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Die Gegenwart

Während des Symposiums werden wir uns mit aktuellen

Praktiken und Herausforderungen des queeren Kinos,

der Kunst und des Aktivismus in Slowenien, der Ukraine,

Bosnien und Herzegowina, Kasachstan, Litauen,

Armenien, Kroatien, Rumänien und anderen Ländern und

Regionen befassen, aber auch kritisch mit dem Konzept

der „östlichen/post-sozialistischen Queerness“: Was

ist das genau? Handelt es sich um eine Nachahmung

„westlicher“ Rahmenbedingungen oder um etwas Anderes,

Vielfältiges, potenziell Störendes?

Die gleichen Probleme der Vereinfachung finden sich

auch beim Konzept des osteuropäischen Kinos. Wie die

verstorbene slowenische Filmkritikerin Nika Bohinc

(2009) schrieb: „Das osteuropäische Kino ist eine schwer

fassbare Kategorisierung, und manchmal scheint es,

dass selbst diejenigen, die sie verwenden, keine klare

Vorstellung davon haben, wen und was es repräsentiert.“

Als Überbegriff für sehr unterschiedliche Filmkulturen,

„erkennt der westliche Blick in diesem riesigen Gebiet

des europäischen ‚Ostens‘ einen starken gemeinsamen

Nenner, der offensichtlich weniger mit der Geografie

als mit der Politik zu tun hat: nämlich den sozialen und

wirtschaftlichen Wandel, den jedes dieser Länder beim

Übergang von den alten kommunistischen Regimen zum

‚neuen‘ demokratischen Europa und seinem freien Markt

durchgemacht hat“.

Beim Nachdenken über die großen Fragen und im

Bewusstsein der Grenzen einer einzelnen Veranstaltung

wurde deutlich, dass es nicht nur darum geht, queere

Geschichten über nicht-normative Sexualitäten und

Geschlechter aus den Peripherien sichtbar zu machen

– es geht auch darum, Geografien, Geschichten, Bilder,

theoretische Rahmen und die Formate von Symposien

selbst zu verändern. Zu diesem Zweck bringt diese Veranstaltung

Künstler:innen, Aktivist:innen, Archivar:innen,

Programmer:innen und Wissenschaftler:innen zusammen,

die die Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft der

filmischen Queerness erkunden, um gemeinsam eine

kaleidoskopische Vision zu konstruieren – eine Vielzahl

von Fragmenten, die ein fluides Bild ergeben.

„‚Zbochenstvo‘ [eine ukrainische Analogie zu „Perversion“,

etwas, das „außerhalb der Norm“ liegt - Anm. der

Autorinnen] pervertiert sogar ‚queer‘ - es wird umgedreht

und das Gespräch von West nach Ost, von Nord nach Süd

und auf den Kopf gestellt.“

Syaivo, ZBOKU-Kollektiv

Wie die ukrainische Wissenschaftlerin und Aktivistin

Olga Plakhotnik schreibt, versuchen die zeitgenössischen

Queer-Bewegungen in der Region, „westliche Modelle der

sexuellen Staatsbürgerschaft“ neu zu gestalten und zu

kritisieren, indem sie andere Vorstellungen von Sexualität

und politischem Aktivismus anbieten. Dazu gehört auch,

mit Sprache und Konzepten zu experimentieren, Altes

wiederzuverwenden und Neues zu erfinden, um „die

dominante Position und die epistemische Autorität des

westlichen Wissens“ in Frage zu stellen. Plakhotnik gibt

ein Beispiel für einen Neologismus, „heteropryrechenist“

(auf Ukrainisch), der von einem anonymen Aktivist:innenkollektiv

geprägt wurde und zuerst in Kyjiwer Graffiti

auftauchte. Übersetzt als „Heterodoom“, ist der Begriff

mit Heteronormativität verwandt, hat aber auch eine

spezifische affektive Intensität, die mit regionalen

Sorgen über gewaltsame Auslöschung verbunden ist: „Er

bezeichnet nicht nur ein soziales Regime, das analytisch

erfasst wird, sondern den mentalen Zustand, der das

Leben der Menschen schmerzhaft und hoffnungslos

bestimmt.“ (2019, 213-214)

Vertreter:innen von Grassroots-Festivals und Künstler:innen

wurden eingeladen, um über lokale Strategien

und Probleme zu sprechen: das Produzieren, Auffinden

und/oder Kuratieren von queerer Kunst als politischer

Akt; der Kampf gegen lokale Formen des Nationalismus,

Homophobie und Transphobie; und das Nachdenken

über Queerness in Zeiten des russischen Kriegs gegen

die Ukraine. Der Krieg ist eine tragische Verbindung

zwischen der Ukraine und dem postjugoslawischen

Raum, wo eine Reihe von Filmen die (Un-)Möglichkeiten

von Queerness in Zeiten mörderischer Gewalt behandelt

haben. Einer der ersten queeren Filme, die nach dem

Zerfall Jugoslawiens entstanden, MARBLE ASS / DUPE

OD MRAMORA (1995, Želimir Žilnik)*, der in Belgrad

gedreht wurde, während sich das Land im Krieg mit

seinen Nachbarn befand, ist ein wichtiges Zeugnis

inmitten eines bewaffneten Konflikts. Die verheerende

Gewalt dient als Kulisse für den Film, in dem zwei Transgender-Sexarbeiterinnen

versuchen, sich mit aggressiven

Männern (Kunden und Freunden) zu arrangieren, indem

sie in einem verlassenen Haus am Stadtrand von Belgrad

ihre eigene queere Zeit und ihren eigenen Raum schaffen.

In ihrem Beitrag über MARBLE ASS schreibt Dijana Jelača,

queere Filme hätten

* Der Film MARBLE ASS wird während des Festivals als Teil

des Symposiums und des Programms der Yugoretten gezeigt.

CINEMA ARCHIPELAGO: SYMPOSIUM

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