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„das Potenzial [...], in die Prozesse [kollektiver nationaler

Traumakonstruktionen] einzugreifen, laut derer

die Behauptung eines Traumas typischerweise nur

jenen Bürger:innen ermöglicht wird, die erfolgreich

re-/produzieren – im wörtlichen wie im übertragenen

Sinne, und zwar den ‚idealen‘ heterosexuellen Körper,

der unweigerlich mit der ethno-nationalen Ideologie

verknüpft ist.“ (2016, 104)

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Die zugegebenermaßen unangenehme Beziehung

zwischen dem regionalen ethno-nationalistischen

kollektiven Gedächtnis und dem queeren Trauma ist der

rote Faden, der die meisten postjugoslawischen, queeren

Spielfilme verbindet. Diese Mechanismen der gewaltsamen

Gemeinschaftskonstruktion und -ausgrenzung

werden auch in einem der größten Hits der Region, THE

PARADE / PARADA, einer transnationalen Koproduktion,

an der mehrere ehemalige jugoslawische Staaten beteiligt

waren, recht schematisch dargestellt (dieser Film aus

dem Jahr 2011, bei dem Srđan Dragojević Regie führte,

wird nicht auf dem Festival gezeigt). THE PARADE wurde

zwiespältig aufgenommen: Beim Publikum, das sich nach

einer Dosis Jugo-Nostalgie sehnte, war er ein Hit und von

der westlichen Presse wurde er als serbisches Äquivalent

zu BROKEBACK MOUNTAIN gelobt. Einheimische

Kritiker:innen bewerteten ihn eher schlecht, sahen sie

in der Komödie über homophobe ehemalige Kriegsfeinde,

die zu Kumpels werden, um die Belgrader Pride-Veranstaltung

zu schützen, doch eine Vereinfachung der

Vergangenheit. In ihrer jüngsten Analyse des Films

suggeriert Anamarija Horvat, dass THE PARADE „die

Komplexität und Widersprüchlichkeit bestimmter erinnerungspolitischer

Ansätze“ in der Region widerspiegelt und

„einen komplexen Kommentar präsentiert, der politisch

bedeutsame Erinnerungsnarrative über nationale Schuld,

Unschuld und transnationale Solidarität sowohl kritisiert

als auch aufrechterhält“ (Horvat 2023). Die Autorin wird

als Vortragende zum Symposium beitragen und in ihrem

Vortrag „Memory, Resistance and (In)Visibility: Queer

Cinema in the Region of Former Yugoslavia“ auf die

komplizierte Art und Weise eingehen, wie Filme „erinnern“

und kollektive Erinnerungen ko-konstruieren.

Ein besonderer Teil des Symposiums, auch dieser ein

Ergebnis der Verarbeitung von immer noch frischen

und schmerzhaften Kriegstraumata, ist die Ausstellung

Political Textile von Ton Melnyk und Masha Ravlyk,

Mitbegründer:innen der Nähkooperative ReSew aus der

Ukraine sowie Künstler:innen und queere feministische

Aktivist:innen. Die Ausstellung zeigt eine Reihe von

Textilarbeiten in verschiedenen Techniken – Nähen und

Applizieren von upgecycelten Stoffen, Stickereien und

anderen Methoden – und reflektiert die Erfahrungen

von queeren Menschen aus der Ukraine, die mit den

existenziellen Schrecken des Krieges konfrontiert sind.

Im Mittelpunkt der Ausstellung stehen drei Anti-Kriegs-

Banner als Hommage an Maria Prymachenko, eine

ukrainische Autodidaktin, die im 20. Jahrhundert lebte

und deren Werke, für die sie sich unterschiedlicher

Techniken (Malerei, Keramik, Stickerei) bediente, in ihrem

Stil oft als „naiv“ bezeichnet wurden. Viele von Prymachenkos

Werken waren die Reaktion der Künstlerin auf

ihre persönlichen Erfahrungen im Zweiten Weltkrieg.

Ton Melnyk und Masha Ravlyk schreiben über den

Entstehungsprozess dieser Hommagen: „Während der

Arbeit an den Bannern haben wir den Krieg auf einer

neuen Ebene gespürt. Da wir nun unsere eigenen

Erfahrungen gemacht hatten, fragten wir uns, wie Prymachenko

das Grauen, die Angst und die Folgen des Krieges

auf ihre eigene Art und Weise genau wahrgenommen

und dargestellt hatte. Wir stellten fest, dass die manuelle

Näharbeit eine therapeutische Wirkung hat.“

Es war uns wichtig, dass das Symposium nicht nur Werke

zeigt, die direkt mit nicht-normativen Sexualitäten bzw.

Geschlechtsidentitäten zu tun haben, sondern auch jene

zeitgenössischen Erfahrungen von queeren Menschen

aus der Region, die heute am relevantesten sind.

Die Auslöschungen und die Gewalt in den Regionen, die

Teil des Symposiums sind, spiegeln sich im Film oft auf

komplexe Weise wider und hinterlassen den düsteren

Eindruck, dass es wenig Raum jenseits der Grenzen von

Heteronormativität und Patriarchat gibt, wenig Hoffnung

auf ein queeres Leben und eine queere Zukunft. Aber die

kuratierten Kurzfilmprogramme, zeigen, dass nicht alles

düster ist, ganz im Gegenteil: Zum Glück ist Queerness

ganz besonders resilient. In den letzten Jahren war

der Kurzfilm eines der aufregendsten Felder für die

Filmkreativität in MOE und für Bilder von Queerness.

Kurzfilme, die ohne oder mit sehr geringem Budget und

oft im Rahmen transnationaler Kooperationen zwischen

jüngeren Filmemacher:innen entstanden sind, offenbaren

ein vielfältiges Spektrum an filmischen Visionen, Ästhetiken

und Themen: Von No-Budget-DIY-Produktionen und

experimentellen Arbeiten bis hin zu Animationen und

visuell ausgefeilten Filmen schaffen es diese Werke, die

visuelle Landschaft dieser einst schmerzhaft heteropatriarchalen

Regionen zu queeren. Manchmal geht es immer

noch um Traurigkeit und Herzschmerz, aber Queerness

ist auch so viel mehr. Sie ist Solidarität, Freude, Verspieltheit,

Fantasie, Wut, Überleben und Revolte.

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