goEast_2024_Katalog
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„das Potenzial [...], in die Prozesse [kollektiver nationaler
Traumakonstruktionen] einzugreifen, laut derer
die Behauptung eines Traumas typischerweise nur
jenen Bürger:innen ermöglicht wird, die erfolgreich
re-/produzieren – im wörtlichen wie im übertragenen
Sinne, und zwar den ‚idealen‘ heterosexuellen Körper,
der unweigerlich mit der ethno-nationalen Ideologie
verknüpft ist.“ (2016, 104)
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Die zugegebenermaßen unangenehme Beziehung
zwischen dem regionalen ethno-nationalistischen
kollektiven Gedächtnis und dem queeren Trauma ist der
rote Faden, der die meisten postjugoslawischen, queeren
Spielfilme verbindet. Diese Mechanismen der gewaltsamen
Gemeinschaftskonstruktion und -ausgrenzung
werden auch in einem der größten Hits der Region, THE
PARADE / PARADA, einer transnationalen Koproduktion,
an der mehrere ehemalige jugoslawische Staaten beteiligt
waren, recht schematisch dargestellt (dieser Film aus
dem Jahr 2011, bei dem Srđan Dragojević Regie führte,
wird nicht auf dem Festival gezeigt). THE PARADE wurde
zwiespältig aufgenommen: Beim Publikum, das sich nach
einer Dosis Jugo-Nostalgie sehnte, war er ein Hit und von
der westlichen Presse wurde er als serbisches Äquivalent
zu BROKEBACK MOUNTAIN gelobt. Einheimische
Kritiker:innen bewerteten ihn eher schlecht, sahen sie
in der Komödie über homophobe ehemalige Kriegsfeinde,
die zu Kumpels werden, um die Belgrader Pride-Veranstaltung
zu schützen, doch eine Vereinfachung der
Vergangenheit. In ihrer jüngsten Analyse des Films
suggeriert Anamarija Horvat, dass THE PARADE „die
Komplexität und Widersprüchlichkeit bestimmter erinnerungspolitischer
Ansätze“ in der Region widerspiegelt und
„einen komplexen Kommentar präsentiert, der politisch
bedeutsame Erinnerungsnarrative über nationale Schuld,
Unschuld und transnationale Solidarität sowohl kritisiert
als auch aufrechterhält“ (Horvat 2023). Die Autorin wird
als Vortragende zum Symposium beitragen und in ihrem
Vortrag „Memory, Resistance and (In)Visibility: Queer
Cinema in the Region of Former Yugoslavia“ auf die
komplizierte Art und Weise eingehen, wie Filme „erinnern“
und kollektive Erinnerungen ko-konstruieren.
Ein besonderer Teil des Symposiums, auch dieser ein
Ergebnis der Verarbeitung von immer noch frischen
und schmerzhaften Kriegstraumata, ist die Ausstellung
Political Textile von Ton Melnyk und Masha Ravlyk,
Mitbegründer:innen der Nähkooperative ReSew aus der
Ukraine sowie Künstler:innen und queere feministische
Aktivist:innen. Die Ausstellung zeigt eine Reihe von
Textilarbeiten in verschiedenen Techniken – Nähen und
Applizieren von upgecycelten Stoffen, Stickereien und
anderen Methoden – und reflektiert die Erfahrungen
von queeren Menschen aus der Ukraine, die mit den
existenziellen Schrecken des Krieges konfrontiert sind.
Im Mittelpunkt der Ausstellung stehen drei Anti-Kriegs-
Banner als Hommage an Maria Prymachenko, eine
ukrainische Autodidaktin, die im 20. Jahrhundert lebte
und deren Werke, für die sie sich unterschiedlicher
Techniken (Malerei, Keramik, Stickerei) bediente, in ihrem
Stil oft als „naiv“ bezeichnet wurden. Viele von Prymachenkos
Werken waren die Reaktion der Künstlerin auf
ihre persönlichen Erfahrungen im Zweiten Weltkrieg.
Ton Melnyk und Masha Ravlyk schreiben über den
Entstehungsprozess dieser Hommagen: „Während der
Arbeit an den Bannern haben wir den Krieg auf einer
neuen Ebene gespürt. Da wir nun unsere eigenen
Erfahrungen gemacht hatten, fragten wir uns, wie Prymachenko
das Grauen, die Angst und die Folgen des Krieges
auf ihre eigene Art und Weise genau wahrgenommen
und dargestellt hatte. Wir stellten fest, dass die manuelle
Näharbeit eine therapeutische Wirkung hat.“
Es war uns wichtig, dass das Symposium nicht nur Werke
zeigt, die direkt mit nicht-normativen Sexualitäten bzw.
Geschlechtsidentitäten zu tun haben, sondern auch jene
zeitgenössischen Erfahrungen von queeren Menschen
aus der Region, die heute am relevantesten sind.
Die Auslöschungen und die Gewalt in den Regionen, die
Teil des Symposiums sind, spiegeln sich im Film oft auf
komplexe Weise wider und hinterlassen den düsteren
Eindruck, dass es wenig Raum jenseits der Grenzen von
Heteronormativität und Patriarchat gibt, wenig Hoffnung
auf ein queeres Leben und eine queere Zukunft. Aber die
kuratierten Kurzfilmprogramme, zeigen, dass nicht alles
düster ist, ganz im Gegenteil: Zum Glück ist Queerness
ganz besonders resilient. In den letzten Jahren war
der Kurzfilm eines der aufregendsten Felder für die
Filmkreativität in MOE und für Bilder von Queerness.
Kurzfilme, die ohne oder mit sehr geringem Budget und
oft im Rahmen transnationaler Kooperationen zwischen
jüngeren Filmemacher:innen entstanden sind, offenbaren
ein vielfältiges Spektrum an filmischen Visionen, Ästhetiken
und Themen: Von No-Budget-DIY-Produktionen und
experimentellen Arbeiten bis hin zu Animationen und
visuell ausgefeilten Filmen schaffen es diese Werke, die
visuelle Landschaft dieser einst schmerzhaft heteropatriarchalen
Regionen zu queeren. Manchmal geht es immer
noch um Traurigkeit und Herzschmerz, aber Queerness
ist auch so viel mehr. Sie ist Solidarität, Freude, Verspieltheit,
Fantasie, Wut, Überleben und Revolte.