständig neu definiert, diskutiert und
geschätzt wurde“. (Jovanović, 2016:132-133)
Diese Art von Neuverhandlungen und Ambivalenzen sind
auch andernorts in der Region zu finden. Nehmen wir den
sowjetischen Film A SEVERE YOUNG MAN / STROGIY
YUNOSHA (1935), den der in Litauen in eine jüdische
Familie geborene Regisseur Abram Room in der Ukraine
drehte, nachdem er in Moskau in Ungnade gefallen war.
Dieser Film, in dem es um die Rolle der freien Liebe,
Dreiecksbeziehungen und den freien Willen geht, wurde
schließlich verboten, da er sich nicht in die Wertehierarchie
des sozialistischen Realismus einordnen ließ. Aus
heutiger Sicht ist der Film in der Tat in vielerlei Hinsicht
queer, denn er zeigt Klassen, Werte und Ästhetik, die nicht
den Normen der damaligen Zeit entsprachen. Die Figuren
des Films diskutieren zwar über die moralischen Ideale
der kommunistischen Gesellschaften, aber sie tun dies
in Saunen, in verschiedenen Zuständen der Entblößung
und lassen ihre Muskeln spielen, während sie von antiken
Statuen umgeben sind.
Eine weitere sowjetisch-ukrainische Produktion, DUBRAVKA
(1967) unter der Regie von Radomyr Vasylevskyi nach der
gleichnamigen Erzählung von Radiy Pogodin, zeigt eine
burschikose Teenagerin mit einem „seltsamen“ Namen,
die sich der Pubertät nähert und sich zum ersten Mal verliebt
– in eine schöne junge Frau. Während sie tapfer um
„Regenbogen“ (diesen Spitznamen gab ihr die Heldin) wirbt,
setzt sich Dubravka mit ihrem wachsenden Bewusstsein
für geschlechtsspezifische Ausdrücke und Rollen auseinander
und stellt fest, dass sie sowohl den männlichen als
auch den weiblichen Kindern in ihrer Umgebung fremd
ist – gleich „einer einzelgängerischen Katze“. Leider ist
der Film frömmelnd mit mehr Vibes des „Heterodooms“
durchsetzt als die ursprüngliche Geschichte, aber er bleibt
dennoch zweifellos der queere Liebling der postsowjetischen
und insbesondere der ukrainischen Filmgeschichte.
Symposiumsgäste Mariam Agamian und Olenka Syaivo
Dmytryk werden im Anschluss an die Filmvorführung
über die queeren Lesarten dieses Films sprechen. Über
das Finale des Films schreiben sie: „Wird das Publikum an
die Heimlichtuerei und die verkappte Sexualität glauben
und daran, dass die Geschlechter- und Sexualrollen
korrekt gespielt werden? Und haben sie das in den 1960er
Jahren geglaubt? Oder wurde DUBRAVKA im Gegenteil
zu einer Inspiration und einem Vorbild für eine
Generation von Tomboys, Feen, Rainbows und Geschichtenerzähler:innen?“
(Syaivo und Agamian, 2022)
63 CINEMA ARCHIPELAGO: SYMPOSIUM