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DIE
„ANDEREN“
QUEERS
–
FILMBILDER
VON DER
PERIPHERIE
EUROPAS
Lange Zeit galten queeres Kino, Kunst und Aktivismus
als Dinge, die vorwiegend im „Westen“ existierten und
erst dann in den Vordergrund der zivilen und künstlerischen
Belange Mittel- und Osteuropas (MOE) sowie
Zentralasiens rückten, nachdem der Sozialismus durch
den Kapitalismus, und der vermeintliche Konservatismus
der genannten Regionen durch den europäischen
Liberalismus ersetzt worden waren. Diese lineare
Entwicklung – von weniger zu mehr Freiheit, Sichtbarkeit
und Kreativität – lässt sich leicht und reibungslos
nachvollziehen, da sie eine beruhigende Geschichte
erzählt, die an einen beständigen „Fortschritt“ glauben
lässt. Doch Geschichte(n), Politik, Bilder und Leben sind
selten so eindeutig wie diese Erzählung suggeriert. Gäste
des diesjährigen Symposiums, das krёlex zentre, eine
imaginäre Kunstagentur aus Almaty, verwenden ein
anschauliches poetisches Bild, wenn sie die komplexen
Prozesse des Queer-Werdens in einer rauen Umgebung
beschreiben: „Wie können wir erzählen, wie wir zu uns
selbst werden? Unsere Wurzeln sind verschlungen wie
Mangroven /.../“.
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Diese offene Frage – „Wie eine Geschichte des Sichselbst-Werdens
erzählen?“ – hat uns während der
gesamten Vorbereitung des diesjährigen Symposiums
verfolgt. Bevor man die wahre Geschichte von queeren
Filmbildern aus dem „Osten“ erzählen kann, muss man
zunächst grundlegende Konzepte und Annahmen in
Frage stellen. Obwohl sie komplex und zweifelsohne
revolutionär sind, hat das Erbe westlicher queerer
Erfahrungen oft auch lokale Sichtweisen, Kämpfe und
Bedürfnisse ausgelöscht. Sie waren „gut dokumentiert,
leicht zugänglich und wurden oft als ‚universell‘ relevant
interpretiert“ (Takács und Kuhar 2007, 11), was die binäre
Vorstellung eines aufgeschlossenen „Westens“ und eines
homophoben und monolithischen „Osteuropas“ verstärkte,
das stets versuchte (und scheiterte), aufzuholen. In
ihrem Sammelband De-Centering Western Sexualities
schlagen die Herausgeber Robert Kulpa und Joanna
Mizielińska daher die dringende Aufgabe vor, „westliche
Perspektiven in den Queer Studies in Frage zu stellen,
indem sie neue Einsichten in die Diskussionen darüber
liefern, was ‚queer‘ ist“ (2011, 3). Wie könnte also eine
Verschiebung der Perspektive, das Erzählen anderer
Geschichten aus den vermeintlichen Peripherien Europas,
dazu dienen, die Idee von Queerness zu erweitern und neu
zu strukturieren? Wie können wir uns nicht-heteronormativen
Erfahrungen als lokalen und politisch potenten
Phänomenen nähern?